Die Grundsatzentscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in Sachen „Überseering“ bzw. „Inspire Art“ haben zu einer lebhaften Debatte um die Zulässigkeit der traditionellen deutschen Sitztheorie geführt. Kern der Auseinandersetzung ist die Frage, inwieweit deutsche Kapitalgesellschaften derzeit grenzüberschreitende Mobilität innerhalb der EU genießen. Der bisherige Diskurs um die Zulässigkeit grenzüberschreitender Sitzverlagerungen beschränkt sich dabei fast ausschließlich auf die kollisionsrechtliche Ebene und vernachlässigt die einschlägigen Bestimmungen des deutschen Sachrechts. Der folgende Beitrag möchte durch eine ganzheitliche Betrachtung die Situation erhellen, zu einer kritischen Auseinandersetzung mit scheinbar etablierten (Rechts-) Positionen anregen und die Diskussion um bislang wenig beachtete Fakten ergänzen. Verlegt eine Kapitalgesellschaft ihren Sitz ins Ausland oder vom Ausland ins Inland, so werden eine Reihe von Fragen aufgeworfen: Will die Gesellschaft unverändert fortbestehen, so muss zum einen das am Ort des alten Sitzes geltende Recht die Sitzverlegung zulassen und zum anderen das am Ort des neuen Sitzes gültige Recht die zuziehende Gesellschaft in ihrer bestehenden Rechtsform anerkennen. Grenzüberschreitende Sitzverlegungen aus Deutschland heraus (Wegzugsfälle) bzw. nach Deutschland hinein (Zuzugsfälle) werfen zunächst Fragen des Internationalen Privatrechts (IPR) bzw. des Internationalen Gesellschaftsrechts auf. Konträr stehen sich hierbei - im EG-Binnenmarkt wie anderswo - Sitz- und Gründungstheorie gegenüber. Gemein ist beiden Anknüpfungstheorien, dass es sich um kollisionsrechtliche Verfahren zur Bestimmung des Personalstatuts einer Gesellschaft handelt. Während die Gründungstheorie zur Bestimmung des Gesellschaftsstatuts auf den Ort der (Erst-) Registrierung bzw. auf den Satzungssitz der Gesellschaft abstellt, knüpft die Sitztheorie das auf die Gesellschaft anwendbare Recht an den Ort des effektiven Verwaltungssitzes. Daraus folgt, dass bei der Betrachtung grenzüberschreitender Sitzverlegungen streng zu differenzieren ist, ob eine Verlegung des effektiven Verwaltungssitzes, eine Verlegung des Satzungssitzes oder die gemeinsame Verlegung beider Sitze beabsichtigt ist.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Europäische Vorgaben
- Das EuGH-Urteil „Überseering“
- Das EuGH-Urteil „Inspire Art“
- Kernaussagen der Urteile
- Stand des deutschen IPR – Die Sitztheorie im Lichte der Art. 43, 48 EG-Vertrag
- Anknüpfungsmethode für zuziehende EG-Gesellschaften
- Anknüpfungsmethode für den Wegzug in das EG-Ausland
- Rechtsprechung und Meinungsstand der Literatur
- Zuzugsfälle
- Verlegung des Satzungssitzes nach Deutschland bei wirksam in der EG gegründeten Gesellschaften
- Verlegung des effektiven Verwaltungssitzes nach Deutschland bei wirksam in der EG gegründeten Gesellschaften
- Gemeinsame Verlegung von Satzungs- und tatsächlichem Verwaltungssitz nach Deutschland
- Wegzugsfälle
- Verlegung des Satzungssitzes bei in Deutschland gegründeten Gesellschaften
- Verlegung des effektiven Verwaltungssitzes bei in Deutschland gegründeten Gesellschaften
- Gemeinsame Verlegung von Satzungs- und tatsächlichem Verwaltungssitz ins Ausland
- Zuzugsfälle
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Der Beitrag untersucht die Zulässigkeit von grenzüberschreitenden Sitzverlegungen deutscher Kapitalgesellschaften innerhalb des EG-Binnenmarktes. Er beleuchtet die Relevanz der Sitztheorie im Kontext der Niederlassungsfreiheit gem. Art. 43, 48 EG-Vertrag und analysiert die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) sowie den Meinungsstand der Literatur.
- Rechtliche Rahmenbedingungen von Sitzverlegungen
- Die Sitztheorie im deutschen Internationalen Privatrecht
- Anwendbarkeit der Niederlassungsfreiheit
- Die Urteile „Überseering“ und „Inspire Art“
- Zuzugs- und Wegzugshindernisse
Zusammenfassung der Kapitel
- Einleitung: Der Beitrag setzt sich mit der Frage auseinander, welche rechtlichen Fragen sich bei grenzüberschreitenden Sitzverlegungen von Kapitalgesellschaften ergeben. Dabei wird die Bedeutung der Sitztheorie und der Gründungstheorie im Kontext des Internationalen Privatrechts und des Internationalen Gesellschaftsrechts hervorgehoben.
- Europäische Vorgaben: Dieses Kapitel beleuchtet die Relevanz der Niederlassungsfreiheit gem. Art. 43, 48 EG-Vertrag im Kontext von Sitzverlegungen. Es werden die wichtigsten Entscheidungen des EuGH, insbesondere „Überseering“ und „Inspire Art“, analysiert.
- Stand des deutschen IPR – Die Sitztheorie im Lichte der Art. 43, 48 EG-Vertrag: Der Beitrag setzt sich mit der traditionellen deutschen Sitztheorie auseinander und analysiert deren Anwendbarkeit im Licht der Niederlassungsfreiheit. Es wird die Anknüpfungsmethode für zuziehende EG-Gesellschaften und den Wegzug aus dem EG-Ausland diskutiert.
- Rechtsprechung und Meinungsstand der Literatur: Dieses Kapitel stellt die Rechtsprechung und den Stand der Literatur in Bezug auf Zuzugs- und Wegzugsfälle dar. Es werden verschiedene Szenarien, wie die Verlegung des Satzungssitzes, des effektiven Verwaltungssitzes und die gemeinsame Verlegung beider Sitze, eingehend betrachtet.
Schlüsselwörter
Die wichtigsten Schlüsselwörter dieses Beitrags sind Sitztheorie, Gründungstheorie, Niederlassungsfreiheit, Art. 43, 48 EG-Vertrag, Europäischer Gerichtshof, Internationales Privatrecht, Internationales Gesellschaftsrecht, grenzüberschreitende Sitzverlegungen, Zuzug, Wegzug, „Überseering“, „Inspire Art“, Daily Mail-Doktrin.
- Quote paper
- LL.B. (Melb.); LL.M. (Melb.)/Dipl. Wirtschaftsjurist (FH) Florian Schwarz (Author), 2005, Sitzverlegungen deutscher Gesellschaften innerhalb des EG-Binnenmarktes: Grenzenlose Mobilität trotz (eingeschränkter) Sitztheorie!, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/61294