Physikalische Chemie in der Schule


Examensarbeit, 2006

96 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Einleitung

2. Grundlegende Probleme des heutigen Chemieunterrichts
2.1. Die Chance Alchemie
2.2. Der Stellenwert der Chemie im Fächerkanon
2.2.1. Historischer Rückblick
2.2.2. Der quantitative Stellenwert des Chemieunterrichts ab der zweiten Hälfte des 20. Jh. in Westdeutschland
2.3. Chemie und Chemieunterricht im gesellschaftlichen Kontext

3. Die Fachwissenschaft physikalische Chemie
3.1. Physikalische Chemie – Begriffsbestimmung
3.2. Arbeitsbereiche physikalischer Chemie
3.3. Physikalische Chemie und Mathematik
3.4. Ein kurzer Einblick in die historische Entwicklung der physikalischen Chemie
3.5. Bedeutung der physikalischen Chemie für ihre Nachbardisziplinen
3.6. Physikalische Chemie in Industrie und Technik

4. Physikalische Chemie im Schulfach Chemie der Sekundarstufe
4.1. Grundlegende Überlegungen zu der Fachwissenschaft und dem Schulfach Chemie
4.2. Exemplarische Darstellung physikalisch-chemischer Sachverhalte im Unterrichtsfach Chemie ausgehend vom Lehrplan für Sekundarstufe
4.2.1. Physikalisch-chemische Inhalte im Lehrplan Chemie für Sekundarstufe
4.2.2. Physikalisch-chemische Verfahren im Lehrplan Chemie für Sekundarstufe
4.2.3. Der Überschneidungsbereich zwischen physikalisch-chemischen Verfahren und Inhalten im Lehrplan Chemie für Sekundarstufe
4.3. Allgemeine Anmerkungen zur Bedeutung der physikalischen Chemie im Unterricht der Sekundarstufe
4.4. Negative Einflüsse auf den Unterricht in physikalischer Chemie 39 Die Lehrerausbildung im Fachbereich physikalische Chemie
4.4.2. Der Schnittmengencharakter der Physikochemie

5. Experimente im Chemieunterricht der Sekundarstufe
5.1. Das Schulexperiment
5.2. Didaktisch-methodische Formen der Schulexperimente
5.3. Auswahlkriterien der Schulexperimente
5.4. Organisationsformen der Schulexperimente
5.4.1. Demonstrationsversuche
5.4.2. Schülerversuche

6. Physikalische Chemie im Unterricht der Oberstufe
6.1. Das „übliche“ Vorgehen ausgehend von der Mathematik
6.2. Zugang zu den Sachverhalten über geeignete Gegenstände
6.2.1. Verknüpfung zwischen Gegenständen und der Erfahrungswelt der Schüler
6.2.2. Prüfung der Gegenstände auf ihre Bedeutung für Schüler
6.2.3. Möglichkeit der Fächerverbindung durch die Gegenstände
6.3. Vorschläge für Experimente
6.3.1. Abhängigkeit der Reaktionszeit von der Konzentration – die Wirkung des Sauren Regens auf Pflanzen
6.3.1.1. Saurer Regen
6.3.1.2. Experiment - Die Wirkung des Sauren Regens auf die Reaktionszeit der Gartenkresse
6.3.1.3. Didaktisch-methodischer Kommentar
6.3.2. Abhängigkeit der Reaktionszeit von der Temperatur und dem Zerteilungsgrad
6.3.2.1. Enzyme
6.3.2.2. Abhängigkeit der Reaktionszeit von der Temperatur und dem Zerteilungsgrad am Beispiel der enzymatischen Zersetzung von Lebensmitteln
6.3.2.3. Didaktisch-methodischer Kommentar
6.3.3. Abhängigkeit der Reaktionszeit von Katalysatoren
6.3.3.1. Aspirin® und sein Wirkstoff Acetylsalicylsäure
6.3.3.2. Wirkung der Schwefelsäure bei der Darstellung von Acetylsalicylsäure
6.3.3.2. Methodisch-didaktischer Kommentar

7. Zusammenfassung

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Quellenverzeichnis

Vorwort

Das Ziel von Examensarbeiten, ähnlich wie der vorliegende, soll der Beweis sein, dass der Lehramtskandidat wissenschaftlich arbeiten und das im Studium erlernte anwenden kann. Für die Verfasser dieser Arbeiten ist es verständlicherweise wichtig eine gute Note zu erlangen. Durch die Lektüre einiger Examensarbeiten entstand für mich der Eindruck: Ziel der wissenschaftlichen Hausarbeit ist es komplexe Sachverhalte kompliziert darzulegen. Wenn das unter „wissenschaftlich“ zu verstehen ist, dann erfüllt meine Examensarbeit nur bedingt dieses Kriterium. Mein Ziel ist es nicht das Thema „Physikalische Chemie in der Schule“ durch komplizierte Formeln und Gesetzmäßigkeiten zu erklären. Zur physikalischen Chemie wurden ausreichend Lehrbücher geschrieben von Menschen, die sich länger und intensiver mit dem Gegenstand befasst haben. Leser, die Interesse an einem fachwissenschaftlichen Zugang zu diesem Thema haben, möchte ich auf diese Lehrwerke verweisen.

Ich empfinde mich nicht als Chemiker, sondern als Pädagoge mit Ausbildung im Fach Chemie. Mein Anliegen ist es die Brücke zu sein, die es Kindern und Jugendlichen ermöglicht die Chemie als einen Weg zum Welt- und Naturverständnis zu begreifen. Dies kann meiner Meinung nach nur erreicht werden, wenn wir den Alltag und das Lebensumfeld als Untersuchungsobjekte heranziehen. Deshalb wird man in dieser Arbeit vergeblich nach komplexen mathematischen bzw. physikalischen Gleichungen und vielschichtigen chemischen Beispielen suchen. Ich unternehme in dieser Arbeit den Versuch physikalisch-chemische Gesetzmäßigkeiten anhand von Beispielen aus dem alltäglichen Umfeld möglichst einfach zu erklären. Mein Ziel ist es nicht eine Arbeit zu schreiben, die nachdem sie benotet wurde, im Regal verstaubt; diese Ineffizienz habe ich im meinem Studium nicht gelernt! Ich möchte, dass auch interessierte „Laien“ diese verstehen können und sie an ein oder zwei Stellen einen „Aha-Effekt“ erleben können. Die Ergebnisse möchte ich auch im späteren Berufsleben immer noch nutzen können.

An dieser Stelle möchte ich mich auch bei Menschen bedanken, die mich in diesem Arbeitsprozess unterstützt haben. Mein Dank richtet sich an das Institut der Didaktik der Chemie v. a. an Herr Prof. Gebelein und Herr Heiko Barth für die Möglichkeit des selbständigen und freien Arbeitens. Mir ist durchaus bewusst, dass dies keine Selbstverständlichkeit ist und an vielen Instituten unerwünscht. Danke. Ich möchte aber auch meiner Mutter danken, ohne sie wäre ich nicht im Stande gewesen mein Studium zu absolvieren. Vielen Dank auch an Maike, die mir bei den biologischen Sachverhalten beratend zur Seite gestanden hat und Frau Renate Litzke für das Korrekturlesen und die anregende Diskussion. Mein ganz besonderer Dank richtet sich an Lenni, der all meine Hochs und Tiefs der letzten Zeit mit sehr viel Verständnis, Geduld und Aufopferung mitgetragen hat. Die wissenschaftliche Hausarbeit ist geschrieben, ohne diese Menschen wäre die Fertigstellung nicht möglich gewesen.

1. Einleitung

Ein Thema, auch das Thema dieser Arbeit – „Physikalische Chemie in der Schule“ – kann verglichen werden mit einer Weggabelung. Zu Beginn steht der Autor in der Mitte und muss die Entscheidung treffen, ob er nach links, nach rechts oder geradeaus gehen möchte. Manchmal ist es Zufall, welchen Weg er beschreitet, manchmal eine bewusste Entscheidung. Häufig kommt den persönlichen Vorlieben, Abneigungen, dem Werdegang, ja der Persönlichkeit des Schreibers eine tragende Rolle zu. Dies widerspricht dem Prinzip der Objektivität, das für wissenschaftliche Arbeiten gelten soll oder muss. Aber gibt es die reine, unverzerrte Objektivität? Ich denke nicht. Dies hieße nämlich in Nullen und Einsen zu denken und dafür ist das menschliche Gehirn nicht geschaffen. Jeder Text, jede Aussage, jeder Satz ist auch ein kleines Spiegelbild seines Verfassers. Wir Menschen nehmen wahr und interpretieren. Oft unbewusst entwickeln wir eine Erwartungshaltung oder eine Vorstellung. Betrachten wir das Thema meiner (dieser) Examensarbeit. Was erwarten Sie? Was habe ich erwartet als ich an der Weggabelung stand?

Für mich beinhaltet das Thema „Physikalische Chemie in der Schule“ zwei Aspekte. Die physikalische Chemie ist eine naturwissenschaftliche Kategorie. Der Handlungsort Schule ist mit naturwissenschaftlichen Konzepten nicht fassbar; die Schule ist wohl am ehesten eine gesellschaftliche bzw. geisteswissenschaftliche Kategorie, deshalb sind Chemielehrer in erster Linie Pädagogen mit einer naturwissenschaftlichen Ausbildung.[1] In Anbetracht dessen muss in dieser Arbeit der Unterricht, der Chemieunterricht, eine stärkere Berücksichtigung finden als die fachwissenschaftlichen physikochemischen Konzepte.

Unter dem Begriff „Schule“ verstehe ich im Rahmen dieser Examensarbeit den Chemieunterricht der Sekundarstufe I und II, da in diesem Bereich der Schwerpunkt meiner Ausbildung liegt. Die tragende Säule des Unterrichts im Fach Chemie sind Experimente. Sie stellen das fundamentale Abgrenzungsmerkmal zu anderen Unterrichtsfächern wie Deutsch, Sport oder Geschichte dar. Der Weg vom Sachverhalt (physikalische Chemie) bis zum Experiment, das zum Bestandteil des Unterrichts werden kann, umfasst meiner Meinung nach mindestens drei Schritte. Im Ersten muss der Sachverhalt erfasst werden, um die verschiedenen Facetten zu ergründen. Der zweite Schritt sollte dazu dienen die betreffenden Sachverhalte, die im Chemieunterricht zu vermitteln sind, als solche zu erkennen. Dies ist für Physikochemie umso wichtiger, da ihre Erkenntnisse zunehmend der allgemeinen Chemie zugerechnet werden. Erst im dritten Schritt darf die Frage nach geeigneten Experimenten für den Schulunterricht gestellt werden. Dieses Vorgehen kann als „roter Faden“ dieser wissenschaftlichen Hausarbeit verstanden werden.

Die drei Aspekte machen das Thema für mich bearbeitenswert, da sie im völligen Gegensatz zu den Lehrinhalten meiner Ausbildung stehen. Physikalische Chemie stellt neben der anorganischen und organischen Chemie eines der drei fachwissenschaftlichen Gebiete dar, die innerhalb des Lehramtsstudiums absolviert werden müssen. Für mich war das physikalisch-chemische Praktikum ein sehr großes Problem. Die Versuche, die innerhalb des physikalisch-chemischen Praktikums durchgeführt wurden, waren aus jeglichem fachwissenschaftlichen oder geschichtlichen Kontext herausgelöst. Es wurden exemplarisch nur einzelne Aspekte ausgewählter Fachgebiete der Physikochemie bearbeitet. Dabei bestand die Hauptanforderung darin die erhaltenen Messergebnisse in mathematischen Gleichungen auszurechnen. Die durchgeführten Experimente oder ihr Nutzen für den Schulunterricht wurden völlig außen vor gelassen. Diese Erfahrung war der Anlass für die vorliegende Arbeit. Ich wollte nicht glauben, dass mathematische Gleichungen alles sein sollen, was die physikalische Chemie leisten kann.

Ich beginne diese wissenschaftliche Hausarbeit, indem ich auf grundlegende Probleme des heutigen Chemieunterrichts eingehe (Kapitel 2). Sie werden in verschiedenen Facetten in zahlreichen fachdidaktischen Beiträgen diskutiert. Das Ziel ist hierbei weniger die Darstellung der Diskussion, sondern eine Skizze der Ausgangssituation. Es werden Aspekte erörtert, die negativen Einfluss auf den Chemieunterricht haben, obwohl die Ursachen z. T. nur indirekt in ihm begründet sind. Erst durch die Wahrnehmung dieser Probleme kann ein Weg beschritten werden, um diesen entgegenzuwirken. Nach diesem Einstieg gehe ich der Frage nach: Was ist physikalische Chemie? Hier sollen der Gegenstand „physikalische Chemie“ und einige seiner Ausprägungen näher bestimmt werden (Kapitel 3). Im Anschluss begebe ich mich auf die Suche nach Physikochemie im Lehrplan, dabei ist es wichtig die Differenzierung zwischen der Fachwissenschaft und dem Unterrichtsfach Chemie zu diskutieren, da sie in enger Beziehung miteinander stehen, jedoch nicht gleichbedeutend sind. (Kapitel 4). Bevor ich im letzten Kapitel (Kapitel 6) einige alternative Anwendungsbeispiele für Experimente zu dem Unterrichtsinhalt „Reaktionsgeschwindigkeit“ darstelle und diskutiere, halte ich es für notwendig, grundlegende didaktisch-methodische Konzepte zum Themenkomplex „Schulversuche“ darzulegen. Nur auf dieser Grundlage sind der konstruktive und produktive Einsatz und die Prüfung auf die Eignung für den Unterricht möglich.

2. Grundlegende Probleme des heutigen Chemieunterrichts

Nicht erst seit den TIMS- und PISA-Studien werden Stimmen vernommen, die an Qualität und Erfolg des naturwissenschaftlichen Unterrichts, demnach auch des Chemieunterrichts, zweifeln.[2] Es wurden bereits in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts Versuche unternommen dieses Problems zu bewältigen, indem u. a. die Lehrerausbildung reformiert wurde.[3] Es scheint jedoch, dass erst durch die o. g. Studien das Interesse an der Behebung der Missstände in breiteren Schichten als nur einigen Schulen und Universitäten geweckt wurde. Es ist nicht das Ziel dieser Arbeit auf die einzelnen Probleme und Ursachen im Chemieunterricht einzugehen. Sie dürfen im Rahmen dieser wissenschaftlichen Hausarbeit nicht gänzlich ignoriert werden, da nur die Auseinandersetzung mit ihnen zur Reduktion führen kann. Im folgenden Kapitel werden drei Problemfelder dargestellt, die meiner Meinung nach grundlegend für die Schwierigkeiten des Unterrichtsfaches Chemie verantwortlich sind.

2.1. Die Chance Alchemie

Der „Berufsstand“ der Alchemisten war wohl der erste, der sich auf „wissenschaftlicher“ Ebene mit chemischen Sachverhalten beschäftigte, im Gegensatz zu vielen Handwerksgruppen, die in praktischer Arbeit chemische Reaktionen nutzten, ohne diese näher zu untersuchen, zu hinterfragen oder verstehen zu wollen. Zur Alchemie als der „Urchemie“ schreibt Justus von Liebig (1803 – 1873):

„Die Alchemie ist niemals etwas anderes als die Chemie gewesen; ihre ständige Verwechslung mit der Goldmacherei des 16. und 17. Jahrhunderts ist die größte Ungerechtigkeit.“[4]

Aus dem Blickwinkel der heutigen Zeit hat Liebig Recht und Unrecht zugleich. Es ist wahr, dass die Alchemie viel mehr war und ist als der Mythos von der Goldherstellung aus unedlen Metallen; sie war ganzheitliche Philosophie, Kunst und Wissenschaft. Die heutige „moderne“ Chemie ist scheinbar nur noch Wissenschaft, denn die meisten Chemiker empfinden sich weder als Philosophen oder als Künstler, noch werden die Errungenschaften auf diesem Gebiet als ganzheitlich betrachtet. Zu Liebigs Lebzeiten erfolgte eine starke Distanzierung der damaligen Chemiker von den alchemistischen Lehren.[5] Dies gilt bis heute. Leider ist heutzutage häufig nur der Mythos von der Alchemie, „der düsteren, geheimen Wissenschaft“ und ihrer Beschäftigung mit der Suche nach dem „Stein der Weisen“ übrig geblieben. Ihre geisteswissenschaftlichen Potenzen in Form der hermetischen Lehre[6] fanden und finden keinen Platz in der „modernen“, sich im 18. Jh. herausbildenden, Chemie.

Der heutigen Schulchemie wird vielfach vorgeworfen, sie sei zu „trocken“, zu wissenschaftsorientiert. Alchemie findet sich hier nur als „Magie-Wissenschaft“ wieder. Die vom naturwissenschaftlichen Blickwinkel abweichende Betrachtung der Welt als Weg zum ganzheitlichen Naturverständnis[7] - nicht Zerstörung, sondern Anpassung - könnte eine neue Dimension in den Chemieunterricht bringen.

2.2. Der Stellenwert der Chemie im Fächerkanon

Die Nöte des Chemieunterrichts bzw. des naturwissenschaftlichen Unterrichts sind keine Neuerscheinungen. Tragischerweise haben sie eine lange Tradition. Im folgenden „historischen Rückblick“ wird dies gezeigt und anschließend die heutige Situation dargestellt.

2.2.1. Historischer Rückblick

Die Betrachtung des Unterrichts der letzten Jahrhunderte macht deutlich, dass den Naturwissenschaften in der Schule immer ein geringerer Stellenwert zugeordnet wurde, als Sprachen oder Geisteswissenschaften. Die Schulen im Mittelalter waren Klosterschulen, deren Aufgabe darin bestand den Klerus auszubilden. Zur Zeit Karl des Großen (748 – 814) war die einzige „naturwissenschaftliche“ Pflichtleistung, die Absolventen der existierenden Schulen erbringen mussten, die Fähigkeit, das Datum von Kirchenfesten bestimmen zu können.[8] Erst mit Entstehung der Universitäten im 13. bis 15. Jh. wurde „Chemie“ unterrichtet. Dies geschah jedoch meist innerhalb des Medizinstudiums.[9]

Die Gründung des humanistischen Gymnasiums während der Reformation im 16. Jh. besiegelte das Schicksal des naturwissenschaftlichen Unterrichts. Das Hauptbildungsziel bestand in der Kenntnis von Latein, womit die Fähigkeit der Bibelauslegung verbunden wurde. Diese einseitige Ausrichtung stieß mancherorts auf Ablehnung. In Hamburg (1529) und Nürnberg (1526) wurde Mathematik als Fach eingeführt.[10] In dieser Zeit gab es durchaus Lehrer, die die Bedeutung der Naturwissenschaften und naturwissenschaftlicher Bildung höher einstuften. Zu ihnen gehörte z. B. Andreas Libavius (1550 – 1616), der das „erste“ Lehrbuch der Chemie mit dem Titel „Alchemia“ veröffentlichte. Auf die Entwicklung der naturwissenschaftlichen Bildung ist kein großer Einfluss ausgeübt worden.[11]

Erst durch die Anfänge der wissenschaftlichen Chemie u. a. begründet durch Francis Bacon (1561-1626) und Robert Boyle (1626 – 1691) und die Forderung nach einem Unterricht in den „Realien“ durch Johann Amos Comenius (1592 - 1670) und Wolfgang Ratke (1571-1635) wurde den Naturwissenschaften zunehmend Beachtung geschenkt. Unterstützt wurde diese Entwicklung durch die Einrichtung von Chemievorlesungen an den Universitäten. Beispielsweise hielt Johann Hartmann (1568 – 1631) in Marburg eine Chemievorlesung. Diese diente jedoch weniger der Ausbildung der Chemiker, sondern war inhaltlicher Bestandteil des Medizinstudiums.[12] Die entscheidende Wendung erfolgte im Zuge der Aufklärung und Immanuel Kants (1724 – 1804) Leitspruch „Sapere aude“. Sie implizierte das Bestreben Wissenschaften und Bildung in allen Volksschichten zu verbreiten. Die Vernunft löste an vielen Stellen den starren Glauben ab. Vielerorts wurden Realschulen eingerichtet. Hier und an vielen Lateinschulen wurde das Fach „Naturlehre“[13] in den Stundenplan aufgenommen; dies schloss auch den Experimentalunterricht ein.[14] Allerdings blieben die Tore der Gymnasien für die Naturlehre verschlossen. Bis in die 50er Jahre des 20. Jh. war Chemie an bayerischen Gymnasien ein freiwilliges Wahlfach.[15]

Die Begründung der modernen Chemie u. a. durch Antoine Laurent de Lavoisier (1743 – 1794), die zunehmende Entwicklung der chemischen Industrie (z. B. die Gründung der Bayer AG 1863) und die Entstehung der physikalischen Chemie im 19 Jh. hatte keinen positiven Einfluss auf den Stellenwert des Chemieunterrichts.[16] An bayerischen Realschulen, die im 19. Jh. dreistufig waren, wurden laut dem Lehrplan von 1834/1835 bzw. 1870/1871 jeweils fünf Stunden Chemie unterrichtet.[17] Dies war mehr als in der heutigen Zeit, stand jedoch in keinem Verhältnis zu den zahlreichen bedeutenden Entwicklungen auf dem Gebiet der Chemie der damaligen Zeit.

Der Chemieunterricht stand unter dem Zeichen des Nützlichkeitsprinzips für das spätere Berufsleben. In Preußen wurde 1831 das „mathematisch-naturwissenschaftliche Lehrfach gleichberechtigt neben Griechisch und Latein gestellt“[18], um 25 Jahre später den naturwissenschaftlichen Unterricht zugunsten von Geschichte und Französisch stark einzuschränken. Stundenvorgaben gab es nicht, dies lag im Ermessen des Schulleiters.[19] Es ist wahrscheinlich, dass den meisten Rektoren nur eine geringe Ausbildung in den Naturwissenschaften zugekommen war und sie diesen Fächern nur geringe Beachtung geschenkt haben. Allerdings wurde Chemie in den Kanon der prüfungsrelevanten Abiturfächer aufgenommen.

In den folgenden Jahren bildeten sich zahlreiche Initiativen, die bemüht waren den Chemieunterricht zu verbessern, z. B. die „Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte“. Dieser Verein formulierte 1903 die „Meraner Vorschläge“. Es wurde gefordert, dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht den gleichen Stellenwert wie dem sprachlichen und geschichtlichen einzuräumen. Für den Chemieunterricht wurden keine Thesen aufgestellt, die von staatlichen Bestimmungen abwichen. Die Zeit zwischen den Weltkriegen, war geprägt durch zahlreiche didaktische Überlegungen. Otto Karstädt (1876 – 1947) forderte: „Der Schüler muss geübt werden im selbständigen biologischen, physikalischen und chemikalischen Schülerversuch.“[20] Die Überlegungen bezogen sich jedoch jeweils auf die Qualität nicht auf die Quantität des Unterrichts. Im Nationalsozialismus wurde der naturwissenschaftliche Unterricht dazu benutzt, um die politische Zielsetzung zu bestätigen.[21] Die Inhalte und Methoden dienten dem Zweck der Indoktrination und nicht der individuellen Entwicklung des jungen Menschen.

Der Einfluss der Kirchen sollte bei den dargestellten Entwicklungen nicht unterschätzt werden. Viele berühmte Naturphilosophen wie Kopernikus oder Kepler waren auch Kleriker. Sie standen im Spannungsfeld zwischen der Auslegung der Bibel durch die Kirche und ihren naturwissenschaftlichen Erkenntnissen. Kopernikus beispielsweise veröffentlichte sein berühmtes Werk „De Revolutionibus Orbium Coelestium“ erst kurz vor seinem Tod. 1616 wurde das Werk von der katholischen Kirche verboten „bis es verbessert wird“. Vor der Kopernikanischen Revolution wurde unter Naturwissenschaft die Erklärung von Naturphänomenen durch Studium und Auslegung der Bibel verstanden. Die Deutung der Bibel erfolgte noch nicht metaphorisch, sondern es wurde an ihrem Wortlaut sehr genau festgehalten. Messungen oder Berechnungen wurden von der Kirche als Methoden der Wahrheitsfindung nicht akzeptiert. Die Ablehnung der naturwissenschaftlichen Prinzipien führte zu z. T. Jahrhunderte dauernden Konflikten wie der Fall Galilei zeigt. Die Schulen des Mittelalters und der frühen Neuzeit waren hauptsächlich kirchliche Einrichtungen, es ist demnach nicht verwunderlich, dass Naturwissenschaften nur im Sinne der wortgetreuen Bibelauslegung unterrichtet wurden.

2.2.2. Der quantitative Stellenwert des Chemieunterrichts ab der zweiten Hälfte des 20. Jh. in Westdeutschland

Die „Saarbrückener Rahmenvereinbarungen“ aus dem Jahr 1961 räumten den Schülern des Gymnasiums die Möglichkeit der Fächerwahl ein; zumindest an Naturwissenschaften interessierte Schüler konnten ihre Interessen innerhalb der Schullaufbahn verfolgen. Allerdings verließen in Hessen um das Jahr 1966 31 % der Abiturienten die Schule, ohne in der Oberstufe naturwissenschaftlichen Unterricht erhalten zu haben; 51 % hatten in den letzten drei Schuljahren weder Physik- noch Chemieunterricht.[22] In den 70er und 80er Jahren des 20. Jh. wurden vielfältige Möglichkeiten entwickelt, um die Qualität des Chemieunterrichts zu verbessern. Es wurden an Universitäten Lehrstühle für Didaktik der Chemie eingerichtet, neue Unterrichtsverfahren entwickelt, Inhalte überdacht und versucht diese mit anderen Fächern zu vernetzen usw. Diese Bestrebungen wirkten sich sicherlich positiv auf die Qualität des Chemieunterrichts aus. Fakt bleibt, dass der Chemieunterricht, gemeinsam mit dem Erdkundeunterricht, was seinen quantitativen Stellenwert betrifft, das Schlusslicht bildet. Die Betrachtung der Stundentafel für das Gymnasium in Hessen zeigt folgendes Bild:

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Abbildung 1: Stundenverteilung der Fächergruppen in der Sekundarstufe I (GW: Gesellschafts-wissenschaften, NW: Naturwissenschaften)[23]

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Abbildung 2: Anteil der Stunden in naturwissenschaftlichen Fächern in %.[24]

Noch immer nimmt der naturwissenschaftliche Unterricht einen geringen Anteil von 15,4 % ein. Chemie und Erdkunde - je 3,4 % - sind im Fächerkanon am schwächsten vertreten. Die Schlussfolgerung, dass sich im Verlauf der Geschichte wenig verändert hat, liegt nahe. Weder die Naturwissenschaften noch ihre einzelnen Teildisziplinen konnten sich innerhalb des Fächerkanons durchsetzen oder zumindest im Bezug auf den Sprachenunterricht eine gleichberechtigte Position erlangen.

In der heutigen Zeit ist eher eine rückläufige Tendenz zu beobachten. In Baden-Württemberg erfolgte eine Kürzung der Chemiestunden in der Realschule auf 4,5 Wochenstunden[25] ; in Hessen werden im Vergleich noch sechs Wochenstunden erteilt.[26] Leider verhält es sich mit den Unterrichtsfächern nicht wie mit seltenen Rohstoffen, die umso mehr geschätzt werden, je weniger von ihnen da sind. Diese Tatsache wirkt sich direkt auf die Schüler, Lehrer und Eltern aus.[27] Der Chemieunterricht erhält somit nicht die ihm zustehende Wertschätzung.

2.3. Chemie und Chemieunterricht im gesellschaftlichen Kontext

In der heutigen Gesellschaft werden Begriffe wie Chemie oder „chemisch“ direkt mit negativen Attributen belegt. Dies wirkt sich nicht nur negativ auf die Wissenschaft Chemie, sondern auch auf den Chemieunterricht in den Schulen aus. Im täglichen Sprachgebrauch werden häufig Redewendungen verwendet:, wie „das schmeckt nach Chemie“, „da ist bestimmt Chemie drin“. Sie dienen dazu Negatives darzustellen. Lebensmittel, die den erwarteten Geschmackspräferenzen nicht entsprechen, stehen im Verdacht künstlich hinzugefügte Inhaltstoffe zu enthalten. Häufig wird übersehen, dass das gesamte Leben auf der Erde aus „Chemie“ in Form von Elementen und Molekülen besteht und „die Chemie“ nichts Bedrohliches darstellen muss. Lediglich der unverantwortliche Umgang mit einigen chemischen Substanzen birgt Gefahren. Die Gefährdungen können jedoch auch von anderen Lebensbereichen ausgehen.

Dieser unverantwortliche, bewusste oder unbewusste, Umgang mit chemischen Substanzen und Verfahren in der chemischen Industrie sowohl in der Vergangenheit als auch der Gegenwart wirft lange Schatten, die sich inzwischen sogar in der Lexikographie wieder finden lassen. Im Fremdwörterduden ist für das Lexem „chemisch“ neben zwei anderen Begriffsbestimmungen die folgende zu lesen:

„mithilfe von [giftigen, schädlichen] Chemikalien erfolgend; [giftige, schädliche] Chemikalien verwendend“[28]

Es stellt sich die Frage, wie mit solchen Erklärungen umzugehen ist, geben sie doch prinzipiell das Verständnisempfinden eines ganzen Sprachraums wieder. Noch ist der Begriff ohne die negativen Attribute lesbar. Wird das in 20 Jahren noch der Fall sein?

Angefangen bei der Explosion des Oppauer Stickstoffwerkes 1923 über das Unglück in Soveso 1976 bis zur Explosion in Toulouse 2001, gibt es eine lange Serie von Umweltvergiftungen bzw. Menschenopfern. Aus der Vergangenheit wurde gelernt, dass Kontrollmechanismen nötig sind. Leider genügen gesetzliche Vorgaben nicht, um das schlechte Bild eines ganzen Industriezweigs und der mit ihm verbundenen Wissenschaft aufzuwerten. Auch hier wird übersehen, dass chemische Erkenntnisse und deren Anwendung die Lebensqualität enorm gesteigert haben. Erfindungen wie Aspirin, Wasserentkeimtabletten, die Computerchipherstellung oder die Produktion biologisch abbaubarer Kunststoffe sind Verdienste der Chemie. Immer häufiger wird in den Medien vom Silizium-Zeitalter gesprochen,[29] ohne die bewusste Reflexion darüber, dass ein chemisches Element hier zur Namensgebung dient.

Nicht zuletzt hat auch das Verhalten bestimmter Bereiche der Pharma- und Lebensmittelindustrie zum schlechten Allgemeinbild der Chemie beigetragen. Die Hersteller zahlreicher Medikamente und Präparate machen und machten den Kunden Hoffnungen, die z. T. nicht erfüllbar sind. Es sind beispielsweise unzählige Präparate gegen Haarausfall auf dem Markt und erfreuen sich bei bestimmten Altersgruppen großer Beliebtheit. Neuere Untersuchungen besagen, dass die Glatzenbildung bei Männern genetisch bzw. alters (hormonell) bedingt ist. Bei dieser Sachlage, ist es völlig sinnlos die Kopfhaut mit Wässerchen zu behandeln. Als weiteres Beispiel können Diätprodukte und „Light“-Produkte genannt werden. Es ist ein großes Ammenmärchen, dass der Konsum von z. B. „Cola-Light“ der Gewichtszunahme entgegen wirkt. Tendenziell bewirken diese Produkte bei einem Nichtdiabetiker das Gegenteil. Beim Verzehr von Produkten mit Zuckerersatzstoffen (sie können von gesunden Menschen nicht dem Stoffwechsel zugeführt werden) kommt es zur Ausschüttung von Glucagon ohne die Ausschüttung des Gegenspielers Insulin. Dies verursacht in vielen Fällen Heißhunger. Viele Menschen nehmen deshalb an Gewicht zu, weil sie „Light“-Produkte bevorzugt konsumieren.

Viel verheerendere Folgen für Menschen und den Ruf der Chemie haben jedoch die Nebenwirkungen von Medikamenten.[30] Obwohl die Testverfahren immer aufwändiger sind und über lange Zeiträume durchgeführt werden, treten immer wieder neue Folgewirkungen auf, die bis dahin in der Forschung nicht berücksichtigt wurden. Ein Beispiel hierfür könnte das Contergan (Thalidomid) sein. Thalidomid ist eine chirale Verbindung, das als Racemat Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre als Schlaf- und Beruhigungsmittel auf den Markt kam (Abbildung 3).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Thalidomid (1. nicht chirale tautomere Form; 2. R-Thalidomid (Schlafmittel); 3. S- Thalidomid (tertogen))

Wie aus der Abbildung 3 deutlich wird, stellt die Überführung der Isomere ineinander eine Gleichgewichtsreaktion dar. Es ist demnach nur schwer möglich, eine der Formen zu isolieren. Die fruchtschädigende Wirkung konnte wahrscheinlich während der Erforschung des Medikamentes nicht festgestellt werden. Die Arznei, deren Nebenwirkungen viel zu spät erkannt wurden, ist Schwangeren verabreicht worden. Die aus solchen Vorfällen resultierende Verunsicherung der Menschen ist nur allzu verständlich.

In Anbetracht der dargestellten Einflüsse auf junge Menschen, Schüler, durch das Elternhaus und kollektive gesellschaftliche Ansichten, ist es nicht verwunderlich, dass diese keine positive Erwartungshaltung an das Fach Chemie in der Schule haben können sondern bestenfalls eine neutrale.[31] Ein Kampf gegen die wenig differenzierten gesellschaftlichen Einschätzungen zum Fach und zur Wissenschaft Chemie ist vergleichbar mit dem Kampf gegen Windmühlen. Er sollte geführt werden, um zumindest einem Anteil der Bevölkerung eine realistische Sicht vermitteln zu können. Dies ist auch die Leistung, welche die Institution Schule erbringen muss, will sie dem Auftrag, Kinder und Jugendliche zu mündigen Bürgern zu erziehen, nachkommen.

3. Die Fachwissenschaft physikalische Chemie

Die physikalische Chemie ist ein Wissenschaftszweig der Chemie. Sie kann, wie viele andere Zweige der Wissenschaft, in Teilbereiche gegliedert werden. Die Kenntnis der fachwissenschaftlichen Aspekte sowie ihrer Bedeutung für das alltägliche Leben ist notwendig, um in den folgenden Kapiteln ihren Stellenwert im Chemieunterricht richtig einschätzen zu können. Dieses Kapitel widmet sich der Darstellung der Fachwissenschaft physikalische Chemie.

3.1. Physikalische Chemie – Begriffsbestimmung

Die physikalische Chemie (auch Physikochemie genannt) kann als Schnittmenge von zwei Wissenschaften, Physik und Chemie, betrachtet werden. Auf diesem Gebiet werden die Ressourcen beider Naturwissenschaften genutzt, um Konzepte zu entwickeln, die es möglich machen chemische und physikalische Phänomene erklärbar, verständlich, berechenbar und im Alltag nutzbar zu machen. Durch den Vergleich der deutschen Bezeichnung „physikalische Chemie“ mit Äquivalenten aus anderen Sprachen – im Italienischen nennt man dieses Arbeitsgebiet „chimica fisica“, im Französischen „chimie physique“ – wird deutlich, dass hier die zwei Naturwissenschaften als gleichberechtigt angesehen werden können.

Laidler beschreibt diesen Zweig der Wissenschaft folgendermaßen:

Chemistry carried out with the primary object of inverstating the working of nature is what we now call physical chemistry. It can be defined as that part of chemistry that is done using the methods of physics, or that part of physics that is concerned with chemistry, i. e. with specific chemical substances.”[32]

Dieses Grundprinzip soll anhand von einem Beispiel aus der Elektrochemie erläutert werden. Luigi Galvani (1737 – 1798) entdeckte die Kontraktion von Muskeln in Froschschenkeln, wenn diese „von zwei miteinander verbundenen Metalldrähten unterschiedlichen Materials berührt wurden“.[33] Seine Erklärung war, es handle sich um „tierische Elektrizität“. Dieses Phänomen wurde von Alessandro Volta (1745 – 1827) durch weitere Experimente mit unterschiedlichen Substanzen untersucht. Er vertrat die Meinung, die Quelle der Elektrizität sei die Kontaktstelle zwischen den Metallen. Erst Johann Wilhelm Ritter (1776 – 1810) stellte 1798 fest, dass die Ursache für das Auftreten der elektrischen Spannung eine chemische Reaktion ist. Volta entwickelte die erste „Batterie“, die Grundlagen dieser Erfindung nutzten William Nicholson (1753 – 1815) und Anthony Carlisle (1786 – 1840) um das Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff zu spalten. In den folgenden Jahren wurden durch die Nutzung der Elektrolyse zahlreiche Metalle entdeckt.

Die erste adäquate Erklärung für den Mechanismus der Elektrolyse von Wasser lieferte Theodor von Grotthuss (1785 – 1822).[34] Er setzte seine Erklärung auf atomarer Ebene an, indem er das Bild von wandernden Stoffen prägte, die kettenartig miteinander verbunden sind. Heute wissen wir, dass es Ionen und Elektronen sind, die wandern. Diese Entdeckung wird auch Mechanismus der Konduktanz oder elektrischer Leitwert genannt.

Aufgrund dieser Erkenntnisse war es Michael Faraday (1791 – 1867) möglich die Gesetze der Elektrolyse zu konzipieren. Die heutige Formulierung lautet:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Q: Ladung [C]

n: Stoffmenge [mol]

z: Äquivalentzahl [1]

F: Faraday-Konstante [96485,33 C/mol]

Die Fortsetzung dieser Untersuchungen durch Johann Hittorf (1824 – 1914) und Rudolf Julius Emanuel Clausius (1822 – 1888) führte 1853 zum Beweis, dass es Ionen gibt und diese in der Lösung wandern. Wilhelm Ostwald (1853 - 1932) begründe anhand der Elektrolyse das nach ihm benannte Verdünnungsgesetz und Arrhenius die elektrolytische Dissoziation. Aber erst Walther Nernst (1864 – 1941) gelang es die sog. Nernst-Gleichung aufzustellen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

E: Elektrodenpotenzial [V]

E°: Standartpotenzial [V]

R: Gaskonstante [8,31441 J mol-1 K-1]

T: absolute Temperatur [K]

z: Äquivalentzahl [1]

F: Faraday-Konstante [96485,33 C/mol]

c: Konzentration [mol/l]

Anhand dieser Gleichung ist es möglich Elektrodenpotentiale in Abhängigkeit von Konzentrationen und Temperatur zu berechnen. Wie aus diesem Beispiel erkennbar ist, steht am Anfang ein Phänomen oder Problem, welches es aufzuklären gilt. In der physikalischen Chemie bedeutet die Auflösung dieser Naturgeheimnisse, „die Erforschung der bei chemischen Vorgänge auftretenden physikalischen Erscheinungen sowie des Einflusses physikalischer Einwirkung auf die chemischen Vorgänge“.[35] Galvani beobachtete eine physikochemische Erscheinung; Faraday stellte den Zusammenhang zwischen Ladung und Stoffmenge her; Nernst brachte in seiner Gleichung zum Ausdruck, dass das Elektrodenpotenzial, als Folge chemischer Reaktion, abhängig ist von der Temperatur, Konzentration und Äquivalentzahl. Humphry Davi (1778 – 1829) nutzte diese physikalische Erscheinung chemischer Reaktionen um zahlreiche Elemente darzustellen.

Würde an dieser Stelle die Frage gestellt werden, wo die Chemie aufhört und die Physik beginnt, könnte diese nicht exakt beantwortet werden. Die Grenzen sind diffus. Die elektrische Spannung ist eine physikalische Erscheinung deren Grundlage eine chemische Reaktion ist; würde die Reaktion nicht stattfinden, würde das physikalische Phänomen ausbleiben. Obwohl die physikalische Chemie häufig als ein Teilbereich der Chemie angesehen wird, wäre es ebenso möglich sie als Teilbereich der Physik zu verstehen.

3.2. Arbeitsbereiche physikalischer Chemie

Die physikalische Chemie ist keine homogene Disziplin, sondern kann in Unterkategorien eingeteilt werden. Allen gemeinsam ist das Bestreben Naturerscheinungen aufzuklären. Die Differenzierung erfolgt nach den physikalischen Erscheinungen chemischer Reaktionen, Elemente oder Verbindungen. In Abbildung 4 sind die wichtigsten Abteilungen der physikalischen Chemie dargestellt.[36]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4: Hauptteilbereiche der physikalischen Chemie.

Die bereits erwähnte Elektrochemie ist der Wissenschaftszweig, der sich mit „den gegenseitigen Umwandlungen von chemischer und elektrischer Energie beschäftigt“.[37] Hierzu gehören alle Vorgänge, bei welchen elektrische Potentiale auftreten, aber auch Reaktionen, die durch diese stattfinden.

In der chemischen Thermodynamik richtet sich das Augenmerk auf die wärmeenergetischen Effekte chemischer Reaktionen bzw. „auf die treibende Kraft einer chemischen Reaktion“[38]. Das Wort „thermo-dynamic“ wurde erstmals 1849 von William Thomson (1824 – 1907) verwendet.[39] Die Grundlage hierzu bilden die Hauptsätze der Thermodynamik. Anhand dieser kann eine Aussage darüber getroffen werden, welche Reaktionen freiwillig ablaufen können. Zu diesem Teilgebiet gehört auch die Berücksichtigung des Einflusses des Drucks, der Temperatur und der Zusammensetzung des Reaktionsgemisches auf chemische Reaktionen.

Die Reaktionskinetik befasst sich in erster Linie mit der Geschwindigkeit chemischer Reaktionen. Hierzu gehören neben der Fragestellung, wie schnell eine Reaktion abläuft, auch die Verläufe bzw. die Mechanismen und die Art und Weise, wie der Endzustand erreicht wird. Eine bedeutende Rolle innerhalb dieser Konzepte nimmt das Massenwirkungsgesetz ein. In der Kinetik wird der Versuch unternommen dessen Lage so zu beeinflussen, dass eine Reaktion in gewünschter Geschwindigkeit stattfinden kann. Erreicht wird dies mit Hilfe von Katalysatoren und Veränderung anderer Reaktionsparameter.

Eine weitere Vertreterin ist die Quantenchemie. Hierbei handelt es sich um die Anwendung der Quantenmechanik, der Theorie vom Verhalten der Materie im atomaren und subatomaren Bereich, auf chemische Problemstellungen. Innerhalb der Quantenchemie erfolgt die Beschreibung des elektronischen Verhaltens von Atomen und Molekülen und dessen Wirkung auf die Reaktionsfähigkeit.

3.3. Physikalische Chemie und Mathematik

Alle Teilbereiche der physikalischen Chemie eint das Bestreben die „Natur“ zu erklären; dies erfolgt in Modellen, z. B. Atommodellen, oder in Form von chemisch-physikalischen Gesetzen. Durch die Formulierung der Gesetzmäßigkeiten, in welchen die verschiedenen Größen durch mathematische Rechenoperationen miteinander in Beziehung stehen, kommt der Mathematik eine besondere Rolle zu. Ein solches Gesetz ist beispielsweise die Arrhenius-Gleichung; sie beschreibt quantitativ die Temperaturabhängigkeit der chemischen Reaktionsgeschwindigkeitskonstante k.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

A: präexponentieller Faktor

EA: Aktivierungsenergie [J/mol]

R: allgemeine Gaskonstante [8,314 J/(K mol)]

T: absolute Temperatur [K]

[...]


[1] Mir ist durchaus bewusst, dass es eine Vielzahl von Chemielehrkräften und Chemiestudenten des höheren Lehramtes gibt, die diese These vehement abstreiten würden. Trotz des starken Einbezugs der Fachwissenschaft in die Lehrerausbildung bin ich der festen Überzeugung, dass uns das Wissen um Orbitalmodelle wenig nutzen wird, um junge Menschen auf ihr Erwachsenenleben vorzubereiten.

[2] vgl. Fischer, Hans Ernst/Sumfleth, Elke: Physik- und Chemieunterricht nach PISA. In: Raabe, Josef [Hrsg.]: Unterrichtsentwicklung nach PISA.. Stuttgart 2002. S. 64 - 79

[3] vgl. Häusler, Karl: Geschichte des Chemieunterrichts. In: Pfeifer, Peter et al. (Hrsg.): Konkrete Fachdidaktik Chemie. München 2002. S. 10

[4] von Liebig, Justus: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1865. S. 37

[5] vgl. Strube, Wilhelm: Geschichte der Chemie Band 1. Stuttgart 1999. S. 45f.

[6] vgl. Gebelein, Helmut: Alchemie. München 2004. S. 11 f.

[7] vgl. ebd. S. 80

[8] vgl. Häusler, 2002, S. 10

[9] An dieser Stelle soll nicht der Eindruck entstehen, Naturwissenschaften wären nicht unterrichtet worden. Der Umfang war jedoch sehr gering.

[10] vgl. Häusler, 2002, S. 11

[11] vgl. ebd.

[12] vgl. ebd. S. 17

[13] Das Fach „Naturlehre“ kann mit dem heutigen Physikunterricht verglichen werden.

[14] vgl. ebd.

[15] vgl. Häusler, 2002, S. 17

[16] vgl. ebd.

[17] vgl. ebd. S. 25

[18] ebd. S. 26

[19] vgl. ebd. S. 27

[20] Karstädt, Otto: Methodische Strömungen der Gegenwart. Berlin – Leipzig 1931. S.327

[21] vgl. Häusler, 2002, S. 28

[22] vgl. Klein, Adolf: Ringen um die mathematisch-naturwissenschaftliche Bildung. Bonn 1991. S. 102

[23] Die Graphik wurde erstellt anhand der Stundenvorgaben des hessischen Kultusministeriums. vgl. http://lernarchiv.bildung.hessen.de/archiv/lehrplaene/stundentafel (28.03.2006)

[24] vgl. http://lernarchiv.bildung.hessen.de/archiv/lehrplaene/stundentafel (28.03.2006)

[25] vgl. Graf, Erwin: Chemieunterricht in der Schule – ein Auslaufmodell?. In: Chemie in der Schule 44 (1997) 9. S. 334

[26] vgl. http://www2.hessisches-kultusministerium.de/default.asp?URL=http%3A// www2.hessisches-kultusministerium.de/cms/broker.asp%3FSeitenID%3D%7B3F2A7040-6A28-4A48-B78A-CFF5AC30AE58%7D (28.03.2006)

[27] vgl. Bader, Hans Joachim: Zur Beliebtheit des Chemieunterrichts. In: Pfeifer, Peter et al. [Hrsg.]: Konkrete Fachdidaktik Chemie. München 2002. S. 402 f.

[28] Duden. Das Fremdwörterbuch. 6. Aufl., Mannheim 1997. S. 146

[29] vgl. Beck, Tobias: Kleine Speicherchips sind große Energiefresser. In: Stuttgarter Zeitung Online. unter: http://www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/detail.php/309824

[30] vgl. Abschnitt 6.3.3.1.

[31] vgl. Bader, 2002, S. 402 f.

[32] Laidler, Keith . J.: The world of physical chemistry. Oxford 2001. S. 5

[33] Strube, Wilhelm: Geschichte der Chemie Band 2. Stuttgart 2004, S 24

[34] vgl. Laidler, 2001, S. 201

[35] Falbe, Jürgen [Hrsg.]: Römpp-Lexikon Chemie. 10., völlig überarbeitete Auflage. Stuttgart 1998. S. 3338

[36] An dieser Stelle werden nur die bekanntesten Arbeitsbereiche vorgestellt, die auch

eine wichtige Rolle innerhalb der Schulchemie haben.

[37] Frunder, Barbara/Hillen, Elisabeth/Roglf, Ute: Wörterbuch der Chemie. München 1995.

S. 164

[38] Hug,Heinz/Reiser, Wolfgang: Physikalische Chemie. 2. Auflage, Haan-Gruiten 2000. S. 106.

[39] vgl. Laidler, 2001, S. 83

Ende der Leseprobe aus 96 Seiten

Details

Titel
Physikalische Chemie in der Schule
Hochschule
Studienseminar für Gymnasien in Gießen
Note
1
Autor
Jahr
2006
Seiten
96
Katalognummer
V62677
ISBN (eBook)
9783638558792
ISBN (Buch)
9783656811626
Dateigröße
1982 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Wissenschaftliche Hausarbeit im Rahmen der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien im Fach Chemie
Schlagworte
Physikalische, Chemie, Schule
Arbeit zitieren
Edith Mallek (Autor:in), 2006, Physikalische Chemie in der Schule, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/62677

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