Die andere Wirklichkeit - Erzählen als Erinnerungskultur in Edgar Hilsenraths "Jossel Wassermanns Heimkehr"


Magisterarbeit, 2006

88 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

Edgar Hilsenrath - Werk
Der Grenzgänger
Hilsenrath in eigener Sache
Jubiläum
Schau heimwärts, Jossel!
Geschichte und Literatur
Geschichtslücken und narrativer Diskurs

Geschichte - Ged ä chtnis - Literatur
Historiographie I - Hayden White
Historiographie II - Siegfried Lenz
Historiographie III - Walter Benjamin
Gedächtnis und Literatur I
Gedächtnis I - Paul Ricœur
Gedächtnis II - Maurice Halbwachs

Judentum - Kultur und Geschichte
Judentum I - Kulturelles Gedächtnis
Judentum II - Deuteronomium
Judentum III - Vilém Flusser
Exkurs: Franz Kafka
Judentum IV - Shoah
Judentum V - Leo Baeck
Exkurs: Identität und Shoah
Historiographie IV - Dan Diner
Historiographie V - Yosef Yerushalmi

Erz ä hlen - Erinnerung - Geschichte

Gedächtnis und Literatur II

Erzählung und Geschichte

Jossel I - Hilsenraths Motive

Jossel II - Rezeption

Jossel III - Erzählsituation und Struktur

Jossel IV - Erzählen und Wirklichkeit

Schlu ß betrachtung

Literaturverzeichnis

„Was ist das Beste?“ fragte der Wind.

Und der Rebbe sagte: „Unsere Geschichte. Die haben wir mitgenommen.“

Und der Wind sagte: „Aber Rebbe. Das kann doch nicht sein. Die Geschichte der Schtetljuden ist zurückgeblieben.“

„Nein“, sagte der Rebbe. „Du irrst dich. Nur die Spuren unserer Geschichte sind zu- rückgeblieben.“

Und auch das ist wahr. Die Spuren waren zurückgeblieben. Aber die Zeit würde sie allmählich verwischen, und es würde nichts zurückbleiben. Nichts. Und so sagte er zum Flüstern des Windes: „Wir haben nur das Vergessen zurückgelassen, und was wir mit- genommen haben, ist das Erinnern.“

Jossel Wassermanns Heimkehr, Prolog

EINLEITUNG

Es ist wahr. Die Spuren der Geschichte können ebenso verschwinden wie die symboli- schen Spuren im Schnee, welche die Schtetljuden auf dem Weg zum Bahnhof hinterlas- sen.1 Dort wartet ein Zug, dessen Ziel in östlicher Richtung liegt. Und was immer diese Richtung bedeutet - „Der Osten liegt dort, wo die Sonne aufgeht, auch wenn es zum letzten Mal ist“ (JW 16). Doch die Schtetljuden aus Pohodna wissen nicht, daß die Sonne (für sie) zum letzten Mal aufgeht - dies weiß nur der Erzähler der Rahmenkonstruktion, des Prologs und des Epilogs. Sie nutzen die Zeit, sie reden und hoffen, so wie sie es im- mer getan haben.2 Und jeder Jude kann hoffen, oder zumindest vermuten, denn: „Der Jude kennt immer zwei Möglichkeiten, eine so und eine so. Es könnte ja sein, daß dort, wo die Endstation ist, ein Geheimnis auf sie lauert?“ (JW 23)3 Dennoch ist sicher, daß dies alles verändern wird. Das weiß auch Gott, der vor Neugierde und Angst ein „Guckloch in die Wolken gebohrt“ (JW 7) hat, denn „es würde nie wieder so sein wie es war“ (ebd.).

Edgar Hilsenrath greift auf der ersten Seite von Jossel Wassermanns Heimkehr eine zen- trale Fragestellung der Geschichtsschreibung und der Literatur(-wissenschaft) nach der Shoah4 auf: Wie konnte es dazu kommen? Eine mögliche Antwort beschreibt die Abwe- senheit Gottes, die eine weitere grundlegende Frage evoziert: Wieso hat sich Gott abge- wendet? Auf der letzten Seite des Buches (Epilog) schließt der Text hoffnungsvoll- positiv mit den Worten: „,Und ich [der Wind] mache mich auch auf die Suche. Vor mir kann keiner was verbergen. Ich wette mit dir, daß ich auch den Geist Gottes irgendwo finde.‘“ (JW 290) Doch woher nimmt der Wind, der in den vorangegangenen sechs Ta- gen der Geschichte von Jossel Wassermann (aus dem Mund der gelangweilten Stimme der Geschichtsschreibung) gelauscht hat, diese Zuversicht? Wenden sich doch alle, auch die Krähen und die Wolken, von den Juden ab, als sich der Zug letztendlich in Richtung der Vernichtungslager im Osten in Bewegung setzt5 - sogar die Lilien auf dem Felde6, zartes Sinnbild für die Macht und Schönheit des Reiches Gottes, schlafen versteckt un- ter der Schneedecke.7

Die Frage nach dem Überleben von Geschichte (als Träger von Kultur und Identifi- kation) wird im Verlauf der vorliegenden Untersuchung leitend sein. Welche Ge- schichtsauffassung und welche Formen der Erinnerung werden in dem Roman dargestellt, wie werden diese legitimiert und welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Jossel Wassermanns Heimkehr hat als relativ junges Werk des Autors bislang sehr wenig wissenschaftliche Beachtung gefunden.8 Löste Hilsenrath mit seinen Romanen Nacht (1964/1978) und Der Nazi und der Fris ö r (1977) weit über die erste Publikation hinaus hitzige Diskussionen und strenge Kritik aus, so hat er mit den Romanen Das M ä rchen vom letzten Gedanken (1989) und schließlich Jossel Wassermanns Heimkehr (1993) gezeigt, daß er anpassungsfähig ist - insofern er auf historische und sozial-gesellschaftliche Ver- änderungen reagiert und seine literarische Qualität gesteigert hat. Folglich waren die Rezensionen überwiegend mit positiven und anerkennenden Worten geschrieben.9 Worte - in Jossel Wassermanns Heimkehr dienen sie nicht nur der Erzählung einer (Jossel Wassermanns) Biographie. Mit Worten wird die untergegangene Welt der Bukowina und ihrer Bewohner, vornehmlich der Juden, mit Sprachkraft zum Leben erweckt. Doch trägt diese Untersuchung nicht zufällig den Titel Die andere Wirklichkeit - Wirklichkeit ist nicht einzigartig. Sie unterliegt der Konstruktion. Und diese Konstruktion wird durch Sprache realisiert. „Es ist die Wirklichkeit, welche die Möglichkeiten weckt [...]“,10 schreibt Robert Musil. Und es werden „in der Summe oder im Durchschnitt immer die gleichen Möglichkeiten bleiben“11. Jedoch nur so lange, „bis ein Mensch kommt, dem eine wirkliche Sache nicht mehr bedeutet als eine gedachte. Er ist es, der den neuen Möglichkeiten erst ihre Bestimmung gibt, und er erweckt sie“12. Solch ein Mensch be- sitzt einen Möglichkeitssinn, denn er denkt: „Nun, es könnte wahrscheinlich auch an- ders sein.“13 Musil beschreibt hier nicht den Vorzug der Fiktion vor der Realität - vielmehr folgt dieser Gedanke dem Ziel, Möglichkeiten als mögliche Wirklichkeiten zu verstehen und damit die Menge der Wirklichkeiten zu erweitern.

Die Ideen sind „noch nicht geborene Wirklichkeiten“14. Literatur wird bei ihrer Schöpfung mittels der Sprache durch den Menschen zum Erzeuger von Wirklichkeit - sie konstruiert und konstituiert Wirklichkeit: „Die Literatur stammelt nicht die Existenz nach, sie erfindet sie, lockt sie hervor, geht über sie hinaus [...].“15 Literatur und Sprache befähigen den Menschen zur Wirklichkeits- und Identitätsbildung, zur Prägung und Entwicklung von Kultur und zur Rekonstruktion von Vergangenheit und Erinnerungen durch Erzählen. Das Erzählen ist eine Form, derer sich eine Kultur bedient, um sich ihrer spezifischen Geschichte zu erinnern - Erz ä hlen als Erinnerungskultur 16. Daran ist zwangsläufig eine Geschichtsauffassung gekoppelt, die der Tatsache, da ß erzählt wird, Vorrang einräumt gegenüber der Frage, wie und was erzählt wird. Der Geschichtsschreibung der Sieger,17 wie es Walter Benjamin nennt, wird in Jossel Wassermanns Heimkehr ein Histo- rismus der Einzelschicksale gegenübergestellt, der die individuellen Geschichten und Erinne- rungen gegenüber einer offiziellen, faktenorientierten und selektiven Geschichts- schreibung hervorhebt. Die Erzählfigur Jossel Wassermann folgt der Aufforderung Ben- jamins, „die Geschichte gegen den Strich zu bürsten“18, in der „Tradition der Unter- drückten“19 zu erzählen und dieser zu gedenken, weil „nichts was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist“20, ebenso wie die Stimmen der Geschichte der Schtetljuden, die sich von den Stimmen der Geschichtsschreibung als Quasselstimmen ab- heben und denen alles „wichtig [war] und nichts unwichtig genug, um nicht registriert zu werden“ (JW 21).

Edgar Hilsenrath - Werk

DER GRENZGÄNGER

Zu seinem 70. Geburtstag hat Edgar Hilsenrath wenig Geschenke in Form von Zeitungsar- tikeln, Kommentaren oder Würdigungen erhalten. Bezeichnend für die damalige Situation ist die Überschrift, die Susanne Urban-Fahr für ihren Artikel gewählt hat - sie hat ihn einen „Grenzgänger“ genannt und die entscheidende Frage formuliert, mit der Hilsenraths Werke analysiert und kritisiert werden: „Die Frage, um die es heute geht, lautet vielmehr: Ist die Form gut gewählt? Sind Sprache und Gestaltung dem Thema angemessen?“21 Mitte der neunziger Jahre wird angesichts der Vielzahl literarischer Texte nicht mehr die Frage gestellt, ob nach der Shoah und über die Shoah Literatur verfaßt werden darf. Das Problem liegt vielmehr in der Darstellung und Vermittlung der erlebten Wirklichkeit:

Begreifbar sind die beschriebenen Ereignisse kaum. Und die letzte Grausamkeit, der end- gültige Realismus, bleiben dem Leser ohnehin verborgen, denn dies überfordert zumeist sogar die Grenzen des Schreibenden. Zu bedenken ist auch, daß Literatur über die Shoah immer von Engagement beseelt ist. Sogar noch in ihrem schrecklichsten Realismus.22

Urban-Fahr geht in ihren weiteren Ausführungen zu weit, wenn sie Hilsenrath als „Erzähler des Grauens“, „Satiriker des Unsagbaren“ sowie „tabubrechende[n] Meister des Burlesken“23 bezeichnet und ihn als Autor damit wieder in Kategorien einpfercht, obwohl das prinzipiell nicht in ihrer Absicht liegt - bemerkt sie doch: „Hilsenrath baut höchstens Klischees auf, um diese dann provokant und zugleich realistisch zu brechen.“24 Erstaunlich und provozierend an Hilsenraths Arbeit ist für sie:

Er schildert Menschen, keine Helden. Gerade das machte ihn so vielen nichtjüdischen Lesern suspekt. Sie wollten Opfer, mit denen man einfacher mitleiden kann. Keine komplexen Menschen, die dem Klischee des Philosemiten nicht mehr entsprechen.25

Helmut Braun kann als Entdecker und Wegbereiter für Hilsenraths (späten) Erfolg in Deutschland gelten. Mit seinem eigenen kleinen Verlag hat er durch die Herausgabe von Nacht und Der Nazi und der Fris ö r Ende der siebziger Jahre Mut bewiesen und für heftige Kritik auch außerhalb des Feuilletons gesorgt. Veröffentlichte noch in den achtziger und neunziger Jahren der Piper Verlag die weiteren Werke,26 so verlor dieser in den letzten Jahren das Interesse und verkaufte die Rechte an den Dittrich Verlag, der die Publikation der Gesammelten Werke mit dem Herausgeber Helmut Braun organisiert. In seinem Vorwort zu Verliebt in die deutsche Sprache. Die Odyssee des Edgar Hilsenrath 27 schreibt Braun: „[...] erst seit gut zwanzig Jahren beschäftigen sich Wissenschaftler mit den Arbeiten des Autors. Noch ist die Zahl der Magisterarbeiten, Dissertationen und Essays überschaubar.“28 Sein Ziel und das der Autoren des genannten Bandes ist es, „Anstöße zur Beschäftigung mit Hilsenraths Publikationen zu geben, Wege und Möglichkeiten eines umfassenden Zugangs zu seinen Werken aufzuzeigen [...]“29.

Bereits 1996 schildert Braun seine Erinnerungen an den ersten Kontakt mit Hilsen- rath und seinen Texten und hebt ein weiteres Charakteristikum hervor: „War es Fiktion, dann war es so gut, daß es sich lohnte, dafür zu kämpfen; war es Realität, dann war der gebotene Einsatz dafür Lust und Pflicht.“30 Das mit Märchenelementen und Märchen- motiven verbundene phantasievoll-epische Verwischen der Grenzen zwischen Realität und Fiktion setzt Hilsenrath wirkungsvoll ein, um deutlich zu machen, daß diese Gren- zen Konstrukte sind. Andere Grenzen versucht er durch Drastik, Groteske und schwar- zen Humor zu überschreiten und damit der Diskussion zu stellen. Den Wechsel von „der Brutalität hinein in die Banalität“31 und das „Dilemma des Unverstandenseins“32 akzep- tiert Hilsenrath nicht. Er sieht keinen Wechsel in der Geschichte, sondern eine Konti- nuität der Geschichte und der Zerstörung. Deshalb hat er sich nach Ansicht von Marko Martin für „die forcierte Tabuverletzung entschieden, für das Lachen des Opfers, das um keinen Preis mehr Opfer sein möchte“33. Hilsenrath erlaubt es seinen Lesern nicht, „sich in ihrer Unschuld zu suhlen und zufrieden-rührselig zum Taschentuch zu greifen“34.

Ich habe nun mal eine groteske Sicht auf die ganze Holocaust-Geschichte.35

HILSENRATH IN EIGENER SACHE

Der Griff zum ,philosemitischen Taschentuch‘ wird bei der Lektüre von Hilsenraths Bü- chern dadurch blockiert, daß er die Täter-Opfer-Trennung annulliert, indem er die Gut- Böse-Dichotomie auflöst. Er agiert gegen „eine Art Wiedergutmachung an den Juden, [...] [die] versucht, sie als Edelmenschen darzustellen“36, da ein solches Vorgehen die Juden zu anderen Menschen macht und ihnen die Komplexität des Seins vorenthält - die Sonder- stellung der Juden als „Edelmenschen“ vereinfacht Mitgefühl, Wiedergutmachung und Vergangenheitsbewältigung. Zugleich wird die Shoah oft als singuläres Phänomen ver- standen, durch deren Einzigartigkeit eine Wiederholung ausgeschlossen ist.

Wer diese These vertritt, sperrt sich jedoch einer tiefgehenden und interdisziplinären sozio-kulturellen Aufarbeitung. Denn durch die Dämonisierung von Nationalsozialismus und Shoah werden diese mythologisiert und der Faktizität und Realität enthoben, was kontroverse Diskussionen unmöglich macht. Hilsenrath sieht die Welt als „eine Welt, die aus den Fugen geraten ist [...]“37 und setzt diesen Standpunkt in seiner literarischen Produktion um: „Wenn ich aber schreibe, drücke ich es zynisch und satirisch aus. Ich klage nicht direkt an. Alles wird in beißenden Hohn gehüllt.“38 Ihm ist bewußt, daß er sich in eine Position begibt, die behauptet werden muß.39

Diese Position schließt zudem eine Skepsis gegenüber Religionen, Dogmen und Heilslehren ein: „Keine der mir bekannten Religionen hat mich überzeugt [...].“40 Die „jüdische Religion ist kompliziert und überfordert ihre Anhänger mit vielen Ritualen und Geboten“41. Trotzdem „hat es ein Jude im Grunde leicht, denn er kann mit seinem Gott argumentieren und streiten“42, schreibt Hilsenrath und wirft den Anhängern der christlichen Religion vor, sie hätten die Lehre der christlichen Nächstenliebe „ins Gegenteil verwandelt und pervertiert“43.

Den Fackeln der Menschheitsbeglücker traue ich nicht. Die Dogmatiker halte ich mir vom Leibe. Wer fromme Sprüche klopft und behauptet, die ganze Menschheit zu lieben, liebt in Wirklichkeit niemanden. Der Liebende ist immer wählerisch. [...] Ein gesundes Mißtrauen muß ich mir erhalten, allen Versprechungen gegenüber, allen Lobreden und Netzewerfern, jedem Staat und jeder Bürokratie. Zum blinden Glauben wird mich nie- mand bewegen.44

Hilsenrath ist kein Autor, der prinzipiell verneint oder verweigert und dadurch Autarkie zu erreichen versucht - er kann nicht mehr glauben, obwohl er glauben möchte, als skrupulöser Querdenker an etwas glauben muß:

Ich möchte daran glauben, daß es eine göttliche Gerechtigkeit gibt, aber sobald ich mich mit diesem Gedanken vertraut zu machen versuche, fallen mir die Kinder von Auschwitz ein und Millionen andere, die gequält, gefoltert und ermordet wurden. Aber es ist nicht nur der Krieg und der Holocaust. Gab es nicht schon immer Menschen, die von der Na- tur verwöhnt wurden, und andere, die es nicht wurden, die Schönen und die Häßlichen, die Erfolgreichen und die Erfolglosen, die Mächtigen und die Getretenen. Viele haben ihr Elend nicht verdient. Wofür werden sie bestraft? Wartet ein anderes Glück auf sie? Etwa im Himmelreich? Und wenn es nur ein M ä rchen ist, die Sache mit dem lieben Gott und dem Para- dies, wenn ER nun wirklich nicht ist und es nichts gibt nach dem Tode [...]. Wenn es nichts gibt, dann ist Gottes Stimme nur die Stimme unserer eigenen Angst und sein Licht nur die Vorstellung eines Lichts in der leeren Finsternis [Hervorhebung nicht im Original].45

Der religiöse Glaube wird in Hilsenraths Rhetorik auf ein Märchen reduziert, an das die Menschen glauben (müssen), deren Hoffnung auf Erlösung aus der Projektionsfläche des Jenseits gespeist wird und die dadurch einer verantwortungsreduzierenden Unmün- digkeit Vorschub leisten. Es geht nicht um das Beschreiten eines vorbestimmten Weges. Hilsenraths Wunsch nach einem Menschen, der seinen eigenen Weg wählt und be- schreitet, nährt sich aus einer humanistischen Haltung, die den Menschen als selbstbe- stimmendes sowie vernunftbegabtes Wesen definiert: „Einzig und allein meine Entscheidung zählt: den richtigen Weg zu wählen oder den falschen.“46 Eine Entschul- digung für Fehler und Fehltritte gibt es demnach nicht. Die Verantwortung wird getra- gen, nicht abgegeben.

Unsere Vergeßlichkeit muß sich messen lassen an seinen Erinnerungen.47

JUBILÄUM

Eine Dekade nach seinem siebzigsten Geburtstag hat sich in Hilsenraths Leben und in Deutschland viel verändert - die Liste der Zeitungsartikel, die einem „der großen Über- lebenden“, dem „Chronist des Schreckens“48 gedenken und zum Geburtstag „des gro- ßen deutsch-jüdischen Autors Edgar Hilsenrath“49 gratulieren möchten, ist lang.50 Der Leser erhält biographische Informationen, Bemerkungen zu den Verlagsstationen,51 das Werk und dessen Wirkungsgeschichte werden kurz dargestellt (Schwerpunkt: Nacht und Der Nazi und der Fris ö r), Vergleiche zu anderen (zeitgenössischen) jüdischen Autoren werden gezogen52 - und dabei wird die Erwähnung der Gesamtausgabe und der verlie- henen Preise53 nicht vergessen.

Viele Journalisten versäumen jedoch, aus Hilsenraths Vita, die von Exil und Wander- schaft gekennzeichnet ist, ein Resümee zu ziehen und seine Stellung innerhalb der Literaturlandschaft zu beschreiben. „Heute ist Hilsenrath ein anerkannter Schriftstel- ler“54 - so wird angedeutet, daß er lange Zeit umstritten, nicht anerkannt war - „ein unerhörter Autor“55.

Walter Hinck weist in seinem Artikel auf wesentliche Merkmale von Hilsenraths lite- rarischen Produktionen hin und beschreibt dessen Lebenslauf als „moderne Odyssee“56 und ihn als „Querkopf“, der zwischen den Stühlen sitzt.57 Hinck verläßt die Ebene der Beschreibung und interpretiert den Jubilar als einen Schriftsteller, bei dem die Wunden der „Erfahrungen von Vertreibung und Flucht“58 nicht heilen - „bei Hilsenrath [schwelt] die innere Zerrissenheit weiter, drängt nach außen, in die literarische Perspektive, in die Gegenstandswahl und den Stil“59.

Hilsenrath legt es darauf an, gegen den Strich der Zeitstimmung [Hervorhebung nicht im Ori- ginal] zu schreiben. Er ist ein Querkopf, aber ein Querkopf, der Schieflagen des Bewußt- seins begradigen möchte. Mit solcher Haltung setzt man sich zwischen alle Stühle.60

Diesen Aspekt nimmt Mathias Schnitzler seinerseits in dem Artikel Die Geschichten der Toten auf und hebt hervor, daß der Autor „gegen Anti- und Philosemiten polemisiert [und] mit grotesken Schockelementen die betroffen schweigenden Deutschen geär- gert“61 hat. Die Geschichten der Toten sind zugleich die Geschichten der Unterdrückten und das Erzählen dieser Geschichten ist eine Modifizierung der Geschichtsschreibung: „Vor allem aber erg ä nzt und korrigiert er die Geschichtsschreibung der Sieger und T ä ter [Hervor- hebung nicht im Original] ebenso wie die Berichte der Überlebenden durch die vielen Geschichten der Toten.“62

SCHAU HEIMWÄRTS, JOSSEL!

Der Roman Jossel Wassermanns Heimkehr wird innerhalb dieser Vielzahl von Zeitungsartikeln nicht oder nur marginal erwähnt.63 Lediglich Lothar Müller nimmt das „großartig[e] Bukowina-Epitaph“64 in seinem Text unter die Lupe. Er schildert Handlung und Struktur und tituliert Hilsenrath als „Anwalt der kleinen Quasselstimmen“ und „Geschichtsschreiber des zwanzigsten Jahrhunderts“65. Hilsenraths Position innerhalb der Nachkriegsliteratur verortet er in einer „Antipode des Schweigens“66.

Hilsenraths Umwege [...] hängen mit dem Erfolg einer Gedankenfigur der Nachkriegsepoche zusammen: dass von der Vernichtung der Juden in einer Sprache zu berichten sei, in die die Versehrung eingehen, die an der Grenze zum Schweigen angesiedelt sein müsse. In Paul Celan fand diese Gedankenfigur ihren Heiligen. In Edgar Hilsenrath, dem es die Sprache nicht verschlug, einen ihrer Antipoden.67

„Wenn einer Ohren hat, so höre er.“68 Diese weisende Mahnung aus der Apokalypse läuft ins Nichts, wenn Worte fehlen, um die verschlossenen Ohren (das Vergessen und das Verschweigen) zu öffnen. Wer sich der Sprachlosigkeit der Nachkriegsepoche ent- ziehen wollte, mußte eine andere, eine neue Sprache entwickeln. Hilsenrath hat seinen Bukowina-Roman aus einer beachtlichen historischen Distanz und unter dem Eindruck einer Kontextverschiebung geschrieben. „Weil die Zeitzeugen verschwinden, erhält die Literatur Gedächtnisfunktion“, schreibt Thomas Medicus, „bilden Fakten und Fiktionen keine Gegensätze mehr“69. Hilsenrath hat es nicht die Sprache verschlagen, er hat lediglich Zeit benötigt, um den erzähltechnischen Rahmen und ein wichtiges Stilelement für seinen Stoff zu finden - das Märchen als dialogisches Prinzip, die zeitebenen- und generationenübergreifende Kommunikation des traditionell und phantastisch gefärbten Erzählens. Verwirklicht hat er dies zunächst in seinem Roman Das M ä rchen vom letzten Gedanken. In ihrer Laudatio anläßlich der Verleihung des Alfred-Döblin-Preises an Edgar Hilsenrath hat Sibylle Cramer diesen Aspekt aufgegriffen:

Märchen sind Zeitspalter. Sie handeln von einem Diesseits und einem Jenseits, mischen das Wunderbare und das Natürliche, das Unbegreifliche und das Begreifliche. Das Mär- chen verbindet archaisches und rationales Denken. Darum ist es begabt, Unmenschlich- keit zu beschreiben, den Rückfall des Bewußtseins in die Barbarei. Es hält zusammen, was im Innersten auseinanderfallen will: das Primitive sinnloser Grausamkeit, die zwi- schen Motiv und Tat keinen Zusammenhang mehr erkennen läßt, und den Fortschritt der Methoden, die Planmäßigkeit, das Systematische der Greuel, ihre Rationalität.70

Nach eigener Aussage hat sich Hilsenrath zudem aus pragmatischen Gründen für das Märchen entschieden:

Ich wußte, man würde mich an Werfel71 messen. Schließlich hat es mich doch geritten. Ich erkannte, daß ich es nicht besser machen mußte, sondern eben ganz anders. Und das habe ich getan. Ich habe den Völkermord als Märchen erzählt. [...] Die Türken behaupten ja, diesen Völkermord hätte es nie gegeben. Ein Märchen.72

Obwohl Hilsenrath dem Ruhm und den Preisverleihungen skeptisch gegenübersteht,73 betrachtet er Das M ä rchen vom letzten Gedanken als seinen besten Roman, als „reine Poe- sie, das ganze Buch ist Poesie mit schwarzem Humor“74 und wagt sogar einen Vergleich zwischen dem Völkermord an den Armeniern und dem an den Juden - „[d]ie Armenier waren die Juden der Osmanen [...]“75. Er betont jedoch, daß der Genozid an den Arme- niern zwar ebenfalls ein Holocaust war, „aber eben nicht meiner“76. Der Schritt zum nachfolgenden Roman Jossel Wassermanns Heimkehr war damit vorgezeichnet und wurde durch die Erlebnisse während einer Reise in die Bukowina (und in die Vergangenheit) im Jahr 1989 forciert:

Meine stärkste Bindung besteht zu diesem kleinen jüdischen Städel in der Bukowina [...]. Siret77 ist meine Lieblingsstadt. Das läßt sich besser nicht erklären. Dort lebten Juden, Zigeuner, Ukrainer, Rumänen, Ungarn und Deutsche. Ein warmherziger Vielvölkerstaat, ein interessantes Ländchen. [...] Vor eineinhalb Jahren fuhr ich hin. Es ist völlig ausgelöscht. Nichts mehr zu sehen. Nur ein paar alte Häuser, aber die Leute sind nicht mehr da. Heute wird dort auch eine andere Sprache gesprochen.78

Die Rückkehr an den Ort seiner Kindheit, wo er seine schönste Zeit verlebte,79 zeigt die Zerstörungskraft der Geschichte, die Erinnerungsspuren auslöscht und einer topographischen Erinnerung die Grundlage entzieht - Erinnerungsräume sind durch Krieg, Vertreibung, Grenzverschiebungen und Herrschaftswechsel aufgelöst. Der Aporie des Gedenkens wird die Literarisierung als Prozeß des erinnernden Schreibens entgegengesetzt - die Versprachlichung und Verschriftlichung von Erinnerungen konstituiert einen spezifisch geistig-immateriellen Erinnerungsraum, in dem sich generationenübergreifend Geschichten tradieren und archivieren lassen. In Jossel Wassermanns Heimkehr findet dieses Erinnerungskonzept seine praktische Umsetzung.

Ich wollte immer über die Bukowina schreiben, habe mich aber nie getraut. Ich habe es immer aufgeschoben, es lag mir einfach gefühlsmäßig zu nahe. Es war auf jeden Fall die schönste Zeit meines Lebens. Das habe ich erst jetzt begriffen, es gibt keine andere Er- klärung.80

„Egal, was da auf uns losstürzt: die Histori- ker werden sich ins Fäustchen lachen, be- sonders die Zuständigen für zeitgenössische Geschichte, denn sie brauchen zur Unter- brechung ihrer Langeweile neuen Stoff, ei- nen Stoff, mit dem sich arbeiten läßt. In ihrer Phantasielosigkeit werden sie nach Zahlen suchen, um die Massen der Erschla- genen einzugrenzen [...], und sie werden nach Wörtern suchen, um das große Massa- ker81 zu bezeichnen und es pedantisch ein- zuordnen. Sie wissen nicht, daß jeder Mensch einmalig ist [...].“

Das M ä rchen vom letzten Gedanken, Meddah

GESCHICHTE UND LITERATUR

Bereits im 19. Jahrhundert hat sich Hegel über die spezifischen Merkmale der Deutschen und ihre Beziehung zur (eigenen) Geschichte und Geschichtsschreibung geäußert: „[...] bei uns klügelt sich jeder eine Eigentümlichkeit heraus, und statt Geschichte zu schreiben, bestreben wir uns immer zu suchen, wie Geschichte geschrieben werden müsse.“82 Und noch im 21. Jahrhundert ist man sich ebenso uneinig darüber, wie Geschichtsschreibung praktiziert und welche Kriterien sie zu erfüllen hat. Die Thesen Hegels haben im Laufe der Zeit Diskussionen und Modifikationen durchlaufen - doch erheben sie auch nicht den Anspruch auf allgemeine, epochenübergreifende Gültigkeit:

Was die Erfahrung aber und die Geschichte lehren, ist dieses, daß Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt [...] haben. Jede Zeit hat so eigentümliche Um- stände, ist so ein individueller Zustand, daß in ihm aus ihm selbst entschieden werden muß und allein entschieden werden kann. Im Gedränge der Weltbegebenheiten hilft nicht ein allgemeiner Grundsatz, nicht das Erinnern an ähnliche Verhältnisse, denn so etwas wie eine fahle Erinnerung hat keine Kraft gegen die Lebendigkeit und Freiheit der Gegenwart.83

Wenn jede Zeit eine eigene Geschichte hat, so hat auch jede Zeit eine eigene Ge- schichtsschreibung. Hegel schreibt dazu, daß jede Position, welche lange Perioden oder darüber hinaus die gesamte Weltgeschichte zu überblicken versuche, die „individuelle Darstellung des Wirklichen“84 aufgeben und sich mit Abstraktionen und Abkürzungen behelfen müsse. Im Zentrum einer transparenten Geschichtsschreibung sollte demnach Individualität und Wirklichkeitsdarstellung85 liegen - und das Bestreben nach Wahrheit.

Wahrscheinlich ist aufgrund dieser Zielsetzung das Schreiben von Geschichte so emi- nent komplex - denn die Frage lautet, welches Individuum über Begriffe von Wirklich- keit und Wahrscheinlichkeit entscheiden kann, die ebenso den Ansprüchen anderer Individuen Rechnung tragen. Geschichtsschreibung ist ein Definieren von Begriffen und ein Sondieren nach Fakten. Je weiter die Perspektive einer Geschichtsschreibung86 reicht, desto komplizierter werden diese Vorgänge. Zudem ist es evident, daß das Be- streben einer Geschichtsschreibung nach Individualität und Authentizität nicht automa- tisch von allen Beteiligten unterstützt wird. Der Prozeß der Geschichtsschreibung wird durch das Bestreben nach Aufklärung und Vergegenwärtigung von Erinnerungen moti- viert - dieser Prozeß wird jedoch, besonders in der deutschen und jüdischen Ge- schichtsschreibung der Shoah, durch (traumatisch bedingtes) Schweigen und Verdrängen blockiert, die dem Prozeß selbst inhärent sind.

Hilsenraths Bestreben war (und ist) es stets, gegen das Vergessen und Verschweigen zu schreiben. Hans Otto Horch macht in seinem aktuellen Artikel darauf aufmerksam, daß Hilsenrath aufgrund seiner emphatischen Bekundungen für die deutsche Sprache und Kultur bei gleichzeitiger „Differenz der Erinnerung als Opfer der Shoah“87 dafür präde- stiniert ist, Polaritäten zu forcieren.88 Horch geht eingehend auf diese Problematik ein:

Der Umgang großer deutscher Verlage wie Kindler und Piper mit dem Werk Hilsenraths deutet auf ein generelles Problem der Gesellschaft mit der nicht dem Mainstream christ- lich-jüdischer Verständigung im Zeichen eines illusionären und zugleich die deutsche Seite entlastenden ,Symbiose‘-Gedankens zugehörigen Shoah-Literatur: Offenbar ist es nur einer kleinen Minderheit möglich, ein deutsch-jüdisches ,Gespräch‘ im Zeichen völli- ger Offenheit in Gang zu bringen, das ,Versöhnung‘ nur bei unbedingter Anerkennung der ,Geschiedenheit‘ von Deutschen und Juden zu denken erlaubt. Es geht also um die ,andere Erinnerung‘ (Braese)89 an das Dritte Reich und die Shoah, die das Werk Hilsenraths mit seiner Anstößigkeit in besonderem Maß zu initiieren in der Lage ist.90

Abschließend hält Horch fest, daß Hilsenraths Bedeutung innerhalb der deutschsprachi- gen Shoah-Literatur primär darin besteht, mit den beiden frühen Romanen (Nacht und Der Nazi und der Fris ö r) seinen Beitrag zu einem Paradigmenwechsel geleistet zu haben, der mit dem „Wechsel vom kommunikativen zum kollektiven Gedächtnis der Shoah“91 zusammenhängt. Horch spricht in diesem Zusammenhang von „Irritationen der Erin- nerungssemantik“92, die politisch korrekte Erinnerungsdiskurse negieren und damit standardisierte Erinnerungsrituale provozieren93. Es gehe nicht länger um die irrever- sible „Position des ,Authentischen‘“94, sondern vielmehr um die „Konstitution von Sinnbildung“95. Damit spricht Horch der Literatur eine semantische Funktion zu, die als Träger von Kultur und Identität in der weiteren Zukunft dazu beitragen und darüber entscheiden kann, was „im kollektiven Gedächtnis als Shoah erinnert“96 wird.

Bereits 1992, also vor der Publikation von Jossel Wassermanns Heimkehr, haben Katha- rina Gerstenberger und Vera Pohland dargestellt, daß die „Texte Hilsenraths auf eine ins Medium der Literatur verlegte Suche nach einer Postitionsbestimmung der Holo- caust-Überlebenden“97 verweisen. Schönheit sei längst nicht mehr das Prinzip der Kunst - vielmehr sei Kunst auch Protest und Therapie.98

So könnten Hilsenraths Texte als eine unablässig aufbegehrende Abrechnung mit einem Kunstideal gelesen werden, dessen Anspruch auf humane Schönheit und Wahrheit mit der Vollstreckung des Holocaust für immer widerlegt worden ist. Nicht der schönen Kunstliteratur, sondern der von ästhetischen Konzepten unkontrollierten Erzählliteratur, die Anspruch auf Spontaneität und Wahrheit erhebt, wäre es demnach gegeben, eine Versöhnung zwischen dem Schrecken, der Wirklichkeit und dem Opfer zu leisten.99

Mit dieser Meinung schließen sich die beiden Autorinnen der These Horchs an und schreiben jener neuen Literatur die Möglichkeit einer Versöhnung zu - nicht Versöh- nung zwischen Opfern und Tätern, aber innerhalb der individuellen Erfahrungswelten. Literatur über die Shoah sollte nicht an einem theoretisch-abstrakten Kunstideal gemes- sen werden - sie muß sich den Kriterien spezifischer Einzelschicksale stellen und erhält dadurch ihren ästhetischen Wert als Medium der Reflexion und Diskussion.

GESCHICHTSLÜCKEN UND NARRATIVER DISKURS

Das armenische M ä rchen vom letzten Gedanken, das nur geographisch „aus der langen Rei- he epischer Arbeiten“100 Hilsenraths herausfällt, in dem es aber auch „um ein unter- drücktes, vertriebenes Volk“101 geht, erzählt dialogisch von individuellen Schicksalen, welche die Welt nicht bemerkt oder vergessen hat. Das „Künstlertum des Märchener- zählers“102, so Gerstenberger und Pohland, verschreibe sich dabei dem kollektiven Ge- dächtnis und der „Aufgabe, erzählerisch am Leben zu halten, was gewaltsam der Vernichtung“103 und dem Vergessen preisgegeben wurde. Hilsenrath stellt in seinem Roman durch das Erzählen die Verbindung eines Individuums zu einer Gemeinschaft her, die fast vollständig vernichtet worden ist - durch rettendes und bewahrendes Er- zählen, das simultan als Weitererzählen gegen das Vergessen funktioniert. Das „Ge- schichtenerzählen wird zum letzten Beweis der früheren Existenz eines ausgerotteten Volkes [...]“104. Diese Geschichten sind „Geschichten, die [...] widersprüchlich bleiben und die so hergestellte Geschichte eigenartig unfaßbar erscheinen lassen“105 - denn letztendlich bleibt Geschichte selbst unfaßbar.

- Es ist wirklich schon lange her, sagte ich. Im Jahre 1915. Während des Ersten Weltkrieges. Da wurde ein ganzes Volk ausgelöscht.
- Einfach ausgelöscht?
- Einfach ausgelöscht.
- Irgendwann hab ich mal was davon gehört, sagte der türkische Ministerpräsident, aber ich habe immer geglaubt, das wären nur die Lügenmärchen unserer Feinde.
- Es ist kein Märchen, sagte ich.
- Ein Völkermord?
- Jawohl.
- Der spontane Wutausbruch des türkischen Volkes?
- Nein.
- Dann kam es nicht von unten?
- Es kam von oben, sagte ich. [...] Alles war wohlorganisiert. Denn es handelte sich damals um den ersten organisierten und geplanten Völkermord des 20. Jahrhunderts.
- Ich dachte, den hätten die Deutschen erfunden.
- Sie haben ihn nicht erfunden. (MG 20)106

Khatisian weist in diesem Gespräch auf die Geschichtslücke der türkischen Geschichte hin, die kein Märchen, das Lüge ist, zu füllen vermag.107 Die Arbeit gegen das Vergessen und Verfälschen ist nicht nur schwierig, sondern auch (noch heute in der Türkei)108 ge- fährlich: „Das Vergessen soll man nicht entstauben [...]. Es ist zu gefährlich.“ (MG 23) Trotzdem fordert Hilsenrath Gedenken. Er läßt seinen Protagonisten eine Position formulieren, die auch als Forderung des Autors zum Umgang mit der Shoah gelesen werden kann:

,Ich erzählte dem Schweigen die Geschichte des Völkermords. Ich machte das Schweigen darauf aufmerksam, wie wichtig es sei, daß man offen darüber sprach. [...] Ich sprach lan- ge und ausführlich. Ich forderte nichts für mein Volk, und ich verlangte auch keine Bestrafung der Verfolger [Hervorhebung nicht im Original]. Ich sagte: Nur das Schweigen möchte ich brechen. [...] Ich sprach von meinem Vater und meiner Mutter, meinen Groß- und Ur- großeltern, meinen Tanten und Onkeln. Ich sprach ü ber alle, die ich nicht gekannt hatte [Her- vorhebung nicht im Original], solange, bis ich erschöpft innehielt, die Augen schloß und den Kopf in die Hände stützte.‘ (MG 24)

Auf die Frage, wer erzählen kann, wenn niemand überlebt hat, würde Hilsenrath wahrscheinlich antworten, daß derjenige es kann, der erzählen kann. Er verweist auf die ,Löcher‘ in der Geschichte und verlangt diese zu füllen - mit Wirklichkeit, die in erster Linie eine ästhetisch-literarische ist. Die Fiktion hat dabei kein uneingeschränk- tes Herrschaftsrecht - diese mögliche Wirklichkeit soll die ungeschriebene Vergan- genheit so darstellen, wie sie gewesen sein könnte.109 Das Erzählen ist somit nicht nur Tradierung bereits bestehender Geschichten, sondern zugleich Produktion und nimmt kulturgeschichtlich einen spezifischen Stellenwert ein, wenn das kollektive Gedächtnis durch Zäsuren deformiert ist.

,Ich habe mir 60 Jahre lang von Überlebenden des Massakers Geschichten erzählen las- sen [...], und aus den vielen Geschichten habe ich mir dann meine eigene zurecht- gebastelt. Und so hatte ich dann eines Tages eine echte Familiengeschichte. Ich kannte meine Wurzeln. Ich hatte wieder einen Vater und eine Mutter, und ich hatte Verwandte. Ich hatte auch einen Namen mit Tradition, einen, den ich fortpflanzen konnte an meine Kinder und Enkel. [...] diese Geschichte ist noch etwas wirr in meinem Kopf. Aber bald wird sie Gestalt annehmen, und sie wird so wirklich sein wie alle wirklichen Geschichten. [...] Ein Baum kann seine Blätter verlieren, aber nie seine Wurzeln. Und warum sollte es bei den Menschen anders sein?‘ (MG 27)

Geschichten, Tradition, Namen, Wurzeln - diese Begriffe weisen auf die elementare Bedeutung der Fähigkeit des Sich-Erinnerns für das Bewußtsein eines Individuums hin. „Erinnerung stiftet Identität - kollektive und individuelle.“110 Daraus schließt Erhard Stölting, daß „der Verlust der Erinnerung als Verschwinden von Identität gedacht wer- den“111 muß: „Ohne die Erinnerung an eine gemeinsame Kontinuität löst sich der Zu- sammenhang auf.“112

[...]


1 Vgl. JW, S. 8: „Es begann wieder zu schneien, und der Neuschnee verwischte die Fußspuren der Juden auf der schmalen Gasse, die zum Bahnhof führte.“

2 Vgl. JW, S. 270: „,Wir Juden hoffen immer‘, sagte die Stimme. ,Wäre es anders, dann wären wir keine Juden.‘“

3 Vgl. JW, S. 258: „,Für einen Juden gibt es immer zwei Möglichkeiten‘, sagte der Alte. ,Entweder ja oder nein. Aber auch das Ja und das Nein bieten verschiedene Auslegungen und wiederum mehrere Möglichkeiten.‘“

4 Für den weiteren Verlauf der Untersuchung wird dieser Begriff gewählt, da er im Gegensatz zu dem (im angelsächsischen Bereich verwendeten) Begriff Holocaust (griechisch: „Ganzopfer“, „Brand opfer“) hebräisch ist („Vernichtung“, „Katastrophe“) und die Opferrolle der Ermordeten ausklam-mert. Dan Diner, Sem Dresden und Imre Kertész bspw. benutzen hingegen in ihren Texten den Terminus Holocaust - bei der Paraphrasierung und Darstellung dieser Texte wird diese Entscheidung berücksichtigt.

5 Vgl. JW, S. 289.

6 Vgl. Mt 6,28-29: „Lernt von den Lilien, die auf dem Felde wachsen: Sie arbeiten nicht und spinnen nicht. Doch ich sage euch: Selbst Salomo war in all seiner Pracht nicht gekleidet wie eine von ihnen.“ (Bergpredigt)

7 Vgl. JW, S. 290.

8 Zu diesen Arbeiten zählen: Bauer, Karin: Erz ä hlen im Augenblick h ö chster Gefahr: Zu Benjamins Begriff der Geschichte in Edgar Hilsenraths „ Jossel Wassermanns Heimkehr “. In: German Quarterly, 71. Jahrgang, 1998, Heft 4. S. 343-351. Fuchs, Anne: Edgar Hilsenrath ‘ s Poetics of Insignificance and the Tradition of Humour in German-Jewish Ghetto Writing. In: Ghetto Writing. Traditional and Eastern Jewry in German-Jewish Lite- rature from Heine to Hilsenrath. Hrsg. von Anne Fuchs und Florian Krobb. Columbia 1999. S. 180- 194. Preece, Julian: The German Imagination and The Decline of the East: Three Recent German Novels (Edgar Hilsenrath, „ Jossel Wassermanns Heimkehr “ ; Hans-Ulrich Treichel, „ Der Verlorene “ ; G ü nter Grass, „ Im Krebs- gang “ ). In: Neighbours and Strangers. Literary and Cultural Relations in Germany, Austria and Central Europe since 1989. Hrsg. von Ian Foster und Juliet Wigmore. Salford 2004. S. 27-41. Rosenthal, Bian- ca: Autobiography and the Fiction of the I: Edgar Hilsenrath. In: The Fiction of the I. Contemporary Austrian Writers and Autobiography. Hrsg. von Nicholas J. Meyerhofer. Riverside 1999. S. 101-115.

9 Die verschiedenen Rezensionen zu Jossel Wassermanns Heimkehr werden im Kapitel JOSSEL II - REZEPTION dargestellt.

10 Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Erstes und zweites Buch. Hrsg. von Adolf Frisé. Hamburg,

16. Auflage 2002. S. 17.

11 Ebd.

12 Ebd.

13 Musil, S. 16.

14 Musil, S. 17.

15 Schmitt, Eric-Emmanuel: Enigma. Variations Enigmatiques. Lengwil 1997. S. 18.

16 Der Begriff „Erinnerungskulturen“ geht auf den Sonderforschungsbereich 434 der Justus-Liebig- Universität Gießen zurück. Er verweist auf die „Pluralität von Vergangenheitsbezügen“ und kultureller Erinnerung sowie auf die „Vielfalt und historisch-kulturelle Variabilität von Erinnerungspraktiken“. Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Ged ä chtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart - Weimar 2005. S. 34-37.

17 Vgl. BG, S. 696. Texte Walter Benjamins werden bei der Interpretation des Romans eine wesentliche Funktion haben. Es soll nicht gezeigt werden, daß Hilsenrath Theorien Benjamins übernommen und angewendet hat. Jedoch ist nicht zu verhehlen, daß die Gedanken Walter Benjamins eine auffäl- lige Bereicherung für das Verständnis des Romans darstellen und zudem eine solide theoretische Grundlage für eine wissenschaftliche Bearbeitung bilden.

18 BG, S. 697. In seinen Notizen und Vorarbeiten schreibt Benjamin sogar, daß im Not- oder Zweifels- fall die „Feuerzange“ zulässig sei. Vgl. A-BG, S. 1241.

19 BG, S. 697.

20 BG, S. 694.

21 Urban-Fahr, Susanne: Der Grenzg ä nger. Edgar Hilsenrath wurde siebzig Jahre alt. In: Tribüne. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums, 35. Jahrgang, 1996, Heft 138. S. 92-93. Hier: S. 92.

22 Ebd.

23 Urban-Fahr, S. 93.

24 Ebd.

25 Ebd.

26 Gib acht, Genosse Mandelbaum / Moskauer Orgasmus, 1992 (Erstauflage: Verlag Langen Müller, 1979); Bronskys Gest ä ndnis, 1990 (Erstauflage: Verlag Langen Müller, 1980); Zibulsky oder Antenne im Bauch (Erstauflage: Claassen Verlag, 1983); Das M ä rchen vom letzten Gedanken, 1989; Jossel Wassermanns Heimkehr, 1993; Die Abenteuer des Ruben Jablonski, 1997 (Angaben aus: Verliebt in die deutsche Sprache. Die Odyssee des Edgar Hilsenrath. Hrsg. von Helmut Braun im Auftrag der Akademie der Künste. Ber- lin 2005. S. 209).

27 Dieses Buch begleitet die Ausstellung „Verliebt in die deutsche Sprache - Die Odyssee des Edgar Hilsenrath“ des Archivs der Akademie der Künste, Berlin und enthält Aufsätze zu Hilsenraths Werk, Fotos, Originaldokumente, eine Biographie und unveröffentlichte Manuskripte und Typoskripte.

28 Braun, Helmut: Vorwort. In: ders: Verliebt in die deutsche Sprache. Die Odyssee des Edgar Hilsen- rath. Hrsg. im Auftrag der Akademie der Künste. Berlin 2005. S. 9.

29 Ebd.

30 Braun, Helmut: Erinnerung. In: Edgar Hilsenrath. Das Unerzählbare erzählen. Hrsg. von Thomas Kraft. München 1996. S. 43-50. Hier: S. 45.

31 Martin, Marko: Denn es wiederholt sich. Portr ä t eines Solit ä rs: Edgar Hilsenrath k ä mpft gegen das Vergessen und erh ä lt den Lion-Feuchtwanger-Preis. In: Die Welt, 20.11.2004.

32 Ebd.

33 Ebd.

34 Ebd.

35 Evers, Marco: „ Schuldig, weil ich ü berlebte. “ Gespr ä ch mit dem j ü dischen Schriftsteller Edgar Hilsenrath. In: Der Spiegel, 2005, Heft 15.

36 Ebd. („Es gibt in Deutschland so eine Art Wiedergutmachung an den Juden, indem man versucht, sie als Edelmenschen darzustellen. Das waren die Juden im Ghetto aber genauso wenig wie die Menschen sonst irgendwo auf der Welt.“)

37 Feibel, Thomas: „ Ich habe die Philosemiten erschreckt, ich bin Au ß enseiter. “ Aus einem Gespr ä ch mit dem Schriftsteller Edgar Hilsenrath. In: Frankfurter Rundschau, 15.09.1990.

38 Ebd.

39 Vgl. ebd.: „Ich habe die Philosemiten erschreckt, ich bin Außenseiter, sowohl bei den Deutschen als auch bei den Juden. So kann ich mir erlauben, meine Späßchen zu machen. Ich bin Außenseiter und gefalle mir in dieser Rolle. Das bin ich eben.“

40 Einzelg ä nger, S. 52.

41 Einzelg ä nger, S. 50.

42 Ebd.

43 Einzelg ä nger, S. 52.

44 Einzelg ä nger, S. 53.

45 Einzelg ä nger, S. 51.

46 Einzelg ä nger, S. 52.

47 Martin, Denn es wiederholt sich.

48 Hildebrandt, Dieter: Am Morgen nach der Nacht. Er ist einer der gro ß en Ü berlebenden - und ein Chronist des Schreckens: Edgar Hilsenrath zum 80. In: Die Zeit, Nr. 14, 30.03.2006.

49 Schnitzler, Mathias: Die Geschichten der Toten. Zum 80. Geburtstag des gro ß en deutsch-j ü dischen Autors Edgar Hilsenrath. In: Berliner Zeitung, 01.04.2006.

50 Vgl. Literaturverzeichnis.

51 Susann Möller befaßt sich ausführlich mit diesem Thema in ihrem Aufsatz Zur Rezeption: Philosemiten und andere - die Verlagsstationen Edgar Hilsenraths. In: Edgar Hilsenrath. Das Unerzählbare erzählen. Hrsg. von Thomas Kraft. München 1996. S. 103-116.

52 Bsp: Imre Kertész.

53 1989: Alfred-Döblin-Preis; 1992: Heinz-Galinski-Preis; 1994: Hans-Erich-Nossack-Preis; 1996:Jakob-Wassermann-Preis; 1999: Hans-Sahl-Preis.

54 Edgar Hilsenrath wird 80 Jahre alt. Gl ü ckwunsch. In: Berliner Morgenpost, 02.04.2006.

55 Steiner, Bettina: Jubil ä um: Lachen ü ber den Holocaust. Edgar Hilsenrath, ein unerh ö rter Schriftsteller, wird 80 Jahre alt. In: Die Presse, 01.04.2006.

56 Hinck, Walter: Der Querkopf. Zwischen allen St ü hlen: Dem Schriftsteller Edgar Hilsenrath zum Achtzigsten. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.04.2006.

57 Vgl. ebd.

58 Ebd.

59 Ebd.

60 Ebd.

61 Schnitzler, Die Geschichten der Toten.

62 Ebd.

63 Vgl. Schnitzler, Die Geschichten der Toten: „[...] den osteuropäischen Juden und dem jüdischen Schtetl setzte er in ,Jossel Wassermanns Heimkehr‘ (1993) ein fabelhaftes Denkmal.“ Vgl. Hinck, Der Quer- kopf: „[...] ist Hilsenrath dann doch noch vom Hauch gefilterter Erinnerung getroffen worden, in den autobiographisch durchwärmten Romanen ,Jossel Wassermanns Heimkehr‘ (1993) [...].“

64 Müller, Lothar: Lose Zungen, trostlose Welt. Dem es die Sprache nicht verschlug: Zum achtzigsten Geburtstag des deutschen Erz ä hlers Edgar Hilsenrath. In: Süddeutsche Zeitung, 01.04.2006.

65 Ebd.

66 Ebd.

67 Ebd.

68 Offb. 13,9.

69 Medicus, Thomas : Der Mann mit der Baskenm ü tze. Die Akademie der K ü nste in Berlin mit einer Ausstellung ü ber den Schriftsteller Edgar Hilsenrath. In: Frankfurter Rundschau, 08.12.2005.

70 Cramer, Sibylle: Laudatio anl äß lich der Verleihung des Alfred-D ö blin-Preises 1989. In: Edgar Hilsenrath. Das Unerzählbare erzählen. Hrsg. von Thomas Kraft. München 1996. S. 227-230. Hier: S. 229.

71 Franz Werfels Buch Die vierzig Tage des Musa Dagh erschien 1933.

72 Feibel, Aus einem Gespr ä ch mit dem Schriftsteller Edgar Hilsenrath. Vgl. Hilsenrath, Edgar: „ Ich habe ü ber den j ü dischen Holocaust geschrieben, weil ich dabei war. “ Gespr ä ch mit Thomas Kraft und Peter Stenberg. In: Ed- gar Hilsenrath. Das Unerzählbare erzählen. Hrsg. von Thomas Kraft. München 1996. S. 218-224. Hier: S. 223: „Ich wußte genau, wie schwer das wird, deswegen habe ich den Märchenstil gewählt. [...] Ich habe etwas völlig Neues gemacht.“

73 Vgl. Evers, Gespr ä ch mit dem j ü dischen Schriftsteller Edgar Hilsenrath: „Nein, ich habe nun mal kein günstiges Verhältnis zum Ruhm.“

74 Ebd.

75 Ebd.

76 Ebd.

77 Siret gehörte seit dem Ende des Ersten Weltkrieges zu Rumänien und vorher unter dem Namen Sereth zu Österreich-Ungarn.

78 Feibel, Aus einem Gespr ä ch mit dem Schriftsteller Edgar Hilsenrath.

79 Vgl. Evers, Gespr ä ch mit dem j ü dischen Schriftsteller Edgar Hilsenrath: „Ja, da [in Siret] war ich glücklich, es war ein Wunder. In der Bukowina wurde Deutsch gesprochen, ich habe mich da sehr wohl gefühlt [...].“

80 Hilsenrath, Gespr ä ch mit Thomas Kraft und Peter Stenberg, S. 224.

81 Genozid an den Armeniern 1915/1916.

82 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Die Behandlungsarten der Geschichte. In: Vorlesungen über die Philo- sophie der Geschichte, Werke Band 12. Frankfurt am Main 1986. S. 11-29. Hier: S. 15.

83 Hegel, S. 17.

84 Hegel, S. 16.

85 Vgl. Hegel, S. 20: „Da die Geschichte nun aber bloß aufzufassen hat, was ist und gewesen ist, die Begebenheiten und Taten, und um so wahrer bleibt, je mehr sie sich an das Gegebene hält [...].“

86 Folgt der Idee, daß es nicht nur eine Geschichte, sondern mehrere Geschichten gibt und demnach mehrere Geschichtsschreibungen.

87 Horch, Hans Otto: Edgar Hilsenrath. Provokation der Erinnerungsrituale. In: Shoah in der deutschspra- chigen Literatur. Hrsg. von Norbert Otto Eke und Hartmut Steinecke. Berlin 2006. S. 267-273. Hier: S. 267.

88 Vgl. ebd.: „Hilsenrath war und ist anstößig in einem produktiven Sinn: an seinem Werk schieden und scheiden sich die Geister [...].“

89 Vgl. Braese, Stephan: Die andere Erinnerung. J ü dische Autoren in der westdeutschen Nachkriegsliteratur. Berlin - Wien, 2. Auflage 2002. S. 29: „Sie [die Studie] begreift die Produktion und das öffentliche Wirken jüdischer Autoren deutscher Sprache in der westdeutschen Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur als historische Konkretionen einer [...] gemeinsamen Positur: Im Gegen ü ber zum Gros der deutschsprachi- gen Autoren und ihrer Arbeit [...].“ S. 30: „Es ist diese Signatur [nationalsozialistische Vernichtungspolitik], die die Erinnerung jüdischer Autoren [...] notwendig zur ,anderen‘ machen mußte.“

90 Horch, S. 269.

91 Horch, S. 271.

92 Ebd.

93 Vgl. Titel: Provokation der Erinnerungsrituale.

94 Horch, S. 271.

95 Ebd.

96 Ebd.

97 Gerstenberger, Katharina / Pohland, Vera: Der Wichser. Edgar Hilsenrath - Schreiben ü ber den Holocaust, Identit ä t und Sexualit ä t. In: Der Deutschunterricht, 44. Jahrgang, 1992, Heft 3. S. 74-91. Hier: S. 90.

98 Vgl. Gerstenberger / Pohland, S. 79.

99 Gerstenberger / Pohland, S. 91.

100 Christ, Richard: Schtetl-Geschichten. Edgar Hilsenrath: „ Jossel Wassermanns Heimkehr “ . In: neue deut- sche literatur. Monatszeitschrift für deutschsprachige Literatur und Kritik, 41. Jahrgang, 1993, Heft 5. S. 145-147. Hier: S. 147.

101 Ebd.

102 Gerstenberger / Pohland, S. 91. 103 Ebd.

104 Horch, S. 270.

105 Ebd.

106 Im Prolog lauscht der sterbende Thovma Khatisian dem Märchenerzähler (Meddah), der in seinem Kopf sitzt und ihm das Märchen vom letzten Gedanken und darüber die Geschichte seiner Familie und der Vernichtung des armenischen Volks erzählt (auch hier eine erzähltechnische Parallele zu Jossel Wassermanns Heimkehr - ein Sterbender reflektiert über die Zeit vor der Vernichtung).

107 Vgl. MG, S. 21: Kurze Zeit später fällt der türkische Ministerpräsident schreiend in dieses Loch.

108 Vgl. Martin, Marko: Morden und verschweigen und sich erinnern: Zum neunzigsten Jahrestag des t ü rkischen V ö lkermordes an den Armeniern sind mehrere wichtige B ü cher erschienen. In: Die Welt, 23.04.2005. Vgl. Schlötzer, Christiane: Friedliche Debatte trotz Drohbrief. T ü rkische und armenische Intellektuelle diskutierten in Basel ü ber den Mord an den Armeniern 1915/1916. In: Tages-Anzeiger, 15.11.2005.

109 Es gibt verschiedene Versionen der Vergangenheit, weil es auch verschiedene Wirklichkeiten gibt. Vgl. diese Untersuchung, S. 3 und MG, S. 623 (Epilog, Märchenerzähler zu Khatisian): „,Ich habe dir nur erzählt, wie es sein könnte und möglicherweise sein wird [...].‘“ Vgl. Hey‘l, Bettina: Edgar Hil- senraths „ Das M ä rchen vom letzten Gedanken “ . Vom Ü berleben der Geschichte in dreierlei Gestalt. In: Verliebt in die deutsche Sprache. Die Odyssee des Edgar Hilsenrath. Hrsg. von Helmut Braun im Auftrag der Akademie der Künste. Berlin 2005. S. 77-85. Hier: S. 85: „Das M ä rchen vom letzten Gedanken be- hauptet nicht, daß es eine Geschichte der einen Menschheit gibt. Es behauptet, daß man sie frei er- finden muß, solange es sie nicht gibt.“

110 Stölting, Erhard: „ Was nicht erz ä hlt wird, entschwindet “ . Mechanismen des Erinnerns und der sozialen Selbst- identifikation. In: Das jüdische Erbe Europas. Krise der Kultur im Spannungsfeld von Tradition, Ge- schichte und Identität. Hrsg. von Eveline Goodman-Thau und Fania Oz-Salzberger. Berlin - Wien 2005. S. 333-349. Hier: S. 334. Über das Erzählen schreibt Stölting, S. 343: „[...] kann sogar als indi- viduelles Erlebnis oder individuelle Tat erzählt werden, was der Erzähler in Wirklichkeit nicht erlebt oder was er nur von anderen gehört hat. Gemeinsame Erinnerung erscheint dann als Gewebe von Erzählungen, in denen eigene und fremde Erfahrungen und Geschichten ausgetauscht werden.“

111 Stölting, S. 334.

112 Ebd.

Ende der Leseprobe aus 88 Seiten

Details

Titel
Die andere Wirklichkeit - Erzählen als Erinnerungskultur in Edgar Hilsenraths "Jossel Wassermanns Heimkehr"
Hochschule
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
88
Katalognummer
V62953
ISBN (eBook)
9783638560955
Dateigröße
800 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Wirklichkeit, Erzählen, Erinnerungskultur, Edgar, Hilsenraths, Jossel, Wassermanns, Heimkehr
Arbeit zitieren
Marcel Heuwinkel (Autor:in), 2006, Die andere Wirklichkeit - Erzählen als Erinnerungskultur in Edgar Hilsenraths "Jossel Wassermanns Heimkehr", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/62953

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Die andere Wirklichkeit - Erzählen als Erinnerungskultur in Edgar Hilsenraths "Jossel Wassermanns Heimkehr"



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden