Balzac wird kontrovers diskutiert. Wo ihn Barthes zu einem Legitimisten gegen eigenen Willen macht, einen „réaliste malgré lui“, macht ihn Engels zum marxistischen Sprachrohr und erklärt den „Triumph des Realismus durch Balzacs Werk“. Der Fehler beider Autoren liegt bereits in der Fragestellung. Balzac empfindet sich selbst nicht als rein politisch-soziologischen Schriftsteller, sondern zeigt sich in Père Goriot als mindestens ebenso von metaphysischen, spiritualistischen Faktoren beeinflusst und von seinen energiegeladenen Charakteren fasziniert. Meist gehen die Elemente fließend ineinander über. Das macht die Faszination seines Oeuvres aus, das ebenso wie die gesellschaftliche Wirklichkeit selbst ein Amalgam aus mehreren meist untrennbar miteinander verbundenen Faktoren darstellt. Friedrich bemerkt dazu: „Jenes Bild von Paris ist, wie die ganze „Comédie humaine“, eine infernalische Poesie, worin die Abschätzung des Soziologen, der die Schäden gewahrt, überströmt wird von der Freude des zugreifenden Künstlers.“
Der Künstler Balzac, der soziologisch-wissenschaftliche, empirische Erkenntnisse mit Mystik und Physiognomik mischt, genaue Beobachtungen mit Gemeinplätzen, genaue Charakterzeichnung mit kolportagenhaften Typen, moralisierende Kommentare mit Faszination für Unmoral, detaillierte Beschreibungen mit bis ins Groteske abdriftender Hyperbolik verschmilzt, ist als romantischer Realist nicht an soziologisch-historischer Wahrheit interessiert, sondern an einer ganz subjektiven Wahrhaftigkeit.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Gesellschaftsportrait und Charaktere in Père Goriot
- Die Pension Vauquer als Symbol für die Gesellschaft in seiner Artenvielfalt
- Physiognomie als Hinweis auf den Charakter der Figur
- Die gesellschaftliche Umgebung als „Espèce Sociale“
- Dynamik der Schichten und Figuren
- Soziologische Dynamik in den Gesellschaftsschichten
- Mystische Dynamik durch „,Enérgie“ und „Hasard“
- Balzacs Autorenkonzept vom visionären Sekretär
- Realistische Elemente „habitudes“ und der „mœurs“
- Der voyant und wertender secrétaire
- Schluss: Père Goriot als ein Amalgam aus Soziologie und Mystik
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Arbeit untersucht Balzacs Realismuskonzeption im Kontext seines Romans Père Goriot. Ziel ist es, die Verbindung zwischen der gesellschaftlichen Wirklichkeit und der literarischen Darstellung zu beleuchten und den Einfluss von soziologischen, wissenschaftlichen und mystischen Strömungen auf Balzacs Werk zu analysieren.
- Die Darstellung der französischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert
- Die Charakterisierung von Figuren und ihre soziale Einordnung
- Die Bedeutung von „Espèce Sociale“ und der Dynamik von Gesellschaftsschichten
- Balzacs Konzept von Realismus und seine Verbindung zu „mœurs“ und „habitudes“
- Die Rolle des „voyant“ und des „secrétaire“ in Balzacs Werk
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung stellt Balzacs Realismuskonzeption im Kontext der „littérature du vrai“ vor und beleuchtet den Gegensatz zum romantischen Ideal. Das zweite Kapitel analysiert die Darstellung der französischen Gesellschaft in Père Goriot anhand der Pension Vauquer als Symbol für die „masse bourgeoise“. Es untersucht die Figur der „Espèce Sociale“ und die Rolle der Physiognomie als Hinweis auf den Charakter der Figur. Das dritte Kapitel beleuchtet die Dynamik von Gesellschaftsschichten und Figuren, sowohl im soziologischen als auch im mystischen Sinne. Im vierten Kapitel wird Balzacs Autorenkonzept vom visionären Sekretär näher betrachtet und die Rolle von „habitudes“ und „mœurs“ im Werk hervorgehoben.
Schlüsselwörter
Französischer Realismus, „littérature du vrai“, Père Goriot, Balzac, Gesellschaft, Soziales, „Espèce Sociale“, „mœurs“, „habitudes“, „voyant“, „secrétaire“, Mystik, Soziologie
- Arbeit zitieren
- Sabine Friedlein (Autor:in), 2004, Balzacs Realismuskonzeption im Kontext von Père Goriot, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/62563