Die General Strain Theory von Robert Agnew - Eine Fortschreibung anomietheoretischer Ansätze


Seminararbeit, 2006

21 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung

2 Die Entstehung der Anomietheorie
2.1 Durkheim – Anomie als Krise
2.2 Merton – Anomie als soziales Problem
2.3 Unterschiede des ‚Anomie’ Begriffs bei Durkheim und Merton
2.4 Entwicklung der Anomietheorie im Anschluss an Merton

3 Die ‚General Strain Theory’ von Agnew
3.1 Die ‚General Strain Theory’ als mikro-fundierte Anomietheorie
3.2 Wie misst man ‚Strain’?
3.3 Intervenierende Variablen

4 Anwendungsbeispiel: Kriminalität und Geschlecht

5 Fazit

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Einerseits gehört die ‚General Strain Theory’ von Robert Agnew, die in dieser Seminararbeit vorgestellt werden soll, zu den jüngeren Ansätze auf dem Gebiet der Kriminalsoziologie. Andererseits stammt sie aus einer Theorie-Familie mit langer Tradition und die Vorläufer der modernen ‚Strain Theory’ gehören zu den ersten soziologischen Theorien überhaupt, die sich mit abweichendem Verhalten befasst haben.

Die Frage „Was ist die Strain Theory?“ soll daher auch im Rückgriff auf die Entstehungsgeschichte der Theorie geklärt werden. Um die ‚General Strain Theory’ im Bereich der Anomietheorien verortet zu können, soll zu erst in die klassischen Anomietheorien von Durkheim und Merton eingeführt werden. Dabei soll herausgestellt werden, worin die Bedeutung der Anomietheorie für die Devianzforschung besteht, nämlich in dem genuin soziologischer Blickwinkel, den sie beisteuert. In Abgrenzung zu biologistischen Ansätzen (Triebtheorien), psychologischen Ansätzen (Lerntheorie), ökonomischen Ansätzen (Rational Choice) etc. wird – vor allem bei den klassischen Anomietheorien – ein sozialer Tatbestand, die Kriminalitätsrate, durch einen anderen erklärt – durch den gesellschaftlichen Zustand der Anomie. Der Duden beschreibt ‚Anomie’ als „Zustand mangelnder sozialer Ordnung; (…) Zustand mangelhafter gesellschaftlicher Integration innerhalb eines sozialen Gebildes, verbunden mit Einsamkeit, Hilflosigkeit u.Ä.“ (Duden Fremdwörterbuch 2001, 7.Auflage, S.69)

Die ‚General Strain Theory’ von Agnew kann in diesem Kontext als eine Art mikro-analytische Operationalisierung des Anomiekonzepts begriffen werden. Das englische Wort strain bedeutet in etwa soviel wie: Zwang, Druck, Belastung oder Stress und kann als die Folgen der Anomie für den Einzelnen verstanden werden. Agnew selbst definiert strain wie folgt: „Strain refers to relationships in which others are not treating the individual in the way he or she would like to be treated” (Agnew, 2001, S. 320). Im zweiten Teil der Hausarbeit wird genauer in diese Theorie ‚individueller Belastungen’ eingeführt und es werden eine Reihe von Randbedingungen für das Zustandekommen von Kriminalität aufgrund dieser ‚Belastungen’ beschrieben. Anhand eines konkreten Anwendungsbeispiels, nämlich der Erklärung unterschiedlicher Kriminalitätsraten von Männern und Frauen, soll abschließend das Erklärpotential der ‚General Strain Theory’ untersucht werden.

2 Die Entstehung der Anomietheorie

2.1 Durkheim – Anomie als Krise

Emile Durkheim, der von 1858 bis 1917 in Frankreich lebte und lehrte, gilt als der Begründer der modernen Soziologie. Sein Konzept anomischer, krisenhafter Gesellschaftszustände und die daraus folgende Zunahme abweichenden Verhaltens entwickelte er wesentlich in dem 1893 erschienenen Werk „Über soziale Arbeitsteilung“ und wandte das Konzept vier Jahre später in der Studie über den Selbstmord empirisch an. Von anderen Denkern vor ihm unterscheidet sich Durkheim durch die Betonung von Institutionen als tradierten, sozialen Tatbeständen, die dem Menschen erst anerzogen und notfalls aufgezwungen werden müssen. „Das ‚Soziale’ ist also mehr als die Summe individueller Handlungen; Gesellschaft ist mehr als ein Aggregat von Individuen wie in der individualistischen Denktradition von Thomas Hobbes bis Herbert Spencer“ (Müller 2002, S.154). Ein besonderes Anliegen war es Durkheim den Übergang von der traditionellen Gesellschaft zur modernen zu erklären: So konstatiert er einen Wandel von der alten ‚mechanischen Solidariät’ zur modernen ‚organischen Solidarität’, die von Arbeitsteilung und Interdependenz gekennzeichnet ist. „Moderne Gesellschaften hingegen bestehen aus großen, funktional differenzierten Lebensbereichen, in denen Arbeitsteilung ein Netz von Interdependenzen schafft“ (Müller 2002, S.158).

Ein positiver Aspekt der Arbeitsteilung ist nach Durkheim die Ausweitung sozialer Kontakte, gleichzeitig bringt der Übergang zur arbeitsteiligen Gesellschaft aber auch Nachteile mit sich: Vor allem wenn sich der Wandel zu schnell vollzieht, sind die Mitglieder einer Gesellschaft damit überfordert. Die Folge sind eine Schwächung des Kollektivbewusstseins und damit einhergehend eine Überbetonung des Individuums und eine Problematisierung sozialer Beziehungen – ein Zustand, den Durkheim als ‚Anomie’ bezeichnet. Anomie entsteht bei Durkheim aufgrund einer Krise oder zu raschem Wandel gesellschaftlicher Verhältnisse – unter solchen Bedingungen ist eine Gesellschaft nicht mehr in der Lage Verhalten regulierende Normen zu produzieren und das Verhalten der Mitglieder der Gesellschaft zu steuern. Durkheims Theorie ist sichtlich geprägt von der Zeit der Industrialisierung, in der er lebte, und dem damit verbundenen Gefühl des Wandels und der Auflösung der bestehenden sozialen Ordnung – den traditionellen gemeinsamen Verbindlichkeiten. „Der Zustand der Anomie, der gleichzusetzen ist mit der Tatsache, dass es keine gemeinsamen Verbindlichkeiten, Erwartungen und Regeln mehr gibt, die die Interaktionen der Gesellschaftsmitglieder leiten und steuern, (…) dient Durkheim (…) dazu, die sozial-pathologischen Auswirkungen der im Frühindustrialismus sich schnell entwickelnden menschlichen und sozialen Arbeitsteilung zu erklären“ (Lamnek 1999, S.110). Durkheim bezeichnet mit Anomie einen Mangel an sozialer Ordnung in modernen Gesellschaften; anomisch ist für ihn ein Zustand, wenn bestimmte soziale Phänomene wie Kriminalität ein Ausmaß erreicht haben, dass als pathologisch zu charakterisieren ist. „Anomie muss nach Durkheim zu einer Hobbesschen Situation führen, einem Krieg aller gegen alle und somit zu einem Zusammenbruch von Gesellschaft und menschlicher Eintracht“ (Coser 2003, S.162).

Die mit Anomie verbundene Abnahme sozialer Kontrolle verstärkt den ‚anomischen Druck’ auf den Einzelnen. Dieser Druck (im Englischen: ‚strain’) hat zwei Ursachen: gesellschaftliche Erwartungen (‚structural strain’) und persönliche Bedürfnisse (‚individual strain’). Dieser doppelte Druck verbunden mit einem Mangel an Orientierung aufgrund des Fehlens verbindlicher Werte, wie es für anomische Zustände charakteristisch ist, ist der Grund, warum Menschen sich abweichend verhalten, zum Beispiel Selbstmord begehen. Anhand der Zunahme der Selbstmordraten in modernen Gesellschaften versucht Durkheim seine Theorie zu belegen. Gleichzeitig variieren auch andere Formen abweichenden Verhaltens, beispielsweise Scheidungen oder kriminelles Verhalten, abhängig von den sich ändernden Gesellschaftszuständen. Durkheims Argument lautet also, dass Kriminalität soziale Ursachen hat und weiter diese Ursache in den Auflösungserscheinungen der Gesellschaft zu suchen sind.

2.2 Merton – Anomie als soziales Problem

Robert K. Merton, der 1910 als Sohn jüdischer Einwanderer in den USA geboren wurde und 2003 verstarb, ist wohl einer der bedeutendsten Soziologen der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Vertreter des Struktur-Funktionalismus lehrte die meiste Zeit seines akademischen Lebens an der Columbia University New York. 1938 veröffentlichte Merton erstmalig seine Theorie zur Erklärung kriminellen Verhaltens, die in vielerlei Hinsicht von Durkheim beeinflusst wurde: Neben dem Begriff der Anomie übernahm Merton von ihm auch den Gedanken (individuell) abweichendes Verhalten auf gesellschaftliche Ursachen zurückzuführen. Der Kern von Mertons Anomietheorie dreht sich um die Frage, „wie bestimmte soziale Strukturen ausgesprochenen Druck auf bestimmte Personen in der Gesellschaft ausüben, sich eher nicht-konform als konform zu verhalten. Falls wir soziale Gruppen lokalisieren können, die einem solchen Druck in besonderem Maße ausgesetzt sind, wäre zu erwarten, dass wir in diesen Gruppen auch ziemlich hohe Devianzraten finden“ (Merton 1995, S.127).

Als solch strukturelle Ursachen nicht-konformen Verhaltens sieht Merton vor allem zweierlei an: „Das erste sind die kulturell definierten Ziele, Zwecke und Interessen, die allen Mitgliedern der Gesellschaft, oder solchen in bestimmten Positionen, als legitim vor Augen stehen. (…) Ein zweites Element der kulturellen Struktur definiert, reguliert und kontrolliert die zulässigen Formen des Strebens nach diesen Zielen“ (Merton 1995, S.28). Nach Merton entsteht ein anomischer Druck auf den Einzelnen, wenn gesellschaftliche Erwartungen und die Möglichkeiten diese auf legitimem Wege zu erreichen auseinander fallen, also eine Differenz zwischen kulturellen Zielen und institutionell bereitgestellten Mitteln besteht. Je größer diese Kluft ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Individuum die kulturell richtig geheißenen Ziele auf illegalem Wege verfolgt. Diese Divergenz zwischen kultureller und sozialer Struktur – zwischen Erwartungen und Möglichkeiten – bezeichnet Merton als Anomie.

Merton postuliert uniforme soziale Ziele für eine Gesellschaft: So sind ihm zufolge Geld und Wohlstand in der amerikanischen Gesellschaft des 20. Jahrhundert Klassen übergreifend die wichtigsten kulturellen Ziele. Aufbauend auf die Handlungstheorie von Parson sieht Merton eine dreifache Verhaltensdetermination: Durch das personale, das soziale und das kulturelle System. Durch Sozialisation werden Werte verinnerlicht und Normen in das Persönlichkeitssystem als Rollendefinition integriert. So werden kulturelle Strukturen bereits im familiären Umfeld internalisiert, später werden gesellschaftliche Werte in der Schule vermittelt und schließlich wird der Prozess der Sozialisation und Enkulturation auch im erwachsenen Alter auf dem Arbeitsplatz fortgesetzt. Hinzu kommt die massenmediale Vermittlung herrschender Werte – wie die des ökonomischen Erfolgs durch Darstellung erfolgreicher Prototypen. (vgl. Merton 1995, S.132)

Wie oben dargestellt definiert Merton in Abgrenzung zu Durkheim den Begriff Anomie neu: Aus der Kluft zwischen Erwartungen und zur Verfügung stehenden Mitteln entsteht nach Merton ein ‚anomischen Druck’ – ‚strain’ – auf benachteiligte Gruppen sämtliche Mittel (einschließlich illegaler) zu nutzen, um gesellschaftliche Ziele wie Einkommen und Erfolg zu erreichen. Die Erklärung für die hohe Kriminalitätsrate in unteren sozialen Schichten liefern also nicht etwa unterschiedliche Ziele sondern die unterschiedlich schichtspezifische Ausstattung mit Mitteln diese Ziele zu erreichen: Da den unteren Klassen weniger legale Mittel zur Erlangung von Wohlstand zur Verfügung stehen, wird häufiger versucht dieses Ziel auf illegalem Wege zu erreichen. Kriminelles Verhalten ist jedoch nur eine Möglichkeit dem gesellschaftlichen Konformitätsdruck zu entsprechen, nach Merton gibt es fünf grundlegende Anpassungsstrategien: Konformismus, Innovation, Ritualismus, Rückzug und Rebellion.

Konformismus bedeutet die völlige Anpassung hinsichtlich gesellschaftlich akzeptierter Ziele und Mittel, ein solches konformes Verhalten führt nicht zu Kriminalität. Ritualismus meint ein Festhalten an den Mitteln und Formen gesellschaftlicher Zielverfolgung ohne diesen Zielen einen eigentlichen Wert beizumessen, diese Strategie ist zwar in gewisser Weise abweichendes Verhalten jedoch kein strafrechtlich relevantes. Ritualismus ist nach Merton der Anpassungsmodus der unteren Mittelschicht ohne große Aufstiegschancen. Innovation stellt im Gegensatz dazu eine Überbetonung des Ziels bei Ablehnung der sozial akzeptierten Mittel dar. Dies ist der Typ Anpassungsstrategie, der am häufigsten zu delinquentem Verhalten führt. Merton sieht in ‚innovativem Verhalten’ vor allem eine Strategie der Unterschicht, die aufgrund fehlender legitimer Mittel zu dieser Verhaltensform kommt, aber auch die so genannte „Stehkragen-Kriminalität“ erläutert Merton unter Bezugnahme auf diesen Typus. Mit Rebellion beschreibt Merton die radikale Erneuerung des bestehenden Normensystems und mit Rückzug die vollständige Ablehnung kultureller Ziele und institutioneller Normen. Rückzug führt ihm zufolge zu abweichendem Verhalten wie Drogenkonsum oder Vagabundismus.

[...]

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Die General Strain Theory von Robert Agnew - Eine Fortschreibung anomietheoretischer Ansätze
Hochschule
Technische Universität Dresden  (Institut für Sziologie)
Veranstaltung
Seminar Kriminalität
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
21
Katalognummer
V63240
ISBN (eBook)
9783638563314
ISBN (Buch)
9783638753104
Dateigröße
512 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Seminararbeit führt in die General Strain Theory von Robert Agnew ein, indem zuerst deren Vorläufer diskutiert werden. Namentlich sind dies die Anomietheorien von Durkheim und Merton. Anschließend werden die einzelnen Faktoren zur Erklärung von Kriminalität in Agnews Theorie herausgearbeitet und an dem konkreten Beispiel des Vergleichs von Männern und Frauen verdeutlich.
Schlagworte
General, Strain, Theory, Robert, Agnew, Eine, Fortschreibung, Ansätze, Seminar, Kriminalität
Arbeit zitieren
Peter Neitzsch (Autor:in), 2006, Die General Strain Theory von Robert Agnew - Eine Fortschreibung anomietheoretischer Ansätze, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/63240

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