Karl Heinz Bohrers Ästhetik des Schreckens in der Tragödie am Beispiel von Aischylos' Agamemnon


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

27 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Karl Heinz Bohrers Ästhetik des Schreckens
2.1. Das Schöne und das Gute
2.2. Der moderne Schrecken
2.3. Plötzlichkeit
2.4. Das Dionysische

3. Die Ästhetik des Schreckens in der griechischen Tragödie
3.1. Der Schrecken als Urmotiv der Tragödie
3.2. Erwartungsangst
3.3. Erscheinungsschrecken

4. Erscheinungsschrecken und Erwartungsangst in Aischylos’ Agamemnon
4.1. Die Wächterszene
4.2. Die Erzählung des Chors vom Opferritual der Iphigeneia
4.3. Die Szene des roten Teppichs
4.4. Kassandras Prophetien

5. Zusammenfassung

6. Evaluation

7. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

In der folgenden Arbeit soll Karl Heinz Bohrers „Ästhetik des Schreckens“ erläutert und auf ihre Fruchtbarkeit hinsichtlich der griechischen Tragödie überprüft werden.

Da sich Bohrers ästhetische Theorie hauptsächlich auf die Literatur der Moderne bezieht, werde ich im ersten Teil versuchen, einige grundsätzliche Überlegungen und Thesen Bohrers, stark verkürzt und notgedrungen vereinfacht, vorzustellen. Dies soll zum Verständnis von Bohrers Tragödieninterpretation beitragen, sie in den Gesamtzusammenhang seines literaturtheoretischen Schaffens einordnen. Als Grundlage dienten mir hierbei Bohrers Schriften „Die Ästhetik des Schreckens: die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk“ und „Plötzlichkeit: zum Augenblick des ästhetischen Scheins“. Insbesondere aus Bohrers ästhetischer Interpretation des Jüngerschen Frühwerks ergeben sich einige interessante und brauchbare Einsichten in sein anti-aristotelisches Kunstverständnis.

Im Anschluss soll dargestellt werden, wie und mit welcher Begründung Bohrer die Kategorien seiner Theorie des modernen Schreckens in seinem Buch „Das absolute Präsens: die Semantik ästhetischer Zeit“ auf die griechische Tragödie überträgt. Ein zentrales Moment wird hier Nietzsches Konzept des Dionysischen zukommen, auf das sich Bohrer immer wieder bezieht und das in seiner Ästhetik ein verbindendes Element zwischen Antike und Moderne darstellt. Der Hauptteil wird sich mit Bohrers Interpretation von Aischylos’ Tragödie „Agamemnon“ befassen, deren schreckliche Motive er exemplarisch für die griechische Tragödie im Sinne seiner Theorie deutet. Es soll versucht werden, Bohrers Vorgehensweise nachzuvollziehen und zu kommentieren, um, im Anschluss daran, festzustellen, wie schlüssig und fruchtbar Bohrers Lesart der antiken Tragödie ist.

2. Karl Heinz Bohrers Ästhetik des Schreckens

2.1. Das Schöne und das Gute

In seinem Buch „Die Ästhetik des Schreckens“, in dem er sich mit dem Frühwerk von Ernst Jünger als Beispiel für die dezisionistisch gewordene Kunst beschäftigt, setzt sich Bohrer intensiv mit dem Verhältnis von Kunst und Moral auseinander. Ein Ziel seiner Arbeit ist es, Ernst Jüngers Frühwerk aus dem direkten Zusammenhang zum Nationalsozialismus herauszulösen, ohne dessen Affinität zum Faschismus zu beschönigen. Bohrer möchte vielmehr zunächst eine gewisse Trennung zwischen ästhetischem Text und dessen Rezeption vornehmen:

„Schließlich ist methodisch daran festzuhalten, daß man zur Beurteilung des Werks nicht von seinen Wirkungen ausgehen darf, das heißt die vielschichtige Rezeption des Werks nicht rückwirkend hineinnehmen sollte in die Interpretation des Textes selbst.“[1]

Bohrer ist bemüht, sich unvoreingenommen mit der Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen dem subversiven Frühwerk Jüngers und der Ideologie nachfolgender faschistischer Schriftsteller geben kann und welcher Art dieser sei, auseinanderzusetzen. Er versteht die Entstehung von Jüngers frühen Romanen unter dem Vorzeichen der „Krise der Vernunft“, die die europäische literarische und ästhetische Avantgarde jener Jahre kennzeichnete: „Das gegenaufklärerische Motiv läßt sich nicht auf einen deutschen Typus beschränken, sondern es ist belegbar im Werk führender Schriftsteller und Denker in Frankreich, Italien, England und Amerika.“[2] Jünger steht für Bohrer am Ende einer Entwicklung, an der Kulturkritiker wie Ruskin, Carlyle und Morris aber auch Schriftsteller wie Edgar Allan Poe, Charles Baudelaire, Huysmans und Oscar Wilde ihren Anteil hatten.[3] Die in ihren Schriften zu findende Ablehnung der modernen Gesellschaft habe ihre Ursache in der Industrialisierung, die zu einer „Verhässlichung“ der Welt[4] geführt habe. Diese Verhässlichung wurde insbesondere von den

viktorianischen Kulturkritikern mit den sozialen Problemen der urbanen Gesellschaft in Verbindung gebracht:

Nunmehr trat als einziges und ausschlaggebendes Beobachtungsfeld die Verhäßlichung der Welt in den Vordergrund, von der man alle anderen intellektuellen und seelischen Defizite ableiten konnte. Eine Verschönerung der Welt, so lautete umgekehrt der Schluß, muß logischerweise auch dies Defizit beseitigen.[5]

Bereits in der Tatsache, dass das ästhetische Bewusstsein nicht vornehmlich durch den moralischen Skandal menschlicher Erniedrigung herausgefordert wurde, sondern durch die fortschreitende industrielle Verhässlichung der Welt, zeigt einen Widerspruch zwischen ethischen und ästhetischen Kriterien.[6] So berge tatsächlich die Gleichsetzung des Schönen mit dem Guten immer schon die Gefahr, dass das Ethische hinter das Ästhetische zurückgestellt werden könne. „Indem dem Ästhetischen der Anspruch des ethischen Werts zugesprochen wird, ist seine Isolation und sein schließlicher Widerspruch gegenüber der moralischen Welt aufgebrochen.“[7] Ein rein ästhetisches Interesse an der Welt birgt immer die Gefahr, ins Böse umzuschlagen, wenn das Inhumane nicht zu einer Verhässlichung, sondern zu einer Verschönerung der realen Welt führt.[8] So läuft für Benjamin der Faschismus auf eine „ ‚Ästhetisierung des politischen Lebens’ hinaus, weil im Ästhetischen die Widersprüche der Epoche aufgehoben und pathetisch verklärt würden.“[9] Die Aufhebung der Trennung zwischen Ethik und Ästhetik ist es, die das Böse in der Maske des Schönen real werden lässt. Solche Entwicklungen können für Bohrer jedoch nicht den Künstlern, die grausame Motive als ästhetisch schön darstellen, zum Vorwurf gemacht werden. Die ideologische Umfunktionierung dieser Kunst ist in ihr selbst nicht angelegt, da sie immer „nur“ Kunst sein kann. Ist sie mehr, so ist sie es nicht mehr.

2.2. Der moderne Schrecken

Der Schrecken als Wahrnehmungsmodus der Moderne sei geboren worden aus der Angst des Menschen, die das Wegschrumpfen der Metaphysik ausgelöst hatte, aus der Erfahrung des Auf-sich-allein-gestellt-Seins.[10] Aus diesem Grunde zeichnet sich, so Bohrer, die Literatur auf der Schneide zwischen zwei Zeitaltern durch einen gewissen Eskapismus oder aber eine archaische Rückwendung aus. Diese Flucht bzw. Rückwendung stellt für Bohrer gerade eine besondere Bewusstheit für die Probleme der Gegenwart dar[11]. Besonders schreckliche Motive seien als ästhetische Konstitution des Archaischen in der Moderne zu verstehen, das Grauen des modernen Menschen als Rest der Urzeit.[12] Entgegen der aufklärerischen Philosophie Rousseaus und anderer, äußere sich hier ein tiefer Zweifel an der menschlichen Vernunft, mehr noch, an der Humanität des Menschen. Sie erleide in extremen Situationen der Epoche eine Ausnahme. Der Erste Weltkrieg als „Urkatastrophe“ der Moderne steht paradigmatisch für die Kulmination dieser Inhumanität. Geweckt worden sei dieser Zweifel jedoch bereits durch die Industrialisierung und ihre sozialen Folgen, wie sie Ruskin und Carlyle beklagen – die Enthumanisierung des Arbeitsprozesses, die Abdrängung vieler Menschen an den Rand der Gesellschaft und die damit verbundene Gewalt und Kriminalität, die zur omnipräsenten Geißel des urbanen Raums wurden. Die Angst war für weite Teile der Gesellschaft (vor allem auch für die gehobenen, die sich vor dem Gewaltpotential der „labouring poor“ fürchteten) ständiger Wegbegleiter. Jünger schreibt: „Wir modernen Menschen sind auf große Spannungen gestimmt, es ist dieselbe Energie, die in den tosenden Städten unser Leben mit tausend Farben zersplittert und unsere Schlachten so furchtbar macht.“[13]

Diese Spannungen schlugen sich in Form von unheimlichen und grausamen Motiven in der modernen Literatur nieder, besonders in der englischen Gothic Novel, aber auch bei Baudelaire, Wilde, Kafka, Hoffmann und eben Jünger. Es ist für die Autonomie der künstlerischen Imagination, wie sie Bohrer konstatiert, bezeichnend, dass Schrecken und Grauen in all diesen Beispielen metaphorisch und unabhängig von politischen und sozialen Ursachen, als schrecklich-schöne Erscheinung, auftreten. Dadurch wird die Erscheinung zu einem reinen Spielmaterial des ästhetischen Bewusstseins.

Die Wiederholung des Grauens als ästhetischer Akt deute gleichzeitig auf eine „Lust am Grauen“ hin, denn im kreativen Schaffen werde das Grauen zum ästhetischen, löse Verzückung aus. Bohrer zitiert Nietzsche:

An derselben Stelle hat uns Schopenhauer das ungeheure Grausen geschildert, welches den Menschen ergreift, wenn er plötzlich an den Erkenntnisformen der Erscheinung irre wird, indem der Satz vom Grunde, in irgendeiner seiner Gestaltungen, eine Ausnahme zu erleiden scheint. Wenn wir zu diesem Grausen die wonnevolle Verzückung hinzunehmen, die bei demselben Zerbrechen des prinzipii individuationis aus dem innersten Grunde des Menschen, ja der Natur emporsteigt, so tun wir einen Blick in das Wesen des Dionysischen, […][14]

Es ist dieses Moment des Dionysischen, das Jünger in seiner Ästhetisierung des Krieges, in der Darstellung des Entsetzens nachzuahmen suche.[15] Seine Kriegsmetaphorik konzentriert sich auf die Gefährlichkeit des Augenblicks[16] – hier sei der dezisionistische Charakter seiner Ästhetik erkennbar – in der das Ich mit seiner Wahrnehmung identisch wird, exemplarisch dargestellt in der Jüngerschen Metapher des Blechsturzes.[17] Das Gefährliche ist dabei immer auch das Sinnlose, es bricht als Unbegreifliches und Elementares zugleich über uns hinein und beraubt uns jeder Sicherheit. Der zeitliche Modus des Plötzlichen spiele hier eine entscheidende Rolle. Er bedeutet eine Absage an die Kontinuität des Zeitbewusstseins, wodurch die plötzliche Erscheinung einen anderen Wirklichkeitsstatus erhält. Sie ist losgelöst von der alltäglichen Wahrnehmung, unwirklich und befremdlich, zugleich der Moment, der als Augenblick „wahren Seins“ empfunden wird, als erhabener Moment.[18]

[...]


[1] Bohrer, Karl Heinz. Die Ästhetik des Schreckens: pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk. München u.a.: Hanser. 1978, S. 17

[2] ebd. ebd.

[3] vgl. ebd. S. 22-52

[4] vgl. ebd., S. 44-52

[5] ebd., S. 50

[6] vgl. ebd., S. 56

[7] ebd., S. 57

[8] vgl. ebd. S. 57 f

[9] ebd., S. 52

[10] vgl. ebd., S. 65

[11] vgl. ebd., S. 54f und 76f

[12] vgl. ebd., S. 83 und S. 85

[13] zit. nach Bohrer, ebd., S. 111

[14] zit. nach Bohrer, ebd., S. 66

[15] vgl. ebd., S. 116f

[16] vgl. ebd. S. 325-335

[17] vgl. ebd., S. 170 ff

[18] Bohrer ordnet den Schrecken dem Erhabenen im Sinne Burkes zu, den dieser als beherrschendes Prinzip des Erhabenen sah (vgl. Das absolute Präsens, S.92)

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Details

Titel
Karl Heinz Bohrers Ästhetik des Schreckens in der Tragödie am Beispiel von Aischylos' Agamemnon
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main  (Theater-, Film- und Medienwissenschaft)
Note
1,0
Autor
Jahr
2005
Seiten
27
Katalognummer
V63818
ISBN (eBook)
9783638567695
ISBN (Buch)
9783656760764
Dateigröße
536 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Karl, Heinz, Bohrers, Schreckens, Tragödie, Beispiel, Aischylos, Agamemnon
Arbeit zitieren
Martina Hrubes (Autor:in), 2005, Karl Heinz Bohrers Ästhetik des Schreckens in der Tragödie am Beispiel von Aischylos' Agamemnon, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/63818

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