Das britische ancien régime


Hausarbeit (Hauptseminar), 2001

46 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

Das britische ancien régime

1. Vorbemerkung

2. Die britische Verfassung: Krone und Parlament

3. Das britische Parlament

4. Die Wahl des House of Commons

5. Die politische Organisation des ancien régime

6. Die Ideologie des ancien régime

7. Die Anfechtung des ancien régime

8. Die Verteidigung des ancien régime

9. Der Niedergang des ancien régime

10. Die Bewertung des ancien régime

11. Literaturverzeichnis

Das britische ancien régime

1. Vorbemerkung

In der vorliegenden Abhandlung soll das britische ancien régime skizziert werden, wie es bis zum Great Reform Act von 1832 bestand. Die Darstellung bezieht sich auf das erste Drittel des 19. Jahrhunderts, freilich nicht ohne die Bezugnahme ins 17. und 18. Jahrhundert verzichten zu können, und beschränkt sich auf England – den celtic fringe aus Schottland, Irland und Wales nur dann einbeziehend, wenn der dortigen Entwicklung eine ausschlaggebende Bedeutung für die englischen Verhältnisse zukommt. Es scheint dem Autor daher eher angebracht, im Titel das Adjektiv „britisch“ der Bezeichnung „englisch“ vorzuziehen.

Als Grundlage der Darstellung dient, in einem Vorwort, die Charakterisierung der britischen Verfassung in ihrem Verhältnis von Krone und Parlament. Das Parlament soll, ergänzend, in seiner Konstituierung etwas näher erläutert werden, bevor auf die Wahl seiner zweiten Kammer, des House of Commons, eingegangen wird. Dies betrifft das aktive und passive Wahlrecht, aber auch die Organisation von Wahlen, ihre Themen und ihr Procedere. Um den Handlungsrahmen und die Motivation der politischen Akteure des ancien régime verständlicher zu machen, soll auf die Ideologie und die Organisation dieses Systems eingegangen werden, bevor Anfechtung und Verteidigung der alten Ordnung einander gegenübergestellt werden. Nach der ereignisgeschichtlichen Untersuchung der Gründe, die zum Ende des britischen ancien régime führten, unterzieht der Autor diese Regime einer Bewertung.

Der Autor ist sich bewußt, daß die Darstellung einiger Fakten im Perfekt, die eine Kontinuität bis in die Gegenwart gewahrt haben, abzüglich des Vorworts, bizarr wirken mag.

2. Die britische Verfassung: Krone und Parlament

Die eigentliche Besonderheit der britischen Verfassung liegt darin, daß sie nicht schriftlich niedergelegt und kodifiziert worden ist. Vielmehr handelt es sich um eine Ordnung, die, über Jahrhunderte gewachsen, auf dem Gewohnheitsrecht beruht. Selbstverständlich gibt es Gesetze von staatsrechtlicher, konstitutioneller Bedeutung, aber die regeln bloß Streitfälle, geben einen Rahmen vor und ziehen denen eine Grenze, die andernfalls womöglich geneigt wären, sich ungewöhnlich zu verhalten. Unter diesem Aspekt darf die britische Verfassung auch schon Anfang des 19. Jahrhunderts als Sonderfall gelten, - vergleicht man sie beispielsweise mit der Bundesverfassung von dreizehn ehemaligen britischen Kolonien in Nordamerika oder den Verfassungen in Frankreich, gleich ob es sich um diejenige der Ersten Republik, die des Empire oder der konstitutionellen Monarchien von 1791 und des restaurierten Bourbonenkönigtums handelt.

Krone und Parlament bilden die Pfeiler der britischen Verfassung in deren Zentrum der Dualismus dieser beiden Institutionen steht. Alle exekutive Gewalt liegt bei der Krone. Gesetze und Handlungen auf Gesetzesgrundlage werden im Namen des Königs vollzogen – die hannoveranische Dynastie zwischen 1714 und 1837 akzeptiert nur die männliche Thronfolge – und von seinen Dienern durchgeführt. Von kommunalen Angestellten abgesehen sind alle Beamten Beamte des Königs und werden mit des Königs Schillingen besoldet, ebenso wie Soldaten und Matrosen. Alle staatlichen Einrichtungen sind königlich. Der König erklärt Krieg, schließt Frieden und Verträge, ausländische Gesandte sind bei ihm, am Hofe von St. James akkreditiert. Zur Regierung bedarf der König seiner Räte und seinen führenden Ratgeber, den leitenden Minister oder Premierminister ernennt er, in Ausübung seines prärogativen Rechts, selbst und genehmigt die Auswahl der übrigen Minister, die der Premierminister trifft. Ein elisabethanischer Beobachter definiert nach „Coke´s Dictum“ das Königreich noch als „an absolute monarchy“ und führt zum König aus, er sei „the legislator, limited, indeed, and restrained, moved and advised, in the exercise of legislation.“[1] Das wird entscheidend werden. Es handelt sich in Großbritannien zwar um ein Königreich, jedoch: der König kann nichts tun ohne das Parlament, jenes andere Institut der britischen Verfassung, weil bei diesem de facto das Monopol der Gesetzgebung liegt, weil das Parlament Steuern und Zölle erhebt, sämtliche Ausgaben bewilligt, Verträgen und Friedensschlüssen zustimmt. Das war nicht immer so gewesen, hatte sich jedoch im Konflikt zwischen Stuartkönigtum und Parlament in der entscheidenden Machtprobe zugunsten des Parlaments, der Glorious Revolution von 1688, so durchgesetzt. Damit aber war das Königtum wiederum nicht zum bloß ausführenden Organ des Parlaments geworden, sein politischer Einfluß, sein Machtpotential, blieben noch beträchtlich im nichtreformierten System des 19. Jahrhunderts, ja darüber hinaus. Das wichtigste Mittel königlicher Machtausübung blieb der erhebliche Einfluß auf die Zusammensetzung des Parlaments. John P. Mackintosh schreibt dazu, daß „the major factor in politics was still that the Crown could hold and win … an election.“[2] Die nicht unwesentliche Möglichkeit der Krone, Wählerschaft und Repräsentanz der Nation zu beeinflussen und zu lenken, ermöglichte noch Georg III., seinen königlichen Willen gegen Premierminister durchzusetzen, die in einer so bedeutenden Frage wie der Katholikenemanzipation nicht mit ihm konform gingen. Der König lehnte sie, in seinem Selbstverständnis als Hüter einer protestantischen Verfassung, rundweg ab, und nötigte nicht nur den jüngeren Pitt zum Rücktritt von seinem ersten siebzehnjährigen Ministerium, sondern trug auch entscheidend zum Ende der Fox – Grenville – Koalition, des „Ministry of All the Talents“ von 1806/07 bei, das gleich Pitt diese Emanzipation anvisiert hatte.[3]

Allgemein aber läßt sich ein Prozeß beobachten, in dem sich die Machtbalance zwischen Krone und Ministerium immer mehr zugunsten des letzteren verschob. Das lag zum einen an der Persönlichkeit des Königs. Im Gegensatz zum Ansehen Georgs III. war das seines Sohnes, des Prince of Wales oder Whales, wie die Zeitgenossen bezeichnenderweise sarkastisch umformulierten[4], Prinzregent für seinen seit 1811 endgültig geistesgestörten Vater, König als Georg IV. nach dessen Tod neuen Jahre darauf – denkbar gering. Zum anderen – und wohl entscheidender – wurde diese Machtverlagerung durch eine Entwicklung verursacht, „which slowly reduced the amount of money, patronage, contracts and favours through which the Crown could influence politics.“[5] Georgs IV. Macht reichte wohl noch aus, ein Ministerium zu verhindern, dem väterlichen Beispiel zu folgen, indem er Premierminister faktisch stürzte, das vermochte er schon nicht mehr. Da mochte es starke Spannungen, offenbar maßgeblich von persönlicher Abneigung geprägt, zwischen dem König und seinem leitenden Minister, Lord Liverpool, geben – der Premier behielt sein Amt, bis er von einem Schlaganfall niedergestreckt wurde, eben weil der oberste Diener mittlerweile mehr politische Loyalität aus Kabinett und Parlament auf sich zog als sein königlicher Herr. Eklatant wird der schwindende, wenn auch noch nicht unerhebliche politische Einfluß der Krone am Verhalten ihres Trägers Georg IV., indem der, wie Archibald S. Foord schreibt, seine Minister behandelte „as public servants whom he retained in office because they possessed the power and talent to do the work of state, not because he had any affection for their persons or their principles.“[6] Die parlamentarische Monarchie, als die sich die britische Verfassung definieren läßt, die sich in der Revolution von 1688 etabliert hatte, in der und durch die, wie W. A. Speck sagt, daß Parlament von einem Ereignis zu einer Institution geworden sei[7], wurde, seit Ende des 18. - und beschleunigt seit Anfang des 19. Jahrhunderts – immer parlamentarischer und läßt somit den Blick auf eben diesen anderen Pfeiler der staatlichen Ordnung fallen: das Parlament.

3. Das britische Parlament

Durch die Vereinigung des englischen mit dem schottischen Parlament existiert, seit 1707, ein britisches Parlament, erweitert zum Imperial Parliament durch die Union zwischen Großbritannien und Irland anno 1801.[8] Von der englischen Sektion dieses Parlaments wird im folgenden zu reden sein. Das Parlament setzte sich aus zwei Kammern zusammen, der höheren im House of Lords, der niedrigeren im House of Commons. Die beiden Häuser tagten getrennt und traten nur zur alljährlichen Thronrede des Königs in der höheren Kammer zusammen; dem Staatsoberhaupt war das Betreten der anderen Kammer, des House of Commons, untersagt. Dessen Tagungsort befand sich in der St. Stephen´s Chapel im alten Westminster Palace, der 1834 niederbrennen sollte.[9] Verträge und Budgets hatten beide Kammern zu passieren, wurden nichtig, wenn die Lords nicht zustimmten, ihr Veto einlegten. Gleichfalls konnte ein Gesetzesantrag (Bill) nur dann zum Gesetz (Act) werden, wenn beide Kammern zustimmten. Die Lords, das waren die geistlichen und weltlichen Herren des Königreiches: die Bischöfe der Staatskirche, die erblichen Lords, die ohne Erbrecht von der Krone zu Lords Erhobenen, die volljährigen Prinzen des Königshauses und die obersten Richter des Reiches. Es handelte sich hier also um die nicht gewählte Kammer des Parlaments, wohingegen seine niedrigere Kammer, die Commons, respektive die Vertreter der Commons, der Gemeinen also, gewählt wurden – während die Lords sich schließlich höchstselbst in eigener Person vertreten konnten. Die Commons wurden immer dann gewählt, wenn der König gestorben war, weil nach zeitgenössischer Auffassung mit dem König auch sein Parlament starb, dessen niedrigere Kammer sodann nur durch eine Wahl wiederbelebt werden konnte. In der Zeit zwischen den königlichen Sterbefällen orientierte sich die Dauer eines Parlaments am Septennial Act von 1716, der die Dauer eines Parlaments auf maximal sieben Jahre festgelegt hatte.[10] Innerhalb dieser sieben Jahre konnte der König das House of Commons, meist auf den Rat seines leitenden Ministers hin, wie vermutet werden darf, auflösen und neu wählen lassen. Wenn die Gemeinen von neuem zusammentraten, wählten sie den Sprecher des Hauses, dessen Amtsstuhl mit dem königlichen Wappen versehen war und an den sich – pro forma – alle Redner wandten. Zu seiner Rechten ließ sich der Premier mit seinen Anhängern nieder, ihnen gegenüber zur Linken des Sprechers nahmen deren Opponenten Platz. Erst Anfang des 19. Jahrhunderts hatte sich in der Öffentlichkeit die Grundhaltung durchgesetzt, „that rivals of the ministry were not rivals of the state.“[11] Erst seit dieser Zeit galten die Abgeordneten links des Sprechers nicht mehr als Bedrohung der Verfassung sondern als deren Bestandteil.[12]

Neben den von der Krone ausgeschriebene allgemeinen Wahlen fanden auch Nachwahlen statt: immer dann, wenn das Mandat eines Abgeordneten vor Ablauf der regulären Frist in allgemeinen Wahlen endete. In sehr seltenen Fällen geschah dies, wenn aufgrund des Bribery Act von 1729 einem Abgeordneten das Mandat durch das Parlament wegen Geldzahlungen an Wähler oder des Versprechens dazu entzogen worden war[13] – ein sehr unwahrscheinliches Procedere, weil zum einen die Beweisführung schwierig war, zum anderen, worauf noch einzugehen sein wird, wenig Interesse an der Anwendung dieses sehr weit zu definierenden Gesetzes bestand. Üblicherweise endete ein Mandat vorzeitig durch den Tod seines Inhabers, dadurch, daß der Abgeordnete, aus welchen Gründen auch immer, auf seinen Sitz verzichtete oder sich außerhalb genereller Wahlen erneut zur Wahl stellte. Wenn ein Parlamentsmitglied ein Regierungsamt erhielt oder aus einem Ministeramt ohne Kabinettsrang in eines im Kabinett befördert wurde, war es offenbar Brauch, sich um die Bestätigung des Mandats zu bewerben.[14] Auch wenn für einen Angeordneten Grund zu der Annahme bestand, im Parlament nicht so gestimmt zu haben, wie dies dem Willen seiner Wähler entsprach, war es wenigstens nicht ausgeschlossen, sich diesen erneut zu stellen. Als Abgeordneter der Universität Oxford erkundigte sich Robert Peel zum Beispiel 1829 nach seinem Votum für die fast vollständige Gleichberechtigung katholischer Untertanen des Königs in dieser Art, um sich in seiner zweifelnden Annahme bestätigt zu sehen.

Zur Erläuterung des passiven und aktiven Wahlrechts im nichtreformierten politischen System Großbritanniens ist es zuvor nötig, darauf hinzuweisen, daß das Königreich England – wie auch die Königreiche Schottland und Irland und das Fürstentum Wales – in Wahlbezirke (constituencies) eingeteilt war, von denen es zwei Typen gab: die counties, Bezirke die als „ländlich“ und die boroughs, Bezirke die als „städtisch“ rubriziert wurden. Einen Sondertyp bildeten daneben noch die Universitäten Englands, Oxford und Cambridge, die jeweils zwei Abgeordnete ins Parlament entsandten, und das Trinity College in Dublin, das über einen der 100 irischen Sitze verfügte. Das House of Commons, das Unterhaus des seit 1801 bestehenden Imperial Parliament, zählte 658 Mitglieder: 489 für England, 24 für Wales, 45 für Schottland, für Irland - wie gesagt – 100[15]. Die englischen Abgeordneten, die Universitätsvertreter ausgenommen, wurden in 39 counties und 195 boroughs, die jeweils zwei Abgeordnete nach Westminster entsandten, zusätzlich in fünf boroughs, die je einen, zwei boroughs und einem county, die je vier der Sitze Englands hielten, gewählt.[16]

So weit die parlamentarische Aufteilung, aus der sich die Frage nach der Wahl der Abgeordneten ergibt.

4. Die Wahl des House of Commons

Die Kandidatur für das Parlament, das passive Wahlrecht, erforderte die Volljährigkeit des Kandidaten. So das Gesetz.[17] Ein Gesetz, das aber offenbar keine buchstabengetreue Anwendung fand. Charles James Fox trat im Alter von neunzehn Jahren ins Parlament, unterließ es allerdings, vor seinem einundzwanzigsten Geburtstag, dem Erreichen der Volljährigkeit, an Abstimmungen teilzunehmen.[18] Man beließ also in der Frage der Altersgrenze einen gewissen informellen Spielraum, so lange der Betroffene gewisse Regeln einhielt. Was die andere gesetzliche Qualifikation für eine Kandidatur anbelangte wurde aber kein Spielraum gewährt. Hierbei handelte es sich um die property qualification, die für die Bewerbung um den Sitz eines counties ein jährliches Mindesteinkommen von 600 Pfund aus freiem Grundbesitz verlangte und ein wenigstens 300 Pfund hohes jährliches Einkommen für die Kandidatur in einem borough vorschrieb.[19] Angefügt sei, daß Katholiken, Juden und Quäkern eine Kandidatur theoretisch möglich und praktisch unmöglich war, weil sie die nötigen Eide zur Wahrnehmung eines parlamentarischen Mandats nicht leisten konnten – bis der irische Katholik Daniel O´Connell 1828 diese Beschränkung zu ignorieren beliebte.[20]

Ungeachtet irgendwelcher ideologischen Erwägungen für die Bindung der Bewerbung um ein Mandat an zwingend erforderlichen Besitz, wäre es Personen ohne entsprechende Mittel oder wenigstens Protegierung gar nicht möglich gewesen, parlamentarisch tätig zu werden. Es gab nämlich überhaupt keine Diäten. Wer politisch tätig war, mußte diese Tätigkeit aus eigenen Mitteln oder denen eines Gönners bestreiten.

Neben die genannten rein formalen und gesetzlichen Bedingungen an eine Parlamentskandidatur traten die allgemeinen informellen Erwartungen an die Person des Bewerbers, die von mindestens ebenso schwerem Gewicht waren wie die Formalien. Der Repräsentant eines Wahlkreises in spe hatte einem inoffiziellen Katalog mehr oder weniger strikter Erwartungen zu genügen.[21] Es wurde vom Kandidaten gefordert, daß er über Landbesitz verfügte – bei einer county – Kandidatur ohnehin schon gesetzlich verlangt – und zwar günstigstenfalls in der constituency der abgegebenen Bewerbung oder wenigstens in deren Nähe. Der Anwärter hatte über einen gewissen Grad an lokalen Verbindungen zu verfügen. Im besten Falle stammte er aus einer angesehenen Familie der Gemeinde, die sich durch erfolgreiche öffentliche Dienste ausweisen konnte – je weiter zurückliegend und andauernd um so besser. Es mußte möglich sein, den Kandidaten mit den lokalen Interessen zu identifizieren, von denen er den Eindruck vermitteln mußte, daß sie bei ihm gut aufgehoben waren. Sehr genau wurde offenbar das Auftreten und Verhalten des Kandidaten beobachtet. Er mußte den Leuten seiner constituency bekannt sein, er mußte mit großem Anhang auftreten, sich sozusagen sichtbar machen, mit vielen Menschen reden, viele Hände schütteln – ganz gleich, ob es sich um die von Wahlberechtigten handelte oder nicht. Unbedingt erwartet wurde ein zugleich würdevolles und einnehmendes Wesen und Verhalten. Der Kandidat hatte dem Leitbild und Benehmen eines gentleman zu entsprechen, wobei die Karikatur von Stolz, die Arroganz, strikt zu vermeiden war. Frank O’Gorman schreibt: „He should be a gentleman but he should be cordial with all classes.“[22] Was seine politischen Ansichten anbelangte, so war es einem Kandidaten im britischen ancien régime offenbar geraten, möglichst den Mund zu halten. Daß verwundert aus heutiger Sicht einigermaßen, stünde doch zu erwarten, daß die Wähler neugierig gewesen wären zu erfahren, welche politischen Ansichten der Kandidat denn habe. Jedoch: „To avoid giving offence to some sections within the electorate, candidates usually said as little as possible about politics.“[23] Schlagfertige, geistreiche, ja witzige Aussagen wurden hingegen gerne vernommen – im Gegensatz zu womöglich auch noch eifernden politischen Grundsatzerklärungen, die ja doch nur verstörend wirken mochten und das Einvernehmen innerhalb der Gemeinde beeinträchtigten. Eindeutig parteiische Stellungnahmen waren schlecht angeschrieben: „To do so endangered the security and good order of the community and threatened to set family against family.“[24]

Andere Aspekte einer Wahlkampagne im England des beginnenden 19. Jahrhunderts, die allerdings wenig einvernehmliche Formen annehmen konnten, wie die Drohung mit Gewalt und deren Anwendung, waren den geübten Händen und Fäusten der Agenten des Kandidaten anvertraut. Der allfällige gentleman – Kandidat hatte damit natürlich nichts zu tun. Dessen Wähler verfügten über zwei Stimmen, die sie an einem einzigen Ort, im county in der county town, abgaben – und zwar öffentlich.[25] Die geheime Wahl wurde von der zeitgenössischen Mehrheitsmeinung als unter der Würde des notorischen freeborn Englishman aufgefaßt.[26] Unterhauswahlen erstreckten sich über mehrere Wochen, die Abstimmung in einer constituency über mehrere Tage. Eine Wahl in Westminster hatte das allgemein akzeptierte Maß aber derart erschöpft, sich über eineinhalb Monate hingezogen, daß ein Gesetzt von 1785 die Wahlen in einer constituency auf ein Maximum von 15 Tagen, abzüglich der Sonntage, festlegte.[27] Diese auf den heutigen Betrachter bizarr wirkende Wahldauer war nicht nur naheliegenden organisatorischen und infrastrukturellen Unzulänglichkeiten geschuldet. Ganz erheblich zur Ausdehnung des Wahlvorgangs trug der Umstand bei, daß jeder Wähler seine Berechtigung zur Wahl (title to vote), zuweilen langwierig, nachzuweisen hatte und die Agenten der Kandidaten berechtigt waren, vor der Stimmabgabe verschiedene Eidesleistungen zu fordern, die, wenn denn gefordert und nicht geleistet, von der Stimmabgabe ausschlossen.[28] Der Wähler hatte eventuell seine Loyalität zur Krone zu beschwören (oath of allegiance), die Rechtmäßigkeit der Thronfolge eidlich zu bekunden (oath of adjuration), den König als Oberhaupt der Staatskirche anzuerkennen (supremacy oath), unter Eid die katholische Abendmahlslehre zu verwerfen (transsubstantiation oath) – letzterer schon außer Gebrauch, weil mittlerweile auch Katholiken wahlberechtigt waren. Gewiß – es wurden nicht alle Schwüre von jedem Wähler gefordert, häufig kein einziger, bei der Forderung nach diesem oder jenem zulässigen Eid handelte es sich eher um ein wahltaktisches Mittel, das aber tunlichst nicht überzustrapazieren war. Der Eid, der sich nicht auf Krone und Staatskirche bezog, der bribery oath[29], wurde so gut wie nie verlangt. Es wußte eben jeder, daß jeder im Wettbewerb stehende Kandidat sich den Wählern in ganz besonderer Form zuwandte. Die Eidesleistung und noch viel mehr der exakte Nachweis der Wahlberechtigung in einer Gesellschaft ohne Wählerregistratur und mit minimaler Bürokratie trugen jedenfalls erheblich dazu bei, Wahlen in die Länge zu ziehen. Die oft zeitraubende Bezeugung des Wahlrechts weist bereits darauf hin, daß es im England des ancien régime kein allgemeines Wahlrecht für die Vertreter der Gemeinen, genauer: kein allgemeines Männerwahlrecht gab – das Frauenwahlrecht war undenkbar. Grundsätzlich ausgeschlossen von deren Wahl waren Mitglieder der königlichen Familie, einige hohe Staatsbeamte, Peers, also Mitglieder des Oberhauses, und Geistesgestörte.

[...]


[1] Vgl. Clark, English Society 1688 – 1832, S. 356

[2] Mackintosh, The British Cabinet, S. 72

[3] Vgl. Clark, English Society 1688 – 1832, S. 361

[4] Vgl. Rubinstein, Britain´s Century, S. 14

[5] Mackintosh, The British Cabinet, S. 71

[6] Foord, His Majesty´s Opposition, S. 451

[7] Vgl. Price, British Society 1680 – 1880, S. 260

[8] Vgl. Thorne, The House of Commons 1790 – 1820, S. 1

[9] Vgl. Thomas, The House of Commons in the Eighteenth Century, S. 1

[10] Vgl. O´Gorman, Voters, Patrons and Parties, S. 11

[11] Foord, His Majesty´s Opposition, S. 467

[12] Vgl. ebd., S. 470

[13] Vgl. O´Gorman, Voters, Patrons and Parties, S. 163

[14] Vgl. Brock, The Great Reform Act, S. 52

[15] Vgl. Thorne, The House of Commons 1790 – 1820, S. 4

[16] Vgl. Brock, The Great Reform Act, S. 52

[17] Vgl. O´Gorman, Voters, Patrons and Parties, S. 117f

[18] Vgl. ebd.

[19] Vgl. ebd.

[20] Vgl. Brock, The Great Reform Act, S. 53

[21] Vgl. O´Gorman, Voters, Patrons and Parties, S. 101f, 123

[22] O´Gorman, Voters, Patrons and Parties, S. 123

[23] Ebd., S. 124f

[24] O´Gorman, The Emergence of the British Two Party System 1760 - 1832, S. 75

[25] Vgl. Brock, The Great Reform Act, S. 29

[26] Vgl. ebd. S. 17

[27] Vgl. O´Gorman, Voters, Patrons and Parties, S. 135

[28] Vgl. ebd. S. 133f

[29] Vgl. ebd.

Ende der Leseprobe aus 46 Seiten

Details

Titel
Das britische ancien régime
Hochschule
Justus-Liebig-Universität Gießen  (Historisches Institut - Neuere Geschichte I)
Veranstaltung
Hauptseminar: Wahlrecht, Parteien, Parlament: Politik in Großbritannien im 19. Jahrhundert
Note
1,0
Autor
Jahr
2001
Seiten
46
Katalognummer
V60257
ISBN (eBook)
9783638539784
ISBN (Buch)
9783656084914
Dateigröße
595 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Hauptseminar, Wahlrecht, Parteien, Parlament, Politik, Großbritannien, Jahrhundert
Arbeit zitieren
M.A. Michael Preis (Autor:in), 2001, Das britische ancien régime, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/60257

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