Rechtsstaatliche Probleme des Cannabiskonsums im Zusammenhang der Habermasschen Rechtstheorie


Diplomarbeit, 1996

129 Seiten, Note: Sehr Gut


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung
1.1. Metatheoretische Aspekte
1.2. Wertdifferenz und rechtliche Anerkennung
1.3. Aspekte des Cannabiskonsums
1.4. Theoretische Grundlagen

2. Die Begründung gesellschaftlicher Rationalität durch handlungstheoretische Begriffe
2.1. Rationalität und Handlung
2.2. Rationalität und Sprache
2.3. Die Diskursethik als normatives Zentrum

3. Der demokratische Rechtsstaat als System und Lebenswelt
3.1. Einleitung
3.2. Der philosophische Aspekt der Lebenswelt
3.3. Der soziologische Aspekt der Lebenswelt
3.4. Die Rationalität der Lebenswelt
3.5. Gesellschaft als System
3.6. Die externe und interne Vermittlung von System und Lebenswelt im Rechtsstaat
3.7. Rationalität und Krise des demokratischen Rechtsstaates

4. Cannabiskonsum im Spannungsverhältnis von System und Lebenswelt
4.1. Einleitung: Historische Bedingungen eines rechtsstaatlichen Problems des Cannabiskonsums
4.2. Genese des lebensweltlichen Cannabiskonsums im Zusammenhang von Wirtschaft, Staat und Recht
4.3. Rechtsstaat, Betäubungsmittelgesetz und Cannabiskonsum
4.4. Gesellschaftliche Kontexte des strafrechtlichen Verbots von Cannabis: Öffentlichkeit, Wissenschaft und Subkultur

5. Das rechtsstaatliche Problem des Cannabiskonsums im Spannungsverhältnis von Anerkennung und Ausgrenzung
5.1. Einleitung
5.2. Cannabis, Parlament und Wissenschaft
5.3. Rechtsprechung und Verfassung

1. Einleitung

Jürgen Habermas hat mit seiner Gesellschaftstheorie ein begriffliches Instrumentarium entwickelt, das für die Kritik am Zusammenleben in modernen Gesellschaften nutzbar gemacht werden kann. Habermas selbst hat die "Anwendung" theoretischer Begriffe, welche als eine Ergänzung durch die Kritik an gesellschaftlichen Tatsachen zu verstehen ist, immer wieder gefordert,[1] in seinen politischen Stellungnahmen praktiziert. Diskurstheorie und Kritik bedingen sich gegenseitig. Die theoretischen Begriffe von Habermas fordern immanent den kritischen Blick auf die Tatsachen. In den jüngsten Veröffentlichungen zur Diskurstheorie des demokratischen Rechtsstaates und der Anerkennungskämpfe geht es ihm um die Rekonstruktion "des Geflechts meinungsbildender und entscheidungsvorbereitender Diskurse, in das die rechtsförmig ausgeübte demokratische Herrschaft eingebettet ist". (Habermas, 1992, 19) Die dadurch in diesen Diskursen erscheinende kommunikative Rationalität gibt als normativer Begriff einen kritischen Maßstab der gesellschaftlichen Möglichkeiten von Recht, Politik und Gesellschaft ab, "nach dem die Praktiken einer unübersichtlichen Verfassungswirklichkeit beurteilt werden können". (Habermas, 1991, 20) Begriff und Faktizität sind nicht identisch. Die Gesellschaft als vernünftig begreifen heißt noch nicht, daß sie vernünftig ist. Habermas' theoretischem Rationalismus entspricht folglich ein auf die Tatsachen blickender Rationalitätsskeptizismus. Die Verfassungswirklichkeit und faktische kommunikative Rationalität schätzt auch Habermas skeptisch ein. Gleichwohl hängt für ihn die Rationalität der demokratischen Herrschaft davon ab, inwieweit verständigungsorientierte Kommunikationen die Grundlage einer Verbindung von Zivilgesellschaft und politischem und rechtlichem System bilden. Kommunikative Anerkennungskämpfe der Zivilgesellschaft sind die Antriebskraft einer Einflußnahme auf den Rechtsstaat. Im theoretischen Programm von Habermas übernehmen kommunikative "Verfahren" die Vermittlung von Moralität und Sittlichkeit und von privater und öffentlicher Autonomie. Der in modernen Verfassungen in Geltung gesetzte universale Anspruch von Grundrechten kann nur dann den rechtlichen Rahmen für die Verfolgung eines je eigenen "guten" Lebens schaffen, wenn sich der Rechtsstaat gleichursprünglich aus den Privatrechtssubjekten und den Staatsbürgern kommunikativ konstituiert.

1.1. Metatheoretische Aspekte

Das in dieser Arbeit intendierte Vorgehen einer Verbindung von Theorie und Empirie hat den Vorteil, daß über die Kritik an der Wirklichkeit hinaus auch die Theorie einer kritischen Weiterentwicklung und Prüfung unterzogen wird. Unter Empirie wird hier nicht die methodologisch eindeutige Erhebung und Auswertung von Datenmaterial verstanden, sondern die Beschreibung und Bewertung gesellschaftlicher Phänomene, wie sie in Soziologie, Geschichtswissenschaft und in der Gesellschaft selbst allgemein vollzogen werden. Ein exemplarischer Text von Habermas, "Anerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat" (Habermas, 1993a), in dem theoretische Begriffe explizit in Verbindung zu gesellschaftlichen Phänomenen gesetzt werden, ist auch für die Cannabisproblematik zentral. In ihm wird die in "Faktizität und Geltung" vorgelegte "Diskurstheorie des demokratischen Rechtsstaats" gleichzeitig um eine Theorie der Anerkennungskämpfe erweitert wie für den Begriff der Auseinandersetzung um die frankophone Minderheit in Canada und der Asylproblematik in der Bundesrepublik Deutschland nutzbar gemacht.[2] Dieses Vorgehen ist in jüngster Zeit auch aus kriminalwissenschaftlicher Perspektive verfolgt worden. (Deflem, 1994a, 1994b, Böllinger, 1993, 1994) Es geht um die normative und begriffliche Begründung einer kritischen, phänomenologischen Lebensweltanalyse.

Dabei ist das Verhältnis von Theorie und Empirie nicht unproblematisch. Die Mannigfaltigkeit gesellschaftlicher Phänomene darf nicht durch die abstrakte Allgemeinheit theoretischer Begriffe verloren gehen, wie diese nicht auf die konkrete Besonderheit reduziert werden darf. Gleichsam wie in der Theorie die Sprache des Alltags nur zur Verdeutlichung verwandt wird, dient die Sprache der Theorie in der Beschreibung alltäglicher Phänomene allein der Verdeutlichung ihrer empirischen Relevanz. Daraus ergibt sich ein weiteres Problem. Gewöhnlich prüft man die Stichhaltigkeit einer Theorie auf dem gleichen Abstraktionsniveau in Vergleich zu anderen Theorien. Die Beschreibung gesellschaftlicher Phänomene kann durch andersartige Beschreibungen in Frage gestellt werden. Wird nun die abstrakte Theorie zu konkreten Phänomenen in Beziehung gesetzt, könnte der Gewinn rein theoretischer Auseinandersetzung wie die angemessene Berücksichtigung aller Beschreibungen der Wirklichkeit verloren gehen. Da aber auch das Ergebnis theoretischer Auseinandersetzung seine Plausibilität in Beziehung zur Wirklichkeit aufrecht erhalten muß, ist bei beiden Vorgehensweisen gleich viel gewonnen wie verloren. Die Bearbeitung eines rechtsstaatlichen Problems des Cannabiskonsums wird durch die Theorie inspiriert, ohne in dieser aufzugehen, so wie die Theorie durch das rechtsstaatliche Problem des Cannabiskonsums inspiriert wird, ohne in diesem aufzugehen. Das hat zur Folge, daß ein Zusammenhang beider Komplexe nicht immer explizit deutlich ist, gleichwohl im Laufe dieser Arbeit deutlicher ausgearbeitet werden soll.

Habermas erhebt mit seiner theoretischen Rekonstruktion den Anspruch, die Gesellschaft an ihrem eigenen, eben nur theoretisch rekonstruierten Maßstab zu messen. Das kann derart geschehen, daß die Geltung von moralischen, gleichsam positiven Grundrechten als in der Faktizität negiert behauptet wird. Dieser Streit um die Verfassung ist seit 1949 nie verstummt. Solche subjektiven Rechte sind auch für Habermas ein wesentlicher Rationalitätsmaßstab. Grundsätzlich hat der Schutz subjektiver Rechte Vorrang vor dem Geltungsanspruch des objektiven, positiven Rechts. Neben den zentralen Grundrechten und neben rechtsstaatlichen Prinzipien geht es Habermas wesentlich um ein Spannungsverhältnis von Faktizität und Geltung, das in der Allgemeinheit gesellschaftlicher Kommunikation selbst angelegt ist.[3] Immer wenn sich Menschen verständigen wollen, erheben sie Geltungsansprüche und unterstellen damit bestimmte Präsuppositionen. Die Rationalität der Kommunikation hängt davon ab, inwieweit die Faktizität den unterstellten Präsuppositionen entspricht, welche jetzt Maßstab sind.[4] Folglich wird von Habermas auch die Auslegung der Geltung von Grundrechten und von rechtsstaatlichen Prinzipien kommunikationstheoretisch begriffen. Diese "Spannung, die zwischen dem diskurstheoretisch erklärten normativen Selbstverständnis des Rechtsstaates und der sozialen Faktizität der - mehr oder weniger in rechtsstaatlichen Formen ablaufenden - politischen Prozesse besteht," (Habermas, 1992, 349) ergibt die Perspektive der "politischen Soziologie" von Habermas. Sie ist darüber hinaus das Medium von Anerkennungskämpfen, die konstitutiv für den Prozeß der Anerkennung von Grundrechten sind.

Die von Habermas intendierte Kritik ist mit dem Problem belastet, auf bestimmte Weise wertfrei sein zu wollen. Er ist auf äußerste bemüht, inhaltliche Vorgaben, die keine allgemeine Geltung mehr beanspruchen können, zu vermeiden. Die für Werturteile verlorengegangene Universalität führt jedoch nicht zu einem wertfreien Positivismus, sondern bleibt in den formalen Strukturen der Sprache aufgehoben. Die dort enthaltene universale Geltung hat vor dem Guten selbst "Priorität". "Die kommunikative Vernunft ist nicht wie die klassische Gestalt der praktischen Vernunft eine Quelle für Normen des Handelns. Sie hat einen normativen Gehalt nur insofern, als sich der kommunikativ Handelnde auf pragmatische Voraussetzungen kontrafaktischer Art einlassen muß. (...) Die kommunikative Vernunft ermöglicht also eine Orientierung an Geltungsansprüchen, aber sie selbst gibt keine inhaltlich bestimmte Orientierung für die Bewältigung praktischer Aufgaben." (Habermas, 1992a, 19) Auch behauptet Habermas, keine normative Theorie des Rechtsstaates entwickeln zu wollen, (Habermas, 1986, 396 und 1993b, 133) gleichzeitig wird ihm vorgeworfen, seine Theorie sei idealistisch überladen. (Horster, 1993) Da die von Habermas intendierte Bewertung Werte impliziert, die er als inhaltliche Bestimmung gerade vermeiden will, stellt sich berechtigterweise die Frage: "Are not the critics right in claiming that, without such judgements, without the integration of substantive concerns into discourse ethics, it becomes formalistic, empty, and lebensweltlich irrelevant?" (Cohen/Arato, 1992, 375) Wenn die Rekonstruktion der formalen Strukturen der Sprache in ihrem universalen Gehalt keine inhaltliche Relevanz hat, ist sie gerade in ihrem Nutzen für eine Kritik sinnlos.

Für das Vorgehen in dieser Arbeit ist es notwendig, daß inhaltliche Bestimmungen durch die Diskurstheorie an Plausibilität gewinnen. Das Aufspüren von illegitimen Wertverallgemeinerungen und derer repressiven Durchsetzung in der Verfassungswirklichkeit ist durch das Aufzeigen formalpragmatischer Defizite zu unterstützen. Die Schwierigkeiten mit der Normativität in der Theorie von Habermas ergeben sich aus dem Umstand, daß der normative Gehalt der Theorie nicht mit dem normativen Gehalt von Kommunikationsvoraussetzungen gleichzusetzen ist. Die "transzendentale Nötigung" durch die Präsuppositionen kann rekonstruiert durchaus für stärkere Wertungen nutzbar gemacht werden. Dabei kann auf ein früheres Konzept des Verhältnisses von Norm und Wirklichkeit von Habermas zurückgegriffen werden. Zu Beginn der siebziger Jahre formulierte Habermas noch: "Eine ideologiekritische Gesellschaftstheorie kann deshalb die in das Institutionssystem einer Gesellschaft eingebaute normative Macht nur identifizieren, wenn sie von dem Modell der Unterdrückung verallgemeinerungsfähiger Interessen ausgeht und die jeweils bestehenden normativen Strukturen mit dem hypothetischen Zustand eines ceteris paribus diskursiv gebildeten Normensystems vergleicht. (...) Das Modell der Unterdrückung verallgemeinerungsfähiger Interessen, das gleichzeitig die funktionale Notwendigkeit der scheinhaften Legitimation von Herrschaft und die logische Möglichkeit einer ideologiekritischen Aushöhlung normativer Geltungsansprüche erklärt, kann freilich gesellschaftstheoretisch nur im Zusammenhang mit empirischen Annahmen fruchtbar gemacht werden." (Habermas, 1973, 157) Dann kann die normative Theorie von Habermas für die Kritik und Rekonstruktion der Entwicklung des modernen Rechtsstaates nutzbar gemacht werden. Die normative Theorie erhält ihren Platz in einer kritischen Gesellschaftstheorie (Habermas, 1992, 89) durch ihre Einbeziehung, nicht allein durch ihre Wirklichkeitsunterstellung.[5]

1.2. Wertdifferenz und rechtliche Anerkennung

In modernen und somit multikulturellen Gesellschaften haben Konzeptionen des Guten, haben Wertüberzeugungen eine zweifelsfreie und universale Geltung eingebüßt. Dem damit einhergehenden Problematisierungssog korreliert die Schwierigkeit, Gruppen mit unterschiedlichen, sich widerstreitenden Werten und Interessen zu integrieren. Dieses Problem verstärkt sich, wenn die Differenz von Gruppen rechtsstaatlich vermittelt ist. Wird die Funktionalität des Rechts durch politisches System und Bürokratie für die Durchsetzung von Werten in Anspruch genommen, dann soll die Macht der staatlichen Zwangsmittel eine Beschränkung durch die Geltung von moralischen Prinzipien erfahren, die im Grundgesetz des positiven Rechts verankert worden sind. Der Begriff der multikulturellen Gesellschaft darf dabei nicht ethnisch verengt werden. Es muß vielmehr von verschiedenen Subkulturen ausgegangen werden, die in eine Mehrheitskultur eingelassen sind. Allgemeine Grundrechte müssen für Habermas als Ausdruck dieser Mehrheitskultur von allen respektiert werden. "Die ethische Integration von Gruppen und Subkulturen mit je eigener kollektiver Identität muß also von der Ebene der abstrakten, alle Staatsbürger gleichmäßig erfassenden politischen Integration getrennt werden. (...) Entscheidend ist die Aufrechterhaltung der Differenz zwischen den beiden Ebenen der Integration. Sobald diese zusammenfallen, usurpiert die Mehrheitskultur staatliche Privilegien auf Kosten der Gleichberechtigung anderer kultureller Lebensformen und beleidigt deren Anspruch auf reziproke Anerkennung." (Habermas, 1993, 178/179) Dann wird nämlich in den letztendlich kommunikativ auszutragenden Anerkennungskämpfen substitutiv auf systemische Machtmechanismen zurückgegriffen. Das ist für die negative Seite der ambivalenten Integrationsleistung des Staates und somit des positiven Rechts ausschlaggebend. Der staatliche Zwang verliert seine Legitimation, die nur durch eine symmetrische Interpretation von Grundrechten gewährleistet werden kann. Diese läßt sich unter Bedingungen einer pluralen Moderne wiederum nur in Begriffen der kommunikativen Rationalität verstehen.

Der Begriff Subkultur wird von Habermas als Aspekt von Anerkennung und Ausgrenzung im Rahmen kultureller Pluralität verstanden. Eine Teilkultur ist dann Subkultur, wenn ihre kulturelle Spezifität oder Differenz, ihr Anliegen nicht anerkannt, also ausgegrenzt wird. So können auch Arbeitslose, Frauen, Homosexuelle, ökologische Bewegungen, Rechtsradikale, ethnische Minderheiten, Fundamentalisten usw. als Subkulturen bezeichnet werden. "Ihre Verwandtschaft besteht darin, daß sich Frauen, ethnische und kulturelle Minderheiten sowie Nationen und Kulturen gegen Unterdrückung, Marginalisierung, Mißachtung zu Wehr setzen und dabei um die Anerkennung kollektiver Identitäten kämpfen, sei es im Kontext einer Mehrheitskultur oder in der Gemeinschaft der Völker." (Habermas, 1993, 158) Habermas' Rationalitätstheorie soll nun den kritischen Maßstab abgeben, anhand dessen zu klären ist, wann wir gerechterweise das Fremde, das Andere anerkennen sollen, wann wir für Anerkennung oder Ausgrenzung eintreten müssen, und wie die gesellschaftliche Praxis der Anerkennung und der Ausgrenzung in unserer heutigen Zeit begriffen werden kann. In diesem Zusammenhang übernimmt das moderne, positive Recht eine wichtige gesellschaftliche Funktion. Ist dieses doch Medium der Anerkennung und der Ausgrenzung.

1.3. Aspekte des Cannabiskonsums

Der gesellschaftliche und staatliche Umgang mit dem Konsum von Cannabis, einer "weichen Droge", stellt als Problem gesellschaftlicher Integration und kultureller Selbstverständigung die empirischen Phänomene bereit, die unter theoretischer Anleitung beschrieben und in ihrer Rationalität kritisiert werden sollen. Diese Wirklichkeit von Subkultur und deren rechtliches Verbot geben eine geeignete Folie ab, um einerseits illegitime Übergriffe des bürokratischen Staates zu kritisieren und um andererseits, einen Prozeß kommunikativer Liberalisierung und Rationalisierung aufzuzeigen, der heute ansatzweise erkennbar ist. Haben sich die rechtsstaatlichen Institutionen in ihren Geltungsansprüchen fast völlig von der Wirklichkeit gelöst, erheben die Cannabiskonsumenten selbst langsam aber hoffnungsvoll ihre Stimme. Immerhin geht man von ca. vier Millionen Cannabiskonsumenten allein in der Bundesrepublik Deutschland aus.

Ein besonderer Aspekt des Cannabisproblems ist die Kriminalisierung durch strafrechtliches Verbot und die Tabuisierung durch staatliche Meinungsbildung. Dieser Konsum ist nämlich mit der ganzen Stärke des Strafrechts verboten. Daß damit der Schritt in die Öffentlichkeit strafrechtliche Konsequenzen wie soziale Mißbilligung nachsichziehen kann, hat zur Folge, daß sich der Cannabiskonsum auf die Privatsphäre beschränkt. Er vollzieht sich im wesentlichen heimlich. Ausgrenzung aus der Familie, der Verlust von Arbeits- und Ausbildungsplatz, der Verlust der Fahrerlaubnis oder von Versicherungsansprüchen, wie das Verhängen von Geld- und Gefängnisstrafen werden somit überwiegend vermieden. Auch wenn nur ca. 0.1 % der Cannabiskonsumenten mit dem Rechtsstaat in Berührung kommen, ist diese Berührung unverhältnismäßig repressiv. Die Negativität der sozialen und rechtlichen Auswirkungen übertrifft die negativen Folgen der Drogenwirkung bei weitem. Sind doch die meisten Cannabiskonsumenten unscheinbare Bürger, die ihre Handhabung von Cannabis unproblematisch vollziehen.

Die Thematisierung des Cannabiskonsums ist gleichwohl derart affektiv besetzt, daß eine objektive und rechtsstaatlich angebrachte Behandlung schwer zu fallen scheint. Gegen die lautstarke Kritik an der aktuellen Drogenpolitik sind die Verantwortlichen offensichtlich resistent; und das leider nicht auf Grundlage besserer Argumente, sondern allein durch Ignoranz und Einbildung. Gerade Habermas bindet die Chancen des demokratischen Rechtsstaates an eine immer wieder erneuerungsbedürftige Kritikfähigkeit. Nur wenn kommunikative Verweigerungen kritisiert und überwunden werden, können moderne Gesellschaften auf lange Sicht Bestand haben. "Kulturen bleiben nur am Leben, wenn sie aus Kritik und Sezession die Kraft zur Selbsttransformation ziehen." (Habermas, 1993, 175)

Leider muß die Drogenpolitik als gescheitert bezeichnet werden. Als prägnantester Ausdruck des systemischen Charakters der Politik spiegelt sie generelle Eigenschaften staatlicher Tätigkeit in extremer Weise. Auch wenn in der Drogenpolitik symbolische Selbstdarstellung eingestandenermaßen im Vordergrund steht, ist der Sinn staatlicher Regierung generell in Frage gestellt. Anstatt den Kontakt zu den Menschen zu suchen, perpetuiert sie sich in Selbstreferenz. Ein Verfassungsauftrag bleibt bloße Deklamation.

Im Fall der Cannabiskonsumenten hat sich gleichwohl eine starke Solidarität und Identität ausgebildet, die durch das strafrechtliche Verbot wohl eher verstärkt worden ist. Die Cannabiskonsumenten erfahren nicht nur nicht den Schutz ihres Lebenszusammenhanges, sondern müssen mit einer massiven Intervention durch die Schutzmacht in ihr Leben rechnen. Den staatlichen Integrations- oder Interventionsbemühungen trotzt die subkulturelle Solidarität. Cannabiskonsum wird nicht allein aus der Perspektive des Rechtsstaates als Problem wahrgenommen, sondern erscheint im allgemeinen als schädlich und gefährlich. Dabei ist zu unterscheiden, ob es um die Droge selbst oder um ihr rechtliches Verbot geht. Diese alltägliche Gewißheit ist außer bei den Cannabiskonsumenten selbst überall zu finden. Auch ohne strafrechtliche Verfolgung erfahren die Cannabiskonsumenten keine Anerkennung. Der Status einer moralischen Person wird dabei zu Gunsten eines kranken Bösen nicht anerkannt. Insgesamt kann die Diskussion über Drogen als in zwei Polaritäten auseinanderfallend bezeichnet werden. Den überzeugten Gegnern stehen überzeugte Liberale gegenüber. Beide Seiten nehmen wissenschaftliche Untersuchungen für sich in Anspruch, und beide Seiten bedienen sich des Vorwurfs der Mystifizierung. Diese formale Gleichheit bei inhaltlicher Gegensätzlichkeit allein macht schon die Forderung nach Verständigung plausibel. Kulturelle Differenzen können nur in vernünftigen Formen der Sprachverwendung aufgehoben werden und nicht in staatlicher Befehlsgewalt. Vielleicht liegt gerade in dem maßlos tendenziösen Mißbrauch von naturwissenschaftlichen und medizinischen Erkenntnissen die Hoffnung begründet, durch Soziologie und Philosophie inspiriert, einen interessanten Betrag zur Cannabisproblematik zu leisten.

1.4. Theoretische Grundlagen

Die theoretischen Grundlagen bilden Habermas' Begriff des kommunikativen Handelns, der Begriff von Gesellschaft als System und Lebenswelt und die Begründung von Rationalität durch die Diskursethik. Im Zentrum der Theorie steht die kommunikative Rationalität. Diese hat Habermas gegenüber anderen Rationalitätsauffassungen als ursprünglich und allgemein ausgewiesen. Damit ist eine Theorie der Rationalität als Konzept zu unterscheidender Rationalitätstypen entwickelt, die es ermöglicht, "Rationalität von Handlungen und Institutionen gleichzeitig in verschiedenen Dimensionen oder nach qualitativ verschiedenen Kriterien zu beurteilen (...), so daß konkrete Handlungen oder Institutionen die verschiedenen Rationalitätsaspekte gleichzeitig in größerem oder geringerem Umfang verkörpern." (Peters, 1991, 16) Dabei ist für Habermas das Verhältnis von Verdinglichung und Selbstgestaltung des gesellschaftlichen Lebens leitend. Es geht ihm vornehmlich um die Frage, wie eine vernünftige, nicht verdinglichte Selbstgestaltung der Gesellschaft gedacht werden kann.

Recht und kommunikative Anerkennungskämpfe werden dabei als Vermittlungskraft zwischen System und Lebenswelt verstanden. Die Lebenswelt, die als Komplementärbegriff zum kommunikativen Handeln eingeführt wird, soll die Theorie für sozial gelungene gesellschaftliche Integrationen, eine lebendige kulturelle Selbstverständigung und für gelungene Ich-Identitäten öffnen. Diese normative Perspektive ist auf die Diskursethik und deren Stellenwert im theoretischen Gesamtkonzept angewiesen. Die rationalitätskritische Offenlegung der Negation gesellschaftlicher, auf Verständigung ausgelegter Kommunikationsformen, ist dadurch bedingt. Besonders am Beispiel der Cannabisproblematik läßt sich zeigen, daß die Prinzipien der kommunikativen Rationalität eine faktisch rationalere Gesellschaft in Aussicht stellen. Die rechtsstaatlichen Institutionen stehen allerdings nicht im Mittelpunkt einer solchen Betrachtung.

Kommunikatives Handeln ist für die Lebenswelt konstitutiv. Gerade diese wird aber durch systemische Imperative außer Kraft gesetzt. Vor allem ein auf strategisches Handeln und funktionale Integration ausgelegtes Wirtschaftssystem und ein den gleichen Mustern folgender vermachteter Staatsapparat stehen einer gesellschaftlichen Verständigung entgegen. Habermas setzt bei der Eindämmung von systemischen Übergriffen auf sich genuin lebensweltlich konstituierende Bereiche der Gesellschaft auf das Recht. Das ist gleichsam verwunderlich und doch wohl unumgänglich. Aus der Perspektive der Lebenswelt und unter dem Aspekt der Verständigung ist das Recht System, in dem die Geltung des Rechts verständigungsentlastende Funktionen übernimmt. "Allgemein betrachtet stellt sich Recht aus der Perspektive des menschlichen Nahbereichs als eine interaktive Alternative zu spontanen oder sedimentierten Interaktionsmustern dar. Das Ergreifen dieser Alternative bringt einen fundamentalen Wandel der interaktionsbestimmenden Bedeutungen mit sich. Die als Tugenden des Nahbereichs beschreibbaren Verhaltensmuster oder die solche Schematisierungen überschreitenden kreativen Formen des Miteinanders werden ersetzt durch eine Strategie der Sicherung und Durchsetzung von Interessen unter Bezugnahme auf die Zwangsbefugnisse einer interaktionstranszendenten Instanz." (Ellscheid, in: Gessmer/Hassemer (Hrsg.), 1985, 55) In der illegitimen Verwendung strafrechtlichen Zwanges hat die Systematik des Rechtsstaates ihre stärkste Gestalt.[6]

Gleichwohl ist das Rechtssystem für moderne Gesellschaften unverzichtbar. Habermas hat daraus die Konsequenz gezogen, den demokratischen Rechtsstaat als ein kommunikatives Projekt zu verstehen, in dem Lebenswelten die Systeme in einem rationalen Maß beschränken können. Die gesellschaftliche Vermittlung von System und Lebenswelt hängt von der rechtsinternen Vermittlung von System und Lebenswelt ab. Aus diesem Grund setzt Habermas auf die Integrationsleitungen des Rechts. Denn dieses ist auf der einen Seite offen für lebensweltliche Kommunikationen, auf der anderen Seite spricht es eine Sprache, die auch die Systeme verstehen. Diese Rationalitätserwartung und -unterstellung ist durch den Krisenbegriff von Habermas präjudiziert. Sein Augenmerk ist vor allem auf Krisen gerichtet, die durch das Wirtschaftssystem und das bürokratische System entstehen. Dieser Krisenbegriff muß um den Begriff allein lebensweltlicher Krisen erweitert werden. Der Krisenbegriff, der vornehmlich von der Auswirkung der Systeme auf die Lebenswelt ausgeht, ist nur die Kehrseite eines Krisenbegriffs, der die repressive Einwirkung auf Verständigungsversuche in den Mittelpunkt stellt. Letzterer öffnet den Blick für Kommunikationsstörungen aller Art, nicht nur auf systemisch verursachte.

Kommunikationspathologien, wie gelungene Kommunikationen sind für die Anerkennungsproblematik von Subkulturen, in diesem Fall von Cannabiskonsumenten, ausschlaggebend. Gerade die Ausgrenzungsmechanismen durch das Recht und den Kampf um Anerkennung in der politischen, überhaupt kulturellen Öffentlichkeit, gilt es zu verfolgen. Das Cannabisproblem dient dabei als Indikator für die Rationalität des Rechts in der Gesellschaft, also für die Funktionalität und die Legitimität des Rechts. Der Grad dieser Rationalität läßt sich daran bemessen, inwieweit Subkulturen, also das kulturell Andere und Fremde, eine Anerkennung ihrer Lebensweise, ihrer Konzeption des Guten erfahren. Die Rationalität der gesellschaftlichen Integration durch Recht läßt sich in dem Spannungsverhältnis von Faktizität und Geltung, zwischen dem Maßstab, der sich aus der Rekonstruktion des normativen Selbstverständnisses des demokratischen Rechtsstaates ergibt, und der gesellschaftlichen Wirklichkeit bestimmen. Es geht darum, inwieweit die intersubjektive Abstimmung des gesellschaftlichen Lebens auf das Recht in rationaler Weise zurückgreift und inwieweit von einer rationalen Reproduktion einer Rechtskultur gesprochen werden kann.

Daraus ergeben sich Konsequenzen für die Funktionalität des Rechts. Für Krisen, die ihren Grund in Wertstreitigkeiten haben, hat Habermas den systemischen Eigensinn des Rechtssystems unterschätzt und dadurch die Integrationsleistungen durch den Rechtsstaat überbewertet. Das Augenmerk ist auf Kommunikationsformen zu richten, die gerade nicht die Sprache des Rechts sprechen, gleichwohl auf Recht angewiesen sind. Also auf politische, kulturelle und soziale Kommunikations- und Arbeitsformen und auf eine lebendige Öffentlichkeit. Und es sind bekanntlich genau diese Bereiche, welche die Rationalität der Lebenswelt bei Habermas letztendlich ausmachen. Wenn wir allein von der Kolonialisierung der Lebenswelt durch die Systeme ausgehen würden, müßte zum Beispiel das Problem der Kriminalität schon durch die Abschaffung der Exekutive gelöst werden können. Ein lebensweltlicher Begriff von Krise führt zu Kommunikationspathologien, wie beispielsweise Kommunikationsverweigerung, Tabu und Ideologie. All dieses ist gleichwohl in der Theorie von Habermas angelegt.

Einen wichtigen Rationalitätsmaßstab gibt dabei eine Öffentlichkeit ab, die als Ressource gesetzgebende und rechtsprechende Körperschaften mit Wissen versorgt. Radio, Fernsehen, Zeitung, Fachzeitschriften und Diskussionen sind die Medien, die die Meinungsbildung vermitteln. In der Öffentlichkeit ist der "Streit um die Interpretation und Durchsetzung historisch uneingelöster Ansprüche ein Kampf um legitime Rechte, in die wiederum kollektive Aktoren verwickelt sind und sich gegen eine Mißachtung ihrer Würde zur Wehr setzten". (Habermas, 1993, 148) In Zusammenhang mit der Öffentlichkeit steht der Habermassche Begriff des Paradigmas. Ein Paradigma ist ein allgemeines Hintergrundwissen der Lebenswelt und spielt somit nicht nur für das Recht eine Rolle, sondern liegt allen Institutionen der politischen Willensbildung zugrunde. Habermas plädiert für ein Paradigma, das die Autonomie der Menschen in den Mittelpunkt rückt. Wobei der je besondere Vorschlag eines Paradigmas immer noch weit davon entfernt ist, ein Paradigma zu sein. Auch im Zusammenhang mit der Drogenproblematik wird von Paradigmen gesprochen. "Idealtypisch lassen sich hinsichtlich des Drogengebrauchs zwei grundsätzlich unterschiedliche Betrachtungsweisen - festgemacht an der gewünschten Gesellschaftsordnung und politischer Zielsetzung - unterscheiden, das Abstinenz-Paradigma und das Akzeptanz - Paradigma." (Böllinger, 1995, 88)

In den ersten beiden Kapiteln dieser Arbeit geht es um die Aneignung der Theorie von Habermas. Durchschritten wird die "Eiswüste der Abstraktion". Gleichsam aus soziologischer und philosophischer Perspektive ist die Handlungstheorie zu rekonstruieren (2). Begriffe wie kommunikatives Handeln, Diskurs und die normative Sicht der Diskursethik fallen in diesen Bereich. Daran schließen sich aus der gleichen Perspektive gesellschaftstheoretische Überlegungen an (3). Die Begriffe System und Lebenswelt stehen nun im Mittelpunkt. Der Rechtsstaat nimmt Gestalt an. Der theoretische Teil stellt dabei allein den Anspruch, in bezug auf das rechtsstaatliche Problem des Cannabiskonsums plausibel zu sein. Auf die theoretische Auseinandersetzung zwischen verschiedenen theoretischen Ansätzen kann nur bedingt eingegangen werden. Einer makrologischen, gesellschaftstheoretischen und geschichtlichen Beschäftigung mit der rechtsstaatlichen Anerkennungsproblematik von Cannabiskonsumenten (4) folgen mikrologische Untersuchungen zu einzelnen Diskursuniversen des gleichen Problems (5). Geht es unter (4) noch darum, das rechtsstaatliche Problem des Cannabiskonsums in den begrifflichen Rahmen von System und Lebenswelt und der Diskurstheorie des demokratischen Rechtsstaats einzusetzen, sind unter (5) Bereiche wie Rechtsprechung, Verfassungsrechtsprechung und politische Programme als Ausdruck von Bewußtseinsstrukturen beim Umgang mit der Cannabisproblematik zu beleuchten. Die unter (2) und (3) angeeignete theoretische Begrifflichkeit wird unter (4) und (5) einer Probe ausgesetzt und zum Verständnis und zur Beurteilung des rechtsstaatlichen Problems des Cannabiskonsums nutzbar gemacht. Dabei ist die Differenz von Theorie und Empirie zu wahren.

2. Die Begründung gesellschaftlicher Rationalität durch handlungstheoretische Begriffe

Das philosophische Grundproblem der Moderne ist die Vernunft des Subjekts oder die subjektive Vernunft. Ethik versteht sich dabei als Versuch, das Subjekt in seinem Handeln vernünftig anzuleiten. Der Soziologie, überhaupt moderne Wissenschaft, geht es darüber hinaus um die Entwicklung eines begrifflichen Instrumentariums, mit dem die gesellschaftliche Wirklichkeit als die Verkörperung zu unterscheidender Handlungsbereiche beschrieben werden kann. Habermas geht es um die Entwicklung eines solchen Instrumentariums, ohne dafür jedoch das Anliegen der Ethik dem Relativismus der wertfreien, soziologischen Beschreibung zu opfern. Habermas' Soziologie ist kritische Gesellschaftstheorie.

Um ein der Moderne angebrachtes Rationalitätskonzept zu entwickeln, ist es für Habermas sinnvoll, Rationalität anhand des handelnden Subjekts einzuführen. Im modernen Alltagskontext ist der Zusammenhang von Subjekt und Rationalität am wenigsten problematisch,[7] und eine Theorie, die von der Idee vernünftiger privater und öffentlicher Autonomie nicht abrücken möchte (Habermas, 1992, 79/81), beginnt mit dem handelnden und sprechenden Subjekt selbst. Die Annahme, daß sich Rationalität in etwas von den Handlungen und der Sprache der Menschen Unabhängigem manifestieren könnte, wird grundsätzlich abgelehnt. "Die Welt als Inbegriff möglicher Tatsachen konstituiert sich nur für eine Interpretationsgemeinschaft, deren Angehörige sich innerhalb einer intersubjektiv geteilten Lebenswelt miteinander über etwas in der Welt verständigen. Wirklich ist, was sich in wahren Aussagen darstellen läßt, wobei sich wahr wiederum mit Bezugnahme auf den Anspruch erklären läßt, den einer gegenüber Anderen erhebt, indem er eine Aussage behauptet." (Habermas, 1992, 29) Dieser Konstitutionsbegriff der Intersubjektivität ist in Verbindung mit einem Interesse an Emanzipation für die Habermassche Argumentation im ganzen ausschlaggebend. Ihm korreliert eine moderne Semantik, d.h. die Unbestimmtheit, Pluralität und Kontingenz des modernen Wissens.[8] Gerade das rechtsstaatliche Problem des Cannabiskonsums wird dafür ein gutes Beispiel sein. Die Funktionalität von gesellschaftlichen Systemen, also die Funktion der Selbsterhaltung, die scheinbar durch die Subjekte hindurch greift, kann somit nur als eine von Menschen den Systemen zugeschriebene und als eine von menschlichen Handlungen aufrechterhaltene Rationalität bezeichnet werden.[9] Wenn der Begriff von Handlung und Gesellschaft dazu dienen soll, Phänomene der Verdinglichung zu kritisieren, dann muß auch davon ausgegangen werden, daß die menschlichen Lebensverhältnisse durch Menschen selbst geschaffen werden. Gleichwohl muß über den handlungstheoretischen Begriff von Rationalität hinausgegangen werden. "Schon wenn es darum geht, die Rationalität einzelner Personen zu beurteilen, genügt es nicht, auf diese oder jene Äußerung zu rekurrieren. Vielmehr stellt sich die Frage, ob sich A oder B oder eine Gruppe von Individuen im allgemeinen rational verhalten..." (Habermas, 1981a, 72) Die Rationalität der Subjekte ist in der Rationalität der objektiven Lebenswelt aufgehoben.

Wenn einer Handlung Rationalität zugeschrieben wird, kommt man nicht umhin, diese Rationalität zu beurteilen. Beurteilt wird dabei der Sinn, den der Handelnde mit der Handlung verbindet. Wenn man weiß, welchen Zweck, welche Absicht jemand mit einer Handlung erreichen will oder wollte, sind die Mittel in ihrer rationalen Effektivität beurteilbar und begründbar. Jeder absichtlichen, sinnhaften Handlung läßt sich ein angewendetes symbolisches Wissen zuschreiben, das dadurch selbst nach Rationalitätskriterien beurteilt werden kann. Das Spektrum der Verwendung von Wissen reicht von reflexiver Thematisierung bis zu unbewußter Orientierung. Zum einen geht es um das Wissen von den gebotenen Mitteln, das zu der Erreichung der intendierten Zwecke notwendig ist. Ist die Handlung darüber hinaus eine soziale, also eine, in der eine Beziehung zwischen Menschen eingegangen wird, was bei Handlungen eigentlich immer der Fall ist, dann spielen andererseits auch gemeinschaftlich geteilte Normen und Konventionen eine Rolle. Für eine gesellschaftstheoretische Handlungstheorie stehen soziale Handlungen im Mittelpunkt. Solche Handlungen sind dann rational, wenn sie in einer sozialen Beziehung normativ unproblematisch sind, wenn sie nicht als Verletzung von geltenden Normen empfunden werden. Es geht dabei nicht vornehmlich um die Rationalität der Mittel im Verhältnis zu den Zwecken, sondern um die Rationalität der Zwecke, und damit der impliziten Mittel, im Verhältnis zu geltenden Normen. Dafür ist das Wissen von geltenden Normen die Grundlage. Diese Normen können als solche, unabhängig von einer relevanten Handlung, rational begründet werden.[10] Handlungen sind allgemein unter einer normativen und einer zweck-mittel relativen Rationalität zu beurteilen.

Diese Rationalität hängt für Habermas im wesentlichen von dem in Wissen verkörperten Sinn und der sprachlichen Form der Konstituierung und Begründung dieses Sinnes ab. "Die Begründung deskriptiver Aussagen bedeutet den Nachweis der Existenz von Sachverhalten; die Begründung normativer Aussagen den Nachweis der Akzeptabilität von Handlungen bzw. Handlungsnormen; die Begründung evaluativer Aussagen den Nachweis der Präferierbarkeit von Werten; die Begründung expressiver Aussagen den Nachweis der Transparenz von Selbstdarstellungen; und die Begründung von explikativen Aussagen den Nachweis, daß symbolische Ausdrücke regelrecht erzeugt worden sind." (Habermas, 1981a, 67) Diese Rationalitätsauffassung von Handlungen setzt also voraus, daß Handlungen sprachlich begründet und kritisiert werden können, daß dabei ein der Handlung zugrundeliegendes Wissen thematisiert wird und daß sich Rationalität als ein genuin intersubjektives, kommunikatives Problem erweist. Denn "Rationalität hat weniger mit dem Haben von Wissen zu tun als damit, wie sprach- und handlungsfähige Subjekte Wissen verwenden." (Habermas, 1988, 67) Dem entsprechend verhält sich jemand irrational, der Sprache dogmatisch verwendet, also überhaupt nicht kommuniziert und dadurch gleichsam unfähig ist, aus eigenen Fehlern zu lernen. Eine grundlegende Einstellung kommunikativer Rationalität ist demnach der Wille zu begründeter Selbstkritik. (Habermas, 1981a, 44)

Im folgenden soll nun die Rationalität von Handlungen derart entwickelt werden, daß gerade die Defizienz einer subjektiven, monologisch verbleibenden Handlungseinstellung deutlich wird, um über den notwendigen Begriff des kommunikativen Handelns zu Sprechhandlungen und zum Diskurs und seiner normativen Rekonstruktion fortzuschreiten. Es ergibt sich folgende Einteilung: Erstens ist zu klären, welche Arten von rationalen Handlungen Habermas unterscheidet und aus welchem Grunde (2.1.). Daran zeigt sich, daß Handlungen, als soziale Handlungen, unabdingbar mit dem Medium der Sprache zu Zwecken der Verständigung verbunden sind. Habermas entwickelt in diesem Rahmen den Begriff des kommunikativen Handelns. Dieser erfordert die Erläuterung der Sprachverwendung (2.2.). Handlungen werden um Sprechhandlungen erweitert, die die Handlungskoordinierung übernehmen und die Rationalität der Handlung ex ante garantieren sollen. Mit der verständigungsorientierten Kommunikation sind weiterhin Geltungsansprüche verbunden, die derart rekonstruiert werden müssen, daß sie in Form einer Diskurstheorie der Moral die Theorie des kommunikativen Handelns begründend ergänzen (3.3.). Der Diskurs ist die Reflexionsform des kommunikativen Handelns. In ihm ist ein normatives Potential konstitutiv angelegt. Der Perspektivenwechsel zur Normativität ist dem Begriff des kommunikativen Handelns immanent.

2.1. Rationalität und Handlung

Das Grundmodell des rationalen Handelns ist das zweckrationale Handeln. Die Zweckrationalität manifestiert sich dabei nicht im Zweck selbst, sondern in der Effizienz und Effektivität der Mittel und in der Miteinbeziehung von möglichen Nebenfolgen.[11] Es gilt als rationale Handlungsart überhaupt. Die Zwecke verbleiben in der abstrakten Bestimmung, Zwecke des Handelnden zu sein. Nicht nur in den "Soziologischen Grundbegriffen" von Max Weber findet sich eine Handlungstypologie, in der das zweckrationale Handeln gegenüber dem wertrationalen, dem affektuellen um dem traditionalen Handeln den rationalsten Typus einnimmt.[12] Unter Aspekten der Ökonomie findet es sich in den Sozialwissenschaften allgemein an zentralem Ort. "Wenn wir uns fragen, was in der Ökonomie unter rationalem Verhalten verstanden wird, so zeigt sich, daß ein Mensch als rational gilt, wenn er in sich logisch kohärente Ziele verfolgt; wenn sich eine logische Kohärenz zwischen Mitteln, Zielen und den antizipierten Folgen der Zielrealisierung nachweisen läßt; wenn die Antizipation der Handlungsfolgen und nicht-intendierten Nebenwirkungen durch empirische Generalisierungen oder Theorien konfirmiert ist; wenn schließlich der Einsatz der Mittel den angestrebten Zielen - im Sinne von Effektivitätsforderungen - adäquat ist." (Acham, 1984, 37/38) Die Zweckrationalität verbleibt allein im Modus einer "Um-zu-Rationalität". Diese ist um das "Weil-Motiv" des normenregulierten Handelns zu erweitern.[13] Handlungen lassen sich meistens ohne Probleme unter beiden Aspekten begreifen. Dabei sind die Zwecke in einen normativen Kontext eingebettet, so daß an jede "Um-zu" Begründung eine "Weil" Begründung angeschlossen werden kann. Auf diese beiden Begründungsweisen wird im Alltag schlechterdings nicht verzichtet.

Allein das Wissen darüber, wie man etwas erreicht, ist offensichtlich ungenügend, eine Handlung zu begründen. Habermas wählt bei seiner Erläuterung von rationalem Handeln einen Weg, der der Zentralstellung des zweckrationalen Handelns entgegengesetzt ist. In seiner Handlungstypologie wird der Rationalitätsanspruch in der Erweiterung des zweckrationalen Handelns immer umfassender und endet beim kommunikativen Handeln. Im Rückschritt kann dann die Defizienz des zweckrationalen Handelns, wie überhaupt aller Handlungskonzepte, die nicht dem Idealtypus des kommunikativen Handelns angemessen sind, aufgezeigt werden. Die Kritik am zweckrationalen Handeln zielt dabei nicht auf die dort explizite Rationalität, sondern auf die meist damit verbundene egozentrische Erfolgsorientierung, die Subjektivität und die Reduktion des Normativen.

Habermas legt seiner Handlungstypologie ein dreistelliges Weltkonzept zugrunde. Diese drei Welten werden nicht als ein von Menschen unabhängiges ontologisches Sein verstanden, sondern als eine notwendige Implikation menschlicher Verständigung. Habermas unterscheidet eine objektive Welt der Tatsachen und Sachverhalte, eine intersubjektive soziale Welt von geteilten Normen und Werten und eine subjektive Welt eigener Erlebnisse und Absichten. Die Handlungsarten unterscheiden sich darin, inwieweit in ihnen auf diese Welten Bezug genommen wird. Und "von den Weltbezügen, die wir dem Aktor damit unterstellen, hängen wiederum die Aspekte der möglichen Rationalität seines Handelns ab." (Habermas, 1981a, 126) Diesen Weltbezügen ist ein je spezifischer Wissensbereich eigen. Das Wissen von der objektiven Welt ermöglicht es, auf diese effektiven Einfluß zu nehmen. Dabei sind Techniken wie das antizipierbare Verhalten von anderen Aktoren zu berücksichtigen. Dieses Wissen ist ausschlaggebend für die Relation von Zwecken und Mitteln. Das Wissen von der sozialen, intersubjektiven Welt verkörpert die geltenden Normen und ermöglicht ein normenkonformes Handeln. Die subjektive Welt der eigenen Erlebnisse und Intentionen ist der Bezugspunkt, zu dem das Subjekt einen privilegierten Zugang hat und der eine authentische Selbstdarstellung oder eine wahrhaftige Absicht ermöglicht. Der Bezug zur subjektiven Welt unterscheidet sich von den anderen Weltbezügen kategorial durch seine nicht argumentative Disposition. Ob eine Absicht wahrhaftig ist, kann sich nicht schon in einer Argumentation ergeben. Der eigene privilegierte Zugang impliziert den benachteiligten Zugang für andere.

Mit diesen Aktor-Welt-Bezügen geht die soziologische Unterscheidung von Beobachter und Teilnehmer, von Handeln und Verhalten einher. Die Beobachtung bezieht sich allein auf die objektive Welt der Tatsachen; der Teilnehmer darüber hinaus auf die normative Welt. Bei der bloßen Beobachtung der objektiven Welt können menschliche Aktionen allein als Verhalten wahrgenommen werden, der Sinn wie die normative Orientierung des Handelnden verschließen sich einer Beobachtung, da man in das innere des Menschen nicht schauen kann. Die intersubjektive Welt der Normen wie die subjektive Welt des Handelnden öffnen sich nur für einen Teilnehmer, der mit dem Handelnden eine kommunikative Beziehung eingeht. "Aus der Perspektive eines Beobachters können wir eine Handlung identifizieren, aber nicht mit Sicherheit als die Ausführung eines spezifischen Handlungsplanes beschreiben; denn dazu müßten wir die zugehörige Handlungsintention kennen. Diese können wir anhand von Indikatoren erschließen und dem Handelnden hypothetisch zuschreiben; um uns ihrer zu vergewissern, müßten wir die Teilnehmerperspektive einnehmen können." (Habermas, 1988, 64) Ein weiterer Aspekt der Unterscheidung von normativer und objektiver Welt ist, daß der Wahrheitsanspruch von Aussagen über Tatsachen nicht mit dem Richtigkeitsanspruch von Aussagen über Normen und Werte gleichzusetzen ist. Damit ist nichts über eine qualitative Bewertung der Bezüge zu den Welten gesagt. Habermas geht allerdings grundlegend davon aus, daß "heute vielmehr alles diskursive Wissen fallibel und mehr oder weniger kontextabhängig, mehr oder weniger generell, mehr oder weniger strikt ist; andererseits tritt nicht allein das nomologische Wissen der objektivierenden Erfahrungswissenschaften mit einem universellen Geltungsanspruch auf." (Habermas, 1991, 125) Normative Probleme des Guten und Gerechten sind im allgemeinen schwieriger zu lösen als sich widersprechende Tatsachenfeststellungen. Auch wenn diese durchaus einen nicht unerheblichen Streitwert haben und normative Fragen immer auch von Tatsachen abhängen, haben das Gute und das Gerechte einen stärkeren Problematisierungssog. Die Welt der Normen konstituiert sich an sich intersubjektiv, Tatsachen konstituieren sich für eine Interpretationsgemeinschaft.[14] Für Habermas ist es wichtig, der "normativen Realität der Gesellschaft" einen der objektiven Welt gleichberechtigten Status einzuräumen. Denn "Sprecher und Hörer handhaben ein System von gleichursprünglichen Welten." (Habermas, 1981a, 126)

Rationalität unterteilt sich folglich in naturwissenschaftliche und soziale Technologie, in die Rationalität von Normen, Normenkonformität und sozialer Integration und in die Rationalität einer authentischen, wahrhaftigen Selbstdarstellung. Die Weltbezüge und die Rationalitätsimplikationen sind keine disjunktiven Trennungen, vielmehr finden wir in Alltagskommunikationen alle drei Aspekte am gleichen Ort. Es kann allerdings zu Verzerrungen kommen, wenn bestimmte Weltbezüge privilegiert werden. Zu den Welten, ihrer Verkörperung in bestimmten Wissensarten und der Möglichkeit ihrer Rationalität lassen sich verschiedene Handlungsarten zuordnen. Habermas unterscheidet zweckrationales Handeln, normenreguliertes Handeln, dramaturgisches Handelns und kommunikatives Handeln.

Den Handlungstypus des zweckrationalen Handelns unterteilt er darüber hinaus in instrumentelles und strategisches Handeln. Geht es beim instrumentellen Handeln allein um ein technisches Wissen bei der Mittelwahl, muß beim strategischen Handeln der "Wirkungsgrad der Einflußnahme auf die Entscheidungen eines rationalen Gegenspielers" berücksichtigt werden. (Habermas (1977), 1984, 460) Diesen Handlungen ist gemein, daß sie sich allein auf die objektive Welt der Sachverhalte beziehen und somit nur empirisches Wissen in Anspruch nehmen. Diese Reduktion auf das Wissen von Tatsachen führt zu Problemen, wenn die Geltung von Normen und somit die Orientierung an diesen Normen für soziales Handeln in Betracht gezogen wird. Denn beim strategischen Handeln wird die Perspektive eines Teilnehmers an einer Interaktion, der die Geltung von Normen symmetrisch anerkennt, also für sich selbst wie für die anderen, durch die Perspektive eines Beobachters ersetzt, der die Geltung von Normen allein in ihrer Anerkennung durch andere für seine eigenen Zwecke berücksichtigt. Die Frage, ob eine Norm allgemein gilt oder gelten soll, wird eliminiert. Es geht allein um das antizipierbare Verhalten des Anderen, welches durch die Geltung von Normen mehr oder weniger exakt vorausgesagt werden kann. Eine Handlungstheorie, die in einer solchen monologischen, subjektiven Objektivation im Rahmen des zweckrationalen Handeln verbleibt, muß die normative intersubjektive Dimension und dadurch zwangsläufig die subjektive Wahrhaftigkeit verkürzen. Normen verlieren dadurch ihren eigentlichen Sinn, nämlich die auf Einverständnis beruhende intersubjektive, symmetrische Handlungsregulierung. "Auch der strategisch Handelnde behält jeweils seinen lebensweltlichen Hintergrund im Rücken (also auch Normen und Werte B.S.) und die Institutionen und Personen seiner Lebenswelt vor Augen - aber beides in verwandelter Gestalt. Der lebensweltliche Hintergrund wird für die Bewältigung der unter Imperative erfolgsorientierten Handelns geratenen Situationen eigentümlich neutralisiert; er verliert seine handlungskoordinierende Kraft als konsensverbürgende Ressource." (Habermas, 1988, 97)

Wenn Habermas die Handlungssystems Wirtschaft ûnd Bürokratie als "Räume normfreier Sozietät" beschreibt, ist genau diese defizitäre Normativität gemeint. Eine geradezu gebotene Asymmetrie des Bezugs auf Normen führt in der Tendenz zur Normenfreiheit. Neben der Tendenz zu strategischen Handlungen in Systemen ist das Einfrieren des Normativen ein weiterer wichtiger Aspekt. Gerade der Rechtsstaat konstituiert sich durch positives Recht, welches unmittelbar nicht zur Disposition steht. Das reflexive Recht ist jedoch gleichzeitig Handlungs- und Normensystem. Die kommunikative und teilnehmende Bearbeitung der Rechtsnormen und die davon abhängende Legitimitätsprüfung ist an bestimmte, selbst durch Recht geregelte Bereiche delegiert.

Für die Normativität von Handlungen sind neben den Unterscheidungen von Verhalten und Handlung, von innerer und äußerer Handlung, noch die von Legalität und Moralität, von Geltung und Gültigkeit, und von Akzeptanz und Akzeptabilität wesentlich. "Daß eine Norm idealiter gilt, bedeutet: sie verdient die Zustimmung aller Betroffenen, weil sie Handlungsprobleme in deren gemeinsamen Interesse regelt. Daß eine Norm faktisch besteht, bedeutet hingegen: der Geltungsanspruch, mit dem sie auftritt, wird von den Betroffenen anerkannt, und diese intersubjektive Anerkennung begründet die soziale Geltung der Norm." (Habermas, 1981a, 133) Beim strategischen Handeln wird von der intersubjektiven Gültigkeit, der Akzeptabilität der Normen überhaupt und von der Allgemeinheit der sozialen Geltung zu Gunsten einer eigennützigen Objektivation abstrahiert. Über die Wahrhaftigkeit der Absicht, also über den Bezug auf die eigene subjektive Welt, wird getäuscht. In freundschaftlichen oder familiären Beziehungen verstoßen strategische Handlungen gegen geltende Normen. Gleichwohl zeichnet sich der Rechtsstaat durch eine nicht unerhebliche Freisetzung von strategischen Handlungen aus. Für das positive Recht gilt, daß seinen Normen aus Gründen moralischer Gesinnung wie auch aus bloßem Legalitätszwang Gefolge geleistet werden kann. An Recht orientierte strategische Handlungen können in soziale, auf Konsens beruhende Lebensbereiche eindringen. (Habermas, 1992, 55)

Die Rationalität des zweckrationalen Handelns ergibt sich also allein aus dem Bezug des Handelnden zu der objektiven Welt der dinglichen Sachverhalte und des Verhaltens anderer Menschen. Diese Rationalitätsforderung ist grundlegend. Im Bezug zur intersubjektiven Welt der Normen ist sie gleichwohl ungenügend, wenn Habermas nachweisen kann, daß es einen vernünftigen oder rationalen Umgang mit Normen in seiner Möglichkeit gibt, bei dem ein normativer Rationalitätsanspruch gestellt wird, der einer Zweck-Mittel Rationalität gleichwertig ist.

Zweckrationales Handeln ist immer auch in einen normativen Kontext eingebettet. Normenreguliertes Handeln, als zweiter Handlungstypus liegt immer vor. Geht man von Differenzierungen in der Reflexivität bei normativen Handlungstypen aus, dann kann normenorientiertes Handeln als eine reflexivere Form des normenregulierten Handelns gelten. Wie die Zweck-Mittel Relation für das Handeln des denkenden Menschen konstitutiv ist, kommt kein Mensch umhin, in seiner Sozialisation auf spezifische Weise kulturell, gesellschaftlich allgemeine Normen und Werte zu internalisieren. Im normenregulierten Handeln steht der Handelnde nicht als einzelner einer objektiven Welt von Sachverhalten gegenüber, sondern befindet sich mit anderen Handelnden in einer intersubjektiv geteilten Welt von geltenden Normen. Die Rationalität der Handlung erweitert sich um den angemessenen Bezug zur normativen Geltung und somit um die Gültigkeit von Normen und Werten. Der Handelnde nimmt nun auf die objektive und die soziale Welt Bezug. Die Rationalität der Handlung bemißt sich an der Relation von Zweck und Mittel, als die Anwendung eines Wissen von der objektiven Welt und an der Orientierung an geltenden Normen, als Anwendung eines Wissens von der sich intersubjektiv konstituierenden sozialen Welt. "Wer zweckmäßig handeln will, entscheidet sich zwischen Handlungsalternativen im Hinblick auf präferierte Ziele; und die Ziele selegiert er unter Wertgesichtspunkten." (Habermas, 1991, 169)

Die Gültigkeit der Norm wird in all diesen Fällen unterstellt oder gar nicht hinterfragt. Gerade die Reflexivität und die Pluralität der modernen intersubjektiven Welt stellen diese Gültigkeit in Frage. Weil es im wesentlichen um die Rationalität der Norm selbst, um die Gültigkeit der Norm geht, ist das auf Normenkonformität allein ausgelegte normenregulierte Handeln defizitär. Der Blick richtet sich vielmehr auf die intersubjektive Genesis der Normen, als eine stetige und reflexive Entproblematisierung des Normativen. Würden wir bei normativer Rationalität von Normenkonformität allein ausgehen, die Geltung von Normen annehmen, die Möglichkeit der Bestimmung ihrer Gültigkeit jedoch bestreiten, dann bestimmt sich die Rationalität der subjektiven Handlung allein aus der Identität mit einer objektiven Norm. Der Sinn einer Norm wird auf die Quantität der Befolgung reduziert und ist somit der Ausdruck eines bloß geordneten Verhaltens. Wenn eine solche Entsubjektivierung des Subjekts verhindert werden soll, müssen Normen begründet werden können. Das setzt voraus, daß Subjekte Normen begründen wollen. Letztendlich muß unterstellt werden, daß Subjekte faktisch Sollensforderungen stellen und somit ihre Moralität und Autonomie unterstellen. (Habermas, 1983, 60 ff.) Im Rahmen der Rationalitätstheorie von Habermas sind der Nachweis und die Begründung einer Rationalität von Normen notwendig. Kann die Rationalität von Normen nicht das gleiche Begründungsniveau erreichen wie das des Rationalitätsbezugs zur objektiven Welt, dann muß das Prädikat rational allein dem zweckrationalen Handeln vorbehalten bleiben. Normativität wäre der Rationalität entgegengesetzt. Die Begründung normativer Rationalität soll die Diskursethik leisten.

Unter dramaturgischem Handeln versteht Habermas eine authentische Selbstdarstellung, in der im wesentlichen auf die subjektive Welt Bezug genommen wird. Im dramaturgischen Handeln nimmt der Handelnde gegenüber Anderen eine sich selbst darstellende Position ein. Der Bezug "zur Sphäre seiner eigenen Absichten, Gedanken, Einstellungen, Wünsche, Gefühle usw." (Habermas, 1981a, 128) ist dann rational, wenn sich der Handelnde ohne "Täuchungsabsicht" gegenüber sich oder anderen wahrhaftig auf diese seine eigene subjektive Welt bezieht. Ob dieser Bezug wahrhaftig oder authentisch ist, kann nur das zukünftige Handeln wirklich zeigen. Der privilegierte Zugang zur eigenen subjektiven Welt entzieht sich einer gleichberechtigten Thematisierung durch andere. Der Bezug zur subjektiven Welt zeigt darüber hinaus, daß Absicht und Ziel des zweckrationalen Handelns differenziert werden müssen. Zwischen der Wahrhaftigkeit der Absicht und der Wahrheit der Erreichung des Ziels besteht ein kategorialer Unterschied in den Weltbezügen. Dieser besteht auch zwischen der Wahrhaftigkeit der Absicht, sich an einer gültigen Norm zu orientieren und zwischen der Gültigkeit der Norm. Der Bezug zur eigenen Subjektivität ist in Verbindung mit den anderen Weltbezügen der primäre Ort der Identitätsbildung und des Ausdrucks von Kompetenz.

Zusammenfassend nimmt der Handelnde also Bezug auf etwas Objektives, Normatives und Subjektives. Wenn sich jemand im Alltag sprachlich über seine Handlung äußert, indem er etwa in bezug auf die Vergangenheit nochmals betont, daß der Wunsch, dieses oder jenes zu tun bestand, daß die Mittel zur Erreichung von diesem oder jenem am besten geeignet waren und daß die Handlung in bezug auf gesellschaftliche Normen unproblematisch war, dann bezieht er sich auf drei zu unterscheidende Welten. Die angeführten Handlungsarten betonen dabei jeweils einen Aspekt. Zusammengefaßt kann eine rationale Handlung als die Anwendung von Mitteln verstanden werden, die zur Erreichung eigener Zwecke hinreichend ist, über die andere Menschen nicht getäuscht werden und die normativ unproblematisch sind.

Handlungstheoretische Probleme, wie das normativ und sozial defizitäre strategische Handeln, die perspektivische Verengung der je einzelnen Handlungstypen in Verbindung mit einer modernen Welt, in der Tatsachen, Normen und Absichten reflexiv und strittig sind, verlangen nach einem diese Schwierigkeiten berücksichtigenden Handlungsbegriff. Als Antwort auf eine strittige und problematische soziale Welt der Normen reicht eine Konzeption des je am eigenen Erfolg orientierten und in bezug auf Normen im Subjektiven verbleibenden Handelns nicht aus. Im Rahmen eines monologischen, subjekttheoretischen Ansatzes bleibt zur Überwindung des strategischen Handelns und als Reflexivwerden des normenregulierten Handelns nur eine monologische Objektivation von Normen übrig. Das Subjekt prüft seine eigenen Maximen auf die Tauglichkeit zu einem allgemeinen Gesetz. Es stellt sich damit die Frage, ob es moralisch handelt. Im kantischen Sinne der dritten Formulierung des kategorischen Imperativs wird geprüft, ob andere Menschen nicht als Mittel, sondern immer nur als Zweck berücksichtigt werden. Die Kritik an diesem ethischen Prinzip läuft darauf hinaus, daß die Fähigkeit eines einzelnen Subjekts, diese Fragen zu klären, bezweifelt wird. Um ein anderes Subjekt selbst als Zweck zu berücksichtigen, ist man gezwungen, sich über diese Zwecke und ihre Relevanz für die problematisierte Handlung als Teilnehmer zu verständigen. "Aus dieser Perspektive bedarf auch der kategorische Imperativ einer Umformulierung, in dem vorgeschlagenen Sinne: "Statt allen anderen eine Maxime, von der ich will, daß sie ein allgemeines Gesetz sei, als gültig vorzuschreiben, muß ich meine Maxime zum Zweck der diskursiven Prüfung ihres Universalitätsanspruches anderen vorlegen. Das Gewicht verschiebt sich von dem, was jeder einzelne ohne Widerspruch als allgemeines Gesetz wollen kann, auf das, was alle in Übereinstimmung als universale Norm anerkennen wollen." (McCarthy, Kritik der Verständigungsverhältnisse, 1980, 371) Gerade um Irrtümer und Lernprozesse, überhaupt die Genese von gerechten Normen zu verstehen, sind intersubjektive Begriffe gefordert.

Habermas führt dafür den Begriff des kommunikativen Handelns ein. Dieser holt die Asymmetrie des strategischen Handelns und subjektiver Handlunskonzepte in eine symmetrische, intersubjektiv ausgeglichene, auf gegenseitige Anerkennung beruhende Verständigung zurück. Probleme, die von einem einzelnen Subjekt theoretisch wie praktisch nicht gelöst werden können, werden unter kommunikationstheoretischen Begriffen neu angegangen. Dabei ist der Grundgedanke einer Subjekt - Objekt Beziehung als eine Subjekt - Subjekt Beziehung zu begreifen. Kommunikatives Handeln besagt, daß das Handeln an Ergebnissen sprachlicher Verständigung orientiert ist. Bevor gehandelt wird, muß sich kollektiv und gleichberechtigt über eine angemessene Deutung der relevanten Sachverhalte, Normen und Einstellungen verständigt werden. Das kommunikative Handeln bezieht sich dabei auf alle drei Welten und nimmt für Habermas folglich den rationalsten Typus des Handelns ein. Es geht gleichzeitig um den intersubjektiven Bezug auf die objektive Welt, um den intersubjektiven Bezug auf die soziale Welt und um den Bezug zu den je eigenen subjektiven Welten. Diesem theoretischen Idealtypus von rationalem sozialen Handeln liegt die Idee zugrunde, daß Tatsachen- und Normenprobleme unter der reziproken Anerkennung aller Beteiligten gelöst werden. Gegenüber den anderen Handlungsarten liegt die Betonung auf Kommunikation, auf verständigungsorientiertem Sprachgebrauch. Alle kommunikativ Handelnden versuchen gemeinsam einen "Konsens" über Differenzen herzustellen. Nur so ist es möglich, die anderen Subjekte nicht objektivierend zu verdinglichen. Dabei steht nicht das faktische Ziel im Mittelpunkt, sondern die Absicht. Auch heißt Konsens nicht, daß nach dem Konsens keine Differenzen mehr bestehen können. Ein Konsens als Anerkennung von Differenzen wird nur auf eine andere Ebene gehoben. Erst die intersubjektive Anerkennung des Objekts als sprechendes und argumentierendes Subjekt ermöglicht eine über die Egozentrik hinausgehende Allgemeinheit von Normen. Normen konstituieren sich überhaupt nur in dieser Symmetrie.

Wenn kommunikatives Handeln als Gegensatz zum zweckrationalen Handeln oder gar zum Begriff der Arbeit verstanden werden will, ergeben sich daraus reduktionistische Konsequenzen. In einem kommunikativen Begriffsrahmen ist Arbeit vielmehr ein an vorgegebenen Zwecken orientiertes, rationales Mittelhandeln, welches durch ethische und rechtliche Normen kommunikativ vermittelt Identitäten und soziale Kompetenzen hervorbringt und stabilisiert. Auch bei der materialen Reproduktion und Produktion muß eine intersubjektive Allgemeinheit des Normativen zugrunde gelegt werden. Und "die Normenadressaten werden zur durchschnittlichen Normenbefolgung nur dann hinreichend motiviert sein, wenn sie die in den Normen verkörperten Werte verinnerlichen. Zwar ist die Internalisierung, die den Wertorientierungen der Handelnden eine motivationale Grundlage verschafft, in der Regel kein repressionsfreier Vorgang; er resultiert aber in einer Gewissensautorität, die für den einzelnen das Bewußtsein von Autonomie mit sich führt. Nur in diesem Bewußtsein findet der eigentümlich verpflichtende Charakter geltender sozialer Ordnungen einen Adressaten, der sich aus freien Stücken binden läßt." (Habermas, 1992 91)

Kommunikatives Handeln und normativ legitimierte Repression sind von dem Grad der Reflexivität des Wissens abhängig. Erst nach dem Reflexivwerden kann die normative Dimension einen bewußt repressiven und auch kommunikativen Charakter erhalten. Dann ist die Allgemeinheit der Norm zur Frage erhoben. Das positive Recht als normative und gleichsam reflexive Ordnung, die durch Kommunikation gesetzt wird und kollektive Handlungsorientierung gewährleistet, kann abstrakt als kommunikatives Handeln bezeichnet werden. Gleichwohl sind alle Aspekte der Handlungstypen im Recht vertreten. Bei einer unmittelbaren strafrechtlichen Verfolgung ist das an Rechtsnormen orientierte strategische Handeln gerade in bezug auf die Allgemeinheit der zugrunde gelegten Normen problematisierbar.

Zusammenfassend können wir das handlungstheoretische Rationalitätskonzept von Habermas als die gleichberechtigte, auf gegenseitige Anerkennung beruhende Verständigung über strittige Sachverhalte, über problematische Normen und über wahrhaftige Selbstdarstellungen verstehen, die eine umfassende Rationalität von sozialen Handlungen ermöglicht. Die Bürde der Handlungskoordinierung übernimmt damit die Sprache, die Verwendung der Sprache. Handlungen sind gleichzeitig unter einem zweckrationalen, einem normativen und einem dramaturgischen Aspekt zu begreifen, welche im kommunikativen Handeln zusammengefaßt werden. Für die sprachtheoretische Weiterführung der Handlungsbegriffe rücken sprechakttheoretische Begriffe in den Mittelpunkt. Es geht um die Frage, ob Sprache und Sprechen überhaupt als intersubjektiv symmetrisch verstanden werden kann, wie es im kommunikativen Handeln unterstellt wird.

2.2. Rationalität und Sprache

Die Rationalität des kommunikativen Handelns, die aus theoretischen und empirischen Gründen an Plausibilität gewonnen hat, verweist auf das Medium der Sprache und die Praxis des Sprechens. Aus sozialer Perspektive sind Handlung und Sprache generell nicht zu trennen. Auch in der Sprechakttheorie finden sich die Probleme eines monologischen Ansatzes.

Folgende Aspekte von Sprache und Sprechen führt Habermas ein, um kommunikative Rationalität weiter zu erläutern: "Es handelt sich um die Unterscheidung zwischen Geltungsansprüchen (Wahrheit, Richtigkeit, Wahrhaftigkeit), welche Sprecher mit ihren Äußerungen erheben; zwischen Welten (objektiv, sozial, subjektiv), auf die sich die Sprecher mit ihren Äußerungen beziehen; zwischen Grundeinstellungen (objektivierend, normenkonform, expressiv), die sie dabei einnehmen und zwischen denen sie in performativer Einstellung kontinuierliche Übergänge herstellen können, und zwischen Sprechaktklassen (konstativ, regulativ, repräsentativ), die reine Modi der Sprachverwendung (kognitiv, interaktiv, expressiv) anzeigen." (Habermas, 1980, 551) Die Weltbezüge und die damit verbundenen Grundeinstellungen werden um Sprechaktklassen, Geltungsansprüche und Formen der Sprachverwendung erweitert. Den drei Weltbezügen, die die Rationalität des Handelns konstituieren, korrelieren auf sprachlicher Ebene Geltungsansprüche, die intersubjektiv erhoben werden können. Jede Sprachverwendung bezieht sich mit dem Anspruch der Wahrheit auf die objektive Welt der Tatsachen und Sachverhalte, bezieht sich mit dem Anspruch der Richtigkeit auf die soziale Welt der Normen und enthält expressive Elemente der Wahrhaftigkeit in bezug auf die subjektive Welt.

Wenn sich zum Beispiel jemand über das rechtsstaatliche Problem des Cannabiskonsums äußert, indem er sagt: "Aufgrund der körperlichen und geistigen Schäden, die durch den Konsum von Cannabis entstehen, bin ich überzeugt, daß dieser Konsum mit dem Mittel des Strafrechts auf das schärfste verfolgt werden muß." so sind empirische Tatsachenelemente, normative Elemente und expressive Elemente unschwer zu unterscheiden. In dieser Behauptung werden Geltungsansprüche auf Wahrheit, auf Richtigkeit und auf Wahrhaftigkeit erhoben.

Habermas geht es nun um den Nachweis, daß symmetrische Verständigung gegenüber einer bloßen Informationsübertragung oder einer erfolgsorientierten, gegenseitigen Beeinflussung den originären Modus der Verwendung von Sprache einnimmt. Das soll die Theorie der Sprechakte leisten.[15] Sprechakte sind zum Beispiel: Eine Tatsache feststellen, einen Hinweis geben, einen Rat geben, etwas vorschlagen, eine Warnung aussprechen, etwas gestehen, einen Befehl geben, jemanden anklagen, jemanden beschimpfen, jemanden belügen usw. Es gibt offensichtlich verschiedene Möglichkeiten, Sprache zu verwenden. Sprechakte sind ohne Zweifel konstitutiv für soziales Handeln, für soziale Beziehungen überhaupt. Sie gehen jedoch nicht völlig in einer egozentrischen Perspektive auf. Etwas vorschlagen bezeichnet offensichtlich einen anderen Typus des Handelns als jemanden belügen. Nimmt ein Vorschlag Rücksicht auf die Stellungnahme von Alter, verbleibt der Lügende in seinem Ego.

Für die Unterscheidung von kommunikativer und strategischer Sprachverwendung greift Habermas auf die sprechakttheoretischen Begriffe Illokution und Perlokution zurück. (Habermas, 1988, 70 ff.) Diese unterscheiden sich im Sinne von Absicht und Wirkung. Der illokutionäre Bestandteil einer Äußerung deklariert diese als einen Sprechakt. Die Perlokution geht über die Deklaration hinaus. Nehmen wir als Beispiel folgenden Sprechakt: "Ich rate ihnen, dieses Auto mit Luxusausstattung zu kaufen, da sie dafür nur einen geringen Aufpreis zahlen müssen." Der illokutionäre Bestandteil dieser Äußerung ist "einen Rat geben". Der propositionale Gehalt dieser Äußerung ist das "Kaufen des Autos mit Luxusausstattung". Ein illokutionärer Erfolg wird erzielt, wenn der illokutionäre Bestandteil und der propositionale Gehalt erstens verstanden und zweitens akzeptiert werden. Dort sind, wie unschwer zu sehen ist, alle Weltbezüge und Geltungsansprüche enthalten. Habermas unterscheidet darüber hinaus drei verschiedene perlokutionäre Ziele oder Erfolge. Der erste perlokutionäre Erfolg folgt unmittelbar auf das illokutionäre Ziel. Es ist die Verwirklichung des Ziels, welches in der Illokution grammatisch angelegt ist; die Umsetzung der Akzeptanz in Handlung. In dem Beispiel folgt auf das Verstehen und Akzeptieren des Rates das Kaufen des Autos mit Luxusausstattung. Davon lassen sich zweitens perlokutionäre Effekte unterscheiden, die mit dem Sprechakt zwar nicht intendiert waren, jedoch das erste perlokutionäre Ziel nicht beeinträchtigen. Das wäre zum Beispiel der Fall, wenn mit dem Kauf des Autos das Ansehen des Käufers in seiner Nachbarschaft steigen würde. Diese perlokutionären Effekte können durchaus thematisiert werden. (Habermas, 1988, 71) Der dritte perlokutionäre Erfolg ist nun von der Art, daß er nur gelingt, wenn er nicht thematisiert wird. Er hängt damit von dem illokutionären Erfolg ab, welcher die beiden vorigen perlokutionären Effekte unproblematisch einschließt. Man kann von einer verschwiegenen "Illokution" sprechen. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn das fragliche Auto zwar mit Luxusausstattung aber ohne Motor verkauft werden soll. Dieser Betrug hängt davon ab, ob der Rat angenommen, die wirkliche Absicht jedoch verheimlicht wird. Mit diesem latent-strategischen Handeln ist für Habermas der geforderte Nachweis erbracht. Denn "der latent-strategische Sprachgebrauch lebt parasitär vom normalen Sprachgebrauch, weil er nur funktioniert, wenn mindestens eine Seite davon ausgeht, daß die Sprache verständigungsorientiert gebraucht wird." (Habermas, 1988, 72) Das begründet Verständigung als fundamentales, primäres Ziel oder als primäre Absicht der Sprache.

Einen manifest-strategischen Sprachgebrauch unterscheidet Habermas von latent-strategischem Sprachgebrauch dadurch, daß dort die normativen und expressiven Geltungsansprüche, die eigentlich sprachlich erhoben werden, durch "sprachexterne" Mittel unterstützt oder zum Teil gar ersetzt werden. Die parasitäre Nutzung der Illokution ist nicht mehr nötig. Durch Belohnung oder Gewaltandrohung wird der normative Kontext, der einen Sprechakt als richtig erscheinen läßt, ersetzt. Der Bankräuber, der mit gezogener Waffe die Geldübergabe fordert, unterstreicht die Ernsthaftigkeit und den Normenverstoß seines Anliegens mit einer Drohung. Die immanente Kraft der sprachlichen Geltungsansprüche wird durch die Geltung der Waffe ersetzt. Der Bezug zu den Tatsachen kann jedoch nicht durch sprachexterne Mittel beeinflußt werden. Auch mit gezogener Waffe bleibt der Tresor leer, wenn er leer ist. Gleichwohl beschränkt sich der strategische Sprachgebrauch insgesamt auf Geltungsansprüche in bezug auf die objektive Welt. Es geht um einen konstativen Sprachgebrauch, der allein an Tatsachen orientiert ist, sich und andere Subjekte in objektivierender Einstellung beobachtet. Zu Gunsten dieser Sprachverwendung werden regulative und interaktive Aspekte der sozialen Integration, wird die soziale Welt der Normen wie auch der Wahrhaftigkeitsanspruch in bezug auf die eigene subjektive Welt durch Macht ersetzt. Ein allein Tatsachen feststellender Sprecher wird in einer Kommunikation als unnahbar, als "unsozial", als zur Herstellung einer sozialen Beziehung unfähig erfahren. Und gerade der sich auf Recht beziehende Sprecher kann einerseits die normative Geltung durch die Macht der Ausführung unterstreichen, andererseits durch Argumente ergänzen oder bestreiten. Recht kann also durch Handeln und Sprechen latent-strategisch, manifest-strategisch oder aber verständigungsorientiert in Anspruch genommen werden.

[...]


[1] "Die diskurstheoretische Entschlüsselung des demokratischen Sinnes rechtsstaatlicher Institutionen muß ergänzt werden durch die kritische Untersuchung der in sozialstaatlichen Massendemokratien wirksamen Mechanismen der Entfremdung der Bürger vom politischen Prozeß" (Habermas, 1990b, 43) "Deshalb plädiere ich für ein asketisches Verständnis der Moraltheorie und sogar der Ethik, überhaupt der Philosophie, um Platz zu gewinnen für eine kritische Gesellschaftstheorie. Diese kann auf ganz andere Weise der wissenschaftlichen Vermittlung und Objektivierung von Selbstverständigungsprozessen dienen; diese sollten weder einem hermeneutischen Idealismus anheimfallen noch zwischen philosophischem Normativmus und soziologischem Empirismus hindurchfallen. Das ist ungefähr die Architektonik, die mir negativ, d. h. unter Vermeidungsgesichtspunkten vor Augen steht." (Habermas, 1990a, 145)

[2] Weitere Beispiele sind die Stellungnahme zum "Gewaltgutachten" der Bundesregierung (Habermas, 1990a, 167 ff.) und der Beitrag zum Feminismus (Habermas, 1992a, 506 ff.) Es wird die theoretisch rekonstruierte Allgmeinheit im Besonderen aufgezeigt.

[3] "Der zunächst rekonstruktiv zur Geltung gebrachte normative Gehalt ist teilweise der sozialen Faktizität beobachtbarer politischer Prozesse selbst eingeschrieben. Eine rekonstruktiv verfahrende Soziologie der Demokratie muß deshalb ihre Grundbegriffe so wählen, daß sie die in den politischen Praktiken, wie verzerrzt auch immer, bereits verkörperten Partikel und Bruchstücke einer "existierenden Vernunft" indentifizieren kann." (Habermas, 1992, 149)

[4] "Mit dieser Projektion (von Geltungsansprüchen B.S.) verlagert sich die Spannung zwischen Faktizität und Geltung in Kommunikationsvoraussetzungen, die, auch wenn sie einen idealen und nur annäherungsweise zu erfüllenden Gehalt haben, alle Beteiligten faktisch jedesmal dann machen müssen, wenn sie überhaupt die Wahrheit einer Aussage behaupten und bestreiten, und für die Rechtfertigung dieses Geltungsanspruches in eine Argumentation eintreten möchten." (Habermas, 1992, 31)

[5] "Wiederum muß man die normative Diskussion, die wir soeben führen, von einer soziologischen Diskussion unterscheiden. Aus dem Blickwinkel eines soziologischen Beobachters mögen sich Maximen als eine Klasse von Phänomenen empfehlen, an denen sich die konkrete Sittlichkeit einer Gruppe gut studieren läßt. Maximen genießen soziale Geltung; damit sind sie, soweit es sich um schiere Konventionen handelt, für die Aktoren selbst auch normativ verbindlich. Deshalb können wir die Perspektive wechseln und von der Betrachtung zur Beurteilung übergehen, nämlich überlegen, ob die Gründe, aus denen sie ihre Maximen gewählt haben, auch noch für uns gute Gründe sind." (Habermas, 1990, 142)

[6] "Acting subjekts become subordinated to the imperatives of apparatuses that have become autonomous and substitute for communicative interaction." (Cohen, Arato, 1992, 448)

[7] "Nur bei Subjekten können wir in einem nicht-metaphorischen Sinn davon sprechen, daß sie Probleme als Aufgaben (als theoretische, technische, strategische oder praktische Aufgaben) wahrnehmen und mit Hilfe von Wissen, d.h. mit dem Anspruch auf Gültigkeit bearbeiten." (Habermas (1977), 1984, 453)

[8] Auch Luhmann arbeitet "mit der Unterscheidung von Gesellschaftsstruktur und Semantik. (Er) geht davon aus, und das soll an Fallstudien verdeutlicht werden, daß die Semantik (also in der sinnhaft-referentiellen Kommunikationsstrukturen) eine sanfte Mischung von Kontinuitäten und Diskontinuitäten und ein anderer Zeitryhthmus möglich sind." (Luhmann, 1989, 7) Wenn Luhmann somit eine ähnliche Begrifflichkeit verwendet wie die Unterscheidung von System und Lebenswelt von Habermas, so fehlt ihm doch die für letzteren zentrale Kategorie des kommunikativen Handelns und somit die kommunikative Rationalität.

[9] Der Habermassche Vorschlag "zwischen Sozial- und Systemintegration zu unterscheiden: die eine setzt an den Handlungsorientierungen an, durch die die andere hindurchgreift", (Habermas, 1981b, 226) ist in gewisser Weise irreführend. Die systemische Integration greift nur dann durch die Subjekte hindurch, wenn sich diese verständigen wollen. Die Erfolgsorientierung des Marktteilnehmers bleibt den Subjekten erhalten. Die Sozialintegration setzt nich an "den" Handlungsorientierungen, sondern an ganz bestimmen Handlungsorientierungen an.

[10] "Die interne Verknüpfung von Normen mit rechfertigenden Gründen bildet die rationale Grundlage der Normgeltung." (Habermas, 1991a, 144)

[11] Karl Acham zählt folgende Assoziationen zum Ausdruck "Rationalität" auf: "Je nach Interessenrichtung verbindet man mit dem Ausdruck "Rationalität" Vorstellungen wie: Effektivität, Rentabilität, Kostenminimierung, maximaler Profit; optimale Entscheidung, Kalkulation, Voraussicht; effiziente Leistung, und Organisation der Arbeit, des Unternehmens, der Volkswirtschaft; Wirtschaftswachstum, technischer Fortschritt; Optimierung der individuellen Leistung hinsichtlich des Systemziels..." (Acham, 1984, 32)

[12] Wobei diese von Habermas vertretene und auf Schluchter zurückgehende Interpretation keineswegs unproblematisch ist. Siehe die Kritik von Rainer Döbert: Max Webers Handlungstheorie und die Ebenen des Rationalitätskomplexes, 1989, 210.

[13] Diese Begriffe finden sich bei Rainer Döbert. (Döbert, 1989, 228)

[14] "Anders als wir es in objektivierender Einstellung der objektiven Welt als der Gesamtheit existierender Sachverhalte unterstellen, hat die soziale Welt als solche einen geschichtlichen Charackter. (Habermas, 1991, 142)

[15] "Ich gehe also (...) davon aus, daß andere Formen des sozialen Handelns, z. B. Kampf, Wettbewerb, überhaupt strategisches Verhalten, Derivate des verständigungsorientierten Handelns darstellen." (Habermas, (1976) 1984, 353)

Ende der Leseprobe aus 129 Seiten

Details

Titel
Rechtsstaatliche Probleme des Cannabiskonsums im Zusammenhang der Habermasschen Rechtstheorie
Hochschule
Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover  (Institut für Soziologie)
Veranstaltung
Die Rechtstheorie von Jürgen Habermas
Note
Sehr Gut
Autor
Jahr
1996
Seiten
129
Katalognummer
V6349
ISBN (eBook)
9783638139410
ISBN (Buch)
9783656058311
Dateigröße
758 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit wurde bei Oskar Negt in Hannover angefertigt. Darauf folgte eine Doktorarbeit über die Rechtstheorien von Kant und Marx.
Schlagworte
Habermas, Cannabis, Rechtssoziologie, Hanfkultur, Rechtsphilosophie, Oskar Negt, Joachim Perels, Böllinger, Behr, Verfassungsgericht, Verfassungswirklichkeit, Theorie und Praxis, Moral und Politik, Thema Habermas
Arbeit zitieren
Boris Schaefer (Autor:in), 1996, Rechtsstaatliche Probleme des Cannabiskonsums im Zusammenhang der Habermasschen Rechtstheorie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/6349

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