Von 'Jump' zu 'Hartz': Eine arbeitsmarktpolitische Bilanz der rot-grünen Bundesregierung


Hausarbeit (Hauptseminar), 2006

44 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

0. Einleitung

1. Konzeptionelle Grundlagen der Arbeitsmarktpolitik
1.1 Begriffsklärung und -abgrenzung
1.2 Funktionsweisen der Arbeitsmärkte und Ursachen von Arbeitslosigkeit
1.3 Arbeitsmarktpolitische Strategien zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit

2. Arbeitsmarktpolitische Phasen der rot-grünen Bundesregierung
2.1 Die Anfangsphase der „Parteiendifferenzierung“ und „Klientelpolitik“
2.1.1 Politökonomischer Handlungsrahmen
2.1.2 Das Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit
2.1.3 JUMP - Das Jugendsofortprogramm
2.2 Von der „Politik der ruhigen Hand“ zur aktivierenden Arbeitsmarktpolitik
2.2.1 Politökonomischer Handlungsrahmen
2.2.2 Das Teilzeit- und Befristungsgesetz
2.2.3 Das Job-AQTIV-Gesetz
2.3 Die Reformphase der Hartz-Gesetze und der Agenda 2010
2.3.1 Politökonomischer Handlungsrahmen
2.3.2 Die Hartz-Reformen
2.3.2.1 Hartz I und II
2.3.2.2 Hartz III und IV
2.3.3 Die Agenda 2010

3. Bilanz und Perspektiven

4. Literaturverzeichnis

0. Einleitung

Kurz nach Amtsantritt im Herbst 1998 erklärte Bundeskanzler Gerhard Schröder, dass sich die Koalition zwischen SPD und Grünen „jederzeit […] daran messen lassen [wolle], in welchem Maße [sie] zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit beigetragen [habe]“[1]. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Arbeitslosenzahl einen Stand von 3,89 Millionen erreicht[2], was nicht zuletzt dem jahrelangen „Reformstau“ der christdemokratischen-liberalen Vorgängerregierung und ihren nur unzureichenden Ansätzen einer Deregulierung des Arbeitsmarktes geschuldet war.[3] Immer wieder betonte Schröder daher die zentrale Bedeutung arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitischer Reformen und steckte das Ziel, die Arbeitslosigkeit bis zu unter drei Millionen zu senken.[4] Doch entgegen diesem Vorhaben stieg die Zahl der Arbeitslosen kontinuierlich an, bis zum Regierungswechsel und zur Übernahme der Großen Koalition im November 2005 lag sie bei 4,55 Millionen.[5] Bei dieser alarmierenden Zahl stellt sich die Frage, der in dieser Arbeit nachgegangen werden soll, welche arbeitsmarktpolitischen Strategien die Regierung bis dato verfolgt hat und ob beziehungsweise inwiefern diese erfolgreich gewesen sind.

In Kapitel 1 werden zunächst anhand einschlägiger Fachliteratur (vgl. z.B. Schmid 1984; Harmes-Liedtke 1999; Mühlbradt 61999; Schmid/ Blanke 2001) der Begriff der Arbeitsmarktpolitik erläutert und abgegrenzt sowie Theorien zu Funktionsweisen von Arbeitsmärkten und Ursachen von Arbeitslosigkeit beleuchtet. Die Einteilung der Strategien zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in angebotsorientierte und nachfrageorientierte Arbeitsmarktpolitik oder alternativ in aktive und passive Arbeitsmarktpolitik dient im Anschluss als Analyseraster für die einzelnen Reformen. Kapitel 2 beschäftigt sich mit den unterschiedlichen arbeitsmarktpolitischen Phasen der rot-grünen Bundesregierung von 1998 bis 2005, die sich in die Anfangsphase der „Parteiendifferenzierung“ und „Klientelpolitik“, die Übergangsphase von der „Politik der ruhigen Hand“ zur aktivierenden Arbeitsmarktpolitik sowie in die Reformphase der Hartz-Gesetze und der Agenda 2010 gliedern.[6] Jede Phase wird in einen allgemeinen politisch-ökonomischen Handlungsrahmen eingeordnet, bevor auf die jeweils wichtigsten arbeitsmarktpolitischen Reformen, ihre Ziele, Instrumente sowie Chancen und Probleme eingegangen wird. Hierzu zählen das Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit und das Sofortprogramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit JUMP für die erste, das Teilzeit- und Befristungsgesetz sowie das Job-AQTIV-Gesetz für die zweite und die Hartz-Gesetze und die Agenda 2010 für die letzte Phase, die sich oft schon in den Wahlprogrammen von SPD und Grünen ankündigten. Die Bewertung der Maßnahmen soll anhand von Beiträgen und empirischen Interviews sowohl aus Perspektive der Arbeitgeber (vgl. z.B. Plessen/Henseler 2003), der Arbeitnehmer und Gewerkschaften (vgl. z.B. Engelen-Kefer 2005) als auch aus politik- und wirtschaftswissenschaftlicher (vgl. z.B. Dietrich 2001a, 2001b, 2003; Gohr 2003; Heinelt 2003; Jochem/ Siegel 2003; Sachverständigenrat 2001, 2002, 2003; Hennecke 2004, 2005; Berthold/ Von Berchem 2005; Eichhorst/ Zimmermann 2005; Fickinger 2005), arbeits- und sozialrechtlicher (vgl. z.B. Backhaus 2001; Straub 2001; Rose 2003; Wank 2005; Interview mit Stefan Gerber) sowie verwaltungstechnischer Perspektive (Interview mit Andrea Oberländer) erfolgen. In Kapitel 3 werden die Untersuchungsergebnisse schließlich zusammengefasst und ein Ausblick auf die zukünftige Arbeitsmarktpolitik in Deutschland gegeben.

1. Konzeptionelle Grundlagen der Arbeitsmarktpolitik

1.1 Begriffsklärung und -abgrenzung

Arbeitsmarkt heißt der „in der Regel ökonomisch-abstrakt gemeinte Ort, auf dem die Nachfrage [der Arbeitgeber] nach und das Angebot [der Arbeitnehmer] von Arbeitskräften zusammentreffen.“[7] De facto gibt es keinen homogenen Arbeitsmarkt, sondern unterschiedliche Teilarbeitsmärkte, da sowohl die Arbeitskräfte je nach „Berufsgruppe, Qualifikation, Alter, Geschlecht, Nationalität und Gesundheitszustand […] [als] auch die Arbeitsanforderungen […] je nach Branche, Region, Beruf und Position [divergieren].“[8]

Arbeitsmarktpolitik umfasst alle wirtschafts- und sozialpolitischen, institutionellen und rechtlichen Interventionen, die die Funktionsweise und -probleme des Arbeitsmarktes (oder der Arbeitsmärkte) und die daraus resultierenden sozialen Folgen regeln sollen.[9] Im Gegensatz zur Beschäftigungspolitik, die „sämtliche beschäftigungswirksame Maßnahmen beinhaltet, ungeachtet, ob sie am Gütermarkt, Geldmarkt oder Arbeitsmarkt ansetzen“[10], zielt die Arbeitsmarktpolitik unmittelbar auf die Nachfrage- und Angebotsseite des Arbeitsmarkts.[11] Träger der Arbeitsmarktpolitik sind in der Bundesrepublik Deutschland neben der Bundesagentur für Arbeit (BA) auch Bund, Länder, Kommunen und ferner, im Hinblick auf ihre Verantwortung für die Lohnpolitik, die Tarifparteien.[12]

1.2 Funktionsweise von Arbeitsmärkten und Ursachen der Arbeitslosigkeit

Die unterschiedlichen Konzepte arbeitsmarktpolitischer Strategien basieren auf verschiedenen Erklärungsansätzen über die Funktionsweisen von Arbeitsmärkten und die Ursachen der Arbeitslosigkeit. So funktionieren aus neoklassischer Sicht, die neben dem Monetarismus und dem Neoliberalismus zu den angebotsorientierten Wirtschaftstheorien gehört, Arbeitsmärkte wie Gütermärkte. Angebot und Nachfrage nach Arbeitskraft (Ware) hängen hier vom Reallohn[13] (Preis) ab und sind laut dem Sayeschen Theorem, nach welchem „sich jedes Angebot seine Nachfrage schafft“[14], langfristig stabil und im Gleichgewicht. Ungleichgewichte wie Arbeitslosigkeit oder Übernachfrage werden durch den Lohnmechanismus kompensiert.[15] Entscheidend für die Beschäftigungshöhe ist die reale Kostenlage der Unternehmen im Verhältnis zu ihrer Produktivität. Unfreiwillige Arbeitslosigkeit entsteht demnach, wenn die Reallöhne in Bezug auf die erzielbaren Absatzpreisen zu hoch sind, um eine für Vollbeschäftigung genügende Arbeitsnachfrage der Unternehmen zu erreichen.[16] Die Hauptgründe für überhöhte Reallohnsätze stellen die Verhinderung von Lohnsenkungen durch die Gewerkschaften dar und die zu großzügigen sozialen Sicherungssysteme, die einerseits zu überzogenen Lohnansprüchen der Arbeitnehmer auf den Arbeitsmärkten führen, und deren Finanzierung andererseits die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft beeinträchtigt.[17]

Insbesondere der Monetarismus macht für Beschäftigungsschwankungen zudem eine kurzfristige, die Marktteilnehmer verunsichernde staatliche Wirtschaftspolitik hinsichtlich geld- und fiskalpolitischer Maßnahmen verantwortlich.[18] Weitere Ursachen der Arbeitslosigkeit liegen aus angebotstheoretischer Perspektive in der mangelnden Flexibilität der Arbeitsmarktstrukturen (strukturelle Arbeitslosigkeit), in zeitlichen Verzögerungen bei der Stellenbesetzung durch Arbeitssuchende (friktionelle Arbeitslosigkeit) sowie in der fehlenden fachlichen Qualifikation, in der ungenügenden regionalen Mobilität oder in der mangelnden Motivation der Arbeitnehmer aufgrund der Diskrepanz zwischen Lohnvorstellung und -angebot, eine Stelle anzunehmen (Mismatch-Arbeitslosigkeit).[19]

Demgegenüber steht die nachfrageorientierte Wirtschaftstheorie des Keynesianismus, nach der „[d]ie Nachfrage nach Arbeit […] durch die Höhe der effektiven Nachfrage auf den Gütermärkten und nicht durch das Reallohnniveau bestimmt [wird].“[20] Unfreiwillige Arbeitslosigkeit entstehe demnach, wenn die Nachfrage nach Konsum- und Investitionsgütern im Verhältnis zu den Produktionskapazitäten infolge konjunktureller Abschwünge oder einer Rezession zu niedrig ausfällt. Aufgrund der fehlenden Nachfrage produzieren die Unternehmen weniger und benötigen auch weniger Arbeitskräfte (konjunkturelle Arbeitslosigkeit).[21]

1.3 Arbeitsmarktpolitische Strategien zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit

Gemäß der divergierenden Interpretationen der Ursachen von Arbeitslosigkeit unterscheiden sich die Vorschläge adäquater arbeitsmarktpolitischer Strategien. Angebotsorientierte arbeitsmarktpolitische Ansätze zielen auf eine Verbesserung der wirtschaftlichen Angebotsbedingungen für Unternehmen, um deren Investitionsbereitschaft und internationale Wettbewerbsfähigkeit zu fördern und somit Beschäftigung dauerhaft rentabel zu machen.[22] In diesem Rahmen wird eine nachhaltige Deregulierung und Flexibilisierung des Arbeitsmarktes sowie der arbeitsmarktpolitischen Institutionen vorgeschlagen, die beispielsweise eine Privatisierung der Arbeitsvermittlung, eine Lockerung des Kündigungsschutzes, die Senkung der Lohnnebenkosten und der Unternehmensteuer, die Kürzung von Lohnersatzleistungen, auf die die lange Suchdauer und Langzeitarbeitslosigkeit zurückgeführt werden, flexiblere Arbeitszeitregelungen sowie eine Begrenzung der betrieblichen Mitbestimmung und der gewerkschaftlichen Marktmacht beinhaltet.[23] Als sinnvoll und den Marktmechanismus begünstigend werden diejenigen arbeitsmarktpolitischen Interventionen erachtet, durch die die „räumliche, sektorale und beruflich-qualifikatorische Mobilität der Arbeitnehmer gefördert werden, um […] ihre Anpassungsfähigkeit und Bereitschaft, geeignete Stellen zügig anzunehmen, zu erhöhen.“[24] Dazu gehören neben einer bedarfsgerechten beruflichen Aus- und Weiterbildung und Mobilitätshilfen, wie Zuschüsse zu Bewerbungs-, Reise- und Umzugskosten[25], auch eine soziale Betreuung insbesondere der Problemgruppen (z.B. gering qualifizierte Personen, Ältere, Jüngere, Schwerbehinderte, ehemalige Drogenabhängige, entlassene Strafgefangene, Ausländer) sowie eine wirksame Berufsberatung und ein effektives Stelleninformations- beziehungsweise Vermittlungssystem.[26]

Kritiker der Angebotspolitik bezweifeln die Selbstregulierung des Arbeitsmarktes durch verbesserte Rahmenbedingungen für die Unternehmen und heben hervor, dass Arbeitsmarktprobleme zur Lösung politischer Interventionen (Regulierung) bedürfen.[27] Sie plädieren für eine staatliche Steuerung der gesamtwirtschaftlichen Güternachfrage, um für mehr Wachstum und Beschäftigung zu sorgen.[28] Der Staat soll danach in Rezessionsphasen eine die Nachfrage an Konsum- und Investitionsgütern stimulierende expansive Geld- und Fiskalpolitik in Form einer Geldmengenerhöhung durch die Bundesbank sowie kreditfinanzierter Ausgabenerhöhungen und Steuersenkungen betreiben. Die dadurch eventuell entstehenden Haushaltsdefizite und Staatsverschuldung sollen in konjunkturellen Aufschwungphasen durch Ausgabensenkungen und Steuererhöhungen wieder ausgleichen werden (antizyklische Konjunkturpolitik).[29]

Arbeitsmarktpolitische Instrumente zur Anregung der Arbeitsnachfrage umfassen Arbeitsbeschaffungs- und Strukturanpassungsmaßnahmen, Lohnkostenzuschüsse und Eingliederungshilfen, die sich vor allem an schwer vermittelbare Arbeitnehmergruppen richten, sowie Hilfen zur Gründung selbständiger Existenzen.[30] Zu den nachfrageorientierten Maßnahmen zählen außerdem „präventive Maßnahmen zum Erhalt von Arbeitsplätzen, wie zum Beispiel die Gewährung von Kurzarbeitergeld oder die Förderung der ganzjährigen Beschäftigung in der Bauwirtschaft (Wintergeld, Schlechtwettergeld).“[31] Ein weiteres Element keynesianischer Wirtschaftspolitik stellt die arbeitsmarktpolitische Abstimmung zwischen Staat, Arbeitgebern und Gewerkschaften dar, beispielsweise in Form von konzertierten Aktionen oder korporatistischen Bündnissen.[32]

Alternativ zur angebots- und nachfrageorientierten Arbeitsmarktpolitik wird inhaltlich zwischen aktiver und passiver Arbeitsmarktpolitik differenziert.[33] Erstere „bezieht sich auf den Auf- und Ausbau präventiver Maßnahmen, die Wachstumshindernisse, Qualifikations- und Mobilitätsengpässe beseitigen und neue Arbeitsplätze schaffen sollen“[34] und umfasst Umschulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen, Arbeitsplatzsubventionierung, öffentliche Arbeitsplatzbeschaffung, Förderung der Selbständigkeit sowie Mobilitätshilfen.[35] Die passive Arbeitsmarktpolitik beinhaltet hingegen „kompensatorisch-reaktive Aufgaben und Maßnahmen“[36], wie etwa die Auszahlung von Transfereinkommen (Arbeitslosengeld, Sozialhilfe).

2. Arbeitsmarktpolitische Phasen der rot-grünen Bundesregierung

2.1 Die Anfangsphase der „Parteiendifferenzierung“ und „Klientelpolitik“

2.1.1 Politökonomischer Handlungsrahmen

Die SPD erklärte in ihrem Programm zur Bundestagswahl 1998 den Abbau der Arbeitslosigkeit als zentrales Anliegen. Als beschäftigungswirksam galten vor allem Instrumente nachfrageorientierter Arbeitsmarktpolitik, wie Tarifvereinbarungen innerhalb eines Bündnisses zwischen Regierung, Gewerkschaften, Unternehmen und Kirchen, Hilfen für Existenzgründer, Arbeitszeitregulierungen, Lohnkostenzuschüsse und Einarbeitungshilfen für Betriebe, die Arbeitslose einstellen sowie Maßnahmen öffentlicher Beschäftigungsförderung vor allem in Ostdeutschland.[37] Weitere Ziele waren die Bekämpfung der Scheinselbständigkeit[38] und des Missbrauchs der 630-DM-Jobs, insbesondere durch die Aufteilung regulärer in geringfügige Beschäftigung, sowie die Aufhebung der Kürzungen beim Kündigungsschutz, Schlechtwettergeld und der Lohnfortzahlung in Krankheitsfall[39], die den aus der Opposition heraus kritisierten Deregulierungsmaßnahmen der christlich-liberalen Vorgängerregierung angelastet wurden.[40]

Auch die Grünen setzten in ihrem Wahlprogramm auf nachfrageorientierte Strategien der Arbeitsmarktpolitik und forderten wie die SPD eine Abstimmung zwischen Tarifparteien, Regierung und Arbeitslosenverbänden, die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit durch die Schaffung von Ausbildungsplätzen, eine Arbeitszeitverkürzung und den Abbau von Überstunden sowie staatliche Beschäftigungsprogramme als Übergangsmaßnahmen.[41]

„Weite Teile dieser Programmaussagen entsprachen traditionellen sozialdemokratischen, aber auch grünen Forderungen und gewerkschaftlichen Erwartungen“[42], insofern im Vordergrund stand, „Arbeitsverhältnisse durch staatliche Eingriffe sozial und in zwingender Form zu Gunsten der Beschäftigten zu regeln, um sie damit jedenfalls graduell den Wechselfällen des Marktgeschehens zu entziehen.“[43] Damit bestätigten sich sowohl die Theorie der „Parteiendifferenzierung“, gemäß der sich eine Abgrenzung vom Politikstil der konservativ-liberalen Vorgängerregierung abzeichnete[44], als auch die „Mandatetheorie“, die eine klassische Klientelpolitik impliziert.[45] Eine Neuorientierung der Sozialdemokraten ließ sich jedoch an ihrer Ablehnung kreditfinanzierter Konjunkturprogramme erkennen, die der traditionell keynesianischen Strategie einer gesamtwirtschaftlichen Nachfragesteigerung durch eine defizitfinanzierte Haushaltspolitik eindeutig widersprach.[46] Zudem wurde die Förderung atypischer Beschäftigungsverhältnisse, etwa der Leih- und Teilzeitarbeit oder befristeter Arbeitsverhältnisse, vorgeschlagen.[47]

Nach dem Sieg der Sozialdemokraten bei der Bundestagswahl und ihrer Koalierung mit den Grünen wurden die arbeitsmarktpolitischen Vorschläge aus den Parteiprogrammen größtenteils in den Koalitionsvertrag übernommen, wobei die Schaffung eines Bündnisses für Arbeit und Ausbildung, die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit und der Einsatz von Instrumenten aktiver Arbeitsmarktpolitik einen Schwerpunkt bilden sollten.[48] Entgegen den wahlprogrammatischen Ankündigungen „wurde zunächst [unter Oskar Lafontaine als Bundesfinanzminister] bis März 1999 eine ,keynesianische’ Strategie verfolgt, die über eine expansive Haushaltpolitik eine Stärkung der Binnennachfrage anstrebte.“[49] Dazu gehörten auch die Ermutigung der Gewerkschaften zu höheren Lohnforderungen, die Reduzierung der Lohnnebenkosten mittels der „Ökosteuer“, die Senkung der Einkommenssteuer bei gleichzeitiger Steuerbelastung vor allem der Großunternehmen und marktregulierende Maßnahmen, wie zum Beispiel gesetzliche Beschränkungen zur Scheinselbständigkeit und die Wiedereinrichtung des Kündigungsschutzes in Kleinbetrieben ab fünf Beschäftigten.[50]

2.1.2 Das Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit

Angesichts der besonderen Beziehung zwischen SPD und Gewerkschaften überrascht es kaum, dass offizielle tripartistische Bündnisse zwischen Regierung, Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften in Deutschland auf Bundesebene bislang nur bei sozialdemokratischer Regierungsbeteiligung zustande kamen: von 1967 bis 1977 in der von Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller initiierten Konzertierten Aktion und von 1998 bis 2002 im von Bundeskanzler Schröder etablierten „Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“. Die Bemühungen von CDU/CSU, ein solches Bündnis 1996 einzurichten, scheiterten hingegen nach wenigen Gesprächsrunden am Veto der FDP.[51]

Ziel des 1998 eingerichteten „Bündnisses für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“ war es, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren, mehr Arbeitsplätze zu schaffen sowie die internationale Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen zu verbessern.[52] An den so genannten Spitzengesprächen, die vierteljährlich geplant waren, tatsächlich jedoch unregelmäßiger stattfanden, und in denen unter Leitung des Bundeskanzlers gemeinsame beschäftigungspolitische Maßnahmen und Reformstrategien verabredet werden sollten, waren auf Regierungsseite der Leiter des Bundeskanzleramtes plus sechs weitere Minister, auf Arbeitgeberseite die Präsidenten der Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft sowie fünf Gewerkschaftsvorsitzende beteiligt.[53] Unterhalb dieses Gremiums befanden sich eine aus Staatssekretären, Hauptgeschäftsführern der Unternehmerverbände und leitenden Gewerkschaftsrepräsentanten zusammengesetzte Steuerungsgruppe, die unter Führung des Kanzleramtschefs die Spitzentreffen vorbereitete, Arbeitsgruppen, die in den Spitzengesprächen debattierten Konzepte zu einzelnen Feldern der Arbeitsmarkt-, Sozialversicherungs- und Innovationspolitik entwarfen[54], sowie eine Benchmarking-Gruppe, in der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler Referenzmodelle und international vergleichbare Daten analysierten und in diversen Berichten veröffentlichten, um so einen Beitrag zur Verbesserung des Wirtschafts- und Arbeitsstandorts Deutschlands zu leisten.[55]

[...]


[1] Regierungserklärung am 10.11.1998.

[2] Bundesanstalt für Arbeit, November 1998.

[3] Vgl. Eichhorst/ Zimmermann 2005: 11.

[4] ZDF, 4.3.2001.

[5] Bundesagentur für Arbeit, November 2005.

[6] Vgl. Egle/ Ostheim/ Zohlnhöfer 2003; Zohlnhöfer 2004: 381-402; Eichhorst/ Zimmermann 2005: 12.

[7] Mühlbradt 61999: 33.

[8] Wilke 2003: 19.

[9] Vgl. Harmes-Liedtke 1999: 16.

[10] Ebd.: 17.

[11] Vgl. ebd.: 17.

[12] Vgl. Kühl 1996: 56.

[13] Unterschieden wird zwischen Nominallohn , der sich im zahlenmäßigen Geldbetrag ausdrückt und Reallohn , der sich durch seine Kaufkraft bestimmt, das heißt durch die Gütermenge, die man damit kaufen kann (vgl. Mühlbradt 61999: 246; 272).

[14] Schmid 1984: 107.

[15] Vgl. ebd.: 18.

[16] Vgl. ebd.: 163.

[17] Vgl. Harmes-Liedtke 1999: 20.

[18] Vgl. Mühlbradt 61999: 238 f.

[19] Vgl. Berthold/ Von Berchem 2005: 27 f.

[20] Harmes-Liedtke 1999: 19.

[21] Vgl. Wilke 2003: 15.

[22] Klassische Vertreter dieses Ansatzes sind bisher vor allem konservativ-liberale Regierungen, Unternehmer- und Arbeitgeberverbände, der Mittelstand, der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung sowie organisierte Interessenverbände gewesen (vgl. Keim/ Steffens 2000: 323 f.)

[23] Vgl. Harmes-Liedtke 1999: 20; Wilke 2003: 6.

[24] Berthold/ Von Berchem 2005: 34.

[25] Vgl. Harmes-Liedtke 1999: 21 f.

[26] Vgl. Schmid/ Blanke 2001: 101.

[27] Vgl. Harmes-Liedtke 1999: 21.

[28] Bisher repräsentierten insbesondere sozialdemokratische Regierungen, Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbände diese Position (vgl. Keim/ Steffens 2000: 325).

[29] Cezanne 51991: 137 ff.

[30] Harmes-Liedke 1999: 23 f.; Schmid/ Blanke 2001: 99 ff.

[31] Schmid/ Blancke 2001: 100.

[32] Vgl. Siegel 2003: 166.

[33] Eine ausführlichere Analyse der Ziele, Instrumente, Chancen und Probleme der aktiven und passiven Arbeitsmarktpolitik findet sich in Berthold/ Fehn/ Von Berchem 2001: 24-133.

[34] Ebd.: 25.

[35] Vgl. Maier 1996: 160.

[36] Schubert/ Klein 1997: 25.

[37] Vgl. SPD 1998: 6 ff.

[38] Scheinselbständigkeit bezeichnet eine selbständige berufliche Tätigkeit, die wegen bestimmter Kriterien (nur ein Auftraggeber, keine Angestellten, Weisungsgebundenheit) wie ein Angestelltenverhältnis gewertet wird (vgl. Wank 2005: 16). Umgangen sollen dabei hauptsächlich sonst anfallende Sozialversicherungsbeiträge, „aber auch sämtliche Schutzvorkehrungen des Arbeitsrechts wie Kündigungsschutz und Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall entfallen“ (Rose 2003: 112).

[39] Vgl. SPD 1998: 12 f.

[40] Vgl. Gohr 2003: 41.

[41] Vgl. Bündnis 90/Die Grünen 1998: 24 ff.

[42] Gohr 2003: 43.

[43] Rose 2003: 121.

[44] Vgl. ebd. 2003: 121.

[45] Vgl. Gohr 2003: 43.

[46] Vgl. SPD 1998: 15.

[47] Vgl. ebd.: 9, 12.

[48] Vgl. SPD/ Bündnis 90/Die Grünen 1998.

[49] Eichhorst/Zimmermann 2005: 12.

[50] Vgl. ebd.: 12.

[51] Vgl. Schroeder 2003: 107.

[52] Vgl. Fickinger 2005: 108.

[53] Vertreten waren die Bundesminister für Finanzen, Wirtschaft, Arbeit und Soziales, Bildung und Forschung, Gesundheit und später auch die Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft, die Präsidenten des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), des Deutschen Industrie- und Handelstags (DIHT) und des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks (ZDH) sowie die Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und der Einzelgewerkschaften IG Metall, IG Bergbau, Chemie, Energie, Gewerkschaften Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) und Deutsche Angestelltengewerkschaft (DAG).

[54] Arbeitsmarkpolitische Themenfelder waren zum Beispiel „Aus- und Weiterbildung“, „Lebensarbeitszeit und vorzeitiges Ausscheiden“, „Rentenreform und Arbeitslosenversicherung“ und „Arbeitszeitpolitik“ (vgl. Fickinger 2005: 132 f.)

[55] Vgl. ebd.: 133.

Ende der Leseprobe aus 44 Seiten

Details

Titel
Von 'Jump' zu 'Hartz': Eine arbeitsmarktpolitische Bilanz der rot-grünen Bundesregierung
Hochschule
Universität Rostock
Note
1,3
Autor
Jahr
2006
Seiten
44
Katalognummer
V62884
ISBN (eBook)
9783638560429
ISBN (Buch)
9783656786078
Dateigröße
630 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Jump, Hartz, Eine, Bilanz, Bundesregierung
Arbeit zitieren
Sophia Gerber (Autor:in), 2006, Von 'Jump' zu 'Hartz': Eine arbeitsmarktpolitische Bilanz der rot-grünen Bundesregierung , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/62884

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