Leseprobe
1. Einleitung
Der Titel dieser Arbeit lautet „Solche Menschen haben auch Kinder?“. Hiermit soll der Umstand angesprochen werden, dass die Thematisierung psychischer Erkrankungen in der Öffentlichkeit immer noch ein Tabu darstellt und diese Art von Krankheit mit vielen Vorurteilen beladen ist. Vor allem aber die Tatsache, dass ein solcher Krankheitsfall natürlich auch in Familien auftreten kann und die Kinder dieser Familien als kleine Angehörige mitbelastet sind, blieb sogar in der Fachwelt lange Zeit unbeachtet.
Doch die geschätzte Zahl von 200000 - 500000 minderjährigen Kindern in Deutschland, die mindestens einen psychisch kranken Elternteil haben (Schizophrenie oder depressive Erkrankungen, andere bilden die wahrscheinlich hohe Dunkelziffer) (Schone / Wagenblass, 2001), spricht nicht von einer zu vernachlässigen kleinen Gruppe oder einer sozialen Randerscheinung und zeigt auf, wie wichtig es ist, dass diesem Thema Beachtung geschenkt wird.
Wie gestalten sich also die Lebenswelten in diesen Familien, welche Schwierigkeiten haben sie zu bewältigen und welche Risiken zeichnen sich hier für die Kinder ab?
Um diese Fragen zu klären, wird im ersten Teil dieser Arbeit zunächst die Situation der Familienmitglieder dargestellt, wobei der Schwerpunkt allerdings bei den Kindern liegen soll. Desweiteren werden die Risiken für die kindliche Entwicklung erläutert, um dann auf die rechtlichen Aspekte bezüglich des Sorgerechts und des Kindeswohls einzugehen.
Im zweiten Teil sollen dann Hilfsangebote aus verschiedenen Bereichen vorgestellt werden, die Familien mit psychisch krankem Elternteil bei der Bewältigung der zuvor dargelegten Hindernisse unterstützen können.
Erster Teil: Familiensituation und Risiken
für die kindliche Entwicklung
Im Folgenden soll dargestellt werden, wie sich die Situation in Familien mit psychisch krankem Elternteil für ihre Mitglieder gestaltet und welche Schwierigkeiten sich dadurch ergeben. Vor allem sollen hier allerdings Situation, Problemlagen sowie Risiken der so lange vernachlässigten, aber wahrscheinlich verletzlichsten Angehörigen beschrieben werden - die der Kinder.
2. Psychische Erkrankungen als Familienerkrankungen
Durch die psychische Erkrankung eines Elternteils wird eine Stresssituation hervorgerufen, die unter Umständen die Stabiltät des gesamten Systems Familie mit ihren eingespielten Beziehungsmustern gefährden kann. Durch die hohe Belastung für alle beteiligten Angehörigen kann hier eher von einer Erkrankung der gesamten Familie als von einer Erkrankung nur eines einzelnen Mitgliedes gesprochen werden (Schone / Wagenblass, 2002).
2.1. Die Situation der Eltern
Das größte Problem für erkrankte Elternteile besteht darin, sich in Krisenzeiten nicht um die elterlichen Aufgaben der Erziehung und der Fürsorge ihres Kindes kümmern zu können, wodurch sie an ihrer Fähigkeit der Ausfüllung der Mutter-, bzw. Vaterrolle zweifeln und sich Schuldgefühle gegenüber dem Partner und dem Kind einstellen (ebd.). Zusätzlich schwingt immer auch die Angst mit, ihnen könnte aufgrund der psychischen Krankheit ihr Kind weggenommen werden, was die Inanspruchnahme familienexterner Hilfsangebote drastisch erschwert.
Außerdem klammern sie sich oft so stark an ihre Partner und Angehörigen, dass sie bei diesen leicht eine Überforderung und Unsicherheit auslösen. Es kann aber auch passieren, dass sich der durch eine psychische Erkrankung belastete Elternteil in sich selbst zurückzieht und nicht mehr bereit ist seine sozialen Kontakte zu pflegen (Mattejat, 2004).
Durch den Umstand, dass der gesunde Elternteil nun alleine nahezu alle anfallenden Aufgaben zur Erhaltung der Normalität, des Familienalltags und zur Pflege des erkrankten Partners übernimmt und meist eine große Unsicherheit bezüglich der psychischen Erkrankung besteht, kommt es nicht selten zu einer Überforderung, wobei ebenfalls Schuldgefühle entwickelt werden. Ferner ist dieser Elternteil durch den extremen Zeitaufwand, der sich in Krisen durch seine zusätzlichen Aufgaben ergibt, oft nicht mehr in der Lage dem Kind die nötige Unterstützung zukommen zu lassen (Schone / Wagenblass, 2002).
Die hohe Irritation löst beim psychisch gesunden Partner häufig bestimmte Verhaltensweisen aus. Dies können emotionale Überreaktionen, sogenannte „expressed emotions“ sein, die sich durch ärgerliche, überkritische und aggressive Reaktionen, oder auch durch überfürsorgliches Verhalten äußern. Überdies kann auch eine Resignation bei diesem Elternteil auftreten, die ihrerseits depressive Reaktionen, Erschöpfung, Desinteresse, Ermüdung, Distanzierung und Abwendung hervorrufen kann.
Ein weiteres Problem beider Elternteile ist, neben der schon erwähnten Überforderung bezüglich der Alltagsbewältigung, eine „Tabuisierung“ der Krankheit, durch die der Krankheitsfall zum Familiengeheimnis wird und auch innerhalb der Familie eine Art Kommunikationsverbot hinsichtlich der psychischen Erkrankung besteht (Mattejat, 2004).
Zusätzlich kann eine Verleugnung, eine Verdrängung der Krankheit stattfinden, welche auch wieder ein großes Problem in Hinsicht auf die Inanspruchnahme familienexterner Hilfsangebote darstellt. Allerdings besteht ebenso die Möglichkeit des Gegenteils, nämlich dass die Erkrankung überbetont wird und sich beide Partner vollkommen auf diese fixieren (ebd.), was hier aber nicht als eine, der sich störend auswirkenden Verdrängung gegenüberstehende, förderliche Reaktion verstanden werden darf.
2.2 Die Situation der Kinder
In den meisten Fällen wird die Krankheit des Elternteils, wie schon angesprochen, als eine Art Familiengeheimnis behandelt, über welches auf keinen Fall gesprochen werden darf, weder innerhalb noch außerhalb der Familie. Ein Verstoß gegen diese Regel würde einem Verrat an der eigenen Familie gleichkommen.
Durch diese Art der Behandlung des Themas, diese „Tabuisierung“, entsteht eine große Unsicherheit und Belastung auf Seiten der Kinder, da sie nicht mehr wissen an wen sie sich mit ihren Problemen wenden können. Weiter entsteht durch den Umstand, dass sie die Krankheit und das damit verbundene Verhalten der Eltern aufgrund der fehlenden Informationen nicht verstehen können Desorientierung und Angst (Staets / Hipp, 2005). Denn die Kinder können, vielleicht mit Ausnahme von denen depressiv Erkrankter, bei ihren Eltern keine für sie typischen Zeichen für eine Krankheit, wie „im Bett bleiben“, beobachten. Sie nehmen lediglich Verhaltensänderungen wahr, die direkt auf sie bezogen sind, wie Schimpfen, unbegründete Bestrafungen oder einen Verlust der Alltagsstrukturen, wie der Umstand, dass beispielsweise niemand das Essen anrichtet (Pretis / Dimova, 2004). Durch die fehlende Aufklärung sehen sie also keinerlei Zusammenhang zu einer Krankheit und können die Situation einfach nicht verstehen, wobei besonders bei kleineren Kindern, u.a. durch ihre noch begrenzte Fähigkeit der Perspektivenübernahme, die Neigung dazu besteht sich durch egozentrische Erklärungsversuche selber Verantwortlichkeit für das Wohlergehen der Eltern zuzuschreiben und dadurch große Schuldgefühle zu entwickeln (Schone / Wagenblass, 2002).
„Mit niemandem sprechen zu können, nichts erklärt zu bekommen, das - so berichten fast alle Kinder psychisch erkrankter Väter und/oder Mütter - (…) [sei] das Allerschlimmste“ (Heim, 2001, S. 75).
Da die Kinder oft zusätzlich sehr früh eine Stigmatisierung durch Andere aufgrund des Krankheitsfalles in der Familie erfahren, grenzen sich viele von ihrer Außenwelt und sogar der Peer Group ab. Dies führt zu einer Isolation, die es verhindert, dass die Kinder außerhalb ihrer Familie korrigierende Erfahrungen sammeln können (Staets / Hipp, 2005).
Ferner werden den Kindern, durch den Funktionsverlust des erkrankten und die Überforderung des gesunden Elternteils, in Krisenzeiten oft anstatt verstärkter Unterstützung zusätzliche Aufgaben zuteil, die eigentlich in den elterlichen Bereich gehören. Hierdurch müssen die eigenen Bedürfnisse zurückstehen und es wird auf alters- und kindgerechte Tätigkeiten verzichtet (Wagenblass, 2004). Verbunden damit werden sie häufig von dem gesunden Elternteil als eine Art Partnerersatz gesehen. Durch diese Rollenumkehr gegenüber dem kranken Elternteil wird eine „Parentifizierung“ bei den Kindern ausgelöst, die viele zwar durch den erhöhten Einfluss in der Familie nicht als negativ empfinden, die allerdings ein großes Problem in der späteren Adoleszenz hervorrufen kann. Hier kann eine starke Unsicherheit auftreten, da viele Kinder in dieser Ablösungsphase nun nicht wissen, ob sie von jetzt an ein eigenes, autonomes Leben anstreben sollen, oder sich weiter um das Wohlergehen ihrer Eltern kümmern müssen (Schone / Wagenblass, 2002).
Durch die angesprochene „Parentifizierung“ und der damit verbundenen Übernahme hoher Verantwortung in der Familie durch die Kinder, leben diese in einer ständigen Alarmbereitschaft, in der sie jederzeit darauf vorbereitet sein müssen deeskalierend auf Krisensituationen einwirken zu können. Hierdurch werden die eigenen Grenzen und Bedürfnisse nicht mehr sonderlich beachtet, so dass auch bei den späteren Erwachsenen zu erkennen ist, dass diese nur geringfügig im Stande dazu sind, sich Unbeschwertheit, Entspannung, Genuss sowie einer Abgabe von Verantwortung und Kontrolle hingeben zu können, was Staets / Hipp (2005) als „Verlust der Fähigkeit zur Regression im Dienste des Ich“ bezeichnen. Außerdem wird von einer Störung der Selbstwahrnehmung berichtet, welche zu einer erhöhten Leidensfähigkeit bei fehlender Respektierung der eigenen Grenzen und damit zu häufiger Überforderung führt, die ernsthafte Folgeerkrankungen nach sich ziehen kann.
Ein weiteres Problem wird durch einen Loyalitätskonflikt gegenüber dem erkrankten Elternteil hinsichtlich der Entwicklung der eigenen Wahrnehmung der Wirklichkeit bei den Kindern hervorgerufen. Durch die Ambivalenz sich einerseits mit den paranoiden Wahrnehmungen des kranken Familienangehörigen und andererseits mit der selbst wahrgenommenen Realität auseinandersetzen zu müssen, entsteht hier das Problem, dass die Divergenz zwischen den verschiedenen Eindrücken als ein Loyalitätsbruch verstanden werden kann. Hierdurch können sich erhebliche Störungen im Aufbau eines eigenen verbindlichen Realitätskonzeptes einstellen (Staets / Hipp, 2005). Besonders bedrohlich wird es vor allem, wenn Kinder nicht nur die sinnlosen Handlungen der psychisch kranken Eltern beobachten müssen, sondern gezwungen werden, selbst solche Handlungen auszuführen und somit direkt in die elterliche Wahnwelt einbezogen sind (Wagenblass / Schone, 2002).
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