Studien zu Max Ernsts Loplop


Magisterarbeit, 2005

90 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

EINLEITUNG

Forschungsstand

1. Biographische Grundlagen zur Vogelidentifikation

2. Vom Vogelmotiv zu Loplop

3. Die Serie Loplop présente
3.1 Technik und Material
3.2 Thema der Serie
3.3 Das Bild-im-Bild

4. Erscheinungsformen des Loplop
4.1 Collagen
4.2 Gemalte Fassungen

5. Quellen zu Loplop
5.1. Mythologie
5.2. Psychoanalyse
5.2.1 Sigmund Freud: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci (1910)
5.2.2 Sigmund Freud: Totem und Tabu (1912/1913)
5.2.3 Carl Gustav Jung: Wandlungen und Symbole der Libido (1912)

6. Theoretische Schriften Max Ernsts

7. Funktion des Loplop
7.1 im Œuvre
7.2 als Privatmythos

8. Schlusswort

LITERATURVERZEICHNIS

Abbildungsnachweis

ABBILDUNGEN

EINLEITUNG

Der Künstler Max Ernst (geboren am 2. April 1891 in Brühl als erstes von sechs Kindern, gestorben in Paris am 1. April 1976) schuf eine Figur namens Loplop. Sie tritt als anthropomorphes Vogelwesen in seinem Werk auf und repräsentiert den Künstler selbst.

Schriften Ernsts berichten von Erlebnissen mit Vögeln, die dem Loplop eine biographische Bedeutung zukommen lassen und auf eine Identifikation mit der Vogelfigur hinweisen. Außer in den bio- graphischen Berichten hat sich Ernst nie konkret zu Loplop geäußert. Daher kursieren eine Fülle von Spekulationen über vermeintliche Quellen, die Ernst zu Loplop angeregt haben könnten und dessen Bedeutung und Funktion.

Die Vielschichtigkeit der möglichen Quellen zur Vogelfigur kann zurückgeführt werden auf Ernsts umfassende Bildung. Nach dem Abitur 1910 schrieb er sich im selben Jahr in der Philosophischen Fakultät in Bonn ein. Er verfolgte sein Studium jedoch nicht im Hinblick auf einen Universitätsabschluss, sondern besuchte Veranstaltungen in den unterschiedlichsten Gebieten, die seinen Interessen entsprachen. Er hörte Vorlesungen zur Psychologie und Psychiatrie, auch nahm er an Veranstaltungen der Kunstgeschichte, der Archäologie sowie der Alt- Philologie teil.1 Kenntnisse aus diesen Wissensgebieten fanden Eingang in seine Kunst. Aus diesem Grund bleibt die Beschäftigung mit Loplop interessant, da der Betrachtungshorizont weit gefasst werden muss. Er beinhaltet die Psychoanalyse, Mythologien unterschiedlicher Kulturen, aber auch Themen der Kunstgeschichte. Schlussendlich ist Loplop aber auch in Zusammenhang mit der Surrealistischen Gruppe zu sehen, deren aktives Mitglied er seit seiner Ankunft in Paris 1922 war.2

Diese Arbeit zeigt zunächst die Entwicklung der Identifikation des Künstlers mit dem Vogel in den biographischen Schriften von Ernst auf, dann den Identifikationsverlauf in seinem künstlerischen Werk von ersten Verwendungen des Vogelmotivs bis hin zum erstmalig namentlichen Auftauchen des Loplop. Spekulationen über die Herkunft des Namens schließen sich an.

Das Vogelwesen ist Hauptfigur einer Serie mit dem Titel Loplop présente in den Jahren 1929 bis 1932. Das Spezifische dieser Serie ist, dass Loplop, wie man dem Titel der Serie entnehmen kann, Bilder präsentiert, die auf Motive und Techniken des bisherigen Œuvres zurückgreifen.3 Da die Serie eine Vielfalt von Techniken und Materialien aufweist, wird dieser Aspekt einzeln behandelt und mit Bildbeispielen veranschaulicht. Anschließend daran wird auf das Thema der Serie eingegangen sowie auf die durchgängige Verwendung des Bildes-im- Bild und mögliche Anregungen zu diesem Motiv.

Nun wird die Erscheinungsform des Loplop untersucht. Hier weichen Collage und gemalte Fassung deutlich voneinander ab bis hin zur Formenreduktion der Figur. Erscheinungsform, Aufbau und mögliche Einflüsse auf diesen wird anhand von Bildbeispielen verdeutlicht.

Eine Untersuchung der Quellen für die Loplop-Figur aus dem Bereich der ägyptischen und mexikanischen Mythologie sowie der Psychoanalyse schließen sich an. Es geht hier um die Auseinandersetzung Ernsts mit Schriften Freuds. Ernst gilt, nach Werner Spies, als der erste Künstler, der die Schriften Sigmund Freuds in seine Kunst einfließen ließ.4 Es ist belegt, dass sich Ernst ab 1911, also während seiner Studienzeit in Bonn, mit Freuds Schriften beschäftigte.5 Er erwähnt Freud jedoch in keinem seiner Texte. Lediglich eine Zusammenstellung Ernsts von Künstlern und Dichtern kann auf deren mögliche Einflüsse hinweisen.6 Neben Freud ist auch eine Anregung Jungs für Ernsts Identifikationsfigur denkbar.

Die Figur des Loplop taucht bemerkenswerterweise zu einer Zeit auf, da die surrealistische Gruppe in einer Krise steckt. In dieser Zeit äußert sich Ernst zum ersten Mal mit theoretischen Schriften über seine künstlerischen Verfahrensweisen. Um zu einem umfassenderen Verständnis des Loplop und seiner Serie zu gelangen, ist es notwendig, diese Schriften zu untersuchen.

An diese Untersuchung schließt die Analyse der Funktion der Figur für das Werk des Künstlers an und die Rolle, die sie für seine künstlerische Selbstauffassung spielt. Eine zusätzliche Funktion ist im großen Kontext der Gruppe der Surrealisten zu sehen. Diese versuchten sich an der Erfindung kollektiver neuer Mythen. Einer dieser neuen Mythen, hier insbesondere der von der Gradiva, wurde von Salvador Dalí auf seine Frau Gala angewandt. Anhand der Gegenüberstellung von Gradiva und Loplop sollen die Gemeinsamkeiten dieser neuen Privatmythen aufgezeigt werden und ihre Rolle für die Surrealisten.

Ziel dieser Arbeit ist es, ein umfassendes Bild der komplexen Figur Loplop darzulegen, das die neuesten Entwicklungen der Forschung mit aufnimmt.

Es würde den Rahmen sprengen, dieser Figur im gesamten Werk nachzugehen, daher liegt der Schwerpunkt der Analyse Loplops auf der ihm gewidmeten Serie Loplop présente, der nicht nur aufgrund des Vogelwesens an sich eine herausragende Rolle zukommt, sondern auch deshalb, weil sie den künstlerischen Schaffensprozess von Ernst dokumentiert. Es erschien ratsam, die hier besprochenen Bildbeispiele aus Gründen der Fokussierung nicht in jedem Falle ausführlich zu beschreiben.

Forschungsstand

Aus der umfangreichen Literatur zu Loplop werden hier nur die Publikationen chronologisch aufgeführt, die für diese Arbeit am relevantesten sind.

Der erste Aufsatz, der sich mit dem Thema Loplop beschäftigt, stammt von Eduard Trier aus dem Jahr 1976 und trägt den Titel Huldigung an Loplop. Variationen über ein Thema von Max Ernst. Trier, der Loplop als ein „persönliches Phantom“ bezeichnet versuchte, indem er die Rolle des Vogels in der Mythologie verfolgte, einen Zugang zu Loplop zu verschaffen.7 Zwei Jahre später schrieb Günter Metken über das Vogelwesen. Er analysierte die Serie Loplop présente und erkannte in Loplop eine „Staffeleifigur“, die die Funktion der Distanz von Künstler und Werk einnehme.8 Whitney Chadwick befasste sich in Myth in Surrealist Painting von 1980 mit der Mythen-Rezeption innerhalb der surrealistischen Gruppe. Sie verweist auf Ernsts Interesse für Leonardo da Vinci, seine Auseinandersetzung mit dessen Traktat über die Malerei und Sigmund Freuds Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci.9 Werner Spies widmete 1982 der Loplop-Figur eine Monographie mit dem Titel Max Ernst - Loplop. Die Selbstdarstellung des Künstlers. Es ist das bedeutendste vorliegende Grundlagenwerk für die Loplop- Forschung. Ausgehend von der Serie Loplop présente, die Spies im Hinblick auf Technik, Motivik und Ausgangsmaterial umfassend untersucht, analysiert der Autor Loplop anhand der Arbeiten der Serie. Auch bezieht er Ernsts theoretische Texte über seine Arbeitsweise in seine Ausführungen mit ein. Spies vertritt eine ähnliche These wie Chadwick, denn er sieht Loplop als Reflexionsfigur, basierend auf der Auseinandersetzung Ernsts mit Freuds Leonardo-Aufsatz.10 Charlotte Stokes betrachtet Ernsts Vogelwesen in ihrem Aufsatz Surrealist persona: Max Ernst´s Loplop, superior of birds von 1983 aus dem Blickwinkel der Psychoanalyse. Sie sieht in Loplop Parallelen zu dem von Jung entwickelten Persona-Konzept.11 Auf eine Bekanntschaft von Ernst mit jungianischen Schriften geht sie nicht ein. Mit der Frage nach einer möglichen Jung-Rezeption Ernsts beschäftigte sich 1992 Christa Lichtenstern.12 In der Schrift Jungs Wandlungen und Symbole der Libido von 1912 findet Rainer Zuch Motive, die Ernst auch für seine Loplop- Figur verwendete. Diese Motive wurden zunächst im Aufsatz Wald, Vögel und Gestirn. 40 Jahre Max Ernst in ,Un peu de calme‘ besprochen. Ausführlicher werden sie in seiner Dissertation Die Surrealisten und C. G Jung. Studien zur Rezeption der analytischen Psychologie im Surrealismus am Beispiel von Max Ernst, Victor Brauner und Hans Arp behandelt.13

1. Biographische Grundlagen zur Vogelidentifikation

Max Ernst veröffentlichte im Jahr 1942 in der Zeitschrift View erstmalig biographische Schriften unter dem Titel Some Data on the Youth of M. E. As told by himself. Der Text ist in der dritten Person abgefasst und berichtet von mehreren Ereignissen, die mit Vögeln in Zusammenhang gestanden haben sollen. Bereits bei seiner Geburt habe der Vogel eine Rolle gespielt, wie Ernst berichtet:

“The 2nd of April (1891) at 9:45 a.m. Max Ernst had his first contact with the sensible world, when he came out of his egg which his mother had laid in an eagle´s nest and which the bird had brooded for seven years.“14

Hier bereitet Ernst bereits den Nährboden für das vom Künstler häufig verwendete Motiv des Vogels, welches sich später in der Figur mit dem Namen „Loplop“ manifestiert.

Ernst berichtet von einem weiteren einschneidenden Erlebnis, das erneut in Verbindung mit einem Vogel steht. Es handelt sich um das Zusammentreffen der Geburt seiner Schwester Loni mit dem Tod seines Kakadus mit Namen Hornebom:

„(1906) First contact with occult, magic and witchcraft powers. One of his best friends, a most intelligent and affectionate pink cockatoo, died at the same moment, his father announced to him the birth of his sister Loni“.15

Ernst schrieb, er habe beide Begebenheiten miteinander in Zusammen- hang gebracht und seiner Schwester die Schuld an dem Tod des Vogels gegeben. Psychische Störungen in Form von hysterischen Zuständen bis zu Depressionen seien dem gefolgt. Hier sollen sich auch die Mischwesen von Vögeln und Menschen, die man im Werk antrifft, manifestiert haben:

„A dangerous confusion between birds and humans became encrusted in his mind and asserted itself in his drawings and paintings.The obsession haunted him until he erected the Birds Memorial Monument in 1927, and even later Max identified himself voluntarily with Loplop, the Superior of the Birds“.16

Diese Anekdote bildet die Basis für die Identifikation des Künstlers mit dem Vogelwesen Loplop.

Über seinen Militärdienst im Ersten Weltkrieg schreibt Ernst:

„(1914) Max Ernst died the 1st of August 1914. He resuscitated the 11th of November 1918 as a young man aspiring to become a magician and to find the myth of his time. Now and then he consulted the eagle who had hatched the egg of his pre-natal life. You may find the bird´s advices in his work“.17

Spätestens an dieser Stelle wird klar, dass es sich nicht ausschließlich um wahrheitsgemäß geschilderte Erlebnisse des Künstlers handelt. Der Künstler mythisiert seine Biographie.

Aus den oben angeführten Anekdoten lässt sich ersehen, dass Ernst seine Identifikationsfigur von einem anonymen Vogel bis hin zu Loplop, dem Obersten der Vögel, entwickelt. Man muss bei Ernsts Schilderungen jedoch zweierlei beachten. Zum einen sind sie erst nach dem Erscheinen des Vogelwesens im Werk schriftlich fixiert worden, wie im Folgenden erläutert wird. Zum anderen handelt es sich wohl nur zum Teil um authentische Erlebnisse, denn in der Überarbeitung Ernsts seiner biographischen Schriften bekommen diese den Untertitel Wahrheitgewebe und Lügengewebe, wie man dem Ausstellungskatalog des Kölner Wallraf-Richartz-Museums und des Kunsthauses Zürich von 1962/63 entnehmen kann. Hauptaugenmerk seiner biographischen Schriften liegt auf der frühen Kindheit, aus der er besondere Ereignisse berichtet und seine daraus resultierenden psychischen Befindlichkeiten beschreibt. Breton hatte bereits in seinem Ersten Manifest des Surrealismus von 1924 die Hinwendung zur Kindheit gefordert.18 Indem Ernst in seinem Werk auftauchende Motive, wie das Vogelwesen Loplop, auf persönliche Erlebnisse zurückführt, entsteht der Anschein einer persönlichen Ikonographie, möchte man seinen Schilderungen Glauben schenken.

2. Vom Vogelmotiv zu Loplop

Bereits seit Beginn der 20er Jahre, bevor das Vogelwesen Loplop in das Werk von Max Ernst tritt, ist der Vogel bei ihm ein wiederholt auftretendes Motiv. Er bedeckt die Scham eines Frauenkörpers und ersetzt den Kopf einer weiteren weiblichen Figur in Santa Conversazione S/M 425 (Abb. 1) von 1921.19 La parole S/M 441 (Abb. 2) aus demselben Jahr zeigt eine kopflose Frauenfigur, die einen Vogel unter der Achsel und einen weiteren in der Schamgegend trägt. Zuch nimmt an, dass daher die Bedeutung des Vogels in den frühen Werken vor allem sexuell zu sein scheint.20

Geht man der Frage nach, wo der Vogel namens Loplop erstmals im Œuvre auftaucht, findet man in der Literatur die verbreitete Ansicht, dass dies im Collage-Roman La femme 100 têtes, erschienen 1929, gewesen sei.21 Charlotte Stokes hat darauf hingewiesen, dass bereits ein Jahr zuvor ein Bild enstand mit dem Titel Loplop, Le Supérieur des oiseaux (oiseau de neige) S/M 1272 (Abb. 3).22 Auf einem schwarzen Untergrund fluchten weiße Linien vertikal vom unteren Bildrand zu einem außerhalb des Bildes liegenden Fixpunkt. Sie werden abgeschlossen von einer horizontalen Linie. Dieses so gebildete Rechteck erweckt den Eindruck eines schematisierten Fußbodens bzw. einer Bühne. Oberhalb dieses von einer Horizontalen abgeschlossenen Rechtecks befindet sich ein oval geformter Vogelkopf mit Schnabel im Profil. Diese Form kann an eine Palette erinnern. Am Hinterkopf des Vogels ist ein Federbusch angedeutet. Unterhalb des Vogelkopfes befindet sich ein nach unten auslaufendes spitzes Dreieck, welches vermutlich den Hals bilden soll. Auf dem Rechteck sind außerdem noch vier weiße Flächen zu sehen. Diese lassen Flügel und Füße vermuten. Das Bild wirkt wie eine Zeichnung, da es sich vollständig aus weißen Linien auf schwarzem Hintergrund darstellt. An mehreren Stellen, an denen die weiße Farbe nur sehr dünn aufgetragen ist, wirkt sie transparent. Die Linien scheinen dahinzuschmelzen wie Schnee, siehe Bildtitel. Die ganze Bild- konstruktion unterliegt keiner korrekten Perspektive. Mal scheint es, als sei das Rechteck Teil der Vogelgestalt, mal scheint die Figur räumlich vor es zu treten. Ludger Derenthal und Jürgen Pech sehen in diesem Bild ein Selbstporträt Max Ernsts.23 Ob sie das mit der Identifikation des Künstlers mit einem Vogel begründen oder weil verschiedene Zeitgenossen Ernst die Charakteristika eines Vogels zuschrieben, darunter Dorothea Tanning24 und André Breton,25 darüber schweigen sich die Autoren aus. Auf die physiognomische Ähnlichkeit von Ernst und einem Vogel hat bereits Edouard Roditi aufmerksam gemacht. Er sieht den Vogel als Wappen von Ernst an und führt aus, der Künstler habe Briefe an Freunde mit einer Vogelskizze unterzeichnet.26

Das Blatt Loplop et l´horoscope de la souris S/M 1458 (Abb. 4) aus der Serie La femme 100 têtes zeigt an Stelle eines Vogels einen Menschen, der eine große Ähnlichkeit mit Ernst besitzt.27 Bert M.-P. Leefmanns erkennt Ernst selbst in der Darstellung.28 Das ist eher unwahrscheinlich, da Ernst meist auf bereits bestehendes Material aus Romanfeuilletons zurückgriff, welche er zeichnerisch nur selten ergänzte.29 Die Ähnlichkeit mit seiner Person war dem Künstler sicherlich bewusst und offenbar wollte er derartige Vermutungen provozieren. Man kann bei diesem Bild also durchaus von einer bildlich dargestellen Identifikation Ernsts mit dem Vogel sprechen.

Die Hauptfigur in dem Collageroman La femme 100 têtes ist jedoch Perturbation, ma sœur, la femme 100 têtes. Der Begriff „Perturbation“ fällt auffälligerweise in der Erzählung vom Tod Horneboms und der Geburt von Loni:

„… the perturbation was so enormous that he fainted“.30

Weiter führt Ernst aus:

„...even later Max identified himself voluntarily with Loplop, the Superior of the Birds. This phantom remained inseparable from another one called Perturbation ma sœur, la femme 100 têtes“31

Stokes sieht in der Figur der „Schwester“ das weibliche Gegenstück zu Loplop. Auch sie soll den Kindheitserlebnissen des Künstlers entstammen. Für Stokes steht Loplop für die Geburt der Schwester Loni und den Tod des Kakadus, Perturbation ma sœur, la femme 100 têtes für den Tod der Schwester Maria als er sechs Jahre alt war32:

“(1897) First contact with nothingness, when his sister Maria kissed him and her sisters goodbye Since this event the feeling of nothingness and annihilating powers were predominant in his mind, in his behaviour and - later - in his work.“33

Woher aber stammt der Name „Loplop“? Hierüber finden sich reichlich Spekulationen in der Literatur. Ulrich Bischoff als auch Spies nehmen an, der Name gehe zurück auf einen Pariser Straßenkünstler namens Ferdinand Lop, den man Loplop nannte.34 Stokes vermutet den Ursprung des Namens in einem dadaistischen Gedicht von Ernst, in welchem eine Zeile „Anti-lops-tilopam“ lautete.35 Später jedoch meint sie, die Anwort auf die Frage in einem Buch von Jimmy Ernst, dem Sohn des Künstlers, gefunden zu haben.36 Dieser berichtet in seinen Erinnerungen an seinen Vater von einem Gespräch mit ihm kurz vor dessen Tod:

„Jeder will immer wissen, wer und was Loplop eigentlich ist, und sie schreiben herrliche Geschichten über ihn. Nun als du noch viel zu klein warst, um ohne Hilfe darauf zu sitzen, hat dir irgendein Idiot ein hölzernes Schaukelpferd geschenkt, anstatt mir ein Bild abzukaufen. Es war furchtbar lästig, dich stundenlang festzuhalten und dir vorzusingen: „Galopp...galopp...galopp...galopp.“ Du liebtest dein Loplop. Ich hasste es. Mitten in der Nacht bist du aufgewacht und hast gebrüllt, du wolltest deinen Loplop. Als ich den Einfall zu diesem Geschöpf als Darbieter kleinerer Dinge in einer größeren Komposition hatte, sagte Paul Eluard, dass es einen Namen brauchte, und da fiel mir dein verdammtes Loplop ein : Macht ja nichts, dass meins mehr ein Vogel war als ein Pferd. Immer wenn ich gefragt wurde, habe ich alle möglichen Geschichten erzählt - aber nie, dass es dein Schaukelpferd wäre.

Ich glaube es hatte mir zu viel Spaß gemacht, zu sehen, was sie sich selbst an Legenden ausdenken konnten. Ja, Loplop, das ist dein Schaukelpferd.“37

Ursula Lindau38 und Derenthal/Pech39 schenken dieser Anekdote Glauben. Ernsts eigene biographische Schriften, die, wie bereits erwähnt, später den bezeichnenden Untertitel Wahrheitgewebe und Lügengewebe erhalten, lassen es glaubhafter erscheinen, dass Ernst mit diesen Berichten vielmehr eine Selbstmythisierung zu erreichen suchte, in dem die Figur des Loplop als Idenfikationsfigur des Künstlers ihren höchsten Ausdruck findet. Dieser Aspekt, der für das Selbstverständnis des Künstlers wichtig ist, wird im Abschnitt über die Funktion der Figur ausführlicher dargestellt.

3. Die Serie Loplop présente

Loplop, der in dem Collageroman La femme 100 têtes eine Nebenfigur darstellt, bekommt im Jahre 1929 die Hauptrolle in einer eigenen Serie von Gemälden und Collagen mit dem Titel Loplop présente. Die Serie entstand zwischen 1929 und 1932. Es wurde in der Einleitung bereits angesprochen, dass diese Serie mittels Loplop Bilder präsentiert, die auf Motive und Techniken des bisherigen Œuvres zurückgreifen. Die Arbeiten bestehen hauptsächlich aus Collagen, es gibt aber auch gemalte Fassungen. Es sind meist großformatige Bilder, deren Maße bei den Collagen zwischen 48/50 auf 62/65 cm schwanken. Die Ausnahme bildet die größte Collage Hommage à une enfant nommée Violette S/M 1870 (Abb. 5) mit 89 auf 115,6 cm.40 Die gemalten Fassungen sind in der Regel größer als die Collagen. Letztere bezeichnet Spies als Max Ernsts erste „Original-Collagen“. Seine frühen Collagen dienten ihm nur als „Maquetten“, wie Ernst sie bezeichnete. Sie waren nur das Modell, nach dem die eigentlichen Collagen gedruckt wurden. Mit dem Druck wollte Ernst die Schnittstellen unsichtbar machen. Von den Collagen der Serie wurden keine Drucke angefertigt, wodurch das Verfahren der Collage erkennbar blieb.41 Da von den Arbeiten der Serie keine Reproduktionen angefertigt wurden, sieht Spies in ihnen gewissermassen die ersten für den Kunsthandel bestimmten Collagen.42 Ob Ernst jedoch darauf abzielte, Stücke für Sammler zu schaffen, ist unklar. Es ist außerdem zu bedenken, dass kein Autor der hier behandelten Literatur diesen Punkt anspricht. Sicher ist jedoch, dass Max Ernst mit seinen „Original- Collagen“ Einblicke in seinen Schaffensprozess gewährt. Die genaue Anzahl der Arbeiten ist schwer zu bestimmen, da nicht alle Collagen und Gemälde den Titel Loplop présente tragen. So ist damit zu erklären, warum Metken rund 85 Arbeiten zählt.43 Spies hingegen kommt auf eine Zahl zwischen sechzig bis siebzig Arbeiten.44 Zählt man die Werke zwischen 1929 und 1932 mit einem Bild-im Bild-Motiv, so kommt man auf etwa 80 Arbeiten. In diesen ist der Anteil der gemalten Fassungen deutlich geringer als der der Collagen.

Loplop présente ist nicht Ernsts einzige Serie. Serien ziehen sich von Anfang an durch sein gesamtes Schaffen. Durch Wiederholung und Variationen eines begrenzten Fundus an Motiven wird beim Betrachter ein Wiedererkennungseffekt ausgelöst. Zudem verhilft das Prinzip der Serie Ernst zu einer „stilistischen Identifikation“, als einem Künstler, der bewusst auswählt.45

Die erste Ausstellung von Loplop-Bildern fand in Paris gegen Ende des Jahres 1930 statt.46 In einem Beiblatt zu dieser Ausstellung gibt der Künstler folgende Definition seiner Figur:

“Loplop ist ein eigentümliches, an die Person Max Ernsts gebundenes Schemen, manchmal geflügelt, immer männlich“.47

3.1 Technik und Material

Max Ernst bedient sich in den Bildern seiner Serie verschiedener Techniken und Materialien. Neben den Collagen findet man auch Frottagen vor. Für diese Durchreibearbeiten dienten Ernst Reliefpostkarten und eingestanzte Motive aus Bucheinbänden. Sie tauchen ab 1930 in der Serie auf.48 Auf dem Blatt Ich bin wie eine Eiche S/M 1760 (Abb. 6) von 1931 enthält der Körper Loplops ein frottiertes Eichenblattmotiv. Die Figur hält die rechte vierfingrige Hand bzw. Schwinge ausgestreckt, darunter befindet sich ein den rechteckigen Köper und einen Teil des Arms überlagerndes kleineres Rechteck, in dessen Mitte eine Muschelstruktur erscheint. Spies hat nachgewiesen, dass Max Ernst Reliefschablonen mehrfach verwendete. Das Eichen- blattmotiv entstammt einer solchen Schablone. Dies wird offenkundig, wenn man Ich bin wie eine Eiche S/M 1760 (Abb. 6) mit Loplop présente S/M 1765 (Abb. 7) vergleicht.49 Hier erscheint das gleiche Motiv, jedoch gespiegelt und um 90° gedreht. Daraus ergibt sich, dass Ernst für Ich bin wie eine Eiche S/M 1760 (Abb. 6) die Rückseite mit der konkaven Wölbung zum Frottieren nutzte. Für Loplop présente S/M 1765 (Abb. 7) wurde die Vorderseite der Reliefschablone mit ihrer konvexen Wölbung auf das Blatt geklebt.50 Die rechteckige Fläche, die den Körper Loplops bildet und auf der die Schablone angebracht ist, weist eine Frottagestrukur auf. Sie erscheint um das Motiv herum dunkler und wird nach außen hin heller. Dadurch entsteht ein Raumeindruck. Die frottierte Struktur kann aber auch als Veweis auf die hier angewandte Technik verstanden werden. Weitere Reliefschablonen wurden auch bei Loplop présente S/M 1763 (Abb. 8), Loplop présente S/M 1764 (Abb. 9) und Loplop présente des raisins S/M 1762 (Abb. 10) von 1931 verwendet.51 Die konvexe Seite der Reliefschablone, die in Loplop présente des raisins S/M 1762 (Abb. 10) eingeklebt wurde, stellt, wie der Titel schon verrät, Weinlaub dar. Sie wurde zuvor mit Farbe besprüht und erweckt den Anschein, als handele es sich um illusionistische Malerei.52 Elisabeth Legge denkt speziell an die Trompe l´œil-Trauben des antiken Malers Zeuxis.53 Diese Schablone wurde bereits für die Grattage Feuilleton S/M 940 benutzt, die fünf bis sechs Jahre zuvor entstanden ist. Somit ist offenkundig, dass Ernst diese Schablonen schon seit mehreren Jahren besaß.54

Die Collagen, Frottagen und Ölbilder, die auf Leinwand, Gips, Holz, Papier und Karton erscheinen, wurden mit Bleistift, Gouache, Aquarell oder Tusche bearbeitet.55 Zu den verwendeten Materialien zählen marmoriertes Papier, Fototeile, Postkarten sowie Illustrationen aus Zeitschriften und Büchern vorwiegend aus dem Bereich der Naturwissenschaften. Ausgangsmaterial zweier Collagen S/M 1861 (Abb. 11) und 1862 (Abb. 27) sind Lithographien aus dem botanischen Sammelwerk Flore des serres et des jardins, die Ernst zeichnerisch ergänzte. Beide tragen den Titel Loplop présente und stammen aus dem Jahr 1932. Die Lithographie der Collage S/M 1861, auf dem die „Pitcairnia Altsteinii“ (Abb. 12) dargestellt ist, hat Ernst zunächst rechts/links gespiegelt.56 Der Loplop der Collage besteht aus einem großen Rechteck, das etwa drei Viertel des Blattes einnimmt. In dieses Rechteck sind zwei nebeneinander stehende, gleich große Dreiecke eingezeichnet. In deren Zwischenraum befindet sich ein Kreis, der scheinbar den Kopf andeuten soll. Das ganze Rechteck scheint mit einem schräg stehenden Sockel auf einer Horizontalen zu stehen. Dieser wirft einen kleinen Schatten nach rechts oben und erweckt damit einen Raumeindruck.57 Parallel zu der Horizontalen verläuft am unteren Bildrand eine weitere, die den Eindruck der Räumlichkeit verstärkt. Das gespiegelte Bild ist direkt vor der Loplop-Figur angebracht. Es zeigt eine farbige, nach rechts weisende Dolde. In den farbigen Teil des Blattes griff Ernst nicht ein. Erst auf dem dahinter befindlichen farblosen Blatt der Pflanze zeichnete er an dessen oberen Rand Brüste, die wie aus dem Blatt zu erwachsen scheinen. Der untere Teil des Blattes wurde von Ernst mit Füßen versehen, so dass das ganze Blatt einen nach hinten gebeugten Frauenkörper darstellt, der in eine Schlange ausläuft, die die Frau in den Fuß zu beißen scheint. Am unteren Bildrand ist eine dritte Parallele zu der am unteren Bildrand verlaufenden Horizontalen eingezeichnet, so dass Räumlichkeit auch im vorgezeigten Bild entsteht. Dieser Eindruck wird unterstützt durch den von den Füßen der Frau geworfenen, nach rechts weisenden Schatten. Schatten wirft zudem das ganze Bild auf der rechten Seite. Dadurch, dass er direkt auf die Loplop-Figur fällt, hat es den Anschein des Abstandes zwischen Loplop und des von ihm vorgeführten Bildes.

Metken zählt zu den verwendeten Materialien zudem noch Stickereimuster, Wellpappe, Löschblätter und kalligraphierte Schriften auf.58 In acht Arbeiten, darunter die Collagen Du verre S/M 1853, Bon- Mot S/M 1865, Le chant du pinson S/M 1869 und Hommage à une enfant nommée Violette S/M 1870 (Abb. 5) tauchen kalligraphische Schmuckblätter auf. Darunter ist die bedeutendste sicherlich Hommage à une enfant nommée Violette S/M 1870 (Abb. 5) von 1933. Es wurde bereits gesagt, dass dieses die größten Bildmaße der Loplop-Arbeiten besitzt. Neben dem Format ist auch der Inhalt von großer Bedeutung.59 Der Titel spielt an auf Violette Nozière, die im Jahr 1933, dem selben Jahr in der die Collage entstanden ist, im Alter von achtzehn Jahren ihren Vater umbrachte. Sie sagte dazu aus, dass ihr Vater sie jahrelang missbraucht habe. Die Surrealisten unterstützten sie, indem sie noch im Jahr des Mordes eine Broschüre mit Gedichten und Illustrationen herausgaben, in der die Tat verteidigt wurde.60 Auf der Collage sind zwei Zierblätter eingeklebt, die auf die Tat anspielen. Es sind moralisierende Sprüche, wie sie laut Karin von Maur in katholischen Konfessions- schulen zur Belobigung der Schüler verteilt wurden.61 Beide Blätter bilden den Rumpf von jeweils einer Figur. Das Blatt mit dem Titel „Amour des ses Parents“ bildet den Körper Loplops. Ein Beinpaar in gespreizter Haltung wurde dem Körper angezeichnet. An die rechte Seite des Schmuckblattes ist ein Briefumschlag aufgeklebt. Über dem Körper Loplops ist ein scheinbar angewinkelter Arm eingezeichnet. Die Hand hat wie üblich vier Finger. In dem Arm ist ein offenes Dreieck mit zwei Punkten und einem Strich eingezeichnet, welches als Schnabel und gleichzeitig Gesicht des Loplop aufgefasst werden kann. Die Hand ragt z. T. bis in das Zierblatt mit der Überschrift „La Violette“ hinein, das den Leib des Mädchens bildet. Oben ist ein Kopf angefügt, auf dem man nichts als Haare erkennen kann. Die Seiten des Blattes sind mit Armen ergänzt und am unteren Rand sind Füße eingezeichnet. In dem Titel „La Violette“, der den Namen des Mädchens trägt, ist ein Wortspiel verborgen, denn „viol“ bedeutet „Vergewaltigung“.62 Die Verwendung von Sinn- und Lehrsprüchen kann nach Spies als Angriff auf „Gemeinplätze“ verstanden werden.63 In diesem Fall als ein Angriff gegen fromme Vorschriften und Gebote.

Metken weist darauf hin, dass sich unter den Loplop-Arbeiten auch Assemblagen befinden, da es sich bei den hier verwendeten Materialien auch um dreidimensionale Gegenstände handelt.64 Eine solche Assemblage stellt Loplop présente une jeune fille S/M 1711 (Abb. 13) dar. Die Gipsplatte, auf die das Bild gemalt wurde, stammt aus dem Film von 1929 L´Age d´or von Buñuel. Max Ernst spielte darin eine Nebenrolle als Bettler. Er zeichnete an die Wände einer Hütte, die, um ihr ein verändertes Aussehen zu verleihen, mit Gips beworfen wurde.65 In einem Interview von 1969 mit Robert Lebel sagte er darüber:

„Ich stand erneut vor der berühmten Mauer von Leonardo da Vinci, die bereits in meinen „Visionen im Halbschlaf“ eine so wichtige Rolle gespielt hatte. Buñuel schenkte mir diese Tafeln, und ich benutzte sie als Hintergrund für „L´Europe après la pluie“ und für „Loplop présente une jeune fille“, „Loplop présente la mer en cage“ und andere Arbeiten. In ihnen sind die Gipsreliefs weiterhin sichtbar.“66

Das Bild, das zu den gemalten Fassungen der Loplop-Arbeiten gehört, zeigt keinen graphischen, aus eckigen Flächen gebildeten Loplop. Hier erscheint Loplop mit einer kurvigen Kontur. Sein Kopf ist im Profil dargestellt. Er hat einen langen Schnabel und einen kleinen Federbusch am Hinterkopf. Er trägt eine Schleife um den Hals. Seine Arme bzw. Schwingen sind angewinkelt, mit seinem linken Arm scheint er sich auf einen rechteckigen, illusionstisch wirkenden Rahmen zu stützen, in dem sich verschiedene Fundstücke aus Metall, Stein und Fasern befinden. Sein rechtes und linkes Bein umschließen den Rahmen. Der untere Bildrand ist dunkler gehalten als der Rest des Bildes und wird von einer horizontalen Linie begrenzt, auf der ein plastischer Frosch angebracht ist. Dadurch erlangt das Bild Raumtiefe.

Die einzige Fotomontage der Loplop-Arbeiten ist Loplop présente les membres du groupe surréaliste auch: Au Rendez-vous des Amis S/M 1806 (Abb. 14) von 1931. Es ist nicht das erste Gruppenbild von Ernst, 1922 malte er Au rendez-vous des amis S/M 505. Auf dem Blatt der Loplop-Serie sind nur Mitglieder dargestellt, die mit Beiträgen in der Zeitschrift Le Surréalisme au Service de la Révolution vertreten waren. Es wurde zusammen mit einem erläuternden Text von Ernst über die dargestellten Personen veröffentlicht:

„Von oben nach unten, der Schlangenlinie folgend, die die Köpfe bilden: durch die Finger pfeifend, Yves Tanguy; auf der Hand, mit Mütze, Aragon; in der Ellenbogenbeuge, Giacometti; vor einem Frauenporträt, Max Ernst; aufrecht vor ihm, Dalí; rechts davon Tzara und Péret; vor dem Mann in Ketten, die Hände in den Taschen Buñuel; Eluard, sich eine Zigarette anzündend; über ihm Thirion und zu seiner Linken mit erhobener Hand Char; hinter der Hand, die sich über Unik schließt, Alexandre; tiefer

Man Ray; dann der bis zu den Schultern eingesunkenen Breton. An der Wand das Porträt von Crevel und ganz oben, uns den Rücken zuwendend, George Sadoul.“67

Fotos dieser Personen hat Ernst auf einem großen Rechteck, das fast das ganze Blatt füllt, aufgeklebt. Darüber ist ein im Profil dargestellter Vogelkopf angedeutet. Der Körper Loplops ist auch hier mit angezeichneten Füßen versehen, die in einer am unteren Bildrand gemusterten Fläche enden. Diese ist abgegrenzt von einer Waagerechten und schafft so einen Bildraum, der durch gezeichneten Schatten verstärkt wird. Der Rest des Blattes weist eine frottierte Struktur auf. Neben den Fotos sind noch andere Dinge abgebildet. Am unteren rechten Teil des Blattes etwa ist ein Skorpion dargestellt, ein weiterer direkt über Tzara und Péret. Derenthal und Pech sehen in dem Tier ein mehrdeutiges surrealistisches Symbol, das auch in dem Film L´Age d´or von Buñuel auftauchte. Die Messer neben Buñuel und der Augapfel gegenüber könnten als Anspielung auf die berühmte Szene seines Films Le chien andalou angesehen werden, worin ein Rasiermesser einen Augapfel durchschneidet.68 Gala Eluard steht im Bild hinter ihm, wird aber von Ernst nicht erwähnt.69 Spies sieht in dieser Darstellung als auch in Hommage à une enfant nommée Violette S/M 1870 (Abb. 5) Ernsts Solidarität mit der Gruppe der Surrealisten dargestellt.70

Max Ernst verwendet seine Ausgangsmaterialien innerhalb der Serie mehrfach, so dass ein Wiedererkennungseffekt erzielt wird. Dies wurde bereits aufgezeigt bei der Verwendung der Reliefschablone in Loplop présente S/M 1765 (Abb. 7) und Ich bin wie eine Eiche S/M 1760 (Abb. 6). Auch greift er auf Motive aus früheren Arbeiten zurück. Er zitiert also aus seinem eigenen Werk, um nach Spies, auf seine „Leitmotive“ aufmerksam zu machen.71 Eine regelrechte Sammlung von Zitaten findet sich in der Collage Le facteur cheval S/M 1854 (Abb. 15) von 1932. Zudem ist auch eine Fülle von Techniken und Materialien verwendet worden.72 Ein rechteckiges, marmoriertes Stück Papier, das den Körper der Loplop-Gestalt darstellt, ist aufgeklebt. Darüber ein kreisförmiges Stück desselben Papiers, das den Kopf darstellt. Der Hals dazwischen ist mit Bleistift eingezeichnet. Um den Hals herum trägt Loplop eine Schleife, die an Loplop présente une jeune fille S/M 1711 (Abb. 13) erinnert. Aus dem marmorierten Rechteck sind Kreise untereinander ausgeschnitten, die der Größe des Kopfes entsprechen. Dahinter sind Motive aufgeklebt. Das mittlere Motiv zeigt das Gesicht eines Mädchens. Die ausgeschnittenen Kreise fungieren als Gucklöcher in das Innere von Loplop. An den unteren Rand des rechteckigen Leibes sind zwei Füße eingezeichnet. Darüber ist ein Briefumschlag aufgeklebt, aus dem eine Fotopostkarte herausragt. Zu sehen sind Kopf und Oberkörper einer Gruppe von Frauen, durch das Sichtfenster des Umschlages sieht man nur noch ihren Unterleib. Auf der linken Seite des Blattes, den Loplop-Körper ein wenig verdeckend, ist erneut ein Stück marmoriertes Papier aufgeklebt. Darauf erscheint ein Vogelmotiv in der Grattage-Technik, das an das Monument aux oiseaux S/M 1216 (Abb. 16) von 1927 erinnert. Darunter ist ein korallenartiges Gebilde aufgemalt. Dieses Motiv steht für sich allein in Colombes et corail auch: Oiseaux et madrépore S/M 1859 (Abb. 17). Der Œuvrekatalog von Spies und Metken datiert das Blatt auf 1932.73 Der Ausstellungskatalog des Wallraf-Richartz-Museums in Köln und dem Kunsthaus Zürich gibt an, die Collage sei schon 1926 entstanden.74 Unterhalb der marmorierten Fläche mit Vogelpaar und Koralle erscheint, zum Teil hinter dem Fuß Loplops, ein kleines Bild, das an die Sonne und Meer -Arbeiten Soleil et mer S/M 1273 oder Marine S/M 1283 (Abb. 18) von 1928 erinnert.75 Auf diesen Bildern sieht man einen Kreis, der offensichtlich die Sonne symbolisiert und parallel verlaufende Linien, die, wie John Russel annimmt, die Bewegung des Wassers andeuten.76

[...]


1 Trier 1980, S. 63f.

2 Bauer 1977, S 237.

3 Schneede 1972, S. 116, Spies 1982, S. 7.

4 Spies 1982, S. 141

5 Waldberg 1958, S. 80f.; Legge 1989, S. 11; Zuch 2004, S. 110.

6 Ernst 1942, S. 14f.

7 Trier 1976. Vgl. Zuch 2004, S. 146.

8 Metken 1978. Vgl. Zuch 2004, S. 146.

9 Chadwick 1980, S. 87-96.

10 Spies 1982, S. 7f.

11 Stokes 1983, S. 225.

12 Lichtenstern 1992, S. 283f.

13 Zuch 1999, S. 252; Zuch 2004, S. 148-152.

14 Ernst 1942, S. 28.

15 Ernst 1942, S. 30.

16 Ernst 1942, S. 30.

17 Ernst 1942, S. 30.

18 Breton 1986, S. 11, 37.

19 Die S/M-Nummern entstammen dem Max Ernst-Œuvrekatalog Spies/Metken 1975-1987.

20 Zuch 2004, S. 143.

21 Stellvertretend seien genannt: Spies 1982, S. 9; Bischoff 1987, S. 47; Derenthal/Pech 1992, S. 153; Lindau 1995, S. 329.

22 Stokes 1983, S. 226.

23 Derenthal/Pech 1992, S. 153.

24 Tanning 1990, S. 45.

25 Breton 1942, S. 6

26 Roditi 1991, S. 65.

27 Gaethgens 1979, S. 64.

28 Leefmans, 1979, S. 50.

29 Bischoff 1987, S. 47.

30 Ernst 1942, S. 30.

31 Ernst 1942, S. 30.

32 Stokes 1988, S. 137.

33 Ernst 1942, S. 29f.

34 Bischoff 1987, S. 47. Vgl. Spies 1982, S. 9.

35 Stokes 1983, S. 228.

36 Stokes 1988, S. 135.

37 Ernst 1985, S. 430f.

38 Lindau 1995, S. 332.

39 Derenthal/Pech 1992, S. 153.

40 Spies 1975, S. 206.

41 Spies 1982, S. 15f.

42 Spies 1975, S. 206.

43 Metken 1978, S. 144 1978.

44 Spies 1975, S. 206.

45 Zuch 2004, S. 125.

46 Metken 1978, S. 149.

47 Beiblatt zur „Exposition Max Ernst“ in der Galeri Vignon in Paris, 21.11.- 4.12.1930. Zitiert nach der Übersetzung in Metken 1978, S. 144.

48 Spies 1982, S. 54.

49 Spies 1982, S. 60f.

50 Lindau 1995, S. 311f.

51 Spies 1982, S. 60.

52 Spies 1982, S. 59f.

53 Legge 2000, S. 258f.

54 Spies 1982, S. 61.

55 Metken 1978, S. 144.

56 Spies 1982, S. 93.

57 Oehlers 1986, S. 114f.

58 Metken 1978, S. 144.

59 Spies 1982, S. 61f.

60 Maur 1979, S. 147.

61 Maur 1979, S. 149.

62 Vgl. Maur 1979, S. 147; Spies 1982, S.62.

63 Spies 1982, S. 62.

64 Metken 1978, S. 144.

65 Bischoff 1987, ,S. 48.

66 Ernst 1970, S. 429. Zitiert nach der Übersetzung in Spies 1982, S. 107. Vgl. Chadwick 1980, S. 91; Lindau 1995, S. 319.

67 Le Surréalisme au Service de la Révolution, Nr. 4, Paris, Dezember, S. 36. Zitiert nach der Übersetzung in Spies 1982, S. 64.

68 Derenthal/Pech 1992, S. 158.

69 Spies 1982, S. 64.

70 Spies 1982, S. 61.

71 Spies 1982, S. 58.

72 Spies 1982, S. 32.

73 Spies/Metken Bd. 4, 1979, S. 151.

74 Ernst 1962/63, S. 56.

75 Derenthal/Pech 1992, S. 156.

76 Russel 1966, S. 98.

Ende der Leseprobe aus 90 Seiten

Details

Titel
Studien zu Max Ernsts Loplop
Hochschule
Philipps-Universität Marburg  (Institut für Germanistik und Kunstwissenschaften)
Note
1,7
Autor
Jahr
2005
Seiten
90
Katalognummer
V62016
ISBN (eBook)
9783638553445
ISBN (Buch)
9783638705226
Dateigröße
2255 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Studien, Ernsts, Loplop
Arbeit zitieren
Dana Bohlender (Autor:in), 2005, Studien zu Max Ernsts Loplop, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/62016

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