Das Persönliche Budget. Ein Instrument zur Erweiterung der Selbstbestimmungsmöglichkeiten von Menschen mit Behinderung?


Diplomarbeit, 2006

107 Seiten, Note: gut


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung

2 Theoretische Erklärungsansätze
2.1 Individualisierungstheorie nach Beck
2.1.1 Die Grundzüge der Individualisierungstheorie
2.1.2 Niveauverschiebungen
2.1.2.1 Einkommen
2.1.2.2 Sozialstaatliche Sicherungs- und Steuerungssysteme
2.1.2.3 Bildung
2.1.2.4 Sonstige Niveauverschiebungen
2.2 Wohlfahrtspluralismus nach Evers/Olk
2.2.1 Die vier Sektoren der Wohlfahrtsproduktion
2.2.1.1 Markt-Sektor
2.2.1.2 Staats-Sektor
2.2.1.3 Informeller Sektor
2.2.1.4 Nonprofit-Sektor/Intermediärer Bereich

3 Das Persönliche Budget
3.1 Kurze Einführung in das Persönliche Budget
3.2 Entstehungskontext des Persönlichen Budgets
3.2.1 Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik
3.2.2 Erklärungsansätze zum Paradigmenwechsel und Persönlichen Budget

4 Das Bielefelder Bundesmodellprojekt.
4.1 Rechtliche Grundlagen des Bundesmodellprojekts
4.2 Potentiell budgetfähige Leistungen
4.3 Umsetzung des Bielefelder Modellprojekts
4.4 Potenzielle Fallbeispiele

5 Erweiterte Selbstbestimmungsmöglichkeiten?
5.1 Vom klassischen Leistungsdreieck zum Persönlichen Budget
5.1.1 Die Stellung des Leistungsberechtigten beim Sachleistungsbezug
5.1.2 Die Stellung des Leistungsberechtigten beim Persönlichen Budget
5.2 Neue Spielräume gegenüber den Leistungserbringern
5.2.1 Die Verpflichtung zum zweckentsprechenden Budgetmitteleinsatz
5.2.2 Direkte Teilhabeleistungen
5.2.3 Die Ausweitung der Handlungslogik des Marktes
5.2.4 Beauftragung von Leistungserbringern ohne Anerkennung
5.2.5 Der Leistungsberechtigte als Kunde
5.2.5.1 Kundenorientierung
5.2.5.2 Handlungseffizienz versus Kundenorientierung
5.2.6 Informeller Sektor und Persönliches Budget
5.3 Das neue Verhältnis zum Leistungsträger
5.3.1 Durchsetzung von Leistungsansprüchen
5.3.2 Neue Formen der sozialen Kontrolle durch den Leistungsträger
5.4 Anforderungen an den Budgetnehmer
5.4.1 Erforderliche Kompetenzen
5.4.2 Budgetberatung und -unterstützung

6 Fazit

7 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Das Persönliche Budget dürfte die in der Bundesrepublik Deutschland zurzeit am meisten diskutierte Innovation in der Behindertenhilfe und –politik darstellen (Kastl/Metzler 2005: S. 9). Beim Persönlichen Budget handelt es sich um eine Geldleistung, die ein behinderter Mensch anstatt der bisher üblichen durch einen anerkannten Träger der Wohlfahrtspflege erbrachten Sachleistung erhält. Mit dieser Geldleistung kann er sich dann eine entsprechende Unterstützungsleistung auf dem sozialen Dienstleistungsmarkt einkaufen oder auf andere Weise selbst organisieren. Das Persönliche Budget, so die überwiegend in der fachlichen und sozialpolitischen Diskussion zum Ausdruck gebrachte Erwartung, stellt zumindest von seiner Grundkonstruktion her ein geeignetes Instrument zur Erweiterung der Selbstbestimmungsmöglichkeiten von Menschen mit Behinderung dar. Dabei erscheint das Persönliche Budget als Inbegriff eines Paradigmenwechsels in der Behindertenpolitik von „fremdbestimmter Fürsorge“ zu „Selbstbestimmung“, der formal-sozialrechtlich zum ersten Mal im Jahre 2001 im „Gesetz zur Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“ (Sozialgesetzbuch IX)[1] seinen Ausdruck gefunden hat (Kastl/Metzler 2005: S. 9; Haack 2003; Bundesregierung 2004: S. 24).

In meiner Arbeit setzte ich mich mit der Frage auseinander, ob das Persönliche Budget tatsächlich die Erwartung erweiterter Selbstbestimmungsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderung einzulösen vermag. Dabei interpretiere ich diese im Sinne einer Erwartung sich erweiternder Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume im Vergleich zum bisher üblichen Sachleistungsprinzip. Umgekehrt muss aber auch danach gefragt werden, welche neuen Zwänge und Einschränkungen von Entscheidungs- und Gestaltungsspielräumen möglicherweise mit dem Persönlichen Budget verbunden sein könnten. Meine Fragestellung erörtere ich dabei am Beispiel des Bundesmodellprojekts zum Persönlichen Budget in Bielefeld. Weitere bundesdeutsche Modellprojekte beziehe ich nur ganz am Rande mit ein (Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung 2004). Wegen unterschiedlicher Schwerpunktsetzungen, regionaler Besonderheiten und jeweils spezifischer Umsetzungsregelungen würde durch deren Einbeziehung schnell ein Grad an Komplexität erreicht, der im Rahmen meiner Arbeit auf Kosten der Bearbeitung der eigentlichen Fragestellung gehen würde. Ähnliches gilt für die Einbeziehung von Erfahrungen mit dem Persönlichen Budget in europäischen Nachbarländern wie den Niederlanden, Großbritannien und Schweden, wo im Unterschied zu Deutschland bereits seit vielen Jahren das Persönliche Budget umgesetzt wird (Wacker u.a. 2005: S. 43 ff.). Da sich diese Modelle des Persönlichen Budgets selbst und die diesen zugrunde liegenden sozialen Sicherungssysteme von ihrer Struktur her erheblich von denen in Deutschland und zugleich auch untereinander unterscheiden, ergäben sich hier ebenfalls den Rahmen meiner Arbeit sprengende Komplexitätsgrade.

Gab es zu Beginn meiner Recherchen praktisch keine Budgetnehmer im Bielefelder Modellprojekt, sind es jetzt 17 Budgetnehmer. Über das Bundesmodellprojekt zum Persönlichen Budget in Bielefeld liegen bisher keinerlei Auswertungsberichte vor. Neben der von mir verwendeten soziologischen Literatur war ich für meine Arbeit also auf die bisher veröffentlichen Konzepte der Projektträger und Veröffentlichungen im Rahmen anderer Modellversuche angewiesen.

Im folgenden Kapitel stelle ich mit der Individualisierungstheorie von Beck und dem Wohlfahrtspluralismusansatz von Evers und Olk zwei theoretische Modelle vor, die dazu geeignet sind, den gesellschaftlichen und institutionellen Kontext des Persönlichen Budgets zu beschreiben. Im dritten Kapitel führe ich kurz in das Persönliche Budget ein, um mich dann mit dessen Entstehungskontext auseinanderzusetzen. Das Bielefelder Modellprojekt zum Persönlichen Budget steht im Mittelpunkt des Vierten Kapitels, einen Schwerpunkt bilden dabei dessen rechtliche Grundlagen und zwei potenzielle Fallbeispiele. Im fünften Kapitel setzte ich mich schließlich ausführlich mit der eigentlichen Fragestellung meiner Arbeit nach den erweiterten Selbstbestimmungsmöglichkeiten durch das Persönliche Budget auseinander. Im sechsten und letzten Kapitel ziehe ich ein abschließendes Fazit.

Wenn ich in dieser Arbeit von „Menschen mit Behinderung“ oder - um der flüssigeren Formulierung willen - von „behinderten Menschen“ schreibe, hebe ich in der Regel auf einen sozialrechtlichen Begriff von Behinderung ab und meine damit Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung einen Anspruch auf Teilhabeleistungen nach dem SGB IX haben und damit potentiell für das Persönliche Budget in Frage kommen.

2 Theoretische Erklärungsansätze

Das Persönliche Budget soll Menschen mit Behinderung ermöglichen, „in eigener Verantwortung ein möglichst selbstbestimmtes Leben“ zu führen (§ 17 Abs. 2 Satz 1 SGB IX). Der im SGB IX vollzogene Paradigmenwechsel von der Fürsorge zur Selbstbestimmung, so in einem Bericht der Bundesregierung, habe auch Ausdruck in der neu geschaffenen Möglichkeit gefunden, Leistungen zur Teilhabe in Form des Persönlichen Budgets zu erbringen. Der Vorteil für die Menschen mit Behinderung liege darin, dass sie so einen „Zuwachs an Entscheidungsmöglichkeiten für die von ihnen gewünschte Lebensform und über die Erbringung der notwendigen Hilfen erhalten“ (Bundesregierung 2004).

Der Begriff der Selbstbestimmung aber, so konsensfähig und sich selbst erklärend er auf den ersten Blick zu erscheinen vermag, kann dabei auf keine eindeutige wissenschaftliche Definition zurückgreifen. Als Schlüsselbegriff der Gegenwart und weithin akzeptiertes gesellschaftliches Ideal ist er ausgehend von der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung seit Beginn der 80er Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts mehr und mehr auch zu einem Leitbegriff der Behindertenhilfe und –politik geworden (Waldschmidt 1999: S. 7; Waldschmidt 2003: S. 18; Heusinger/Klünder 2005: S. 18 ). Der Begriff der Selbstbestimmung scheint dabei offensichtlich aus sich heraus eindeutig verständlich und wird dabei „in Alltagssprache und wissenschaftlichen Zusammenhängen immer wieder benutzt, ohne einer ausführlichen Explikation für würdig befunden zu werden“ (Waldschmidt 1999: S. 7 Anmerkung 1; ähnlich Heusinger/Klünder 2005: S. 18; Deutscher Caritasverband o.D.). Selbstbestimmung bezeichnet zunächst einmal das Gegenteil von Fremdbestimmung, also der Abhängigkeit von den Entscheidungen anderer (Heusinger/Klünder 2005: S. 18). Als Gegenbegriff zu dieser Abhängigkeit wird häufig auch der aus dem Griechischem stammende Begriff der Autonomie benutzt, ein Wort das ursprünglich „nach eigenen Gesetzen lebend“ bedeutet und damit auf den Tatbestand der Selbstgesetzgebung verweist (Waldschmidt 1999: S. 14; Heusinger/Klünder 2005: S. 18). Begriffe wie Freiheit und Emanzipation stammen ebenfalls aus demselben Konnotationsfeld, auch wenn sie sich in Nuancen durchaus unterscheiden. Freiheit impliziert den Gegensatz zu Sklaverei, Emanzipation bedeutet die Freiheit aus oder den Kampf gegen Abhängigkeitsverhältnisse und Entmündigung. Der Begriff der Selbstbestimmung scheint dagegen „neben der Selbstgesetzgebung noch die Selbstherrschaft zu meinen“ (Waldschmidt 1999: S. 15). Selbstbestimmung impliziert aber nicht nur die Befreiung aus unterdrückerischen Beziehungen, sondern auch die Utopie eines guten Lebens nach dem Emanzipationskampf (Waldschmidt 1999: S. 14 f.). Selbstbestimmung gilt in der späten Moderne des ausgehenden zwanzigsten und beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts als Grundrecht des Menschen (Waldschmidt 1999: S. 7). Dabei scheint es sich nicht um ein präzise definiertes Grundrecht zu handeln, sondern eher um ein formales Konstrukt, das „offen für sehr unterschiedliche, ja widersprüchliche Inhalte, Deutungen und Praktiken“ ist (Waldschmidt 1999: S. 10). Die mit dem Begriff der Selbstbestimmung eng verbundene Vorstellung, „der einzelne sei ein autonomes Subjekt, ein Wesen, das losgelöst von Tradition, Erziehung und Sozialstruktur, unabhängig von der Zeit, Biographie und Historie persönliche Identität entwickelt und ausgehend von den eigenen Interessen tatkräftig sein Leben gestaltet“ scheint zu suggerieren, „als regierten nur noch die einzelnen, und der äußere soziale Zwang, von Emile Durkheim zum Ende des letzten Jahrhunderts noch als Charakteristikum des Gesellschaftlichen ausgemacht, könne dem Individuum nichts mehr anhaben“ (Waldschmidt 1999: S. 7).

Die sich ergebene konkrete inhaltliche Bedeutung des Selbstbestimmungsbegriffs lässt sich aus soziologischer Perspektive aber nur in Operationalisierungen, also in Bezug auf die jeweilige Praxis, die sich aus ihr ergibt, erschließen. Diese wiederum ist abhängig von den jeweiligen gesellschaftlichen und institutionellen Kontexten (Waldschmidt 1999: S. 10). Will man die Frage beantworten, ob das Persönliche Budget geeignet ist, die Selbstbestimmungsmöglichkeiten von Menschen mit Behinderung zu erweitern und welche Chancen und Risiken für die Lebenslage behinderter Menschen damit möglicherweise verbunden sind, ist es notwendig, dabei den gesellschaftlichen und institutionellen Kontext dieses Instruments zu thematisieren. Wie im weiteren Verlauf meiner Arbeit deutlich werden wird, stehen mit der Individualisierungstheorie von Beck (1983) und dem Wohlfahrtspluralismusansatz von Evers und Olk (1996) theoretische Modelle und Begriffsysteme zur Verfügung, mit dessen Hilfe sich der gesellschaftliche und institutionelle Kontext des Persönlichen Budgets beschreiben und diskutieren lässt.

Im folgenden Abschnitt 2.1 werde ich mit Hilfe der Individualisierungstheorie von Ulrich Beck (1983) zunächst der Frage nach dem gesellschaftlichen Kontext des Persönlichen Budgets nachgehen. In Abschnitt 2.2 dieses Kapitels werde ich dann den für die Lebenslage behinderter Menschen besonders wichtigen institutionellen Kontext des Wohlfahrtsstaates bzw. der Wohlfahrtsgesellschaft thematisieren.

2.1 Individualisierungstheorie nach Beck

Die Thematisierung gesellschaftlicher Individualisierungsprozesse spielt in der Soziologie nicht nur in der Gegenwart eine große Rolle, sondern lässt sich bis hin zu den Klassikern der Soziologie um die Jahrhundertwende zurückverfolgen.[2] Die Individualisierungstheorie von Ulrich Beck scheint mir am besten geeignet, den gesellschaftlichen Kontext des Persönlichen Budgets vor dem Hintergrund meiner Fragestellung zu thematisieren. Überwiegend beziehe ich mich dabei auf den 1983 erschienen Aufsatz „Jenseits von Stand und Klasse“, in dem Beck zum ersten Mal seine Individualisierungstheorie in ihren wesentlichen Grundzügen ausführlich dargelegt hat (Beck 1983). Der Ansatz von Beck zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass er explizit Chancen und Risiken des Individualisierungsprozesses selbst und seiner Folgen thematisiert. Dieser Ansatz betont die Komplexität, Vieldeutigkeit und Ambivalenz[3] des Individualisierungsprozesses und bietet damit für meine Fragestellung den Vorteil eines differenzierten und Ambivalenzen erfassenden Zugangs.

Der von Beck beschriebene gesellschaftliche Individualisierungsprozess dürfte zweifellos auch Menschen mit Behinderung erfasst haben. Die Einführung des Persönlichen Budgets kann damit vor dem Hintergrund der Beckschen Theorie auch als Ausdruck zunehmender gesellschaftlicher Individualisierung gewertet werden. In Abschnitt 2.1.1 stelle ich die Grundzüge dieser Individualisierungstheorie zunächst allgemein ohne den ausdrücklichen Bezug auf Menschen mit Behinderung dar, um dann erst später im weiteren Verlauf meiner Arbeit die wesentlichen für meine Fragestellung relevanten Aspekte dieser Theorie aufzugreifen. Im darauf folgenden Abschnitt 2.1.2 stelle ich im Unterschied dazu einen direkten Bezug zwischen den von Beck für den Prozess gesellschaftlicher Individualisierung verantwortlich gemachten Niveauverschiebungen und Menschen mit Behinderung her. Dabei wird dann deutlich, dass der gesellschaftliche Individualisierungsprozess bei Menschen mit Behinderung spezifischen Bedingungen unterliegen kann, die im Zusammenhang mit dem Persönlichen Budget und der Frage nach erweiterten Entscheidungs- und Gestaltungsspielräumen für behinderte Menschen relevant werden können.

2.1.1 Die Grundzüge der Individualisierungstheorie

Beck konzentriert sich auf die zunehmende gesellschaftliche Individualisierung in der Bundesrepublik Deutschland seit Ende der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts. Seit dieser Zeit hat sich der Individualisierungsprozess in der Bundesrepublik nach Beck radikalisiert und universalisiert. Anders als „die ´(früh)bürgerliche` Individualisierung, die im wesentlichen auf Kapitalbesitz und -vermehrung beruhte und ihre soziale und politische Identität im Kampf gegen die feudale Herrschafts- und Rechtsordnung entwickelte“ handelt es sich bei diesem Individualisierungsprozess um „´Arbeitsmarkt-Individualisierung`, die die Bedingungen staatlich regulierter [Hervorhebung durch den Verfasser] Lohnarbeit voraussetzt und sich im Kreislauf von Erwerb, Anbietung und Anwendung von Arbeitskompetenzen entfaltet“ (Beck 1983: S. 45). Das, was früher nur wenigen Menschen zugemutet wurde, nämlich ein eigenes Leben zu führen, wird „nun mehr und mehr Menschen, im Grenzfall allen abverlangt“ (Beck/Beck-Gernsheim 1994: S. 21). Die Grundbedingungen der Gesellschaft wie Arbeitsmarkt, Mobilitäts- und Ausbildungsanforderungen, Arbeits- und Sozialrecht, Rentenrecht etc. begünstigen bzw. erzwingen Individualisierung und führen zu einer zunehmenden Demokratisierung von Individualisierungsprozessen (Beck/Beck-Gernsheim 1994: S. 21).

Entscheidend dabei ist: Dieser zweite, den ersten überlagernden und modifizierenden Individualisierungsprozess, kann erst dann und genau in dem Maße greifen, wie „die Bedingungen der Klassenformierung durch materielle Verelendung, wie sie Marx vorhergesagt hat, überwunden werden“ (Beck 1983: S. 48). Erst unter den Bedingungen relativer sozialer Sicherheit und allgemeiner wirtschaftlicher Prosperität kann sich die Dynamik von arbeitsmarktbezogenen Mobilitäts- und Vereinzelungsprozessen in Richtung Individualisierung entwickeln. Der gesellschaftliche Individualisierungsprozess ist also an komplexe, gesamtgesellschaftliche, soziale, wirtschaftliche, rechtliche und politische Rahmenbedingungen[4] gebunden, die nur in Ländern in einer sehr späten Phase wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung vorliegen (Beck 1983: S. 48).

Becks Grundthese zur Individualisierung lässt sich so zusammenfassen: Die Verteilungsrelationen sozialen Ungleichheit in der Bundesrepublik sind auch in den letzten vier bis fünf Jahrzehnten relativ konstant geblieben. Gleichzeitig haben sich aber die Lebensbedingungen der Menschen drastisch geändert. Dies wurde u.a. möglich durch Niveauverschiebungen, die in einem „Mehr“ an Bildung, Einkommen, Mobilität etc. ihren Ausdruck finden. Diese Niveauverschiebungen haben dazu geführt, dass „subkulturelle Klassenidentitäten zunehmend weggeschmolzen, ´ständisch` eingefärbte Klassenlagen enttraditionalisiert und Prozesse einer Diversifizierung und Individualisierung von Lebenslagen und Lebenswegen ausgelöst wurden, die das Hierarchiemodell sozialer Klassen und Schichten unterlaufen und in seinem Realitätsgehalt zunehmend in Frage stellen“ (Beck 1983: S. 36).[5] Individualisierung bedeutet dabei einerseits „die Auf lösung vorgegebener sozialer Lebensformen – zum Beispiel das Brüchigwerden von lebensweltlichen Kategorien wie Klasse und Stand, Geschlechtsrollen, Familie, Nachbarschaft usw.“ (Beck/Beck-Gernsheim 1994: S. 11), andererseits aber auch die Entstehung neuer Lebensformen. Dort, wo die alten, durch Religion, Tradition oder Staat zugewiesenen Lebensformen zerbrechen, „kommen auf den einzelnen neue institutionelle Anforderungen, Kontrollen und Zwänge zu. Über Arbeitsmarkt, Wohlfahrtsstaat und Bürokratie wird er in Netze und Regelungen, Maßgaben, Anspruchsvoraussetzungen eingebunden“ (Beck/Beck-Gernsheim 1994: S. 12). Ein wesentliches Merkmal moderner Gesellschaften ist ihre sehr hohe Regelungsdichte. Individualisierung ist damit – entgegen dem zunächst naheliegenden Wortsinn, der eine quasi im luftleeren Raum jonglierende Handlungslogik suggeriert – ein historisch spezifischer, widersprüchlicher Prozess der Vergesellschaftung. (Beck 1983: S. 42). Das entscheidende Kennzeichen der Vorgaben moderner westlicher Gesellschaften ist aber, „daß das Individuum sie, weit mehr als früher, gewissermaßen selbst herstellen muß, im eigenen Handeln in die Biographie hereinholen muß“ (Beck/Beck-Gernsheim 1994: S. 12). Sie enthalten tendenziell die Aufforderung, ein eigenes Leben zu führen. Während die traditionellen Vorgaben oft Handlungsbeschränkungen und –verbote enthielten[6], handelt es sich bei den Vorgaben moderner westlicher Gesellschaften eher um „Leistungsangebote bzw. Handlungsanreize“ (Beck/Beck-Gernsheim 1994: S. 12). So lässt sich zum Beispiel der Wohlfahrtsstaat moderner westlicher Gesellschaften durch derartige Vorgaben charakterisieren. Während man in die traditionelle Gesellschaft und ihre Vorgaben hineingeboren wurde, z.B. in Stand und Religion, muss man dagegen für die neuen Vorgaben „etwas tun, sich aktiv bemühen“ (Beck/Beck-Gernsheim 1994: S. 12). Zu den entscheidenden Merkmalen von Individualisierungsprozessen gehört damit, „daß sie eine aktive Eigenleistung der Individuen nicht nur erlauben, sondern fordern. In erweiterten Optionsspielräumen und Entscheidungszwängen wächst der individuell abzuarbeitende Handlungsbedarf, es werden Abstimmungs-, Koordinations- und Integrationsleistungen nötig. Die Individuen müssen, um nicht zu scheitern, langfristig planen und den Umständen sich anpassen können, müssen organisieren und improvisieren, Ziele entwerfen, Hindernisse erkennen, Niederlagen einstecken und neue Anfänge versuchen. Sie brauchen Initiative, Zähigkeit, Flexibilität und Frustrationstoleranz“ (Beck/Beck-Gernsheim 1994: S. 14f.). Chancen und Risiken in diesen „erweiterten Optionsspielräumen“ verlagern sich zunehmend auf die Individuen. Wurden diese „früher im Familienverbund, in der dörflichen Gemeinschaft, im Rückgriff auf ständische Regeln oder soziale Klassen definiert“, müssen sie nun „von den einzelnen selbst wahrgenommen, interpretiert, entschieden und bearbeitet werden“ (Beck/Beck-Gernsheim 1994: S. 15). Die Einzelnen sind aber „angesichts der hohen Komplexität der gesellschaftlichen Zusammenhänge, vielfach kaum in der Lage ..., die notwendig werdenden Entscheidungen fundiert zu treffen, in Abwägung von Interesse, Moral und Folgen“ (Beck/Beck-Gernsheim 1994: S. 15). Die die „Normalbiographie“ ablösende „Wahl- bzw. Bastelbiographie“ wird zur „Risikobiographie“ und damit zu einem Zustand der teils offenen, teils verdeckten Dauergefährdung (Beck/Beck-Gernsheim 1994: S. 13).

Nach Beck eröffnen sich durch Individualisierungsprozesse „historisch bis dahin unbekannte Schleusen einer Individualisierung sozialer Risiken“ (Beck 1983: S. 69). Ungleiche Chancen und Risiken werden nach Beck dadurch aber keineswegs beseitigt. Vielmehr ergeben sich neue Risikostrukturen, die sich immer weniger in eindeutigen Ungleichheiten von Personen und Gruppen niederschlagen und zumindest tendenziell den Charakter von „statistischen Verteilungsungleichheiten“ (Beck 1983: S. 68) annehmen . Soziale Ungleichheiten lassen sich „damit immer mehr an gruppenunspezifischen (Risiko-)Dimensionen festmach[en], die – der Tendenz nach – für immer größere Bevölkerungskreise nicht mehr eindeutig kumulieren, sondern möglicherweise quer durch die Gruppen und Personen hindurchgehen und je nach Thema, Dimension und Situation unterschiedliche Teillagen und damit unterschiedliche Denkungsarten, Koalitionszwänge und Formen der Interessenswahrnehmung und Konfliktaustragung begründen können“ (Beck 1983: S. 68). Je mehr die „klassischen Schutzvorrichtungen – Familie, Bildung und Beruf – an Funktionskraft verlieren“, desto stärker müssen diese „entweder durch rechtliche Absicherungen oder durch individuelle Anstrengungen kompensiert werden“ (Beck 1983: S. 69). Individuelles Leistungsdenken gewinnt dabei „sowohl in der sozialen Rechtfertigung fortstehender oder sich verschärfender Ungleichheiten als auch in dem Schuld- und Selbstbewusstsein der einzelnen“ an Bedeutung (Beck 1983: S. 69). Übergreifende „historische Zufallsvariablen“ wie Wirtschaftskonjunkturen, Arbeitsmarkteinbrüche, Numerus Clausus, Stärke oder Schwäche eines Geburtenjahrganges etc. bestimmen dabei gleichzeitig in neuer Weise die Lage des Einzelnen (Beck 1983: S. 69). Beck macht in diesem Zusammenhang auf ein weiteres Phänomen aufmerksam: Sogenannte „naturvermittelte Ungleichheiten“, die sich nicht an „erworbenen Lagen“ wie Bildung und Einkommen, sondern an askriptiven Merkmalen von Personen wie Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Alter, körperliche Behinderungen festmachen lassen, gewinnen eine besondere Bedeutung. Aufgrund „ihrer Unentrinnbarkeit, ihrer zeitlichen Konstanz, ihrer Widersprüchlichkeit zum Leistungsprinzip, ihrer Konkretheit und direkten Wahrnehmbarkeit und den damit unter den Bedingungen fortgeschrittener Individualisierung und Vereinzelung ermöglichten sozialen und individuellen Identifikationsprozessen“ bieten diese ein besonderes Aktivierungs- und Politisierungspotential (Beck 1983: S. 69). Beck nennt als Beispiele den Kampf um Frauenrechte, Rassenunruhen, Jugendproteste und Umweltinitiativen[7] etc. (Beck 1983: S. 69). Der Kampf behinderter Menschen um Bürgerrechte und um selbstbestimmtes Leben in der „Selbstbestimmt-Leben-Bewegung“ kann m.E. ähnlich gedeutet werden. Diesen Gedanken greife ich noch einmal in Abschnitt 3.2.2 auf.

Beck behauptet nicht, dass der Individualisierungsprozess „flächendeckend und unterschiedslos die gesamte Bevölkerung erfasst“ hat (Beck/Beck-Gernsheim 1994: S. 16). Er versteht seine Aussagen zur Individualisierung eher als Trendaussage. Wie weit Individualisierungsprozesse in der Gegenwart jeweils ausgeprägt und fortgeschritten sind, ist jeweils abhängig von Gruppe, Milieu und Region (Beck/Beck-Gernsheim 1994: S. 16). Im folgenden Abschnitt beschreibe ich die von Beck für den Individualisierungsprozess verantwortlich gemachten Niveauverschiebungen bezogen auf die Gruppe behinderter Menschen.

2.1.2 Niveauverschiebungen

Die Individualisierungstheorie macht Niveauverschiebungen hinsichtlich Einkommen, Bildung, Mobilität etc. für eine zunehmende gesellschaftliche Individualisierung verantwortlich. Ich werde im folgenden anhand einzelner von Beck beschriebener Niveauverschiebungen erörtern, ob und inwieweit Menschen mit Behinderung bzw. bestimmte Gruppen von Menschen mit Behinderung an diesen Verschiebungen teilhaben konnten. Beck beschreibt insgesamt zehn zum Teil sich überschneidende Niveauverschiebungen. Neben Einkommen, Bildung und sozialstaatlicher Sicherung sind dies soziale und geographische Mobilität, „künstliche“ Binnendifferenzierungen, Konkurrenzbeziehungen, urbane Großstadtsiedlungen, Arbeitsmarktdynamik, kontinuierlich sinkende Erwerbsarbeitszeit und Relativierung von subkulturellen Differenzierungen (Beck 1983: S. 38ff.). Niveauverschiebungen bei Einkommen und Bildung werden dabei von Beck besonders hervorgehoben (Beck 1983: S. 36). In den nächsten drei Abschnitten werde ich diese beiden Bereiche seiner Individualisierungstheorie und den für viele Menschen mit einer schwereren Behinderung sehr wichtigen Bereich der sozialstaatlichen Sicherungs- und Steuerungssysteme jeweils ausführlicher thematisieren, um dann in einem vierten Abschnitt auf einige weitere Niveauverschiebungen sprechen zu kommen.

2.1.2.1 Einkommen

Ein „Mehr“ an Einkommen hat nach Beck vor allem die Lebenslage und die Lebensführung der unteren Einkommensklassen wie die der Arbeiter verändert. Selbst bei sich durchhaltenden Ungleichheitsrelationen zwischen den Schichten könne dies für „die Lebensbedingungen der Menschen aufgrund der dadurch ausgelösten Entwicklungen und Veränderungen sehr viel bedeutsamer sein, als die sich auf dem neuen Niveau wieder herstellenden Abstände und Relationen“ (Beck 1983: S. 37). Gerade dort, wo die Lage bisher am schlechtesten war, nämlich in den unteren Bereichen sozialer Ungleichheit, wirkten sich diese Veränderungen am stärksten aus. So habe „dieselbe Anhebung des materiellen Lebensstandards bei Arbeitern eine sehr viel größere Bedeutung als bei mittleren oder gehobenen Angestellten, weil damit auch Arbeiterhaushalte zum erstenmal in den Genuß bestimmter individueller Entfaltungsmöglichkeiten in der Privatsphäre (größere Wohnung, Auto) kommen, während derselbe Entwicklungsschub in höheren Angestelltenhaushalten möglicherweise nur die Vermehrung von bereits Selbstverständlichen und Bekannten bewirkt (Zweitauto, Ferienwohnung)“ (Beck 1983: S. 37).

In Bezug auf die Einkommenssituation behinderter Menschen wird im 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung hinsichtlich des Haushaltsnettoeinkommens festgestellt, „dass Haushalte mit behinderten Menschen tendenziell häufiger in niedrigeren Einkommensgruppen vertreten sind als Haushalte nicht behinderter Menschen.[8] So haben z.B. bei den 25- bis unter 45-jährigen behinderten Menschen in 2-Personenhaushalten 36% ein Haushaltsnettoeinkommen von unter 1700 Euro. Dieser Anteil beträgt bei den Nichtbehinderten hingegen 24%“ (Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung 2005: S. 153). Damit wären Menschen mit Behinderung hinsichtlich ihres Einkommens nach wie vor schlechter gestellt als Menschen ohne Behinderung. Dem Bericht der Bundesregierung liegt allerdings die Zahl der schwerbehinderten Menschen nach dem Schwerbehindertengesetz zu Grunde und umfasst mit etwa 6,6 Millionen Menschen Jahre einen wesentlich größeren Personenkreis als potentiell für das Persönliche Budget in Frage kommen könnte (Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung 2005: S. 146).

Nur Menschen mit Anspruch auf Teilhabeleistungen kommen potentiell für ein Persönliches Budget in Frage. Das Persönliche Budget im Bielefelder Modellprojekt richtet sich schwerpunktmäßig an eine Zielgruppe, die Eingliederungshilfen im Bereich des ambulant Betreuten Wohnens nach §§ 53/54 SGB XII erhält. Der Bezug dieser Hilfen ist an sehr enge sozialhilferechtliche Voraussetzungen geknüpft und erfordert in der Regel den Einsatz eines großen Teils des eigenen Einkommens über der im SGB XII festgelegten Einkommensgrenze. Einkommen, das die zurzeit maßgebliche Einkommensgrenze von 690 € plus Unterkunftskostenkosten übersteigt, muss in Bielefeld zu 75% für die Eingliederungshilfeleistung eingesetzt werden. Potenzielle Budgetnehmer im Bielefelder Modellprojekt dürften also schon allein deshalb eher unteren Einkommensgruppen zuzurechen sein. Da viele potenzielle Budgetnehmer aufgrund eingeschränkter Erwerbsfähigkeit in erster Linie auf Sozialtransferleistungen angewiesen sind, dürften die im folgenden Abschnitt erörterten Niveauverschiebungen im Bereich der sozialstaatlichen Sicherungs- und Steuerungssysteme für Individualisierungsprozesse hier eine wesentliche wichtigere Rolle spielen als Niveauverschiebungen im Bereich anderer Einkommensarten.

2.1.2.2 Sozialstaatliche Sicherungs- und Steuerungssysteme

Die finanzielle Situation behinderter Menschen, für die das Persönliche Budget in Frage kommt, ist zum großen Teil von den sozialstaatlichen Sicherungs- und Steuerungssystemen abhängig. Auch die Schaffung dieser Systeme wird von Beck zu den Niveauverschiebungen gezählt, die Individualisierung fördern.[9] Der Gesetzgeber hat erstmals 1961 mit dem Bundessozialhilfegesetz das Recht auf ein menschenwürdiges Leben unabhängig von Erwerbsfähigkeit und Erwerbstätigkeit geschaffen. Beck hat in der Risikogesellschaft (1986) betont, „daß individualisierte Lebensformen institutionell konstituiert sind, und zwar durch ´sekundäre Institutionen` wie Arbeitsmarkt, Sozialstaat und Massenmedien“ (Leisering 1997: S. 143). Gemeint sind damit Institutionen, die ältere, kollektive Institutionen wie Klassenmilieus, traditionelle Kleinfamilie, Region und Geschlecht ersetzen und überlagern. Letztere steuern eher direkt, äußern sich unter anderen in Form von persönlicher Herrschaft und beruhen auf relativ festgefügten Nahbeziehungen und Vergemeinschaftungen (Leisering 1997: S. 144). Die neueren, sekundären Institutionen, steuern Handeln dagegen eher indirekt, aber nicht weniger bedeutsam. „Sie lassen mehr Raum für Handlungsbeiträge und Entscheidungen des Einzelnen, fordern solche Selbststeuerungsleistungen aber auch ein“ (Leisering 1997: S. 144).

Ähnlich wie bei alten Menschen und Frauen sind auch bei stärker behinderten Menschen die individualisierenden Folgen des Sozialstaates besonders handgreiflich (Leisering 1997: S. 149).[10] Erst ein gesichertes Transfereinkommen, eine sozialstaatlich gestützte Aufrechterhaltung eines hinreichenden Gesundheitszustandes oder auch eine sozialstaatlich finanzierte Eingliederungshilfeleistung kann Menschen mit Behinderung ein Leben ohne direkte familiale Zwänge ermöglichen. Insofern kann Sozialhilfe eine Handlungsressource im Leben behinderter Menschen sein und nicht Zeichen oder gar Ursache des Verlusts von Handlungsfähigkeit und Marginalisierung (Leisering 1997: S. 152). Trotz sehr knapp bemessenen Sozialhilfeleistungen ist deshalb zu vermuten, dass der ab 1961 bestehende Rechtsanspruch auf Sozialhilfe und der Ausbau der Leistungen der Eingliederungshilfe zu einer individualisierten Lebensführung von Menschen mit Behinderung beigetragen haben könnten. Vor allem das Argument von Beck, dass dort, wo die Lage bisher am schlechtesten war, sich Veränderungen der Lebenslage am stärksten auswirken, könnte diese Vermutung verstärkter Individualisierung aufgrund sozialhilferechtlicher Niveauverschiebungen erhärten. Neben dem Ausbau des Sozialstaates dürften auch die Forderungen nach Individualität, Pluralität, Liberalität und Selbstverwirklichung infolge der „kulturellen Revolution von 1968“ dazu geführt haben, dass ab Mitte der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts die reine Verwahrung von Menschen mit Behinderung weitgehend abgeschafft wurde. Es entstanden „Wohnheime, Werkstätten und Freizeitangebote, die den besonderen Bedarfslagen der Behinderten entsprechen und zugleich ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ermöglichen sollten“ (Waldschmidt 2003: S. 17). Die damals entstandenen bescheidenen Freiräume und Gestaltungsmöglichkeiten, wie die Einrichtung eines eigenen Zimmers, die Teilnahme an Gruppenreisen, begrenzte Selbstverpflegungsmöglichkeiten etc. dürften Individualisierungsspielräume eröffnet haben, an die zuvor in den großen Anstalten mit ihren Bettensälen nicht zu denken war. Für viele Menschen mit Behinderung dürfte erst in dieser Zeit so etwas wie Privatsphäre und eine bescheidene Individualisierung entstanden sein. Ein Teil derjenigen, die von diesen Entwicklungen profitiert haben, ist in Bielefeld seit Mitte der 90er Jahre aus dem Heim in eine eigene Wohnung gezogen, was bei diesen dann einen zweiten Individualisierungsschub bewirkt haben dürfte. Ambulant Betreute Wohnformen sind generell eher dazu geeignet, individualisiertere Lebensformen zu ermöglichen als stationären Wohnformen. Es ist davon auszugehen, dass sich die Bedeutung des ambulant betreuten Wohnens in den kommenden Jahren weiter erhöhen wird. So wird von 2002 bis 2007 bundesweit mit einer prozentualen Steigerung der Personen im ambulant betreuten Wohnen um 35% gerechnet, während dem gegenüber nur eine Steigerung um 17% in den stationären Hilfen prognostiziert wird (Deutscher Verein 2003: S. 122). Auch eine andere Entwicklung kann als Prozess einer zunehmenden Individualisierung behinderter Menschen gedeutet werden. Derzeit lebt zum Beispiel fast immer noch die Hälfte der geistig behinderten Erwachsenen im Alter von 40 Jahren und ein Drittel der über 50-jährigen noch im Elternhaus (Beck 2004: S. 9). Es ist aber damit zu rechnen, dass sich der seit einigen Jahren festzustellende Trend zu einem deutlich niedrigerem Eintrittsalter in stationäre oder ambulant betreute Wohnformen weiter fortsetzen wird (Deutscher Verein 2003: 123).

Der Ausbau ambulant Betreuter Wohnformen und der tendenziell frühere Auszug behinderter Menschen aus dem Elternhaus sind dabei Ausdruck von Individualisierungsprozessen, die eng mit Niveauverschiebungen im Bereich der sozialstaatlichen Sicherungs- und Steuerungssysteme verknüpft sind.

2.1.2.3 Bildung

Auch durch ein „Mehr“ an Bildung entsteht nach Beck ein „Mehr“ an Individualisierung. Vor allem durch die Bildungsexpansion in den 60er und 70er Jahren seien vermehrt Arbeiter in den Genuss von Bildung gelangt. In diesen Jahren sei die „Bildungsabstinenz“ in Arbeiterfamilien abgebaut worden (Beck 1983: S. 37). Auch hier gelte, was für Niveauverschiebungen im Einkommen ebenfalls zutreffe: Da wo die Lage bisher am schlechtesten war, ist die Auswirkung am größten (Beck 1983: S.37). Folgende Mechanismen macht Beck für die Individualisierung durch Bildung verantwortlich:

(1) „Mit der Verlängerung der schulischen Bildung wird die Herauslösung aus dem Herkunftsmilieu zum selbstverständlichen Massenschicksal“ (Beck 1983: S. 45). Durch universalistische Lehr- und Lernbedingungen werden traditionelle Denkweisen und Lebensstile enttraditionalisiert und kollektiv verdrängt. Bildung ermöglicht zumindest ein Minimum an Selbstfindungs- und Reflexionsprozessen (Beck 1983: S. 45) Das Bestehende, auch die traditionell vorgebebene Lebensführung, wird kritisch hinterfragt und reformiert.
(2) Das Durchlaufen des Bildungssystems ist mit Selektionsprozessen verbunden. Eine individuelle Aufstiegsorientierung ist erforderlich.
(3) Formalisierte Bildungsprozesse sind „nur durch das ´ individualisierte Nadelöhr ` von Prüfungen, Klausuren und Testverfahren hindurch zu absolvieren, die ihrerseits Zugangsmöglichkeiten zu individualisierten Bildungspatenten und Arbeitsmarktkarrieren eröffnen“ (Beck 1983: 45f.).

Es stellt sich die Frage, ob und inwieweit auch Menschen mit Behinderung von einem „Mehr“ an Bildung profitieren konnten bzw. können. In erster Linie dürften körperbehinderte bzw. sinnesgeschädigte Menschen von der Ausweitung der Bildung profitiert haben. Während für taubstumme und blinde Menschen bereits im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts spezielle Heime entstehen und entsprechende Unterrichtsmethoden entwickelt werden, wird geistig behinderten Kindern bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein die Bildungsfähigkeit abgesprochen. Zuerst haben sich die Bildungsbemühungen also denjenigen zugewandt, „die trotz ihrer Schädigung für vernunftbegabt und eingliederungsfähig in den Arbeitsmarkt gehalten werden“ (Waldschmidt 1999: S. 38). Die Umorientierung in Behindertenhilfe und -politik in Richtung auf Integration, Normalisierung und Partizipation während der Reformära der sozialliberalen Koalition zu Beginn der 70er Jahre hat nach Waldschmidt (2003: S. 17f.) vor allem Frauen und Männern mit körperlichen Beeinträchtigungen Vorteile gebracht. Sie erhielten in diesen Jahren Zugang zum Bildungssektor und zum Arbeitsmarkt. Deshalb ist es, wie Waldschmidt feststellt, „sicher auch kein Zufall, dass aus der Generation der ´Rehabilitanden` diejenigen hervorgingen, die ab Ende der Siebziger die westdeutsche Behindertenbewegung initiierten und zu Beginn der achtziger Jahre Selbstbestimmung einforderten“ (Waldschmidt 2003: S. 18).

2.1.2.4 Sonstige Niveauverschiebungen

Soziale und geographische Mobilität löst die Lebenswege der Menschen aus dem Herkunftsmilieu und wirbelt sie durcheinander. Sie individualisieren sich und es entstehen neue soziale Beziehungsmuster in Bekanntschaft und Nachbarschaft. Darüber hinaus können neue Formen des Zusammenlebens entstehen (Beck 1983: S. 38). Behinderungen sind nicht selten in vielfacher Hinsicht mit Immobilität verknüpft und dürften sich damit als Individualisierungshindernis erweisen: Körperliche Behinderungen führen zum Teil immer noch dazu, dass geographische Mobilität eingeschränkt ist, geistige Behinderungen schränken häufiger soziale Mobilität ein. Zu vermuten ist auch, dass Abhängigkeiten von der Herkunftsfamilie zu einer Einschränkung der sozialen und geographischen Mobilität führen. Beck weist darauf hin, dass „auch die mit Landbesitz verbundene Erbschaftsfolge und ihre Antizipation eine wesentliche Bremswirkung zumindest auf innerfamiliale Individualisierungen ausüben, einfach weil der Familienzusammenhang damit für die einzelnen Mitglieder materiell relevant bleibt“ (Beck 1983: S. 61). Analog dazu dürfte auch bei Menschen mit Behinderungen der Familienzusammenhang in vielerlei Hinsicht relevanter sein als in der Durchschnittsbevölkerung. Der frühere Auszug behinderter Menschen aus dem Elternhaus und die damit in der Regel verbundene geographische und soziale Mobilität[11] dürften jedoch auch hier Individualisierungsprozesse in Gang setzen.

Drei weitere von Beck genannte Punkte beziehen sich in erster Linie auf den Arbeitsmarkt: Künstliche Binnendifferenzierungen z.B. in Gestalt von Bildungsabschlüssen und betrieblichen Statushierarchien, Arbeitsmarktdynamiken und kontinuierlich sinkende Arbeitszeiten können nur dann ihre volle Individualisierungsdynamik entfalten, wenn Menschen tatsächlich am Erwerbsleben teilnehmen (Beck 1983: S. 39f.). Der von mir hier diskutierte Personenkreis dürfte tendenziell auf dem ersten Arbeitsmarkt deutlich unterrepräsentiert sein und damit noch nicht in vollem Ausmaß von diesen dadurch ausgelösten Individualisierungstendenzen erfasst sein wie die Durchschnittsbevölkerung. Zu bedenken ist allerdings, dass es auch in Werkstätten für behinderte Menschen Tendenzen gibt, stärker individuell nach Leistung zu bezahlen und damit auch hier betriebliche Statushierarchien unter den behinderten Mitarbeitern zu statuieren.

2.2 Wohlfahrtspluralismus nach Evers/Olk

Im vorangegangenen Abschnitt habe ich mit Hilfe der Individualisierungstheorie von Beck den durch Individualisierungsprozesse gekennzeichneten gesellschaftlichen Kontext der Forderung nach mehr Selbstbestimmungsmöglichkeiten für behinderte Menschen beschrieben. In diesem Abschnitt thematisiere ich den für Menschen mit Behinderung und ihre Selbstbestimmungsmöglichkeiten besonders wichtigen institutionellen Kontext des Wohlfahrtsstaates bzw. der Wohlfahrtsgesellschaft. Das Persönliche Budget ist dabei ein Teil dieses Kontextes. Als theoretisches Modell zur Beschreibung des institutionellen wohlfahrtsstaatlichen bzw. wohlfahrtsgesellschaftlichen Arrangements verwende ich das Wohlfahrtspluralismus-Konzept von Evers und Olk (1996). In diesem Konzept werden analytisch vier Sektoren der Wohlfahrtsproduktion unterschieden, die sich durch jeweils spezifische Handlungslogiken mit entsprechenden Stärken und Schwächen auszeichnen. Mit Hilfe dieser im folgenden Abschnitt vorgestellten Sektoren und deren Handlungslogiken lassen sich später gut die strukturellen Auswirkungen des Persönlichen Budgets auf das wohlfahrtspluralistische Arrangement und die Selbstbestimmungsmöglichkeiten behinderter Menschen beschreiben.

2.2.1 Die vier Sektoren der Wohlfahrtsproduktion

Evers und Olk identifizieren als die vier institutionellen Bereiche der Wohlfahrtsproduktion idealtypisch den Markt-Sektor, den Staats-Sektor, den informellen Sektor und den Nonprofit-Sektor. Die einzelnen Sektoren der Wohlfahrtsproduktion weisen dabei jeweils spezifische Handlungslogiken auf und erfüllen ein spezifisches normatives Ziel in besonderer Weise, dies allerdings regelmäßig auf Kosten der übrigen Ziele (Evers/Olk 1996: S. 22). Die vier Sektoren stelle ich in den nächsten vier Abschnitten jeweils einzeln mit ihrer Handlungslogik dar.

2.2.1.1 Markt-Sektor

Die auf dem Markt zentralen kollektiven Akteure sind auf der Angebotsseite Waren und Dienstleistungen anbietende Unternehmen und auf der Nachfrageseite Kunden. Auf Wettbewerb beruhende Marktbeziehungen abstrahieren in hohem Grad von zeitlichen Kontinuitäten und normativen Übereinstimmungen: Äquivalenztauschakte bedürfen keiner gemeinsam geteilten normativen Deutung, keiner vorbereitenden Interaktionserfahrung und keiner Festlegung auf zukünftige (Tausch-) Handlungen. Ihre normative Voraussetzungslosigkeit und Zeitpunkt-Bezogenheit ermöglicht ein Maximum an (Wahl-) Freiheit. Aus der „Kommerzialisierung“ von Beziehungen resultiert aber zugleich eine Erosion von gemeinschaftlichen Bindungen. Auch das normative Ziel der Gleichheit der Ergebnisse oder auch nur der Teilhabe an Minimalstandards wird systematisch verfehlt, weil zwar formal gleiche Zugangschancen bestehen – teilnehmen kann jeder, der über gültige Zahlungsmittel verfügt – aber eben nicht alle verfügen über gültige Zahlungsmittel in ausreichender Menge. Die Fixierung auf das Austauschmedium Geld führt ferner dazu, dass nicht-monetarisierbare Bedürfnisse systematisch vernachlässigt werden und ungleich verteilte nicht-monetarisierbare Folgelasten von Marktbeziehungen entstehen (Evers/Olk 1996: 23 f.).

2.2.1.2 Staats-Sektor

Auf der Angebotsseite wird der Staat durch öffentliche Verwaltungen repräsentiert, auf der Nachfrageseite steht der Staatsbürger mit seinen rechtlich verbürgten Anspruchsberechtigungen. Mit Hilfe des Steuerungsprinzips der Hierarchie „ist der Staat in hervorragender Weise geeignet, die Gesamtheit der Staatsbürgerinnen und –bürger mit einem flächendeckenden und standardisierten Angebot an Gütern und Dienstleistungen bzw. Infrastrukturmaßnahmen und damit mit einer tendenziellen Gleichartigkeit von Lebensbedingungen dauerhaft zu versorgen“ (Evers/Olk 1996: S. 24). Der moderne Wohlfahrtsstaat kann – idealtypisch gesprochen und sofern er seinen selbst gesetzten Ansprüchen folgt - , ein Maximum an Gleichheit der Ergebnisse, Sicherheit, Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit erreichen. Umgekehrt tendiert er dahin, Bedürfnisse von Minderheiten zu vernachlässigen und Freiheitsrechte einzuschränken. Freiheitseinschränkungen ergeben sich einerseits durch Einengungen der Dispositionsfreiheit aufgrund der Erhebung von Zwangssteuern und –abgaben und andererseits durch „Kontrolle, Überwachung und Fremdbestimmung der Sozialstaatsklientele durch Sozialgesetzgebung und Sozialbürokratien sowie durch einen expandierenden Apparat von anstaltlich organisierten sozialen Einrichtungen und Diensten“ (Evers/Olk 1996: S. 25).

Als Hinweis sei an dieser Stelle eingefügt, dass Kaufmann eine Gleichstellung der vier genannten Sektoren der Wohlfahrtsproduktion bestreitet: „Der staatliche Beitrag bezieht sich im wesentlichen auf die institutionellen Grundlagen der verschiedenen Leistungssysteme und die Gewährleistung von Inklusion durch Einräumung und Schutz sozialer Rechte“ (Kaufmann 1994: S. 375). Olk und Evers betrachten diese Sichtweise des Staates „nicht als konkurrierende sondern als komplementäre Deutung des Phänomens der Wohlfahrtsproduktion“ (Evers/Olk 1996: S. 17). Konzentriere man sich auf die politische Funktion des Staates, sei „es berechtigt, der staatlichen Politik eine herausragende Rolle im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Institutionen zuzubilligen“ (Evers/Olk 1996: S. 18). Betrachte „man jedoch den Staat als Produzenten sozialer Dienste, so ist es angemessener, ihn als ´öffentlichen Sektor` zu konzeptualisieren, der keine Vorrangposition gegenüber anderen Sektoren der Gesellschaft beanspruchen kann“ (Evers/Olk 1996: S. 18).

2.2.1.3 Informeller Sektor

Der informelle Sektor wird auf der Angebotsseite „durch Sozialgebilde wie Familienhaushalte, Nachbarschaften, Verwandtschaftsgruppen, aber auch durch Gemeinschaftsformen wie Nationen oder soziale Bewegungen repräsentiert“ (Evers/Olk 1996: S. 25). Der Zugang erfolgt über Mitgliedschaft, entweder über Askription wie im Falle „geborener“ Mitglieder (Familie, Verwandtschaft, Dorf, Nation etc.) oder über Kooption wie bei auf freiwilliger Mitgliedschaft basierenden Gemeinschaften (Gesprächs- und Selbsthilfegruppen). Informelle Gemeinschaften sind durch affektiv-diffuse Beziehungsmuster geprägt, basieren auf der Grundlage geteilter Normen und Identitäten und organisieren Austauschbeziehungen auf der Basis des Reziprozitätsprinzips. In Erwartung der zeitlichen Stabilität solcher Gemeinschaften bedeutet Reziprozität nicht, dass die Leistenden selbst es sind, die in den Genuss von Gegenleistungen kommen. Denkbar ist auch, dass zukünftige Dritte in den Genuss dieser Gegenleistung kommen könnten (Evers/Olk 1996: S. 25). Systematisch verfehlt wird die Realisierung von Freiheitswerten, da durch moralische Verpflichtung Wahlfreiheiten eingeschränkt werden. Ebenfalls verfehlt wird das Ziel der Gleichheit und universalistischen Teilhabe, weil Nicht-Mitglieder in der Regel ausgeschlossen bleiben (Evers/Olk 1996: S. 23 u. 26).

2.2.1.4 Nonprofit-Sektor/Intermediärer Bereich

Im Nonprofit-Sektor stellen freiwillige bürgerschaftliche Assoziationen der Zivilgesellschaft die zentralen Akteure auf der Angebotsseite dar. Freiwillige bürgerschaftliche Zusammenschlüsse stellen unmittelbar kollektive Güter und Leistungen für Mitglieder der Assoziation, aber auch für Nicht-Mitglieder her. Zugangskriterium ist die jeweilige Bedürftigkeit. Zentrale Bezugswerte sind Solidarität und soziale und politische Aktivierung. Nachteile sind ungleiche Verteilung der Güter und Leistungen, Professionalisierungsdefizite und reduzierte Effektivität der Management- und Organisationsstrukturen (Evers/Olk 1996: S. 23 u. 26). Die von Evers und Olk vorgenommene Beschreibung des Nonprofit-Sektors bzw. des intermediären Bereiches ist idealtypisch und entspricht in der Regel keineswegs den empirisch vorfindlichen realen Organisationsformen (Evers/Olk 1996: S. 26). So ist der intermediäre Bereich in der Bundesrepublik stark durch die intensive Zusammenarbeit zwischen Nonprofit-Organisationen, vor allen den großen Wohlfahrtsverbänden, und dem Staat gekennzeichnet. Die oben idealtypisch dargestellten Kennzeichen des intermediären Sektor treffen für die Bundesrepublik im wesentlichen nicht oder doch nur marginal zu. Die starke Verschränkung zwischen Staat bzw. öffentlichen Sektor und Nonprofit-Organisationen führt dazu, dass die wesentlichen Leistungen aufgrund staatlicher Gesetze erbracht werden und die Finanzierung weitgehend durch öffentliche Mittel erfolgt. Evers und Olk führen derartige spezifische Konstruktionen auf die Ermöglichung von synergistischen Effekten durch eine enge Kooperation zwischen Staats- und Nonprofit-Sektor zurück: „Der Staat kann die bereichsspezifischen Kompetenzen und Ressourcen nicht-staatlicher Organisationen nutzen sowie durch ihren Einbezug in die Umsetzung staatlicher Programme und Maßnahmen das tatsächliche Ausmaß staatlicher Eingriffe und Interventionen in die Gesellschaft partiell ´herunterspielen`. Organisationen des Nonprofit-Sektors sichern dagegen durch ihre enge Zusammenarbeit mit staatlichen Institutionen zentrale Ressourcen und Einflusskanäle zu politischen Entscheidungsprozessen“ (Evers/Olk 1996: S. 29). Für die potenziellen Nutzer ergibt sich so der Vorteil, dass sie sowohl die besonderen Leistungspotentiale und Möglichkeiten des intermediären Sektors nutzen können als auch die Vorzüge staatlicher Wohlfahrtsproduktion wie Berechenbarkeit, Zuverlässigkeit und Flächendeckung (Evers/Olk 1996: S. 29).

Salamon (1996) kritisiert, „daß die unzureichende Anerkennung der Realität des Third party government“ innerhalb konventioneller theoretischer Konzepte zu einer Ausblendung der Beziehungen zwischen Staat und Nonprofit-Organisationen geführt hat“ (Salamon 1996: S. 89). Die Existenz des intermediären Bereichs werde in erster Linie auf ein Versagen von Staat und Markt zurückgeführt, so dass die Freiwilligen- bzw. Nonprofit-Organisationen „Lücken im Bereich der Versorgung mit bestimmten Gütern und Leistungen aus [füllen], die aufgrund von Funktionsdefiziten von Markt und Staat entstehen“ (Salamon 1996: S. 89). Salamon geht umgekehrt davon aus, dass der Freiwilligen bzw. Nonprofit-Sektor „eher auf ein wahrgenommenes ´Marktversagen` reagieren kann und daß der Staat nur dann auf den Plan tritt, wenn sich diese erste Reaktion als immer noch nicht ausreichend erweist“ (Salamon 1996: S. 89). Der Staat habe überall dort seine Stärken, wo der Nonprofit-Sektor seine Schwächen habe und umgekehrt. So sei der Staat „zumindest potentiell in der Lage, für einen stetigen Zufluß von Ressourcen zu sorgen und die Prioritäten für die Verausgabung dieser Ressourcen auf der Basis demokratischer Entscheidungsprozeduren zu fällen, statt nach den Wünschen und Vorlieben der Wohlhabenden, sowie den Paternalismus des Systems der Wohltätigkeit durch die Etablierung von Rechtsansprüchen auf Hilfe auszugleichen; ferner kann der Staat die Qualität wohlfahrtspflegerischen Handelns durch die Kontrolle von Qualitätsstandards erhöhen“ (Salamon 1996: S. 94). Umgekehrt kann sich der Staat der Nonprofit-Organisationen bedienen, „um soziale Dienste bedürfnissensibler auszugestalten, auch im Hinblick auf Minderheitsbedürfnisse zu handeln und die Wohlfahrtspflege den Klienten anzupassen statt umgekehrt“ (Salamon 1996: S. 94). Zugleich wird durch das System der freien Wohltätigkeit eine Art Wettbewerb zwischen den einzelnen Anbietern statuiert (Salamon 1996: S. 94). Salamon befürwortet die enge Kooperation zwischen Staat und Nonprofit-Organisationen, sieht allerdings drei potenzielle Gefahren, die sich so beschreiben lassen:

(1) Potenzieller Verlust der Autonomie bzw. Unabhängigkeit von Nonprofit-Organisationen.
(2) Verzerrung des selbstgesetzten Auftrags der Organisationen durch die Konkurrenz um knappe Fördermittel.
(3) Sich aus staatlichen Förderprogrammen und ihren Abrechnungsmodalitäten ergebene Bürokratisierung und Überprofessionalisierung.

(Salamon 1996: S. 95).

3 Das Persönliche Budget

Nachdem ich im letzten Kapitel mit der Individualisierungstheorie von Beck und dem Wohlfahrtspluralismusansatz von Evers und Olk zwei theoretische Modelle vorgestellt habe, mit dessen Hilfe sich der gesellschaftliche und institutionelle Kontext des Persönlichen Budgets beschreiben lässt, komme ich nun auf das Instrument des Persönlichen Budgets selbst zu sprechen. Im ersten Abschnitt dieses Kapitels führe ich zunächst kurz in das Persönliche Budget ein, um im darauf folgenden Abschnitt dann den Entstehungskontext des Persönlichen Budgets zu beschreiben.

3.1 Kurze Einführung in das Persönliche Budget

In vielen europäischen Ländern lässt sich seit einigen Jahren ein grundlegender Richtungswechsel in der Behindertenpolitik beobachten. Leitideen wie soziale Teilhabe und Selbstbestimmung stehen dabei im Mittelpunkt und zielen darauf ab, das lange Zeit in der Behindertenpolitik vorherrschende Fürsorgeparadigma durch das Selbstbestimmungsparadigma abzulösen. Mit diesem grundlegenden Perspektivwechsel in der Behindertenpolitik vieler europäischer Staaten gehen Bemühungen einher, „eine bessere Passgenauigkeit und Wirksamkeit rehabilitativer (Dienst-) Leistungen zu erzielen“ (Wacker u.a. 2005: S. 31). Tendenziell wird so eine höhere Effektivität und Effizienz sozialpolitischer Programme und sozialer Dienste angestrebt.

In beiden genannten Zusammenhängen wird das Persönliche Budget als neues Steuerungsinstrument diskutiert und in verschiedenen europäischen Ländern bereits seit Mitte der 90er Jahre praktisch umgesetzt. Lässt man die zum Teil gravierenden Unterschiede zwischen den verschiedenen in Europa existierenden Modellen einmal beiseite, kann man den Grundgedanken des Persönlichen Budgets in etwa so zusammenfassen: Menschen mit gesetzlichen Ansprüchen auf Hilfe bekommen nicht wie bisher üblich so genannte Sachleistungen, größtenteils in Form von personenbezogenen sozialen Dienstleistungen, zur Verfügung gestellt, „sondern ein individuell berechnetes Persönliches Budget, mit dem sie – oder Angehörige oder Betreuer – die erforderlichen Hilfen selbst auswählen“ (Pfannendörfer 2004: S. 122). Dazu wird ihnen „ein Betrag für einen bestimmten Zeitraum zur Verfügung gestellt, mit dem die Organisation und Ausgestaltung ihrer Unterstützung geplant und umgesetzt werden kann“ (Wacker u.a. 2005: S. 32).[12] Statt ein mehr oder weniger geschlossenes Angebot einer stationären oder teilstationären Einrichtung oder eines ambulanten Dienstes als Sachleistung in Anspruch zu nehmen, tritt der behinderte Mensch beim Persönlichen Budget seinen Helfern und Assistenten als Kunde oder Arbeitgeber gegenüber. So entsteht eine unmittelbare Beziehung zwischen der Leistung, die der behinderte Mensch vom Leistungsanbieter oder einem von ihm selbst angestellten Assistenten in Anspruch nimmt, und dem Geldbetrag, den er für die Vergütung dieser Leistung einsetzt (Bundesverband für Körper- und Mehrfachbehinderte e.V. 2003). Auf diese Weise sollen dann sachliche, soziale und zeitliche Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume bei der Auswahl und bei der Ausführung von Unterstützungsleistungen eröffnet werden, die dem Leistungsberechtigten mehr Kontrolle über das eigene Leben und eine individualisiertere Lebensführung ermöglichen. Statt der klassischen, eher passiven, Rolle als Hilfeempfänger im Objektstatus wird dem Menschen mit Behinderung auf diese Weise „eine aktive Rolle als wahl- und entscheidungsfähiger Nutzer“ zuerkannt (Wacker u.a. 2005: S. 25).

Auf struktureller Ebene soll der Umstieg von der traditionellen Sachleistung zur Geldleistung beim Persönlichen Budget die Stellung des behinderten Menschen bzw. des Leistungsberechtigten gegenüber der Leistungsanbieterseite stärken und aufwerten.

In der Bundesrepublik Deutschland ist die Einführung des Persönlichen Budgets im politischen Raum seit etwa Mitte der 90er Jahre diskutiert worden (Baur 2004). Die rot-grüne Regierungskoalition startete „im Jahr 1998 mit der politischen Zielvorgabe, die Möglichkeiten der Teilhabe behinderter Menschen am gesellschaftlichen Leben zu stärken und die Nachteile, denen Menschen mit Behinderung ausgesetzt sind, schrittweise zu beseitigen“ (Lachwitz o.D.). Diese Bemühungen mündeten im Jahr 2001 in der Verabschiedung des Behindertengleichstellungsgesetzes und des Sozialgesetzbuch IX (SGB IX).[13] Mit dem am 1. Juli 2001 in Kraft getretenen SGB IX erhielten zunächst einzelne Rehabilitationsträger die Möglichkeit, Leistungen zur Teilhabe durch Gewährung eines Persönlichen Budgets auszuführen[14] und durch Modellvorhaben[15] zu erproben (Pöld-Krämer 2005: S. 18). Seit dem 1. Juli 2004 ist das Persönliche Budget als trägerübergreifende Komplexleistung[16] gesetzlich verankert und als so genannte Ermessensleistung nicht mehr nur auf einzelne Modellvorhaben beschränkt. Ab Januar 2008 besteht dann ein Rechtanspruch auf das Persönliche Budget.[17] Bis zum 31. Dezember 2007 werden Modellprojekte zum trägerübergreifenden Persönlichen Budget durchgeführt. In Abstimmung mit den obersten Landessozialbehörden sind bundesweit 14 Modellregionen in 8 Bundesländern ausgewählt worden, in denen Verfahren zum Persönlichen Budget mit jeweils mindestens 50 Budgetnehmern erprobt werden sollen. Es ist geplant, den Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitforschung im Juli 2007 vorzulegen (Wacker u.a. 2005: S. 77).

Während die praktischen Erfahrungen mit dem Persönlichen Budget in Deutschland noch sehr gering sind, liegen in den Niederlanden, Großbritannien und Schweden bereits seit einigen Jahren wesentlich mehr praktische Erfahrungen mit dem Persönlichen Budget vor (Wacker u.a. 2005: S. 42 u. 75). In diesen Ländern gibt seit Mitte der 90er Jahre sehr unterschiedlich ausgestaltete Regelungen zum Persönlichen Budget (Wacker u.a. 2005: S. 43 ff.; Westecker 2002). In den Niederlanden wurde das Persönliche Budget ab 1995 landesweit realisiert (Wacker u.a. 2005: S. 43; Reitsma 2002: S. 56). Ende 2004 gab es dort bereits ca. 70000 Budgetinhaber (Wacker u.a. 2005: S. 46). In Großbritannien wurde das Persönliche Budget, dort als „direct payments“ bezeichnet, 1996 landesweit nach einer vorherigen Modellphase eingeführt. Im Jahr 2003/2004 gab es dort ca. 17000 Budgetnehmer (Westecker 2002; Wacker u.a. 2005: S. 49). In Schweden gibt es ein entsprechendes Gesetz bereits seit 1994. Dort hat sich das Persönliche Budget zur wichtigsten Unterstützungsform für Menschen mit Behinderungen entwickelt (Wacker u.a. 2005: S. 53 u. S. 57; Westecker 2002).

In der Bundesrepublik Deutschland sind die praktischen Erfahrungen mit dem Persönlichen Budget im Gegensatz dazu bisher sowohl hinsichtlich der Länge des Erprobungszeitraumes als auch hinsichtlich der Anzahl der Budgetnehmer gering.

Im Rahmen der Bundesmodellprojekte zum trägerübergreifenden Persönlichen Budget wurden bundesweit bis Juli 2006 lediglich 526 Budgets bewilligt. Nur 18 von diesen insgesamt bewilligten Budgets waren trägerübergreifend. In der Modellregion Bielefeld gab es zum gleichen Zeitpunkt 12 bewilligte Budgets (Universität Tübingen u.a. 2006: S. 2). Im Rahmen der Bundesmodellprojekte zum trägerübergreifenden Persönlichen Budget liegen bisher also praktisch keine aussagekräftigen und auswertbaren Praxiserfahrungen vor.

3.2 Entstehungskontext des Persönlichen Budgets

Im Folgenden versuche ich den gesellschaftlichen und institutionellen Entstehungskontext zu beschreiben, der mit dazu geführt habe könnte, dass das Instrument des Persönlichen Budgets in der Behindertenpolitik zunächst in verschiedenen europäischen Ländern und jetzt auch in der Bundesrepublik Deutschland relevant geworden ist. In Abschnitt 3.2.1 geht es zunächst um den grundlegenden Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik. In dem darauffolgenden Abschnitt 3.2.2 stelle ich unterschiedliche Denkansätze vor, mit deren Hilfe ich die Einführung des Persönlichen Budgets im Zusammenhang mit dem Paradigmenwechsel zu erklären versuche.

3.2.1 Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik

In der letzten Legislaturperiode haben die Bundesregierung und der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen einen „Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik“ von „fremdbestimmter Fürsorge“ hin zu „Selbstbestimmung“ festgestellt (Haack 2003; Bundesregierung 2004: S. 24). Das mit dem SGB IX erstmals eingeführte Persönliche Budget sei dabei der „sichtbarste Ausdruck von Selbstbestimmung und eigenverantwortlicher Teilhabe“ (Haack 2003a). Mit Hilfe des Persönlichen Budgets sollen Entscheidungsspielräume für Menschen mit Behinderung bei der Auswahl von Unterstützungsleistungen eröffnet werden, um auf diese Weise mehr Kontrolle über das eigene Leben und eine individualisiertere Lebensführung zu ermöglichen. Auch in den entsprechenden Fachdiskussionen zur Entwicklung des Rehabilitationssystems findet sich ein solcher oder doch sehr ähnlicher Paradigmenwechsel (Wacker u.a. 2005: S. 9 ff.). Wacker u.a. beschreiben diesen Paradigmenwechsel als grundlegenden Perspektivwechsel: „Nicht mehr wie Versorgung gewährleistet wird“ sei die Zielorientierung des Rehabilitationssystems, „sondern wie selbstbestimmte Lebensführung und Teilhabe am Leben der Gemeinschaft gelingen können – auch bei bestehendem Unterstützungsbedarf“ (Wacker u.a. 2005: S. 9). Der Begriff der Lebensqualität sei dabei in den letzten Jahren zum zentralen Leitbegriff des Rehabilitationssystems geworden. Als „umfassendstes Zielkonzept“ beinhalte der Begriff der Lebensqualität „sowohl objektive als auch subjektive Dimensionen“ und setze sie zueinander in Beziehung, während der Begriff des Lebensstandards tendenziell nur auf die objektiven Lebensbedingungen abhebe (Wacker u.a. 2005: S. 12). Das Konzept der Lebensqualität ist nach Wacker u.a. „logische Fortsetzung des Normalisierungsprinzip, welches vornehmlich pragmatisch auf die Verbesserung der objektiven Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderung abhob“ und nun erweitert und vertieft wird, indem „es subjektive Erfahrungen, Bewertungen und Bedürfnisse sowie individuelle Lebensstile und –entwürfe von Menschen mit Behinderung in den Blick“ nimmt (Wacker u.a. 2005: S. 15). Trotz unterschiedlicher Schwerpunktsetzungen in der internationalen Quality-of-life-Forschung seien Übereinstimmungen hinsichtlich der untersuchten Bereiche und Indikatoren feststellbar. Schalock u.a. (2002) nennen als Kerndimensionen von Lebensqualität „emotionales Wohlbefinden“, „soziale Beziehungen“, „materielles Wohlbefinden“, „persönliche Entwicklung“, „physisches Wohlbefinden“, „Selbstbestimmung“, „soziale Inklusion“ und „Rechte“ (Wacker u.a. 2005: S. 16). Der Kerndimension „Selbstbestimmung“ wird dabei in aktuellen Denkmodellen zur Lebensqualität eine herausragende Bedeutung zugesprochen (Wacker u.a. 2005: S. 17). Selbstbestimmung, verstanden als Entscheidungsautonomie, setzt dabei im Prinzip keine Selbstständigkeit, verstanden als Handlungsautonomie, voraus. Auch Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung nur über wenig Fähigkeiten verfügen, ihre Ziele in konkrete Handlungen zu überführen (z.B. schwerst körperlich behinderte Menschen), können - zumindest prinzipiell - selbstbestimmt leben, wenn die erforderliche Unterstützung verfügbar ist und sie über Umfang, Auswahl und Ausgestaltung derselben autonom entscheiden können (Wacker u.a. 2005: S. 18). Neben Selbstbestimmung spielt der Begriff der sozialen Teilhabe bzw. Partizipation eine herausragende Rolle. Selbstbestimmung setzt den Menschen zunächst einmal aus vorgegebenen Sozialformen frei, zielt aber zugleich darauf ab, individuelles Glück und Wohlbefinden unter einem menschenwürdigen und kulturadäquaten Lebensstandard zu ermöglichen. Selbstbestimmung bedarf des gesellschaftlichen Bezuges und kann nicht im „luftleeren Raum“ stattfinden. Wacker u.a. bestimmen das Verhältnis dieser beiden Begriffe so zueinander: „Die Inszenierung eines eigenen Lebens wird weiterhin vermittelt über objektive Lebensumstände im Sinne kultureller Standards der Lebensführung. Selbstbestimmung realisiert sich grundsätzlich durch Teilhabe an diesen Standards bzw. an der Gesellschaft – sowohl ökonomisch als auch sozial, kulturell und politisch“ (Wacker u.a. 2005: S. 21). Selbstbestimmung und soziale Teilhabe erfordern einen Abschied vom „Fürsorgeparadigma, das davon lebt, jenen Menschen sicher durchs Leben zu helfen, denen Funktionsstörungen bescheinigt wurden“ (Wacker u.a. 2005 im Geleitwort). Damit der beschriebene Perspektivwechsel praktisch umgesetzt werden kann, soll sich das gesamte Rehabilitationssystem von der angebotsbezogenen Unterstützung hin zur personenbezogenen Unterstützung nach Maß umorientieren (Wacker u.a. 2005: S. 9 u. S. 25). Die Einführung des Persönlichen Budgets kann als Ausdruck dieser Umorientierung des Rehabilitationssystems und des Paradigmenwechsels der Behinderpolitik hin zu mehr Selbstbestimmung verstanden werden.

[...]


[1] Im Folgenden verwende ich anstatt „Sozialgesetzbuch“ die allgemein übliche Abkürzung „SGB“.

[2] So betont Durkheim (1858-1917), dass soziale Differenzierung Individualisierung fördert. Säkularisierung und der Übergang von der mechanischen Solidarität älterer Gesellschaften, die auf Ähnlichkeit beruht, zur organischen Solidarität moderner Gesellschaften, die auf Arbeitsteilung beruht, führen nach Durkheim zu einem Prozess des Anwachsens individueller Autonomie (Burkart 2002: S. 63). Simmel (1858-1918) arbeitet noch deutlicher als Durkheim heraus, dass soziale Differenzierung die Individualisierung fördert. Das moderne Individuum befindet sich nach Simmel in den Schnittpunkten zahlreicher sozialer Kreise. In moderner Terminologie wird dieser Gedanke von Burkart (2002: S. 63) so zusammengefasst: „Je mehr wir in verschiedenen Funktionsbereichen über bestimmte soziale Rollen partizipieren, desto größer sind die Möglichkeiten der individuellen Lebensgestaltung. Die Zugehörigkeit zu verschiedenen Kreisen bringt ´mehr Spielraum für die Entwicklung unserer Individualität`“. Die Individuellen Freiräume werden umso größer, je differenzierter eine Gesellschaft ist (Burkart 2002: S. 63). Auch Marx hat beschrieben, dass mit der Ausbreitung des Industriekapitalismus ein in Ausmaß und Reichweite bislang unbekannter Freisetzungsprozess in Gang gekommen ist. Dieser führt dann allerdings bei Marx nicht zu zunehmender Individualisierung, sondern zu Klassenkampfdynamik aufgrund der kollektiv erfahrenen Verelendung (Beck: 1983: S. 47f.). Weber arbeitet ausdrücklicher als Marx die Differenziertheit und Pluralität von Lebenslagen heraus. Latent vorhandene Parzellierungs- und Individualisierungstendenzen können aber deshalb nicht wirklich dominant werden, weil sich ständische Traditionen und Subkulturen in der kapitalistischen Industriegesellschaft mit Kompetenzbesitz und Marktchancen zu sozialen Klassenlagen verschmolzen haben. Individualisierungstendenzen werden dadurch abgeschwächt (Beck 1983: S. 48).

[3] Schroer unterscheidet negative, positive und ambivalente Individualisierungstheorien. Becks Individualisierungstheorie zählt dabei ebenso wie die von Simmel zu den ambivalenten Theorien (Schroer 2000: S. 12f.).

[4] Nach Beck gehören zu diesen Rahmenbedingungen: „Allgemeine wirtschaftliche Prosperität und damit verbundene Vollbeschäftigung, Ausbau des Sozialstaates, Institutionalisierung gewerkschaftlicher Interessenvertretungen, Bildungsexpansion, Erweiterung des Dienstleistungssektors und so eröffnete Mobilitätschancen, Reduzierung der Arbeitszeit etc.“ (Beck 1983: S. 48).

[5] Diese Niveauverschiebungen wurden nach Beck zwar auch in der einschlägigen Forschung gesehen, aber „nie systematisch als eine wesentliche eigenständige sozialstrukturelle Entwicklung in der Bundesrepublik begriffen und ausgearbeitet“ (Beck 1983: S. 36). Letztlich läuft Becks Individualisierungstheorie auf den Versuch hinaus, die drastische Veränderung der Lebensbedingungen der Menschen als eigenständige sozialstrukturelle Entwicklung zu begreifen. Damit hat Beck vor jetzt über 20 Jahren die klassische Forschung zu sozialer Ungleichheit in Frage gestellt, die ihren Blick immer auf die sozialen Ungleichheits relationen gerichtet hat. Die Struktur sozialer Ungleichheit wies und weist aus der Perspektive der klassischen Ungleichheitsforschung in der Regel eine überraschende Stabilität auf (Beck 1983: S. 35). Zu dieser Kontroverse sei beispielhaft auf den Aufsatz von Rainer Geißler verwiesen, der 1996 in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie seinen Aufsatz „Kein Abschied von Klasse und Schicht. Ideologische Gefahren der deutschen Sozialstrukturanalyse“ veröffentlicht hat. Er widerspricht in diesem Aufsatz der Vorstellung, dass sich die moderne Wohlfahrtsgesellschaft von ihren Schichten und Klassen verabschiede. Die Neuausrichtung der Sozialstrukturanalyse im Zuge der Individualisierungstheorie habe inzwischen zu neuen Einseitigkeiten geführt und laufe Gefahr, dass sie wichtige fortbestehende Ungleichheitsstrukturen unterschätze, übersehe und damit ideologisch verschleiere (Geißler 1996). Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, diese Kontroverse hier ausführlicher zu erörtern.

[6] Beck und Beck-Gernsheim nennen hier als Beispiele „Heiratsverbote der vorindustriellen Gesellschaft, die den besitzlosen Bevölkerungsgruppen eine Eheschließung unmöglich machten“ und „Reiseverbote und Heiratsverbote der Ostblockstaaten, die Kontakt zum ´Klassenfeind` untersagten“ (Beck/Beck-Gernsheim 1994: S. 12).

[7] Sogenannte „naturvermittelte, kollektive Betroffenheiten“ können nach Beck nicht nur über bestimmte Personenmerkmale, sondern „auch durch Umwelt veränderungen erzeugt werden, wie den Bau eines Atomkraftwerkes, einer Autobahn etc., die für die Bewohner einer bestimmten Region die ´Gemeinsamkeit eines Risikos` schaffen“ (Beck 1983: S. 69).

[8] Auf Basis der Mikrozensus 2003.

[9] Beck geht es in diesem Zusammenhang um die Reduzierung der „grundlegenden Risiken der Lohnarbeiterexistenz“ (Beck 1983: S. 38).

[10] Leisering nennt nur alte Menschen und Frauen. Die Argumentation lässt sich aber mühelos auch auf Menschen mit Behinderung übertragen.

[11] So ist eine Heimunterbringung in der Regel mit einem Ortswechsel und einem anderen sozialen Umfeld verbunden.

[12] Im Unterschied zur einfachen, in der Regel einmaligen Geldleistung, versteht man in der Finanzwissenschaft unter Budget „einen Finanzplan für einen bestimmten Zeitabschnitt“ (Wacker u.a. 2005: S. 31). Auch in Privathaushalten wird in der Regel mit Budgets gewirtschaftet, die sich aus den erzielten Einkommen und Leistungen finanzieren (Wacker u.a. 2005: S. 32).

[13] Beide Gesetze sind auch mit den Stimmen der Oppositions-Fraktionen von CDU/CSU und FDP zustande gekommen (Lachwitz).

[14] § 17 Abs. 1 Nr. 4 SGB IX i.d.F. vom 19.06.2001.

[15] § 17 Abs. 3 SGB IX i.d.F. vom 19.06.2001.

[16] § 17 Abs. 2 bis 6 SGB IX.

[17] § 159 Abs. 5 SGB IX.

Ende der Leseprobe aus 107 Seiten

Details

Titel
Das Persönliche Budget. Ein Instrument zur Erweiterung der Selbstbestimmungsmöglichkeiten von Menschen mit Behinderung?
Hochschule
Universität Bielefeld
Note
gut
Autor
Jahr
2006
Seiten
107
Katalognummer
V62358
ISBN (eBook)
9783638556163
ISBN (Buch)
9783638725026
Dateigröße
3081 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Budget, Instrument, Erweiterung, Selbstbestimmungsmöglichkeiten, Menschen, Behinderung
Arbeit zitieren
Joachim Schmidt (Autor:in), 2006, Das Persönliche Budget. Ein Instrument zur Erweiterung der Selbstbestimmungsmöglichkeiten von Menschen mit Behinderung?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/62358

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