1. Bau auf, Bau auf! - Die Bildung einer neuen ostdeutschen Identität
vor dem Hintergrund gesamtgesellschaftlicher Einheits-Streitigkeiten nach Bude
"Der erste und wichtigste Tatbestand, mit dem wir es in der neuen Bundesrepublik zu tun haben, scheint mir noch nicht richtig begriffen worden zu sein. Das ist die Wiedererstehung der Differenz nach der Einheit. Die wechselseitigen Ethnisierungen von "Ostlern" und "Westlern" sind nach einem halben Jahrzehnt nicht weicher und nachsichtiger, sondern härter und erbitterter geworden."
Ein Mensch. Wie stolz das klingt. Ein Ossi. Das klingt stolzer. Vor allem dann, wenn es als Herkunftsangabe gesagt und als Zugehörigkeitsbezeichnung gedacht ist. "Ich bin ein OSSI." Oder auch: "ICH bin ein Ossi!". Man sieht geradezu das trotzige Aufstampfen mit dem Fuß und den herausfordernden Blick.
Vor zehn Jahren mag das anders herum gewesen sein. "Ich komme aus Berlin", sagt der Ost-Berliner, hoffend, daß der neue Wessi-Chef nicht nachfragt, aus welchem Teil genau. Und folglich ebenfalls hoffend, als Wessi durchzugehen.
Geht man nach dem von Wolf Wagner beschriebenen Modell des Kulturschocks als U-Kurve , ist diese Entwicklung ganz natürlich. Die Ostdeutschen würden demnach etwa im Endstadium der dritten Phase, dem untersten Punkt der U-Kurve, stehen.
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Inhalt
1. Bau auf, Bau auf! – Die Bildung einer neuen ostdeutschen
Identität vor dem Hintergrund gesamtgesellschaft-
licher Einheits-Streitigkeiten nach Bude
2. Mögliche Gründe für eine Zunahme der Differenzen zwischen Ost und West
2.1. Enttäuschungen – die Besinnung der Ost- deutschen auf ihre Vergangenheit
2.2. Unsicherheit – von der westdeutschen Be- sitzstandswahrung
3. Wie weiter? Bedingungen für eine Zu- oder Ab- nahme der Differenzen im Zuge der dt. Einheit
4. Mauer in den Köpfen? Portrait einer Wahlberlinerin Quellen- und Literaturverzeichnis Doku zur Erstellung der HA
1. Bau auf, Bau auf! – Die Bildung einer neuen ostdeutschen
Identität vor dem Hintergrund gesamtgesellschaftlicher
Einheits-Streitigkeiten nach Bude
"Der erste und wichtigste Tatbestand, mit dem wir es in der neuen Bundesrepublik zu tun haben, scheint mir noch nicht richtig begriffen worden zu sein. Das ist die Wiedererstehung der Differenz nach der Einheit. Die wechselseitigen Ethnisierungen von "Ostlern" und "Westlern" sind nach einem halben Jahrzehnt nicht weicher und nachsichtiger, sondern härter und erbitterter geworden."[1]
Ein Mensch. Wie stolz das klingt. Ein Ossi. Das klingt stolzer. Vor allem dann, wenn es als Herkunftsangabe gesagt und als Zugehörigkeitsbe-zeichnung gedacht ist. „Ich bin ein OSSI.“ Oder auch: „ICH bin ein Ossi!“. Man sieht geradezu das trotzige Aufstampfen mit dem Fuß und den herausfordernden Blick.
Vor zehn Jahren mag das anders herum gewesen sein. „Ich komme aus Berlin“, sagt der Ost-Berliner, hoffend, daß der neue Wessi-Chef nicht nachfragt, aus welchem Teil genau. Und folglich ebenfalls hoffend, als Wessi durchzugehen.
Geht man nach dem von Wolf Wagner beschriebenen Modell des Kulturschocks als U-Kurve[2], ist diese Entwicklung ganz natürlich. Die Ostdeutschen würden demnach etwa im Endstadium der dritten Phase, dem untersten Punkt der U-Kurve, stehen.
Die Frage ist jetzt allerdings, ob sich der gemeine Ostdeutsche ans Modell hält und nun langsam anfängt, den Wiederaufstieg zu jener fünften und letzten Phase zu beginnen, die Wagner als Verständigungsphase beschreibt, in der sich die unterschiedlichen Kulturen gegenseitig verstehen und beispielsweise die gelebte Geschichte des jeweils anderen vorurteilsfrei akzeptieren.
Hier beschreibt Heinz Bude mit seinem Zitat (siehe oben) jedoch ein Szenario, das so gar nicht in den weiteren Verlauf der Kulturschock-U-Kurve passen könnte. Sein offen gehaltenes Zitat läßt zwar den Schluß zu, er gehe davon aus, daß sich die „wechselseitigen Ethnisierungen zwischen Ostlern und Westlern“ nicht weiter zuspitzen. Was aber, wenn es anders herum kommt? Die Auswirkungen auf den Prozeß der Widervereinigung wären fatal.
Also muß ersteinmal betrachtet und definiert werden, was Bude mit den Differenzen nach der Einheit einerseits und mit der Zunahme dieser Differenzen andererseits meint.
Die Differenzen nach der Einheit resultieren eher aus den subjektiven Erfahrungen der Ostdeutschen mit der westlichen Demokratie als aus objektiven Benachteiligungen. Letztere gibt es zwar; sie spiegeln sich beispielsweise im unterschiedlichen Lohnniveau[3], in der Verteilung an Immobilienbesitz oder Arbeitslosenzahlen wieder. Dennoch machen die Ostdeutschen ihre Unzufriedenheit mit dem neuen System eher an subjektiven, emotionalen, gefühlsbetonten Erfahrungen und auch Vergleichen fest. Die Ostdeutschen sind im Gegensatz zu ihren westdeutschen sogenannten Brüdern und Schwestern schließlich diejenigen, die zwei Systeme miteinander vergleichen können, in denen sie gelebt haben! Taten sie dies kurz nach der Wende 1989 in ihrer Euphorie nicht (neues System, das kritiklos hingenommen wurde), so entsteht jetzt eine zunehmende rückwärts gerichtete Identifizierung mit dem alten System, weil eben auch am neuen System Dinge festgestellt werden, die negativ belastet sind.
Beispielsweise stellt sich die westliche Demokratie in den subjektiven Empfindungen der Ostdeutschen als nicht so gerecht heraus wie erwartet[4]. Daraus zieht die Mehrheit der Ostdeutschen den Schluß, das die Demokratie AN SICH zwar die beste Gesellschaftsform, die ERLEBTE Demokratie in der Bundesrepublik jedoch ungerecht ist und deshalb in demoskopischen Meinungsumfragen wie dem Sozialreport 1999 durchweg schlechte Noten erhält[5].
Auch andere intersubjektive Erfahrungen im direkten Erleben der praktischen Demokratie spielen hier eine Rolle – zum Beispiel sehen die Ostdeutschen, daß sie immernoch vornehmlich von Westdeutschen regiert und verwaltet werden.
Weiterhin wird die Zunahme der Differenzen nach der Einheit auch durch eine gewisse ängstliche Ignoranz der Westdeutschen mitgetragen, die den Vergleich zwischen zwei Systemen eben nur theoretisch, nicht aber praktisch nachvollziehen können. Für viele hat sich fast nichts geändert im Leben. Die von den Ostdeutschen gespürte Ablehnung wiederum sorgt für eine Verunsicherung und so für eine Abkapselung der Ostdeutschen.
So kann man die Zunahme der Differenzen definieren, indem man sagt, daß die Ostdeutschen sich im System der westlichen Demokratie zwar mit den Lebensumständen ab- und zurechtgefunden haben, sich aber aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen und dem Echo aus dem Westen kulturell noch nicht 100-prozentig mit dem System Deutschland identifizieren.
Vielmehr spielen jetzt nach dem Ende der Wende-Euphorie auch Vergleiche zwischen System alt und System neu eine größere Rolle.
Dabei wird beim alten System und im Nachhinein subjektiv als positiv empfundenes auch offensiv als solches hervorgehoben und dem subjektiv als negativ erlebten im neuen System entgegengestellt. Das damit einhergehende steigende Selbstbewußtsein der alten Identität sorgt hier für eine wachsende Betonung der Unterschiede und eine Abgrenzung zum neuen System und zu den Westdeutschen.
Letztendlich scheint mir die Umkehrung eines oft gebrauchten Wende-Witzes Realität geworden zu sein. Riefen früher die „Ossis“ „Wir sind ein Volk!“ und die „Wessis“ antworteten mit „Wir auch!“, so ruft heute die (immer noch westdeutsch dominierte) Politik „Aber wir SIND doch schon ein Volk...“ und der Chor aus Neufünfland kontert selbstbewußt „Wir auch – JETZT!!!“
2. Wie weiter? Mögliche Gründe für eine Zunahme der Differenzen zwischen Ost und West
Der Sozialforscher Heinz Bude bezieht sich bei der Begründungsfindung für eine Zunahme der Differenzen nach der Einheit auf den Urvater der Psychologie, Siegmund Freud: „Je näher man sich kommt, um so mehr entsteht der Wunsch, sich voneinander abzugrenzen. Jeder greift auf eine dem anderen unzugängliche Vergangenheit zurück, aus der Vorstellungen des ganz und gar eigenen und Geheimen geschöpft werden. Besonders derjenige Partner, der sich in der unterlegenen Position fühlt, wird zu nachträglichen Verschönerungen und Verklärungen bestimmter Perioden und Erlebnisse seines Vorlebens neigen und dabei unangenehme, mißliche und beschämende Aspekte beiseite schieben.“[6]
Das ist aber bei weitem nicht der einzige oder gar der wichtigste Aspekt, der die Ostdeutschen heute dazu treibt, Positiv-Empfindungen aus alten Zeiten aufleben und zu einer eigenen Identität mit einem gesteigerten Selbstbewußtsein werden zu lassen. Und es sind auch nicht nur die Ostdeutschen, die sich vor der anderen Seite zurückziehen.
[...]
[1] Bude, Heinz: „Die ironische Nation“, Hamburg 1999, S. 61
[2] vgl. Wagner, Wolf: „Kulturschock Deutschland“, Hamburg 1996, S. 19
[3] Beispiel: Nach Berechnungen des DGB bekommen die Ost-Berliner bei gleicher Arbeit durchschnittlich nur 91,5 Prozent des Gehalts ihrer Kollegen aus West-Berlin – und das, obwohl sogar schon der Berliner Senat seine Landesbediensteten auf 100 Prozent Westniveau gestuft hat! – Quelle: Statistisches Landesamt, zitiert in einem Artikel des Berliner „Tagesspiegel“ von Siegrid Kneist: „Mauer in den Köpfen“ vom 07. Januar 2001
[4] vgl. Reissig, Rolf: „Von der äußeren Angleichung zur inneren Einheit?“, Aufsatz aus dem Internet aus September 2000 in der „Denkwerkstatt 2020“www.denkwerkstatt-mv.de/pages/reissig_einheit.htm)
[5] vgl. Reissig, Rolf: „Von der äußeren Angleichung zur inneren Einheit?“, Aufsatz aus dem Internet aus September 2000 in der Denkwerkstatt 2020
[6] Bude, Heinz: „Die ironische Nation“ Hamburg 1999, S. 61
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