Es ist wahr. Die Spuren der Geschichte können ebenso verschwinden wie die symbolischen Spuren im Schnee, welche die Schtetljuden auf dem Weg zum Bahnhof hinterlassen. Dort wartet ein Zug, dessen Ziel in östlicher Richtung liegt. Und was immer diese Richtung bedeutet - „Der Osten liegt dort, wo die Sonne aufgeht, auch wenn es zum letzten Mal ist“ (JW 16). Doch die Schtetljuden aus Pohodna wissen nicht, daß die Sonne (für sie) zum letzten Mal aufgeht - dies weiß nur der Erzähler der Rahmenkonstruktion, des Prologs und des Epilogs. Sie nutzen die Zeit, sie reden und hoffen, so wie sie es immer getan haben. Und jeder Jude kann hoffen, oder zumindest vermuten, denn: „Der Jude kennt immer zwei Möglichkeiten, eine so und eine so. Es könnte ja sein, daß dort, wo die Endstation ist, ein Geheimnis auf sie lauert?“ (JW 23) Dennoch ist sicher, daß dies alles verändern wird. Das weiß auch Gott, der vor Neugierde und Angst ein „Guckloch in die Wolken gebohrt“ (JW 7) hat, denn „es würde nie wieder so sein wie es war“ (ebd.). Edgar Hilsenrath greift auf der ersten Seite vonJossel Wassermanns Heimkehreine zentrale Fragestellung der Geschichtsschreibung und der Literatur(-wissenschaft) nach der Shoah auf: Wie konnte es dazu kommen? Eine mögliche Antwort beschreibt die Abwesenheit Gottes, die eine weitere grundlegende Frage evoziert: Wieso hat sich Gott abgewendet? Auf der letzten Seite des Buches (Epilog) schließt der Text hoffnungsvoll positiv mit den Worten: „,Und ich [der Wind] mache mich auch auf die Suche. Vor mir kann keiner was verbergen. Ich wette mit dir, daß ich auch den Geist Gottes irgendwo finde.‘“ (JW 290) Doch woher nimmt der Wind, der in den vorangegangenen sechs Tagen der Geschichte von Jossel Wassermann (aus dem Mund der gelangweilten Stimme der Geschichtsschreibung) gelauscht hat, diese Zuversicht? Wenden sich doch alle, auch die Krähen und die Wolken, von den Juden ab, als sich der Zug letztendlich in Richtung der Vernichtungslager im Osten in Bewegung setzt5- sogar die Lilien auf dem Felde, zartes Sinnbild für die Macht und Schönheit des Reiches Gottes, schlafen versteckt unter der Schneedecke.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Edgar Hilsenrath - Werk
- Der Grenzgänger
- Hilsenrath in eigener Sache
- Jubiläum
- Schau heimwärts, Jossel!
- Geschichte und Literatur
- Geschichtslücken und narrativer Diskurs
- Geschichte Gedächtnis – Literatur
- Historiographie I - Hayden White
- Historiographie II - Siegfried Lenz
- Historiographie III – Walter Benjamin
- Gedächtnis und Literatur I
- Gedächtnis I – Paul Ricœur
- Gedächtnis II - Maurice Halbwachs
- Judentum - Kultur und Geschichte
- Judentum I – Kulturelles Gedächtnis
- Judentum II - Deuteronomium
- Judentum III - Vilém Flusser
- Exkurs: Franz Kafka
- Judentum IV - Shoah
- Judentum V-Leo Baeck
- Exkurs: Identität und Shoah
- Historiographie IV - Dan Diner
- Historiographie V - Yosef Yerushalmi
- Erzählen – Erinnerung - Geschichte
- Gedächtnis und Literatur II
- Erzählung und Geschichte
- Jossel I - Hilsenraths Motive
- Jossel II Rezeption
- Jossel III-Erzählsituation und Struktur
- Jossel IV - Erzählen und Wirklichkeit
- Schlußbetrachtung
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Magisterarbeit analysiert Edgar Hilsenraths Roman „Jossel Wassermanns Heimkehr“ im Kontext der Erinnerungskultur nach der Shoah. Die Arbeit untersucht die Geschichte, das Gedächtnis und die Literatur als komplexe und wechselwirkende Bereiche. Im Fokus stehen die verschiedenen Geschichtsauffassungen und Erinnerungsformen im Roman sowie deren Legitimation und Konsequenzen.
- Die Rolle des Erinnerns und Vergessens in der Darstellung der Shoah
- Die Verbindung von Geschichte, Gedächtnis und Literatur im Roman
- Die Analyse der Erzählsituation und Struktur des Romans
- Die Bedeutung von Judentum und Identität in der Geschichte
- Die Darstellung verschiedener Geschichtsauffassungen und deren Legitimation im Roman
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung führt in das Thema der Arbeit ein und stellt die Forschungsfrage nach der Bedeutung von Geschichte und Erinnerung in Edgar Hilsenraths Roman „Jossel Wassermanns Heimkehr“ dar. Sie erläutert die Relevanz des Romans und dessen bisherige wissenschaftliche Rezeption.
Das Kapitel „Edgar Hilsenrath - Werk“ stellt den Autor und seine Werke vor. Es gibt einen Überblick über Hilsenraths literarisches Schaffen und beleuchtet dessen Entwicklung und Relevanz im Kontext der deutschen Literatur.
Das Kapitel „Geschichte und Literatur“ beleuchtet die komplexe Beziehung zwischen Geschichte, Gedächtnis und Literatur, insbesondere im Zusammenhang mit der Shoah. Es befasst sich mit verschiedenen Geschichtsauffassungen und stellt die Bedeutung von Erinnerung und Vergessen für die Aufarbeitung der Vergangenheit in Frage.
Das Kapitel „Erzählen – Erinnerung - Geschichte“ analysiert die erzählerische Struktur und die Bedeutung von Erinnerung im Roman „Jossel Wassermanns Heimkehr“. Es untersucht die Frage, wie Hilsenrath die Shoah in seiner Geschichte verarbeitet und wie diese Verarbeitung auf den Leser wirkt.
Schlüsselwörter
Die Arbeit befasst sich mit Themen wie Erinnerungskultur, Shoah, Geschichte, Gedächtnis, Literatur, Judentum, Identität, Erzählen, Hilsenrath, Jossel Wassermanns Heimkehr. Diese Schlüsselbegriffe bilden den Rahmen für die Analyse des Romans und die Erörterung der Beziehung zwischen Geschichte, Gedächtnis und Literatur im Kontext der Shoah.
- Arbeit zitieren
- Marcel Heuwinkel (Autor:in), 2006, Die andere Wirklichkeit - Erzählen als Erinnerungskultur in Edgar Hilsenraths "Jossel Wassermanns Heimkehr", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/62953