Vorurteilstrukturen und Möglichkeiten ihrer Überwindung am Beispiel von Lessings Lustspiel 'Die Juden'


Hausarbeit (Hauptseminar), 2006

20 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt:

1. Einleitung

2. Historische Entwicklung des Antisemitismus

3. Vorurteilstrukturen am Beispiel des Dramen-Personals
3.1 Martin Krumm
3.2 Der Baron

4. Vorurteil und Rettung

Primärliteratur:

Sekundärliteratur:

1. Einleitung

Das Lustspiel „Die Juden“ – „verfertiget im Jahr 1749“[1] – gehört zum Frühwerk G. E. Lessings und spiegelt die humanistische Auffassung des damals erst 20-jährigen Wittenberger Studenten wider. Lessing stellt in diesem Stück dem Publikum einen Juden vor, der in vollkommenem Widerspruch zu der Vorstellung steht, welche die christliche Majorität jener Zeit von den Juden hatte. Damit begegnete er dem in der Gesellschaft weit verbreiteten Antisemitismus. Zur Genese und Motivation der „Juden“ bemerkt Lessing in der Vorrede zu seiner Werkausgabe:

„Es war das Resultat einer sehr ernsthaften Betrachtung über die schimpfliche Unterdrückung, in welcher ein Volk seufzen muss, das ein Christ, sollte ich meinen, nicht ohne eine Art von Ehrerbietung betrachten kann. […] Ich bekam also gar bald den Einfall zu versuchen, was es für eine Wirkung auf der Bühne haben werde, wenn man dem Volke die Tugend da zeigte, wo es sie ganz und gar nicht vermutet.“[2]

Offensichtlich vollzieht Lessing hier in den „Juden“ eine deutliche Abkehr von der tradierten Konzeption der sächsischen Typenkomödie. Es wird in diesem Stück nicht der allzu bekannte törichte Protagonist vorgeführt, dessen lasterhaftes Verhalten die Zuschauer verlachen können. Stattdessen prangert der junge Autor hier ein unzutreffendes und unvernünftiges Vorurteil an, welches sowohl von der niedrigen sozialen Schicht (repräsentiert durch Martin Krumm) als auch vom Adel (repräsentiert durch den Baron) ausgeht. So entpuppt sich hier nicht der Vertreter der im Titel aufgerufenen – vermeintlich bösen – Juden als die lächerlich-negative Figur – die tatsächlichen Übeltäter und lasterhaften Figuren sind die Christen. Darüber hinaus wirft Lessing mit seinem Reisenden, dem edlen Juden – dieses Stück brachte die „erste positive Judengestalt überhaupt auf die deutsche Bühne“[3] –, die „sozial und religiös symptomatischen Theaterkonventionen völlig über den Haufen“[4].

Zweifellos lenkt Lessing in seinem Drama alle Aufmerksamkeit auf seine Antisemitismuskritik, die titelgebend ist[5] und die er mit seinem Stück „endgültig ad absurdum […] führt“[6]. Der junge Lessing hatte, wie sich zeigt, ein deutliches „Interesse an solchem Vorführen und Entlarven von Urteilen über Menschen“[7].

In dieser Seminararbeit werde ich mich mit der Vorurteilsthematik in den „Juden“ und den Möglichkeiten der Überwindung allgemeiner Urteile, wie sie innerhalb dieses Dramas vorgeschlagen werden, auseinandersetzen. Dabei ermittle ich zunächst die historischen Wurzelen des Judenhasses im Allgemeinen (in diesem Zusammenhang führe ich, innerhalb des Anhangs meiner Arbeit, eine Reihe von historischen Bildern an, die sich thematisch mit der geschichtlichen Entwicklung des Antisemitismus auseinandersetzen und als illustrierender Zusatz zu meiner Analyse verstanden werden sollen). Anschließend werde ich zwei der Protagonisten aus Lessings Lustspiel, nämlich die zwei Christen Martin Krumm und den Baron, charakterisieren, da sie als repräsentativ für antisemitische Ansichten innerhalb der lessingschen Gesellschaft angesehen werden können und sich besonders an diesen beiden Figuren exemplarisch aufzeigen lässt, wie tief die Vorurteile gegen die Juden verwurzelt sind und wie schwer sie sich überwinden lassen. Schließlich versuche ich, auf der Grundlage der Komödiekonzeption Lessings, die möglichen Lösungs- bzw. Überwindungsperspektiven des antijüdischen Vorurteils bzw. das verbleibende, in der gesellschaftlichen Realität nur schwerlich lösbare Problem des Antisemitismus zu analysieren. Abschließend werde ich auf die Forderung Lessings um mehr Toleranz zwischen den Religionen und um die Emanzipation der jüdischen Bevölkerung in die Gesellschaft eingehen.

2. Historische Entwicklung des Antisemitismus

Schon im Mittelalter wurden die Juden diskriminiert, unterdrückt, vertrieben oder gar grausam verfolgt und ermordet[8].Unter der Herrschaft von Papst Innozenz III. (1160-1216) verschlimmerte sich die Lage der Juden deutlich. So wurde ihnen z.B. die Ausübung verschiedener Berufszweige gänzlich verwehrt. Letztlich blieb den Juden daher in der Regel nur noch die Ausübung des Geldverleiherberufs[9]. Die meisten anderen Berufe durften sie nicht ausüben. Aus der Landwirtschaft wurden sie verdrängt, und ein Handwerk konnten sie nicht ausüben, weil sie als Nichtchristen keine Zunftmitglieder werden durften. So blieben ihnen nur das Geldgeschäft und der Kleinhandel.[10]

Damit die Juden von den Christen unterschieden werden konnten, hatten sie Symbole an ihrer Kleidung anzubringen. Typisch ist der runde, nach oben hin spitz zulaufende gelbe Hut, den alle männlichen Juden zu tragen hatten[11]. Selbst der große Reformator Martin Luther stand den Juden überaus feindlich gegenüber. Noch wenige Jahre vor seinem Tod verfasste er eine Schrift mit dem Titel „Von den Juden und ihren Lügen“. Darin verstieg er sich zu der Forderung, die Synagogen abzubrennen, die Wohnungen der Juden zu zerstören, den Rabbinern das Lehren zu verbieten und den Juden auf jede erdenkliche Weise das Leben schwer zu machen.[12]

Im April 1750 verschärfte Friedrich II. die Judengesetze, nachdem in seinem ersten Regierungsjahrzehnt die Zahl der Berliner Schutzjuden auf nahezu 2000 angewachsen war.[13] Am Beispiel von Wildeshausen, einer kleinen Stadt im Kurfürstentum Hannover, erkennt man, welchen Bestimmungen die jüdische Bevölkerung unterlag, damit sie in die Stadt ziehen konnte und dort letztendlich auch leben durfte.

Jeder Jude ging mit einem so genannten „Schutzbrief“ (Geleitbriefe), eine Reihe von Verpflichtungen ein:

- Der Schutzbrief gestattet nur dem Antragsteller, seiner Frau und den aus dieser Ehe hervorgegangenen unverheirateten Kindern den Aufenthalt im Ort.
- Der Schutzbrief schützt diese Familie vor Willkür und Gewaltmaßnahmen.
- Der Schutzjude verpflichtet sich im Gegenzug zu tadellosem Verhalten gegenüber der Obrigkeit und allen ihren Repräsentanten.
- Der Schutzbrief ist auf 10 Jahre befristet, kann aber nach Ablauf dieser Zeit verlängert werden.
- Bei Ausstellung des Schutzbriefs wird eine Gebühr fällig sowie jährlich ein Schutzgeld, das an die Stelle der sonst üblichen Leibzollzahlung tritt.
- Ein Jude hat keinen Zugang zu zünftigen Berufen, öffentlichen Ämtern oder Immobilienbesitz. Andererseits wird er aber wie jeder andere Bürger zur Beteiligung an den städtischen Lasten herangezogen. Sogar Ausgleichszahlungen an die evangelische Gemeinde wegen entgangener Gebühren bei Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen muss er leisten!
- Der Text des Schutzbriefs geht im Übrigen ausführlich auf die Haupt-Berufsfelder ein, die den Juden zugestanden werden: den Geldverleih und das damit zusammenhängende Pfandgeschäft sowie das Schlachten und den Fleischverkauf .[14]

Diese antisemitischen Bestimmungen spiegelten sich sowohl in der Politik als auch in der Literatur wider. Über Jahrhunderte hinweg durften die Juden nur als lasterhafte, zumindest als verlachenswürdige Gestalten präsentiert werden – als der ewig Fremde, der Gehasste, Vertriebene, Hinterlistige, Hässliche, Habgierige, Betrügende, als das Schreckbild in Kunst und Realität.[15] Spätestens seit der Barockzeit war der Begriff „Jude“ geradezu gleichzusetzen mit dem habgierigen Wucherer, man brauchte ihn nicht einmal extra als solchen zu charakterisieren, denn aus seiner Zugehörigkeit zum Judentum erklärten sich seine Eigenschaften bereits von selbst.

Im 18. Jahrhundert traten schließlich gedankliche Gärungen und politische Reformen in Erscheinung, die – direkt oder indirekt – auf die Stellung der Juden in der Gesellschaft einwirkten.[16]

Seit Beginn der Aufklärung drängte die Entstehung der Idee einer Nation von Bürgern mit gleichen Rechten und Pflichten die Frage nach dem Umgang mit den Juden auf.[17] Auf dem Gebiet der deutschen Literatur wird G. E. Lessing als der erste große deutsche Schriftsteller betrachtet, der eine positive Judenfigur zeichnete. Lessing kann auf den Erfahrungshintergrund der Leipziger Studienzeit zurückgreifen, in dem die Unterdrückung der Juden augenfällig war: „Eigene soziale Erfahrungen bestimmten Lessings Eintreten für die Unterdrückten hier wie im Fall der Juden.“[18] Die sächsische „Judenordnung“ betrieb seit langem schon eine höchst restriktive Judenpolitik und erlaubte Juden die Ansiedlung nur in Leipzig und Dresden.[19]

Lessing greift mit seiner Juden-Thematik ein politisches Problem auf und schuf einen namenlosen edlen Reisenden, der sich in Kleidung, Verhaltensweise und Bildung bemüht, nicht als Jude, sondern als Bürger des Landes angesehen und akzeptiert zu werden, einen Juden, der einem christlichen Baron bei einem Raubüberfall das Leben rettet.

Man hat zu Recht darauf hingewiesen, „dass Lessing schon mit der Titelwahl die herkömmliche Gattungserwartung genau umkehrt“, denn in einer so genannten Verlachkomödie „erscheint die lasterhafte, die unvernünftige Figur, der Typus üblicherweise im Titel“[20]. Daher wird auch Lessings zeitgenössisches Publik bei einem Lustspiel, das den Titel „Die Juden“ trägt, eben genau das erwartet haben – als die wirklichen Übeltäter aber stellen sich dann die Christen heraus, deren Lasterhaftigkeit ihre Vorurteile und in diesem Zusammenhang die Diskriminierung der Juden ist.

[...]


[1] G. E. Lessing: Die Juden. Ein Lustspiel in einem Aufzuge. Verfertigt im Jahr 1749. Mit Dokumenten zur Entstehung u. Wirkung. Stuttgart 2002, S. 1.

[2] Ebd., S. 53.

[3] Barner, Wilfried: Lessings Juden im Zusammenhang seines Frühwerks. In: Humanität und Dialog. Lessing und Mendelssohn in neuer Sicht. Hrsg. von Bahr, Eberhard/Harris, Edward P./Lyon, Lawrence G. München 1980, S. 189.

[4] Barner, Wilfried: Vorurteil, Empirie, Rettung. Der Junge Lessing und die Juden. In: Juden und Judentum in der Literatur. Hrsg. v. H.A. Strauss u. Ch. Hoffmann, S. 58.

[5] Barner, Wilfried (Anm. 3), S. 190.

[6] Och, Gunnar: Lessings Lustspiel „Die Juden“ im 18. Jahrhundert – Rezeption und Reproduktion. In: Theatralia Judaica. Emanzipation und Antisemitismus als Momente der Theatergeschichte. Von der Lessing-Zeit bis zur Schoah. Hrsg. von Hans-Peter Bayerdörfer. Tübingen 1992, S. 42.

[7] Barner, Wilfried (Anm. 3), S. 191.

[8] Allerhand, Jacob: Das Judentum in der Aufklärung. Stuttgart 1980.

[9] http://juden-in-bamberg.de/Handel_Banken/Geschichtliches.htm

[10] http://www.shoa.de/content/view/46/204/

[11] http://www.shoa.de/content/view/46/204/

[12] http://www.shoa.de/content/view/46/204/

[13] Barner, Wilfried (Anm. 4), S. 55.

[14] http://www.pohlw.de/vor_ort/juden_whs/jhist2.htm

[15] Barner, Wilfried (Anm. 4), S. 58.

[16] Katz, Jacob: Die Anfänge der Judenemanzipation. In: Katz, Jacob: Zur Assimilation und Emanzipation der Juden. Darmstadt 1982, S. 85.

[17] Allerhand, Jacob (Anm. 8).

[18] Barner, Wilfried (Anm. 3), S. 193.

[19] Brenner, Peter J.: Gotthold Ephraim Lessing. Stuttgart 2000. S. 100.

[20] Barner, Wilfried (Anm. 4), S. 70.

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Vorurteilstrukturen und Möglichkeiten ihrer Überwindung am Beispiel von Lessings Lustspiel 'Die Juden'
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Institut für Deutsche Philologie - Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften)
Note
1,3
Autor
Jahr
2006
Seiten
20
Katalognummer
V62623
ISBN (eBook)
9783638558334
ISBN (Buch)
9783638767071
Dateigröße
550 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Vorurteilstrukturen, Möglichkeiten, Beispiel, Lessings, Lustspiel, Juden
Arbeit zitieren
Shuang Liu (Autor:in), 2006, Vorurteilstrukturen und Möglichkeiten ihrer Überwindung am Beispiel von Lessings Lustspiel 'Die Juden', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/62623

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