Wer sind die Tibeter?


Essay, 2005

35 Seiten


Leseprobe


Inhalt

Einleitende Worte

Der Mythos Tibet und die tibetische Sicht

Die Tibeter: eine homogene Ethnie oder heterogene Nation?

Namen und Begriffe: Woher kommen die Begriffe ‘Tibet’ und ‘Tibeter’?

Woher kommen die Tibeter? Geschichtliche Perzeption eines tibetischen Volkes

Tibetische Regionen und ihre Bewohner

Großregionen und Regional-Identität: Tibetische Bevölkerungsgruppen im Hochland

Zum Problem von Akkulturation und Assimilation

Tibeter daheim und in der Fremde: Tibet und seine Flüchtlinge

Literatur Wer sind die Tibeter?

Von Andreas Gruschke (Freiburg)

Die Menschen in Ü (Dbus) und Tsang (Gtsang) sind von recht sanftem Gemüt und haben ein schüchternes und ehrliches Wesen. Sie sind klug, aber nicht tiefschürfend. Abwohl sie begierig nach heiligen Erscheinungen sind, entsteht ihre Gefolgschaft durch den Ruhm. Sie halten nichts von Gunst und Missgunst. Sie halten viel von Reichtum, machen sich jedoch nichts aus Opfer zugunsten der Lehre (chos). Sie haben eine liederliche Moral und schlampige Gesetze. Obschon die meisten Leute in Kham (khams) und der Mongolei (sog) sowie einige mit Vorurteilen behaftete Heilige heutzutage so von den Menschen in Tibets Ü und Tsang sprechen, sind Ü und Tsang doch wie eine Lebensader der Buddhalehre.’ (Lama Tsenpo)[1]

Einleitende Worte

Es ist staunenswert, wie in den letzten zwei Jahrzehnten das Wissen über die tibetische Kultur, insbesondere den tibetischen Buddhismus bei uns im Westen zugenommen hat. Insofern mag es etwas befremden, an dieser Stelle eine Frage zu stellen, deren Beantwortung jedem Tibet-Interessierten als etwas Selbstverständliches erscheint: Wer sind die Tibeter? Die Berechtigung dieser Frage wird allerdings schnell deutlich, wenn wir ein Gegenüber auffordern, uns einmal die Kriterien zu nennen, über welche er die Tibeter definiert. Sehr schnell landen wir dabei bei den gängigen Klischees, die sich um so mehr perpetuieren, je mehr die Klischee-behafteten Sprecher selbst unter sich bleiben und die öffentlichen Äußerungen, Veröffentlichungen und Darstellungen über die Tibeter bestimmen. Daran ändert sich auch wenig, wenn wir bedenken, dass auch Tibeter selbst, insbesondere jene im Exil, sich dieses im Westen geschaffene Bild teilweise angeeignet haben. Dass sie daraus neue Inhalte schaffen und diese weiterentwickeln, mag hinwiederum als schöpferischer Akt anerkannt werden, der letztlich zur Herausbildung einer spezifischen Identität der Tibeter im Exil führen mag.

Häufig wird vergessen, wie komplex eine Kultur ist, so vielschichtig, dass sie zu überblicken selbst einem Angehörigen der betreffenden Kultur gelegentlich nicht mehr gelingt. Um wieviel mehr trifft dies auf Außenstehende zu. Nehmen wir einmal am Buddhismus Interessierte: Schon ihrem Anliegen nach beschränken sie sich auf einen, wenn auch wesentlichen Aspekt der tibetischen Kultur - die buddhistische Religion. Nun hat diese Religion sehr unterschiedliche Aspekte, die von der Lehrdarlegung des historischen Buddha über die komplizierten philosophischen und spirituellen Inhalte des esoterischen Buddhismus bis hin zur volksreligiösen Gedankenwelt reicht, deren magisch-mystische Inhalte stark von frühtibetischen und damit nicht-buddhistischen Vorstellungen geprägt sind. Das Interesse des westlichen Sinnsuchers, der zumeist von den hochgeistigen, spirituellen Inhalten des tibetischen Buddhismus fasziniert ist, an diesen vorbuddhistischen Vorstellungen ist eher beschränkt; ebenso begrenzt ist seine Aufmerksamkeit gegenüber der historischen, gesellschaftlichen und politischen Dimension dieser Zivilisation. Ein allgemeineres Verständnis dessen, was die tibetische Kultur bedeutet und wer die Tibeter sind, ergibt sich aus diesem religiös motivierten Interesse daher kaum.

Ein anderer Ansatzpunkt für Interessierte im Westen ist politisch motiviert, in der achtbaren Absicht, die schwierige Situation der Tibeter im Exil und zu Hause verbessern zu helfen. Allerdings tun sich auch hier leider oft erhebliche Defizite bei der Kenntnis kultureller Hintergründe auf. Vermeintliches Wissen ist häufig weniger durch ernsthafte Auseinandersetzung mit den verschiedenen Aspekten tibetischer Geschichte, Gesellschaft, Religion und deren Zusammenwirken gekennzeichnet, als vielmehr durch das Tibetbild, das seit Ende des 19. Jh. durch die Theosophen wie Madame Blavatsky (1831-1891) geprägt worden war. Deren Tibet war, wie Martin Brauen in seiner Darstellung des (westlichen) Mythos Tibetzusammengefasst hat, ein Land

«ohne Bettler, arme oder hungernde Leute», in dem «Trunkenheit und Kriminalität unbekannt sind, ebenso Unsittlichkeit», ein Tibet «mit einem moralischen, einfachen Volk mit reinem Herzen», unverdorben von den «Lastern der Zivilisation», ein Land, in dem noch «beide Atmosphären - die physische und die spirituelle» - neben- und miteinander existieren ... Tibet, «das wahre Land des Mysteriums, des Mystizismus und der Abgeschiedenheit», ein okkultes, geheimnisumwittertes, eines, in dem die Menschen der ursprünglichen alten Weisheitslehre noch nahe sind, wo «Kräfte und Potenzen wachgerufen werden, die der westlichen Welt unbekannt sind und dort noch schlafen», eine Gegend, «wo die Atmosphäre und der menschliche Magnetismus absolut rein sind und - kein tierisches Blut vergossen wird».[2]

Dieses von ihnen imaginierte, verklärte und unwirkliche Tibet wurde gewünscht, dass das Schicksal es von den ‘Segnungen’ der Zivilisation und vor allem vor Missionaren bewahren möge.

Doch dieses Traumbild Tibets wurde schließlich nicht von Missionaren und der Zivilisation des Westens zerstört, sondern durch die gewaltsame Eingliederung Tibets in die Volksrepublik China. Nun waren es östliche ‘Missionare’ und die chinesische Zivilisation, die Tibet heimsuchten: kommunistische Ideologen und nationalistische chinesische ‘Chauvinisten’. Waren die Folgen für die Tibeter tragisch genug, so hatten die Ereignisse darüber hinaus eine fatale Folge für das bis dahin wirksam gebliebene westliche Tibetbild: Es wurde in seiner zurückblickenden Perspektive gefestigt, weil es nicht falsifiziert werden konnte. Wenn es nun nicht mehr mit der Realität übereinstimmte, lag die Erklärung dafür auf der Hand:

... auch im westlichen Dokumentarfilm läßt sich die Tendenz feststellen, dass man einer Utopie hinterherläuft, z.B. Reinhold Messner in dem Film: Tibet - Wo die Berge den Himmel berühren. Da wird zwar nicht die Unsterblichkeit gesucht, aber Tibet ist der Ort, wo man das Urtümliche, eine von der Zivilisation unberührte Natur und eine uralte Kultur zu erleben hofft. Und wenn man dies nicht findet, wird das schlicht den Chinesen zum Vorwurf gemacht. Da wird die Idee des Himalaja-Paradieses aufrechterhalten, indem erklärt wird, dass es (gegenwärtig) zerstört ist. Der Geist von Shangri-La lebt.[3]

Die politische Motivation jener im Westen, die den Tibetern Unterstützung geben wollen, damit sie in ihr Land zurück finden und dort ihr Leben selbst bestimmen, mag wohl verdienstvoll sein. Diese Motivation allein verschafft jedoch nicht das nötige Verständnis, denn sie sollen ja zu sich selbst finden und nicht zu dem, was der Westen so lange für ihr Selbst hielt. Dem vergleichbar ist auch die chinesische Position, die ebenfalls eine politische Motivation in den Vordergrund stellt, sich durch ihren Mangel an Verständnis für die tibetische Kultur und einen sehr stark China-zentrierten Blick nicht wirklich vom eigenen Standpunkt fortbewegen kann. Auch das Land, von dem die tibeter heute beherrscht werden, vermag so nicht wirklich zu fassen, was eigentlich die zentralen Anliegen der Tibeter sind.

Allein diese drei Beispiele zeigen, wie leicht es ist, über die Betrachtung von Einzelaspekten das eigentliche Thema zu verfehlen. Um zu eine Ahnung davon zu bekommen, wer die Tibeter sind, muss reflektiert werden, wo Tibet beginnt und wo es aufhört, welche Schwierigkeiten es bei einer geographischen, ethnischen und politischen Abgrenzung gibt, wo und wie die Tibeter einstmals lebten und heute wieder oder noch leben. Dabei darf nicht immer gleich die politische oder religiöse Sicht als einziger Maßstab für die Beurteilung gegebener Informationen gelten. Die krampfhaften Versuche der kommunistischen Führung in der Volksrepublik China, stets und immerdar nachzuweisen, dass Tibet von jeher ein Teil ihres ‘Reichs der Mitte’ gewesen sei, haben im Westen im Gegenzug eine beispiellose Zwanghaftigkeit ausgelöst, das Gegenteil zu belegen. Als sei das für ein Tibet von morgen von Belang.

Der Mythos Tibet und die tibetische Sicht

‘Tibet ist mein Traum!’ Diese Aussage trifft für viele mehr zu als, sie selbst vielleicht meinen. Und zwar weniger, weil Tibet für sie nicht nur ein traumhaftes Reiseziel darstellt, sondern weil die Vorstellungen, die sie sich von Tibet und den Tibetern machen, oft mehr einem Traum gleichen als der Wirklichkeit. Das zog sich durch die ganze Geschichte der Begegnung der Europäer mit dem fernen Dach der Welt - angefangen mit Mutmaßungen über ein entartetes Christentum, Idealisierung und Verteufelung bis hin zu verklärender Faszination und Projektionen von spiritueller Entrücktheit eines ganzen Volkes, das so zu einer besonderen esoterischen Gesellschaft stilisiert wurde. Der Traum gleicht der in James Hiltons Roman «Der verlorene Horizont» beschriebenen Utopie eines sakralen Tibet, die weniger tibetischer Mythos als vielmehr Wunschvorstellung westlichen Ursprungs ist:

Wenn Hilton suggeriert, dieses «Shangri-La-Tibet» werde dereinst die darniederliegende Welt retten, macht er Tibet zu einer Friedensinsel und zum Ort einer Renaissance - nicht aber einer Revolution. Werte wie Gemächlichkeit, Maßhalten, Autokratie werden - so Hilton - zu neuen Ehren kommen, die Welt retten. Tibet, das Traumland eines bewahrenden Konservatismus, der die patriarchale Theokratie hochhält.[4]

Es fällt ins Auge, wie sich hier verborgene Sehnsüchte einer unbehaglich gewordenen industrialisierten Welt im Bild Tibets niedergeschlagen haben. So finden sich hier die inzwischen klassischen Schlagworte, die Menschen unserer Gesellschaft mit Tibet und Tibetern verbinden: friedvoll und friedliebend, ökologisch rücksichtsvoll handelnd (‘Maßhalten’), spirituell hochstehend, esoterisch entrückt. Die geheimnisvolle Welt Tibets hatte sich den Vorstellungen der westlichen Menschen immer wieder unterzuordnen und wurde ihnen damit immer weiter entrückt, so dass die ‘Entrücktheit’ der dort lebenden Menschen schließlich nicht nur vermutet, sondern mit Gewissheit als ihr konstituierendes Merkmal gesehen wurde. Dass aber die Tibeter trotz ihrer tiefen Religiosität ebenso Menschen sind mit großen und kleinen, betrüblichen wie liebenswürdigen Schwächen, dass sie gleichfalls am diesseitigen Leben intensiv teilhaben und ihren Sinn nicht nur auf die Erlösung im Jenseits richten, wurde zwar gelegentlich ausgesprochen, aber kaum oder nicht gerne wahrgenommen.

Unbeteiligt an der Aufrechterhaltung dieses Bildes sind die Tibeter allerdings nicht. In ihrer kulturellen Selbstdefinition haben sie sich Konstrukte geschaffen, die sie vermittels ihrer Geschichtsschreibung gepflegt und tradiert haben. Insbesondere die weitere Verbreitung der buddhistischen Lehre wurde in den alten Schriften Tibets stets betont, und sie war das Maß aller Dinge:

Wie alle Landeshistoriker sehen tibetische Geschichtsschreiber alles aus der tibetischen Perspektive, and als eifrige Buddhisten, die sie nun einmal auch sind, sehen sie alles unvermeidlich aus einer betont tibetisch-buddhistischen Perspektive. Ihre Sicht der Welt um sie herum ist eine relativ einfache: insofern etwas den Interessen ihrer Religion im Allgemeinen und ihrem eigenen religiösen Orden und Kloster im Besonderen dient, ist es gut; insofern es ihrer Religion, ihrem eigenen religiösen Orden und Kloster entgegenwirkt, ist es schlecht.[5]

Dies hatte zur Folge, dass die Religion selbstredend auch ‘benutzt’ wurde. So hat das gängige Klischee, dass Buddhisten nicht missionieren würden, gerade mit Blick auf Tibet zu zahlreichen Missdeutungen geführt. Nur unter Voraussetzung der oben erwähnten idealisierenden Vorstellungen konnte das Bild einer besseren Welt entstehen, die allein dadurch zustande kommt, dass buddhistische Lehrer eine tiefreligiöse Gesellschaft auch politisch führten. Dass deren Handeln zuweilen auch weniger religiöse, sondern machtpolitische, will sagen: weltliche, Motive zugrunde lagen, passte nicht zum Bild Tibets und der Tibeter. Deren Geschichtsschreiber, sämtlich Angehörige eben dieses herrschenden Klerus, vermochten demgemäß in ihrer Überlieferung alles im rechten Licht zu deuten. Anders betrachtet ergibt sich die Erkenntnis, dass die machtpolitische Expansion der verschiedenen tibetischen Reiche nicht von buddhistischer Mission zu trennen waren. So erläutert Geoffrey Samuel, dass die missionarischen und expansionistischen Aktivitäten des tibetischen Buddhismus ein zentraler Aspekt der ‘Tibetisierung’ waren. Das Wort, das im Tibetischen die Bekehrung zum Buddhismus bezeichnet - dülwa (‘dul ba) - kennt als ursprünglichen Sinn auch die Bedeutungen ‘zähmen, unterwerfen, zivilisieren, disziplinieren’.[6] In der Tat haben verschiedene Formen von Gewalt bei der Missionierung eine größere Rolle gespielt.[7]

Die Erkenntnis solcher Umstände wiederum halfen mit, dass ein ganz anderes, negatives Tibetbild seine Macht entfaltete, angefangen bei Reisebeschreibungen, die im 19. Jahrhundert von Missionaren verfasst wurden. Am Ende der Fahnenstange steht die chinesische Propaganda, die aus einer durchaus kritisch zu beleuchtenden tibetischen Vergangenheit gleich eine ‘Hölle auf Erden’ machte. In der Kulturrevolution gaben sich die politischen Agitatoren alle Mühe, den Tibetern (und anderen Ethnien inklusive der Han-Chinesen selbst) auch tatsächlich eine solche Hölle zu schaffen. Erst ein mühsamer Prozess von gesellschaftspolitischen Korrekturen hat den Lebensalltag der meisten Tibeter wieder einigermaßen in den Rahmen der Normalität zurückgebracht. Politische Opposition und der in China repressive staatliche Umgang damit gehören entsprechend ebenfalls zum heutigen Tibetbild, was aber aufgrund seiner Komplexität und vielfältigen, zumeist eher unbekannten geschichtlichen Hintergründe hier nicht diskutiert werden kann. Was jedoch ausgesprochen werden muss, ist dass die Politisierung der tibetischen Gesellschaft durch die kommunistischen Ideologen den tibetischen Nationalismus auf jeden Fall erst als ein verbreitetes Phänomen auf die Tagesordnung gesetzt hat. Insofern spielt dieser Part des westlichen Tibetbildes gleichfalls eine bedeutende Rolle für die Identität der Tibeter, dafür, wie sie sich sehen und verstehen.

Die Tibeter: eine homogene Ethnie oder heterogene Nation?

Ein Grundproblem bei der Betrachtung kultureller Einheiten sind Begriffe, die etwas nur scheinbar eindeutig umreissen. Die Wissenschaftsgeschichte der Anthropologie und verwandter Fächer zeigt jedoch, dass solche Begriffe stets hinterfragt werden müssen. Es gibt keine naturgegebene Abgrenzung von Völkern, Ethnien, Volksgruppen, Nationen oder Staaten. Sie sind vielmehr Fiktion, bestenfalls Konvention, und der Versuch solche zu definieren, wirft zwangsläufig die Fragen auf: Wer sind sie? Woher kommen sie? Wodurch definieren sie sich und grenzen sich ab? Der Versuch solche Abgrenzungen vorzunehmen verdeutlicht bald, dass es viele Überschneidungen mit den Nachbarn gibt und dass manche Eigenheiten einer Gruppe doch nicht ihr allein eigen sind. Dies trifft für die Tibeter nicht weniger zu, vor allem, wenn der Raum des gesamten tibetischen Hochlandes im Blickfeld steht. Dieser ist nicht homogen von Tibetern besiedelt; und die Wurzeln des Völkermosaiks von heute reichen, wie sollte es anders sein, weit in die Geschichte zurück.

Tibet als Vielvölkerreich zu sehen ist im Westen eine wohl eher exotische Auffassung, und dies obwohl es keine Region dieser Größenordnung auf unserem Globus gibt, die tatsächlich ethnisch homogen ist. Dennoch hat sich nicht nur in der breiteren Öffentlichkeit, sondern teilweise sogar in der Wissenschaft, insbesondere den philologischen Disziplinen, die Auffassung gehalten, dass der Begriff Tibet eindeutig auf die so benannte Raumeinheit bezogen werden könnte. Wer dies im Detail betrachtet, stößt jedoch sehr bald darauf, dass wir, wenigstens in unserem westlichen Sprachraum, mindestens drei verschiedene Tibets unterscheiden sollten: 1. auf der Basis der Geographie das gesamte Hochland von Tibet als ‘geographisches Tibet’; 2. der sprachlichen und kulturellen Identität ein‘ethnisches Tibet’ und 3. der historisch-politischen Dimension ein ‘politisches Tibet’. Während das erste nach menschlichem Ermessen unverändert geblieben ist, haben zu allen Zeiten Bevölkerungsbewegungen und politische Ereignisse die Dimension der beiden anderen tibetischen Räume regelmäßig verändert, gerade auch durch Aktivitäten der Tibeter und ihnen verwandter Gruppen selbst.

Eine mangelhafte Auseinandersetzung mit der Historie dieser Wanderungsbewegungen lässt den Betrachter in Unkenntnis des ethnischen Gefüges verweilen, was ihm die eine ausgewogene Bewertung der Bevölkerungsstrukturen auf dem Dach der Welt verbaut. Sowohl aus den daraus resultierenden Verschiebungen des Lebensraumes von Tibetern, als auch durch die räumliche Dimension, die gewaltige Ausdehnung des tibetischen Hochlandes, entsteht ein Spannungsfeld innerhalb tibetischer Gebiete. Dieses beruht auf dem Gegensatz zwischen einem verhältnismäßig homogenen tibetischen Siedlungsraum, bis Mitte des 20. Jahrhunderts repräsentiert durch den Machtbereich der Dalai Lamas und der daraus hervorgegangenen so genannten Autonomen Region Tibet (ART), und sehr viel stärker gemischt bevölkerten und dichter besiedelten Gebieten an der Peripherie. Begrifflich lässt sich dies durch die Unterscheidung von Tibet und Groß-Tibet trennen, wovon das eine bis auf wenige bedeutende und erst in der Zeit nach 1951 entstandene chinesische Siedlungskerne in hohem Maße homogen von Tibetern besiedelt ist, während das andere selbst in historischer Zeit eine heterogene, will heißen: Vielvölkerstruktur besitzt.

Das oben Gesagte wirkt sich ganz gravierend auf die Interpretation der Bevölkerungsstruktur aus, denn die heutige Deutung der Verhältnisse in diesem Vielvölkerraum geschieht meist im Sinne einer Antinomie Tibeter versus (Han-) Chinesen. Dabei gelten letztere als in jüngster Zeit eingewandert; zudem werden beträchtliche Bevölkerungsgruppen, die als nicht Chinesisch Sprechende angestammt im Raum leben, dennoch fast alle als ‘Chinesen’ klassifiziert, obschon sie ihre eigene Identität gegenüber der in China 93 Prozent der Bevölkerung ausmachenden Han-Mehrheit hervorheben. Wer also außer den Tibetern lebt noch im tibetischen Hochland?

Es ist vor allem die Peripherie Tibets, in der eine komplexe ethnische Struktur vorherrscht. So erstrecken sich die Siedlungsräume der Tibeter in der Provinz Qinghai und die ihnen dort zugestandenen Gebiete autonomer Selbstverwaltung über 97% der Provinzfläche; doch schon der Anteil der Tibeter Qinghais an der tibetischen Gesamtbevölkerung[8] macht deutlich, dass die Ethnographie dieser Provinz völlig andere Züge trägt. Im Norden und Nordosten des tibetischen Hochlands leben neben Mongolen noch altmongolische (Tu/Monguor) und turksprachige Völker, die teilweise einer lamaistischen Überprägung (Tu, Teile der Yugur) oder der Islamisierung bzw. Turkisierung unterlagen (Kasachen, Salar, Bao'an, Dongxiang, Hui). Einige dieser Völkerschaften umfassen 100000 Angehörige oder mehr. Lediglich die Hui und Han überbieten, zumindest im nordöstlichen Hochland, die Tibeter an Zahl. In den unter 3000 Meter Höhe gelegenen Tälern finden sich zudem seit vielen Jahrhunderten chinesische Siedlungen. In den von tiefen Schluchten durchzogenen Gebieten Osttibets (Kham) haben sich verschiedene ethnische Gruppen, die der so genannten tibetobirmanischen Sprachfamilie zugeordnet werden, stockwerkartig übereinander eingerichtet. Am deutlichsten heben sich die Yi (Lolo) ab, die wie die Naxi, Moso, Pumi, Nu und Lisu am äußersten Südostrand Tibets leben. Zusammen dürften sie - innerhalb des geographischen Tibet - etwa eine Million Menschen umfassen.[9] (Tab. 1) Eine Sonderstellung nehmen die rund 200000 Qiang ein. Von den Zentraltibetern Jang (‘jang) genannt, werden sie von ihnen als einer der Tibeterstämme Khams betrachtet. Ihre Kultur trägt indes deutlich eigene Züge, und ihre tibetobirmanische Sprache ist ebenfalls ein eigenes Idiom. Die benachbarten Stämme im Gyarong betrachten sich teilweise selbst als Tibeter, oder Khampa, wobei nicht wenige Gyarongpa ihre eigene kulturelle Identität zur Sprache bringen. Dies war beispielsweise im 19. Jh. auch noch die Ansicht des Lama Tsenpo:

Östlich davon liegt Rgyal-mo-rong. Wenn wir jene Region anhand ihrer inneren Unterteilungen gliedern, waren da achtzehn Königreiche (rgyal khag) ... Die Menschen jener Regionen sind beachtlich in Stärke und Wildheit, und jene von Mi-nyag, Rgyal-(mo)-rong und Mi-li sind keine echten Tibeter.[10]

So lange diese Gebiete in Ost-Kham so wenig erforscht sind, lässt sich schwer entscheiden, in welchem Ausmaß dort lebende Stämme im Laufe der Geschichte einem Prozess der ‘Tibetisierung’ unterlagen - entsprechend der ‘Sinisierung’ zahlreicher Völkerschaften in Südchina. Andere tibetische Stämme und verwandte Völkerschaften finden sich in den an die VR China angrenzenden Gebieten der Nachbar-

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tab. 1:

Tibeter und andere ethnische Gruppen im Hochland von Tibet (1990)


[...]

[1] blo sbyong tshig brgyad, zit. und übersetzt nach Wylie 1962, S. 97.

[2] Zit. Brauen 2000, S. 45f.

[3] Jörg Lösel: Tibet im Spielfilm. In: Müller und Raunig (o.J.), S. 397f.

[4] Zit. Brauen 2000, S. 98f.

[5] Zit. übers. nach Snellgrove & Richardson 1968, p.175.

[6] H.A. Jäschke, A Tibetan-English Dictionary. Richmond 1998, S. 278. Ebenso im tibetisch-englischen Wörterbuch von Sarat Chandra Das, A Tibetan-English Dictionary with Sanskrit Synonyms, Calcutta 1902. Vgl. Samuel 1993, S. 561. Die weitreichenden, in gewisser Weise ‘kolonialistischen’ Konsequenzen der Verbreitung des tibetischen Buddhismus werden um so deutlicher, je mehr man sich vor Augen hält, wie stark fast alle Aspekte der tibetischen Gesellschaft vom durchaus nicht zu Unrecht mit dem ungeliebten Wort Lamaismus bezeichneten religiösen und religionspolitischen System durchdrungen und beherrscht waren. (Vgl. dazu A. Gruschke, Tibetischer Buddhismus, München 2003, S. 86f.).

[7] Alexander MacDonald, Remarks on the Manipulation of Power and Authority in the High Himalaya. In: Tibet Journal, 12 (1987), Nr. 1, S. 3-16. Vgl. auch Samuel 1993, S. 562.

[8] Er stieg von 9% im Jahre 1953, 16% in 1964 auf 19% in 1990, nachdem er 1982 zwischenzeitlich bei einem Spitzenwert von 22% lag. (Xing Haining, Bevölkerungsverteilung und -merkmale der Tibeter in Qinghai (chin.). In: Xizang yanjiu, 1993, Nr. 1; vgl. Gruschke 1997)

[9] Gruschke 1993, und 1997, S. 279-286.

[10] Zit. und übers. nach Wylie 1962, S. 102f.

Ende der Leseprobe aus 35 Seiten

Details

Titel
Wer sind die Tibeter?
Autor
Jahr
2005
Seiten
35
Katalognummer
V60758
ISBN (eBook)
9783638543460
ISBN (Buch)
9783656789413
Dateigröße
1151 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Erstveröffentlichung in: Wulf Köpke/Bernd Schmelz (Hg.), 'Die Welt des Tibetischen Buddhismus', Mitteilungen aus dem Museum für Völkerkunde Hamburg, Neue Folge, Band 34. Hamburg, 2005, S. 171-221.
Schlagworte
Tibeter
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M.A. Andreas Gruschke (Autor:in), 2005, Wer sind die Tibeter?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/60758

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