Die von Jesus erzählte Geschichte vom verlorenen Sohn, der sich vom Vater löst, in die Welt hinauszieht und schließlich reuig zurückkehrt, hat herausragende Position unter den Gleichnissen und eine große Wirkungsgeschichte in der internationalen Literatur. Das vorliegende Buch widmet sich vier Variationen der biblischen Geschichte vom verlorenen Sohn aus dem 20. Jahrhundert. "Die Rückkehr des verlorenen Sohnes" von André Gide, das letzte Fragment der "Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" von Rainer Maria Rilke, "Heimkehr" von Franz Kafka und "Die Geschichte des verlorenen Sohnes" von Robert Walser werden komparativ untersucht. Methodisch geht das Buch folgendermaßen vor: Im ersten Teil wird die inhaltliche Dimension und literarische Qualität der biblischen Geschichte analysiert. Der zweite Teil beschäftigt sich mit Einzeluntersuchungen, die Antworten auf die Frage der literarischen Umsetzung der biblischen Geschichte liefern. Die Geschichte vom verlorenen Sohn im Lukas-Evangelium ist keine Geschichte, die eine Geschichte im heutigen Sinn sein will oder kann, sondern ist ein Beitrag zur religiösen Erziehung der Zuhörer. Die Lehre Jesu ist Ziel der Geschichte, die über das eigentlich Gesagte hinaus weist. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn hat also den Zweck, die Heilsbotschaft zu verdeutlichen. Es berichtet davon, dass der überirdische Vater - symbolisiert durch den irdischen Vater - eine göttliche Ordnung garantiert. Wer dieser Ordnung davonläuft, wer sie ignoriert und schmäht, darf dennoch darauf hoffen, wieder aufgenommen zu werden, wenn er reuig umkehrt. Was geschieht nun mit den verlorenen Söhnen des 20. Jahrhunderts? Sind sie tatsächlich verloren? Ist ihr Aufbegehren gegen das Patriarchat, gegen die Obrigkeit nicht vielmehr ein Gewinn? Ist ihr Aufbruch, ihr Fortgang, ihre Sinnsuche nicht vielmehr der Ausdruck von Individualität? Womöglich ein Gewinn an individueller Freiheit? Die Bearbeitungen des Motivs vom verlorenen Sohn werden von Gide über Rilke und Kafka bis zu Walser schrittweise moderner und spiegeln die Entwicklung der Bewusstseinsprozesse. Die Botschaft der biblischen Geschichte - die Gnade Gottes, dank der der Verlorene gerettet werden kann - tritt in den neuen Fassungen der alten Geschichte in den Hintergrund. Es ist Aufgabe dieses Buches herauszustellen, dass eine reuige Rückkehr in letzter Konsequenz der Selbstverwirklichung und dem Bewusstsein einer eigenen Identität der verlorenen Söhne des 20. Jahrhunderts widerspricht.
Inhaltsverzeichnis
- 1 Einleitung
- 2 Das Gleichnis vom verlorenen Sohn, Lukas 15: 11-32
- 2.1 Exkurs: Bedeutung und Funktion der Gleichnisse Jesu
- 2.2 Die exegetische Auslegung
- 2.3 Die Einordnung in das Spektrum parabolischer Rede
- 2.4 Struktur und Figurenkonstellation
- 3 Das Gleichnis vom verlorenen Sohn in der Literatur des 20. Jahrhunderts
- 3.1 André Gide: Die Rückkehr des verlorenen Sohnes - Aufbruch und Resignation
- 3.1.1 Struktureller Handlungsaufbau der Erzählung
- 3.1.1.1 Das Vorwort des Erzählers
- 3.1.1.2 Der verlorene Sohn
- 3.1.1.3 Der Verweis des Vaters
- 3.1.1.4 Der Verweis des älteren Bruders
- 3.1.1.5 Die Mutter
- 3.1.1.6 Das Zwiegespräch mit dem jüngeren Bruder
- 3.1.2 Der Konflikt des Zurückgekehrten
- 3.2 Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge - ,,Die Legende dessen, der nicht geliebt werden wollte“
- 3.2.1 Die Handlungsstruktur des Romans
- 3.2.2 Die Legende vom verlorenen Sohn
- 3.2.2.1 Der Weg des Sohnes
- 3.2.2.2 Die Heimkehr des Sohnes
- 3.3 Franz Kafka: Heimkehr - Die verfehlte Heimkehr
- 3.3.1 Struktureller Aufbau der Erzählung
- 3.3.2 Die vollständige Entfremdung
- 3.4 Robert Walser: Die Geschichte vom verlorenen Sohn
- 3.4.1 Form und Aufbau der Erzählung
- 3.4.1.1 Die gegensätzlichen Söhne
- 3.4.1.2 Der Wechsel der Perspektive: „Der wahrlich Unzufriedene“
- 3.4.2 Der Umkehrschluss
- 4 Schlussbetrachtung
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit befasst sich mit der biblischen Geschichte vom verlorenen Sohn in der europäischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Sie analysiert vier moderne Variationen dieser Geschichte: „Die Rückkehr des verlorenen Sohnes“ von André Gide, das letzte Fragment der „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ von Rainer Maria Rilke, „Heimkehr“ von Franz Kafka und „Die Geschichte des verlorenen Sohnes“ von Robert Walser. Die Arbeit konzentriert sich auf die Frage, inwieweit die Autoren den biblischen Prätext umgewertet haben und welche Konsequenzen aus diesen Umwertungen resultieren.
- Die Rezeption des Gleichnisses vom verlorenen Sohn in der Literatur des 20. Jahrhunderts
- Die literarische Umsetzung des biblischen Stoffes in den vier ausgewählten Werken
- Die Analyse der strukturellen und motivischen Unterschiede zwischen den Texten und dem biblischen Prätext
- Die Untersuchung der literarischen und psychologischen Dimensionen des Motivs des verlorenen Sohnes in der Moderne
- Die Bedeutung der Säkularisation für die Interpretation des biblischen Motivs in der Literatur
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung führt in das Thema der Arbeit ein und erläutert den Fokus auf die Analyse der literarischen Umwertung des biblischen Gleichnisses vom verlorenen Sohn. Kapitel 2 untersucht die inhaltliche Dimension und literarische Qualität des biblischen Prätextes. Es analysiert die Bedeutung und Funktion der Gleichnisse Jesu, die exegetische Auslegung des Gleichnisses vom verlorenen Sohn und dessen Einordnung in das Spektrum parabolischer Rede. Außerdem werden die Struktur und Figurenkonstellation des biblischen Gleichnisses untersucht. Kapitel 3 befasst sich mit Einzeluntersuchungen der literarischen Umsetzung des biblischen Stoffes in den vier ausgewählten Werken. Es werden die Erzählungen von Gide, Rilke, Kafka und Walser hinsichtlich ihrer strukturellen und motivischen Struktur, ihrer expliziten Verweise auf die Referenzgeschichte und der daraus resultierenden Sinnzuwächse untersucht. Kapitel 4 enthält die Schlussbetrachtung, die die Ergebnisse der Arbeit zusammenfasst und deren Bedeutung für die Literaturwissenschaft diskutiert.
Schlüsselwörter
Die Arbeit konzentriert sich auf die Rezeption des biblischen Gleichnisses vom verlorenen Sohn in der europäischen Literatur des 20. Jahrhunderts, insbesondere in den Werken von André Gide, Rainer Maria Rilke, Franz Kafka und Robert Walser. Die Untersuchung befasst sich mit Themen wie literarische Umwertung, Prätextanalyse, strukturelle und motivische Unterschiede, Säkularisation, psychologische Erfassung und die literarische Umsetzung des Motivs des verlorenen Sohnes in der Moderne.
- Arbeit zitieren
- Magistra Artium Melanie Finck (Autor:in), 2006, Die biblische Geschichte vom verlorenen Sohn in der europäischen Literatur des 20. Jahrhunderts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/63667