Der Gesetzgebungsprozeß in der Bundesrepublik Deutschland am Beispiel des Zuwanderungsgesetzes - eine Fallstudie


Magisterarbeit, 2006

114 Seiten, Note: 2,2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I Einleitung
1. Fragestellung und Erkenntnisinteresse
2. aktueller Forschungsstand
3. Methodenwahl und Vorgehensweise

II begrifflich-theoretische Grundlegung
1. Rolle des Gesetzes im modernen Rechtsstaat
1.1. Entwicklung des modernen Rechtsstaates
1.2. Was ist ein Gesetz (Verhältnis von Gesetz und untergesetzlichen Rechtsnormen)
1.3. Funktion von Gesetzen (Wann bedarf es eines Gesetzes)
2. Die Gesetzgebung
2.1. Definition von Gesetzgebung
2.2. Akteure in der Gesetzgebung
3. theoretische Grundlagen für die Analyse von Gesetzgebungsprozessen – Politische Steuerung
3.1. Systemtheorie
3.2. Akteurstheorien
3.3. Theoriesynthese
3.4. Vetospieler-Ansatz
4. Methoden der Analyse von Entscheidungsstrukturen
4.1. Netzwerkanalyse
4.2. Policy-Analyse

III Die Besonderheiten der Gesetzgebung in der Bundesrepublik Deutschland
1. Gesetzgebungskompetenz
2. Politiknetzwerke
3. Die Dominanz der Parteien als Akteure im Entscheidungsprozeß
4. Rolle der Fraktionen
5. Der Bundesrat als Vetospieler des Bundestages
6. Der Vermittlungsausschuss
7. Strategien und Einflussnahme der parlamentarischen Opposition
7.1. Verfassungsrechtliche Bedingungen
7.2. Parlamentarische Kontrollinstrumente
8. Zusammenspiel von Politik und Verwaltung – der hohe Einfluss der Ministerialverwaltung
9. Das Bundesverfassungsgericht als Vetospieler der Legislative

IV Zuwanderung
1. Anfänge und Entwicklung
1.1. Wanderungsbewegungen vor 1945
1.2. Zu- und Abwanderung nach 1945
1.2.1. ”Import” von Arbeitskräften
1.2.1.1. Entwicklung bis 1973
1.2.1.2. Anwerbestopp 1973
1.2.1.3. Entwicklung nach 1990
1.2.1.4. Wandel seit 1999
1.2.2. Spätaussiedler und innerdeutsche Wanderungsströme
1.2.3 Asyl und Flüchtlinge
2. Gesetzliche Regelungen der Zuwanderung vor dem neuen Zuwanderungsgesetz

V Gesetzgebungsprozeß zum Zuwanderungsgesetz
1. Die Akteure
1.1. Parteien
1.1.1. SPD
1.1.2. CDU/CSU
1.1.3. F.D.P.
1.1.4. Bündnis 90/ die Grünen
1.1.5. PDS
1.2. Bundesregierung
1.3. Die Bundesländer im Bundesrat
1.4. Verbände und Interessengruppen
1.4.1. Verbände
1.4.2. Interessengruppen und Wohlfahrtsverbände
1.5. Bundesverfassungsgericht
1.6. Medien
1.7. Wissenschaftliche Politikberatung
1.8. Der Bundespräsident
2. Das Verfahren
2.1. Vorparlamentarische Phase: Politikformulierung
2.1.1. agenda setting
2.1.2. Vom Referenten zum Gesetzentwurf
2.2. Das Entscheidungsstadium
2.2.1. Der erste Durchgang im Bundestag
2.2.1.1. Gesetzentwurf und parlamentarische Initiativen
2.2.1.2. Die Ausschußphase
2.2.1.3. Plenardebatte und Abstimmung
2.2.1.4. Zwischenstand
2.2.2. Die umstrittene erste Abstimmung im Bundesrat
2.2.3. Unterzeichnung des Gesetzes durch den Bundespräsidenten
2.2.4. Der Gang nach Karlsruhe
2.2.5. Der zweite Durchgang im Bundestag
2.2.6. Ablehnung im Bundesrat und Anrufung des Vermittlungsausschuss
2.2.7. Das lange Vermittlungsverfahren
2.2.8. Abstimmung im Bundestag und Bundesrat
2.3. Das Kontrollstadium
3. Fazit: Ein typisches Gesetzgebungsverfahren?

VI Schlussbetrachtungen
1. Auswertung der exemplarischen Fallstudie
2. Beantwortung der Fragestellung und weiterführende Fragen

VII Anhang
1. Abkürzungsverzeichnis
2. Literatur- und Quellenverzeichnis
3. eidesstattliche Erklärung

I Einleitung

1. Der “Fall” Zuwanderungsgesetz

Vor rund einem Jahr am 1. Januar 2005 trat das neue Zuwanderungsgesetz in Kraft. Die Verhandlungen dauerten über drei Jahre. Das erste Mal auf die Tagesordnung wurde es 1997 durch einen Antrag der SPD-Oppositionsfraktion im Bundestag gesetzt. Es sollte aber noch zwei Jahre dauern, bis das Thema ganz oben auf der politischen Tagesordnung stand.

Mit dem Regierungsantritt der rot-grünen Koalition nach den Bundestagswahlen von 1998 trat ein Wandel in der Ausländerpolitik ein. Den ersten Schritt machte die neue Regierung mit einer Reform des Staatsbürgerschaftsrechtes. Das neue Gesetz, welches nun auch das ius soli-Prinzip verankerte, trat am 1. Januar 2000 in Kraft.

Den Stein des Anstoßes für die Debatte um ein Zuwanderungsgesetz gab der damalige Bundeskanzler selber. Gerhard Schröder kündigte zur Eröffnung der Computerfachmesse CeBIT im Februar 2000 eine Green-Card-Regelung für 20.000 ausländische Computerspezialisten an. Diese auf fünf Jahre befristete Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis für Experten aus der Informations- und Kommunikationstechnologie aus den Nicht-EU-Staaten trat durch Verordnungen im August desselben Jahres in Kraft. Die Ausmaße für den deutschen Hochtechnologiesektor waren nur gering, da statt erhoffter 20.000 nur 10.000 Green-Cards in Anspruch genommen wurden.[1] Dennoch war etwas viel wichtigeres geschehen: eine neue Debatte um ein Zuwanderungsgesetz wurde angestoßen. Das Thema hatte sofort eine breite gesellschaftliche und politische Basis. Am 4. Juli 2001 legte die unabhängige Kommission “Zuwanderung” den Abschlussbericht mit Vorschlägen für ein neues Zuwanderungsgesetz vor. Auf Grundlage des Berichtes jedoch mit starken Modifikationen legte die Regierung am dritten August 2001 ihren Entwurf für ein Zuwanderungsgesetz vor.

Gab es am Anfang der Debatte verhältnismäßig wenig Kontroversen hinsichtlich des Entwurfes zwischen CDU/CSU und der Regierungskoalition, so verhärtete sich der Ton nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 in New York. Die Union brachte vermehrt Forderungen nach verschärften Sicherheitsbedingungen und Abwehrmechanismen im Zuwanderungsgesetz in die öffentliche Debatte. Am 1. März 2002 wird das Zuwanderungsgesetz im Bundestag mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die GRÜNEN verabschiedet. Die Zustimmung des Bundesrates wurde dem Gesetz am 22. März in einem umstrittenen Abstimmungsverfahren erteilt. In dieser Sitzung kam es zu einem Eklat. Der Bundesratspräsident und regierende Oberbürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit, zählte das geteilte Votum des Landes Brandenburg als Zustimmung. Fünf Unionsgeführte Länder machten diesen Vorfall als Formfehler geltend. Das Bundesverfassungsgericht entschied am 18. Dezember im Sinne des Klägers. Das Zuwanderungsgesetz wurde nicht rechtmäßig erlassen und ist damit nichtig.

Im Januar 2003 brachte die Regierungskoalition den Entwurf unverändert in den Bundestag ein. Am neunten Mai beschließt das Parlament erneut. Der Bundesrat stimmte dem Zuwanderungsgesetz am 20. Juli nicht zu. Daraufhin rief die Bundesregierung den Vermittlungsausschuss an. Der Vermittlungsausschuss startete seine zähen Verhandlungen. Als sich auch nach bald einem Jahr keine Einigkeit einstellte, griff Bundeskanzler Gerhard Schröder selbst in das Geschehen ein. Am 25.Mai 2004 konnte nach Gesprächen mit den Parteispitzen von SPD, Grünen, FDP, CDU und CSU endlich eine Einigung gefunden werden.

Am ersten Juli 2004 wird das Zuwanderungsgesetz vom Deutschen Bundestag verabschiedet und am neunten Juli vom Deutschen Bundesrat angenommen. Das neue Zuwanderungsgesetz trat am 1. Januar 2005 nach Kraftraubenden Ringen in Kraft.

2. Fragestellung und Erkenntnisinteresse

In meiner Magisterarbeit untersuche ich den Gesetzgebungsprozeß zum Zuwanderungsgesetz. Ich werde zeigen, dass er in vielen Fällen dem “Normalfall” entspricht. Da aber “Migration” ein sehr brisantes gesellschaftspolitisches Thema ist, ging das Verfahren auch besondere Wege.

Es handelte sich um ein so genanntes doppeltes Gesetzgebungsverfahren.

Es gibt in der Fachliteratur sehr unterschiedlich Meinungen darüber, wie viel und ob überhaupt die parlamentarische Opposition oder gar der gesamte Bundestag Einfluss auf den Inhalt von Gesetzen nehmen kann.[2] Kritisiert wird vor allem die starke Stellung der Regierung und der Parteien im politischen System der Bundesrepublik Deutschland. Es ist im Fall des Zuwanderungsgesetzes aber offensichtlich, dass zumindest bei politisch brisanten Fragen die Regierung nicht ohne die Mitwirkung der Opposition agieren kann, besonders dann nicht, wenn die Regierungskoalition keine Mehrheit im Bundesrat besitzt wie in diesem Fall.

Ebenso wird die Rolle des Bundesrates und der Parteien diskutiert. Im meinem Arbeit interessiert mich vor allem die Rolle des Bundesrates als Instrument der parlamentarischen Opposition zur Durchsetzung ihrer Interessen.

Dasselbe gilt für das Bundesverfassungsgericht. Durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes musste das Gesetz erneut in den Bundestag eingebracht werden. In der zweiten Runde erfuhr der Gesetzestext auf Drängen der Opposition wesentliche Änderungen. Deshalb ist die umstrittene Abstimmung und das damit korrespondierende Urteil des BVerfG ist ein Punkt, auf den ich näher zu sprechen kommen werde. Sowohl Bundesrat als auch Bundesverfassungsgericht sind wichtige Vetospieler des Bundestages bzw. der Regierung(smehrheit).

Ein weiterer ist das Vermittlungsverfahren während des zweiten Durchlaufs des Gesetzes. Beide Verfahren zeigen deutlich, welche vielfältigen Möglichkeiten die parlamentarische Opposition besitzt, ihre Interessen durchzusetzen und unter welchen Bedingungen der Bundestag bzw. die parlamentarische Opposition ein ernstzunehmender Vetospieler der Regierung(smehrheit) sein kann.

Außerdem habe ich ein Interesse daran zu beweisen, dass die politische Steuerung anderer gesellschaftlicher Teilsysteme der Gesellschaft zu bejahen ist. In jedem Teilsystem gibt es widerstreitende Interessen. Sie sind keineswegs homogen. Außerdem sind Systeme nicht nur darauf aus, sich selbst zu steuern sondern auch regelnd in andere Teilsysteme zu intervenieren.

Systeme haben demnach nicht unbedingt ein gemeinsames Interesse. Vielmehr machen gerade die Interessen- und Meinungskonflikte innerhalb eines Systems die Entscheidungsfindung aus und verhelfen dem Gesetz in hohem Maße zur gesellschaftlichen Akzeptanz.

Ich werde anhand des Vetospieler-Ansatzes und einer Synthese aus System- und Akteurstheorien den Gesetzgebungsprozeß erläutern.

3. Literaturdiskurs – zum aktuellen Forschungsstand

Die Untersuchung von Gesetzgebungsprozeßes in der Bundesrepublik Deutschland ist vor allem ein Untersuchungsgebiet der vergleichenden Regierungslehre und der Untersuchung des deutschen Regierungssystems. Es gibt zahlreiche renommierte Forscher auf diesem Gebiet. Werke vieler von ihnen habe ich für meine Untersuchung zu Rate gezogen. Ich beziehe ich mich vor allem auf Klaus von Beymes “der Gesetzgeber” und “der Deutsche Bundestag” von Wolfgang Ismayr. Beide beschreiben den Gesetzgebungsprozeß sehr treffend und detailliert in allen seinen Fassetten und weisen auf Problemlagen und Besonderheiten hin. Beide Werke gaben mir einen guten Überblick über die Thematik. Während Wolfgang Ismayr weitaus systematischer und übersichtlicher beschreibt, verbindet Klaus von Beyme in “der Gesetzgeber” von Anfang sein theoretisches Konzept politischer Steuerung mit der Empirie.

Seine Theoriesynthese zwischen der Systemtheorie und Akteurs- und Handlungstheorien erscheint mir für die Untersuchung von Gesetzgebungsprozeßes passend. Die Systemtheorie ist die Schablone, welche mit Akteursansätzen aufgefüllt wird. Es existieren im politischen System zweifelsohne Strukturen, welche aber Akteure benötigen, um sie anzuwenden und weiterzuführen. Systeme leben von Akteuren und nehmen auf andere Systeme Einfluss, weil es die Akteure sind, welche die Strukturen und Regeln kommunizieren.

Als Ergänzung für meinen Untersuchungsgegenstand scheint mir auch der Vetospieleransatz von Tsebelius sinnvoll. Die Untersuchung von Einflussbeziehungen und Machtverhältnissen im Gesetzgebungsprozeß wird durch ihn verständlicher. Besonders die Rolle des Bundesrates und der parlamentarischen Opposition lässt sich mit Hilfe dieses Ansatzes gut beleuchten.

Wolfgang Ismayrs einführendes Kapitel in seinem Band “Die politischen Systeme Westeuropas” gaben mir einen guten Überblick über die Besonderheiten des deutschen Gesetzgebungsprozeßes im Vergleich zu anderen westeuropäischen Staaten. Das war vor allem für den dritten Teil meiner Arbeit von Bedeutung, welcher den Grund für die Fallstudie legte. Wichtig für die Untersuchung des Gesetzgebungsprozeßes in der Bundesrepublik Deutschland waren auch Autoren wie Heinrich Oberreuter, Peter Lösche und Sven Leunig für die Rolle des Bundestages und Winfried Steffani und Uwe Wagschal für die Bedeutung der Parteien. Waldemar Schreckenberger, Wolfgang Rentzsch und Jürgen Jeckewitz gaben mir in ihren Aufsätzen wichtige Einblicke in die informellen Entscheidungsverfahren des Bundestages. Hans-Peter Schneiders Arbeit half mir beim Verstehen der Einflussmöglichkeiten der parlamentarischen Opposition. Bei der Untersuchung der Rolle des Bundesverfassungsgerichtes nutzte ich vor allem die Texte von Ludger Helms und Uwe Kranenpohl.

Für die Fallstudie habe ich u.a. Bundestagsdrucksachen, Plenarprotokolle und Presseberichte verwandt. Wissenschaftliche Einlassungen gab es vor allem in Bezug auf die umstrittene Abstimmung im Bundestag und das darauf folgende Urteil des Bundesverfassungsgerichtes. Hans Meyer gibt in seinem Sammelband “Abstimmungskonflikt im Bundesrat im Spiegel der Staatsrechtslehre” einen guten Überblick über die unterschiedlichen Haltungen zu dem Konflikt.

Als gutes Beispiel für eine Fallstudie diente mir Barbara Waldkirchs Studie.

4. Methodenwahl und Dokumentenzugang

Die ersten drei Teile meiner Magisterarbeit basieren auf der Lektüre von Fachliteratur. Diese habe ich bereits diskutiert.

In meiner Fallstudie habe mich vor allem mit der Analyse von Dokumenten und anderen Quellen befasst. Zu den Quellen gehören Parlamentsdebatten, Veröffentlichungen von Politkern, wissenschaftliche Abhandlungen, Interviews und Presseberichte. Leider standen mir keine Experten zur Verfügung, die ich eingehender hätte befragen können. Ich hatte lediglich einen kurzen Emailkontakt, indem ich über einige kleine Details des Vermittlungsverfahrens aufgeklärt wurde. Ich konnte auch keine Ausschussprotokolle einsehen, da diese noch nicht öffentlich zugänglich sind. Deshalb habe ich mich bei der Untersuchung der Ausschussphase und des Vermittlungsverfahrens auf die Analyse von Presseberichten, Presseinterviews und -mitteilungen von Verbandsvertretern, Interessengruppen und Politikern konzentriert.

Als Dokumente waren vor allem die Gesetzentwürfe, Anträge der Fraktionen, Kleine Anfragen, die Aktuelle Stunde und die Plenardebatten im Bundestag von Bedeutung. Auch die Anträge und Stellungnahmen des Bundesrates spielten eine wichtige Rolle. Da in diesem speziellen Gesetzgebungsverfahren die erste Abstimmung im Bundesrat einen Höhepunkt bildete, ist das Protokoll der Plenardebatte grundlegend.

Den zweiten Höhepunkt bildete das Vermittlungsverfahren im zweiten parlamentarischen Durchlauf des Zuwanderungsgesetzes. Die Presseberichte häuften sich in diesem Zeitraum. Auch zum Zeitpunkt der Diskussion um den Referentenentwurf von August bis September 2001 lassen sich viele Berichte finden. Gewöhnlich erhielten die jeweiligen Plenardebatten und Abstimmung gebührend Aufmerksamkeit in den Medien. Auch das Urteil des BVerfG wurde breit diskutiert.

5. Vorgehensweise

Im folgenden Kapitel werde ich die Grundbegriffe Gesetz und Gesetzgebung erläutern. Außerdem werden die von mir angewandte Systemtheorie, Akteurstheorien und der Vetospieler-Ansatz kurz erläutert. Auch die Policy-Analyse wird in m ein Konzept integriert.

Im dritten Abschnitt stelle ich die Besonderheiten des Gesetzgebungsprozeßes kurz dar. Abschnitt vier dient der Einordnung des speziellen Gesetzgebungsverfahrens zur Zuwanderung in den historischen Kontext.

Kapitel fünf bildet meine Fallstudie. Zuerst werde ich die Positionen, Stellung und Einflusschancen der einzelnen Akteure erläutern. Danach berichte ich über die einzelnen Verfahren.

Im letzten Abschnitt werde ich einen kurzen Exkurs über den Einfluss der internationalen Sicherheitslage auf das Gesetzgebungsverfahren einfügen und meine Untersuchungsergebnisse zusammenfassen.

II Begrifflich-theoretische Grundlegung

In diesem Teil meiner Arbeit soll es darum gehen, Grundbegriffe zu definieren und den Untersuchungsgegenstand in einen theoretischen Zusammenhang zu betten.

Zunächst werde ich die Grundbegriffe ”Gesetz” und ”Gesetzgebung” erläutern. Da Gesetze und Gesetzgebung Element der politischen Steuerung sind, werde ich danach die theoretischen Konzepte der ”Politischen Steuerung” und des Vetospieler-Ansatzes beschreiben. Am Ende dieses Kapitels komme ich auf die von mir gewählten Methoden, der Analyse von Policy-Netzwerken, zu sprechen.

1. Rolle des Gesetzes im modernen Rechtsstaat

1.1. Wandel des modernen Rechtsstaates

Die Bundesrepublik Deutschland hat besonders in der Phase des enormen Wirtschaftsaufschwungs in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts einen Wandel vom reinen Organisations- zum Interventions- und Sozialstaat vollzogen.[3] Das führte zu einer erheblichen Ausweitung der Staatstätigkeit. Die Staatstätigkeit griff nun in alle Lebensbereiche des Menschen ein oder tangierte diese. Das wiederum hatte eine enorme Erhöhung der Zahl der Gesetze zur Folge. Oft wird auch von einer ”Normenflut” gesprochen. Das bedeutet, dass sich nicht nur die Zahl der einfachen Gesetze, sondern auch der Rechtsnormen und Verwaltungsvorschriften erhöht hat. Auch wurden die Gesetze und Verordnungen immer detaillierter, spezialisierter und vernetzter. Ein Großteil der Gesetze dient als Führungs- und Steuerungsmittel für nahezu alle menschlichen Lebensbereiche. Im Zuge der “Flut” neuer Normen und Gesetze expandierten auch die Ministerial- und Vollzugsverwaltungen.[4] Das hat zur Folge, dass die einzelnen Politiker zusehends einer besser informierten Verwaltung gegenüber stehen, woraus sich auch der hohe Einfluss der Ministerialverwaltung auf die Politik ableiten lässt.

Aber nicht nur der wirtschaftliche Aufschwung, auch die Technikentwicklung bewirkt diese Veränderungen und macht es immer schwerer Voraussagen für die Zukunft zu machen und das Verhalten der Normadressaten zu prognostizieren. Deshalb nimmt die Zahl der Änderungsgesetze rapide zu. Es gilt, die Gesetze den sich veränderten Umweltbedingungen anzupassen. Darüber hinaus trifft die Politik die gesellschaftlichen Grundentscheidungen. Wolfgang Ismayr formuliert dies folgendermaßen: Konzeptionelle, längerfristige und zukunftsorientierte Politik wird umso dringlicher in einer Zeit, in der gesellschaftliche, ökologische und politische Wirkungs- und Problemzusammenhänge immer vielfältiger, weitreichender und komplexer werden.”[5]

1.2. Was ist ein Gesetz

”Jedes Gemeinwesen braucht feste Regeln, nach denen es bestehen und sich friedlich fortentwickeln kann. Die zahllosen unterschiedlichen Wünsche, Vorstellungen und Interessen der Bürger sollen sich in Freiheit entfalten und verwirklichen können - aber nicht in Freiheit auf Kosten des anderen oder des Schwächeren, sondern in geordnetem Nebeneinander und Miteinander mit dessen Freiheit und dessen Interessen. Also muss es allgemein geltende Regeln geben, bindend für jeden Bürger, bindend aber auch für das Handeln der Behörden.”[6]

Diese festen Regeln sind vor allem Gesetze. Gesetze sind das zentrale Mittel der politischen Steuerung einer Gesellschaft. Im weiteren Sinne sind Gesetze als ”allgemeinverbindliche, d.h. die Gesamtheit aller Bürger zur Einhaltung ihres Inhaltes verpflichtende Rechtsnormen”[7] zu verstehen. Gesetze werden im engeren Sinne nach materiellen und formellen Kriterien unterschieden. Ein ”Gesetz im materiellen Sinn ist jede hoheitliche Anordnung, die für eine unbestimmte Vielzahl von Personen und Anwendungsfällen eine allgemein verbindliche Regelung enthält.”[8]

Der formelle Rechtsbegriff knüpft an die Form des Zustandekommens der Gesetze an. Ein formelles Gesetz ist ”jeder im verfassungsmäßig vorgeschriebenen Gesetzgebungsverfahren ergangene, ordnungsgemäß ausgefertigte und verkündete Beschluss der zur Gesetzgebung befugten Organe”.[9] Die formelle und materielle Dimension des Gesetzes kann auch zusammengefasst werden. Nach Barbara Waldkirch ist das Gesetz demnach eine ”allgemeine Rechtsnorm, die unter Zustimmung der zur Gesetzgebung legitimierten Volksvertretung in einem durch Öffentlichkeit, Konflikt und Konsensbildung gekennzeichneten Verfahren zustande kommt.”[10]

Es wird weiterhin unterschieden zwischen verfassungsändernden und einfachen Gesetzen. Beim Zuwanderungsgesetz handelt es sich um ein einfaches Gesetz, da keine Änderung des Grundgesetzes stattfand.

Einfache Gesetze wiederum sind aufzuteilen in zustimmungspflichtige Gesetze und nicht-zustimmungspflichtige Gesetze. Wenn Länderinteressen geregelt werden oder betroffen sind, kommt ein Gesetz nur zustande, wenn der Bundesrat seine formelle Zustimmung dazu gegeben hat. In allen anderen Fällen hat der Bundesrat lediglich ein Einspruchsrecht. Der Einspruch kann mit der gleichen Mehrheit im Bundestag überstimmt werden.

Es werden Gesetze von Rechtsverordnungen unterschieden. Im materiellen Sinne gibt es keinen Unterschied zwischen einem Gesetz (vom Parlament beschlossen) und einer Rechtsverordnung (von der Regierung erlassen). Beides sind Rechtsnormen. Dasselbe gilt für die Unterscheidung zwischen Gewohnheitsrecht und gesetztem Recht wie z.B. Satzungen.

Erst im formellen Sinn werden Gesetze von Rechtsverordnungen und dem Gewohnheitsrecht abgegrenzt. Gewohnheitsrecht bedeutet eine Regelung die praktiziert, aber nicht zwingend irgendwo festgeschrieben ist. Ein Gesetz wird vom Parlament in Zusammenarbeit mit dem Bundesrat beschlossen, während eine Rechtsverordnung von der (Bundes-)Regierung erlassen wird. Ein Gesetz steht über einer Rechtsverordnung. Über dem einfachen Gesetz steht die Verfassung. Es gilt in Deutschland außerdem das Prinzip ”Bundesrecht bricht Landesrecht”.

1.3. Funktion von Gesetzen

Ein Gesetz soll jene Fragen und Handlungsbereiche normieren, welche von der Verfassung nicht erfasst sind. Dazu gehören auch Gesetze allgemein gesellschaftlicher Ordnung oder Gesetze mit sozialem Gestaltungsrahmen (Interventionsstaat).

Gesetze steuern gesellschaftliche Prozesse im Sinne der planenden Beeinflussung und der Festlegung künftigen Verhaltens der Menschen und Kollektivakteure in einer Gemeinschaft.

Wie bereits erwähnt sind Gesetze ein wesentliches Instrument des Staates zur Steuerung gesellschaftlicher und ökonomischer Prozesse und Verhaltensvorschriften für die Mitglieder des Staates. Die politischen Kräfte setzen ihre Vorstellungen in einem geordneten Verfahren in allgemeinverbindliches Recht um. Diese politische Steuerung gewinnt immer mehr an Bedeutung.

Wie bereits beschrieben, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ein Wandel vom Ordnungsstaat zum Sozial- und Interventionsstaat vollzogen.[11] Dadurch hat sich der vorherrschende Typus von Gesetzen verändert. Stand früher das klassische, auf Dauer angelegte und allgemeingültig rechtsstaatliche Gesetz im Vordergrund, liegen jetzt zweck- und Anlassbezogene Maßnahmegesetze und Lenkungs- und Planungsgesetze an der Spitze. Das hat seinen Grund auch darin, dass ein Gesetz im modernen Wohlfahrtsstaat niemals wirklich ”fertig” ist, da sich der Gegenstand des Gesetzes in dauernder Wandlung befindet. Damit unterliegt auch das Gesetz immer neuen Anpassungsprozessen. Der Zwang zur Beobachtung des Regelungsgegenstandes, zur Korrektur, Veränderung und Nachbesserung des Regelungsansatzes wird immer stärker. Aus diesem Grund nehmen die Änderungsgesetze mittlerweile Überhand. Deshalb wird es bereits im Vorfeld immer wichtiger, die Folgen eines Gesetzes abzuschätzen und in die Gesetzgebung mit ein zu beziehen. ”Bei vielen Gesetzen hängt die Zielverwirklichung von Umständen ab, die während des Gesetzgebungsprozeßes noch nicht (hinreichend) bekannt sind.”[12]

Auch der Gesetzesvollzug hat sich geändert. Gab es früher vornehmlich eine mit staatlichen Zwangsmitteln ausgestattete Eingriffsverwaltung, tritt jetzt die Implementation der gesetzlichen Regelungen durch die Kooperation mit dem von dem Gesetz Betroffenen in den Vordergrund.

2. Gesetzgebung

2.1. Definition von Gesetzgebung

Gesetzgebung ist ”die im Rahmen der Gewaltenteilung der Legislative vorbehaltene Kompetenz zur Setzung von Rechtsnormen”.[13]

Gesetzgebung (Legislative) gehört neben der vollziehenden Gewalt (Exekutive) und der Rechtsprechenden Gewalt (Judikative) zu den klassischen Staatsfunktionen. Die Gesetzgebung als Rechtsetzung ist Kernpunkt des ”Politik-Machens”.

Die Gesetzgebung überführt die politischen Entscheidungen in Rechtsnormen. Formell sind die Aufgaben, Befugnisse und das Zusammenwirken der an der Gesetzgebung beteiligten Verfassungsorgane im Art. 76 bis 78 und Art. 82 des Grundgesetzes festgelegt. Interne Verfahren werden durch die Geschäftsordnungen von Bundesregierung, Bundestag, Bundesrat und der Fraktionen geregelt. Da die Praxis oft von den rechtlichen Normen abweicht, sind informelle Vorgänge im Gesetzgebungsprozeß wichtig.

Der Ort der Gesetzgebung ist laut Verfassung der deutsche Bundestag. In der Praxis ist die Gesetzgebungskompetenz allerdings nicht so eindeutig festzulegen. ”Die Gesetzgebung findet nicht innerhalb des Bundestages und seiner Ausschüsse, sondern zwischen Parlament, Regierung und Bundesrat statt.”[14] Die Frontlinien verlaufen nicht zwischen Regierung und Parlament, sondern zwischen Regierungs(mehrheit) und Opposition, Bund und Länder und Bundesrat und Bundestag.

2.2. Akteure in der Gesetzgebung

Die Hauptakteure der Gesetzgebung sind die Parteien, Interessengruppen, die Verwaltung und die einzelnen Bundesländer. Von geringerem Einfluss sind Akteure wie Wissenschaft und Medien, welche aber bei der öffentlichen Meinungsbildung und bei der Meinungsformung der Hauptakteure eine wichtige Rolle spielen.

Es bedarf demnach der unterschiedlichsten Akteure, um ein Gesetz zustande kommen zu lassen. Das Zusammenspiel aller Akteure stellt das politische Netzwerk dar. Jetzt kann aber nicht von einem starren Kräfteverhältnis zwischen den einzelnen Akteuren und Institutionen ausgegangen werden. Vielmehr verschieben sich die Gravitationszentren in den Netzwerken laufend.[15] Auch die einzelnen Stadien des Politikzyklußes verändern sich. So hat zum Beispiel der vorauseilende Gehorsam des Gesetzgebers in der Evaluationsphase Auswirkungen auf das Entscheidungsstadium. Gesetzgebung ist also ein dynamischer und geschichtlicher Prozess, welcher von Menschen vollzogen wird und somit unstet von Natur aus ist.

2.3. Netzwerke

2.3.1. Definition von Netzwerken

”Ein Netzwerk ist eine Menge von miteinander auf definierte Weise verbundenen autonomen Objekten die ein gesamtes System bilden.”[16]

”Soziale Netzwerke sind gegebene (z.B. Verwandtschaft ) oder organisierte (z.B. Verbände) Systeme von Menschen die durch das Netzwerk einen Vorteil erfahren oder sich erhoffen.”[17] Das Denken in Netzwerken ist ein Element des Systemdenkens. Die systemischen Eigenschaften ergeben sich durch die Prozesshaften Beziehungen der Teile in einem System zueinander. ”Konkretisiert auf den gesellschaftlichen Bereich bedeutet dies eine Abkehr von herkömmlichen hierarchisch-dirigistisch gesetzten Organisationsstrukturen und eine Hinwendung zu Kooperation und Koordination in Netzwerken in Wirtschaft und Gesellschaft.”[18] Die handelnden Akteure agieren in unterschiedlichen Netzwerken. Sofern sie eigene Netzwerke bilden (z.B. Unternehmen, Organisationen) sind diese wiederum in eine größere Netzwerkstruktur eingebunden. Soziale Netzwerke können entsprechend den Handlungsbereichen in vier Kategorien eingeteilt werden:

- Strategische Netzwerke - Unternehmensnetzwerke
- Regionale Netzwerke
- Policy-Netzwerke
- Innovationsnetzwerke[19].

In dieser Arbeit wird es sich ausschließlich um die so genannten ”Policy-Netzwerke” drehen.

2.3.2. Policy-Netzwerke

Netzwerke erklären, wie die Inputs in ein politisches System zu Outputs umgewandelt werden. Sie erklären die so genannten ”Withinputs”. Oder anders ausgedrückt: ”Netzwerke konkretisieren die diffusen Erwartungen und Verhaltensweisen, welche die Akteure in einer Arena auszeichnen.”[20]

Policy-Netzwerke werden definiert als ”Zusammenwirken unterschiedlicher Institutionen der Exekutive, der Legislative und der Gesellschaft bei der Entstehung und Durchführung einer bestimmten Policy.”[21] Man spricht von einem geschlossenen Policy-Netzwerk, wenn es fest institutionalisiert ist wie im vorliegenden Fall. Bei einer geringen Institutionalisierung wird es offenes Policy-Netzwerk genannt. Den Zusammenhang zwischen Netzwerken und Politikfelder erklärt Klaus von Beyme wie folgt sehr treffend: ”Netzwerke würden zu wabernden Fäden, die im nowhere enden, wenn sie nicht durch Politikfelder begrenzt wären. Die Teilnehmer auf einem Politikfeld [...] haben ein gemeinsames Interesse an der Lösung eines Problems und anerkennen ihre gegenseitige Relevanz im Spiel der Entscheidung."[22]

Im politischen System gibt es eine Hierarchie unter den Netzwerken und innerhalb der Netzwerke. Trotz des Vorhandenseins von Policy-Netzwerken und den damit verbundenen Kooperationsmechanismen gibt es also hierarchische Entscheidungsstrukturen. ”Die fest gefügten parlamentarischen Entscheidungsregeln werden von Netzwerken nicht außer Kraft gesetzt. Die Netzwerke dienen nur dazu, die Entscheidungskosten zu verringern.”[23] Netzwerke dienen vor allem dazu, die unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Interessen in der vorparlamentarischen Phase und vor der formalen Entscheidung auszugleichen. Es gibt auch informelle Netzwerke die zum Teil nicht mit den Institutionen und hierarchischen Organisationsstrukturen identisch sind. Vielmehr wirken sie in den etablierten Institutionen und über sie hinaus als eine allumfassende Struktur. Klaus von Beyme spricht auch von den ”nerves of governance”[24] in den Politikfeldern. Netzwerke sind nicht planbar. Sie werden deshalb auch als paradoxes Steuerungsmittel[25] bezeichnet. Es besteht die Gefahr, dass sich formelle und informelle Entscheidungen zu weit voneinander entfernen und die Entscheidungsgründe für die Öffentlichkeit nicht mehr nachvollziehbar sind.

Die Policy-Netzwerke können verschiedenen Typen zugeordnet werden.[26] Für Deutschland sind vor allem der liberale Korporatismus und der so genannte sponsored pluralism von Bedeutung. Bei dem liberalen Korporatismus wird von einer Dominanz zweier konfligierender Großgruppen ausgegangen, während beim sponsored pluralism eher von einem gemäßigten Pluralismus verschiedener Gruppen gesprochen wird. Diese Typen von Netzwerken können je nach Politikfeld auch in gemischter Form auftreten. In Deutschland ist die Zahl der Verbände relativ übersichtlich. Es gibt stabile Koalitionen zwischen den maßgebenden Verbänden und politischen Parteien. Im Fall des Gesetzgebungsprozeßes zum Zuwanderungsgesetz ist es interessant zu sehen, dass diese Koalitionen nicht unbedingt so stabil sind, wie in anderen Politikfeldern.

3. Theoretische Grundlagen für die Analyse von Gesetzgebungsprozeßen

3.1. Konzepte politischer Steuerung

Politische Steuerung meint Lenkung und Reglementierung der Gesellschaft und ihrer Teilsysteme durch politisches Handeln. Politik ist nur eines der Steuerungsmittel. Wirtschaftliche Strukturen und die Rechtsprechung (-auslegung) sind andere Beispiele.

Um den Gesetzgebungsprozeß in der Bundesrepublik Deutschland zu untersuchen verbindet Klaus von Beyme sehr treffend systemtheoretische mit akteurstheoretischen Ansätzen. Um auf dieses Modell genauer einzugehen, sollen zunächst die beiden Theoriestränge Systemtheorie und Akteurstheorie dargestellt werden.

In meiner Analyse wird aber auch der Vetospieler-Ansatz von Tsebelius eine wichtige Rolle spielen. Deshalb solle er hier auch noch kurz erläutert werden.

3.1.1. Systemtheorie

Da in der heutige Diskussion die Luhmannsche Version von größerer Bedeutung ist, wird Parsons Systemtheorie hier nicht weiter untersucht.

Die Systemtheorie geht davon aus, dass es verschiedene Typen von sozialen Systemen gibt. Gesellschaftliche Teilsysteme sind eine Art von sozialen Systemen. Zu den gesellschaftlichen Teilsystemen gehören zum Beispiel Religion, Recht, Erziehung, Wissenschaft, Wirtschaft und Politik.

Jedes System hat seine eigene Umwelt. Die Beziehungen zwischen dem System und seiner Umwelt sind der zentrale Untersuchungsgegenstand der Systemtheorie. Die Umwelt nimmt Einfluss auf das System und umgekehrt. Die Umwelt eines Systems wiederum nimmt Einfluss auf die Umwelten anderer Systeme. Die verschiedenen Systeme nehmen sich so wahr und treten in Beziehung zueinander, überschneiden sich aber nicht.

Die Umwelt ist immer viel komplexer als das System. Um eine Ordnung in diese Komplexität hereinzubringen und die anstehenden Probleme zu lösen, differenzieren sich Systeme aus und bilden neue Subsysteme. Diese haben wieder eigene Umwelten. Das sind die so genannten inneren Umwelten.

Wenn sich ein System verändert, verändert sich auch die Umwelt. Demnach sind System und Umwelt gleichberechtigt. Systeme und Umwelten können nicht unabhängig voneinander existieren.

Ein System interessiert sich vor allem für Prozesse und Ereignisse innerhalb des eigenen Systems. An dieser internen Kommunikation kann ein System anschließen. Prozesse und Ereignisse außerhalb eines Systems bleiben erst einmal unbeachtet, da sie nicht anschlussfähig sind.

Die Systemtheorie spricht von autopoietischen Systemen, das bedeutet, dass diese einen starken Drang zur Selbststeuerung haben. Sie erzeugen und steuern sich selbst, indem sie auf die eigenen Elemente Bezug nehmen. Diese Verknüpfungen werden ständig hergestellt. Die einzelnen Systeme sind deshalb gleichrangig. Zusammengefasst kann man sagen: ein System genügt sich selbst. Es bezieht neue Elemente aus seiner Umwelt und seine Operationen wirken sich wiederum auf die Umwelt aus. Systeme haben eine Eigendynamik und sind von außen nicht steuerbar. Dasselbe gilt laut der Systemtheorie auch für die Beziehung zwischen den einzelnen Subsystemen eines Systems.

Der Mensch ist in der Systemtheorie Bestandteil der Umwelt und nicht des Systems. Aber der Mensch spielt bei der Systembildung eine wichtige Rolle, da die Kommunikation zwischen Systemen und ihren Teilsystemen Menschen voraussetzt. Soziale Systeme operieren mit Kommunikation, sie konstituieren sich durch Kommunikation. Nach dem Prinzip der Autopoiesis schließt Kommunikation immer an Kommunikation an. Handeln bedeutet die Selbstbeobachtung der sozialen Systeme indem sie operieren.

Jedes Teilsysteme hat einen eigenen binären Code, d.h. die Kommunikation orientiert sich an einem Maßstab bestimmter Unterscheidung. Laut der Systemtheorie heißt der Code für das Rechtssystem ”Recht/Unrecht”, für die Politik ”Macht/keine Macht, Regierung/Opposition” und für die Wirtschaft ”Geld/kein Geld”. Binäre Codes sichern das jeweilige System auch vor Übergriffen oder Einmischung seitens eines anderen, z.B. des politischen, Systems. Diese angenommenen binären Codes erklären aber nicht, warum zum Beispiel im deutschen Bundestag überdurchschnittlich viele Juristen vertreten sind und von einer zunehmenden ”Verrechtlichung” der Politik gesprochen wird. Auch die Überschneidungen zwischen Wirtschaft und Politik sind in der Praxis nicht zu übersehen.

Eine weitere Annahme ist, dass Subsysteme eine Einheit mit gleichgerichteten Interessen bilden. In den Teilsystemen herrscht immer nur Kommunikation über die Teilprobleme einer Gesellschaft. Gerade das ist zu bezweifeln. Die Entgegengesetzte Annahme erklärt vielmehr, warum es zu häufigen Überschneidungen und Verschmelzungen zwischen den einzelnen Teilsystemen kommt.

Die Systeme stehen laut Systemtheorie ”kalt und fremd wie Fixsterne am Himmel.”[27] Es gibt Kommunikation mit anderen Systemen an den Systemgrenzen. Die Subsysteme haben eigene Gesetzmäßigkeiten und entwickeln sich nicht danach, was die Akteure innerhalb der Systeme wollen. Damit steht die Systemtheorie im kompletten Gegensatz zu den Akteurstheorien. Für die politische Steuerung bedeutet dies, dass Politiker nur beschränkt handlungsfähig und anderen Systeme nur in sehr beschränktem Maße beeinflussbar sind. Die Systemtheorie geht sogar davon aus, dass das Teilsystem Politik nur sich selbst steuern kann und nicht die anderen Teilsysteme. Im vorliegenden Fall ist zu sehen, dass ein Gesetz, welches dem Teilsystem Politik zuzuordnen ist, durchaus steuernd und reglementierend in andere Teilsysteme wie der Wirtschaft eingreift und das dieses System diese Veränderung annimmt oder dies sogar wünscht. Diese Intervention geht weit über das Prinzip der ”Kommunikation an den Systemgrenzen” hinaus, da das Gesetz die Handlungsspielräume der Akteure in anderen Teilsystemen begrenzt bzw. erweitert.

Die oft unterschiedlichen Meinungen und Interessen innerhalb des Teilsystems ”Politik” werden in der Systemtheorie folgendermaßen erklärt: ”Der ursprüngliche politische Code Macht/Ohnmacht wird durch eine Zweicodierung überlagert: Macht wird nochmals aufgespalten in den demokratiespezifischen Code Regierung/Opposition.”[28] Die politische Kommunikation wirkt sich demnach entweder positiv für die Regierung oder für die Opposition aus.. Dadurch können alternative Möglichkeiten in der Demokratie produziert werden. ”Demokratie ist nach der Systemtheorie Luhmanns die Möglichkeit des geordneten, aber faktisch weitgehend folgenlosen Machtwechsels zwischen Regierung und Opposition.”[29]

3.1.2. Akteurs- und Handlungstheorie

Zu beinahe entgegengesetzen Annahmen kommen Akteurs- und Handlungstheorien. Das Handeln der Akteure in einem (politischen) System bestimmen die gesetzten Regeln und die Entwicklung des Systems und anderer Teilsysteme. Akteure in Systemen sind handlungsfähig und verändert aktiv Strukturen auch in anderen Systemen. Mittelpunkt von Entscheidungen sind nicht die vorgegebenen Strukturen der Subsysteme sondern die Handlungen der Akteure. Die Strukturen prägen nicht das Handeln. Es ist genau umgekehrt.

Die handelnden und steuernden Akteure sind zum Beispiel Parteien, die Regierung oder die Führung.

Akteurstheorien setzen auf der Mikroebene der handelnden Akteure an. (Demokratische) Strukturen stecken den Handlungsrahmen für Akteure und ihre Opponenten ab. Die Entscheidung ist aber weniger von den objektiven Umständen als vielmehr von den subjektiven Einschätzungen, Strategien und Handlungen relevanter Akteure abhängig. ”Akteurshandeln wird dabei primär als Elitenhandeln verstanden. [...] Sozioökonomische Strukturen, politische Institutionen, internationale Einflüsse und historische Erfahrungen bilden lediglich den Handlungskorridor, innerhalb dessen demokratisch und autokratisch gesinnter Eliten ihre politischen Ziele verfolgen.”[30]

Akteurstheorien werden hinsichtlich ihrer Ausgangsprämissen und der Bedeutung des individuellen Kosten-Nutzen-Kalküls unterteilt nach der deskriptiv-empirischen Strömung und dem deduktiv vorgehenden rational choice-Ansatz.

Für deskriptiv-empirische Theorien spielt das Kosten-Nutzen-Kalkül der Akteure eine große Rolle. Es muss für die handelnden Akteure aus Kosten-Nutzen-Gründen rational sein, sich für eine Sache zu entscheiden. Sie beschreiben die Akteurskonstellationen und die politischen Handlungen in ”wenn-dann-Sätzen”.

”Der Rational-Choice-Ansatz lehnt die Beschreibung der Akteure allein nach ihren Interessen und Strategien als nicht ausreichend ab.”[31] Die strategischen Situationen der Akteure spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Die Entscheidung der Akteure ist bestimmt durch die ”Konfiguration bestimmter politischer Kräfte mit unterschiedlichen Interessen, die unter Bedingungen handeln, die wiederum Resultate vorhergehender Aktionen und exogenen Drucks sind.”[32]

Der Rational-Choice-Ansatz fußt auf drei Grundannahmen. Er geht davon aus, dass soziale Situationen durch individuelle Handlungen begründet und die Entscheidungen rational getroffen werden. Rational heißt in diesem Sinne Nutzenmaximierendes Handeln. Die individuell getroffene Entscheidung ist rational, wenn die Handlungsalternativen auf Vor- und Nachteile geprüft und mit den eigenen Präferenzen abgewogen werden. Die gewählte Handlungsalternative maximiert den Nutzen des jeweiligen Akteurs. Die Entscheidungen eines Akteurs wiederum haben Rückwirkungen auf andere Akteure in seiner Umwelt. Der Akteur unterliegt aber auch Restriktionen. Beschränkungen können zum Beispiel ein finanzieller Rahmen, Gesetze und Abstimmungsregeln sein. Auch bedenkt der Akteur wie wahrscheinlich bestimmte Konsequenzen seiner Entscheidung sind.

Das Individuum steht demnach im Mittelpunkt der akteurstheoretischen Ansätze. Institutionen sind hingegen geschriebene oder ungeschriebene Verfahren bzw. organisierte Systeme, die unabhängig von den Akteuren existieren. Institutionen setzen den Handlungsrahmen für die Akteure. So ist das Gesetzgebungsverfahren eine Institutionen, die in der Verfassung und in den Geschäftsordnungen der einzelnen Gremien festgelegt ist.

Aber die Akteure erzeugen diese kollektiven Phänomene und nicht umgekehrt. Strukturen und Institutionen verändert sich nicht, sondern nur die innerhalb der Strukturen handelnden Akteure können Änderungen bewirken.

3.1.3. Theoriesynthese

Politisches Handeln trägt in Konkurrenz mit anderen Steuerungsprozessen funktionaler Teilsysteme zum sozialen Wandel bei. Als Hauptsteuerungsmedium wird ”Kommunikation” und nicht ”Macht” genannt.[33] Aber Handlungsmedien können nicht einem Teilsystem absolut zugeordnet werden. So ist ”Geld” nicht mehr nur das Steuerungsmedium des Teilsystems ”Wirtschaft”.[34] Aber auch, wenn die Steuerungsmedien von verschiedenen Teilsystemen geteilt werden, bleibt den jeweiligen Systemen ihre Eigenart erhalten.

Die Teilsysteme an sich haben eine Handlungsprägende Kraft. Auf der anderen Seite sind die Akteure selbst handlungsfähig. Das sind zwei entgegengesetze Pole oder wie Beyme sagt “zwei Seiten einer Medaille”.[35] Denn laut Beyme bringen handlungsfähige Systeme automatisch Handelnsprägende Kräfte hervor. Ein ”entweder oder” ist hier nicht von Nöten.

Eine weitere Modifikation an der Systemtheorie, nimmt Klaus von Beyme bei der Aussage über die selbstreferentielle Schließung vor. Selbstreferentielle Schließung meint, dass sich ein System oder Teilsystem selber reproduziert und steuert. Die Teilsysteme haben aber einen unterschiedlichen Grad an selbstreferentieller Schließung. Die Autozentrierte Geschlossenheit ist nur ein Grenzfall, denn ”ein Teil der Subsysteme will gar nicht selbstreferentiell werden (z.B. Umweltpolitik).”[36] Viele Teilsysteme gehen wie selbstverständlich noch immer von einem Primat der Politik aus, auch wenn die Vernetzung der Systeme untereinander immer weiter zunimmt und vielfältige Kooperationsmechanismen entstanden sind. Deshalb kann sich der Staat gar nicht selber auf seine eigene Systemebene beschränken. Klaus von Beyme führt ein gutes Beispiel an. ”Ein Staat, der sich um das Problem der Vergewaltigung in der Ehe Gedanken machen muss, verhält sich interventionistischer als ein absolutistischer Fürst, der nur in der symbolischen Politik behauptete: l’état c’est moi.”[37] Die Teilsysteme gehen vielmehr symbiotische Beziehungen untereinander ein. So unterliegt zum Beispiel das Verhältnis zwischen Rechtssystem und Politik einem stetigem Wandel. Die Grenzen zwischen den Teilsystemen lassen sich meistens nicht fest ziehen. Die Politik ist anderen Teilsystemen dennoch noch immer überlegen, da es auch Regeln für diese setzt. Zwar kommt auch dem Rechtssystem durch das Bundesverfassungsgericht die Funktion von Rechtsetzung zu. Wenn es aber zu selbstbewusst wird, sich also nach den eigenen selbstreferentiellen Regeln in das Teilsystem Politik einmischt, kann die Politik das Rechtssystem durch Grundgesetzänderungen wieder in seine Schranken verweisen. Entgegen der Annahmen der Systemtheorie gibt es also doch das Primat eines Teilsystems bzw. hierarchische Beziehungen zwischen den Teilsystemen.[38] Außerdem unterliegt die wechselseitige Beeinflussung der Teilsysteme einem historischen Wandel. Die Subsysteme waren zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich offen füreinander.

Es kann also von so genannter sanfter staatlicher Steuerung gesprochen werden. Die Grundannahme ist die Existenz unterschiedlicher Teilsysteme, die sich zum Teil selbstreferentiell produzieren, sich im unterschiedlichen Grade wechselseitig beeinflussen und von anderen Teilsystemen mitgesteuert werden. Politik und Ökonomie sind Teilsysteme, die vermehrt Steuerungsfunktionen für andere Teilsysteme übernehmen.

Um seine Steuerungsfunktion wahrnehmen zu können, sucht der Staat (bzw. das Teilsystem Politik) sich Verbündete in anderen Teilsystemen. Das setzt die Annahme voraus, dass die Interessen in einem Teilsystem nicht homogen sind, wie die Systemtheorie behauptet. Es gibt dominante und oppositionelle Kräfte und eine Hierarchie von Interessen innerhalb eines Teilsystems. Als Beispiel führt Klaus von Beyme die oft entgegengesetzten Interessen von Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften im ökonomischen Teilsystem auf. ”Der steuernde Staat schleust keine trojanischen Pferde in die Teilsysteme, sondern sucht sich Verbündete unter den Unzufriedenen in den Teilsystemen.”[39] Staatliche Steuerungsleistungen werden aber nicht nur von politischen, sondern auch von gesellschaftlichen Akteuren wie Verbänden und Interessengruppen erbracht.

Es bleibt zu bedenken, dass staatliche Steuerung ”über bloße Konditionierung der Selbststeuerung funktionaler Teilsysteme”[40] hinaus geht. Der Staat ist immer mehr Akteur bei der politischen Steuerung. Im Bewusstsein der Parlamentarier hat sich zwar die autopoietische Steuerungsskepsis eingenistet. Aber der Gesetzgeber hat den Steuerungsanspruch nie ganz aufgegeben.

An meinem Fallbeispiel dem Gesetzgebungsprozeß zum neuen Zuwanderungsgesetz wird zu sehen sein, dass sie Subsysteme tatsächlichen einen sehr unterschiedlichen Grad an selbstreferentieller Schließung aufweisen und der Staat als Akteur durchaus großen Einfluss auf andere Subsysteme nimmt, sie steuert und reglementiert. Die Grenzen sind, wie von Beyme erläutert, nicht eindeutig zu ziehen. Das Primat der Politik ist gegeben. Im Fall der Zuwanderung steuert der Staat, der Gesetzgeber, in hohem Maß u.a. das ökonomische Subsystem. Umgekehrt gehen Impulse zur Übernahme der Steuerungsfunktion seitens des Staates auch von anderen Subsystemen aus, in diesem Fall vermehrt vom ökonomischen Teilsystem. Die einzelnen Subsysteme wollen also nicht immer und unbedingt selbstreferentiell sein. Oder wie von Beyme es ausdrückt: ”Die autopoietischen Hunde müssen vielfach zum selbstreferentiellen Jagen getragen werden.”[41]

3.2. Vetospieler-Ansatz

Der Vetospieleransatz geht davon aus, dass ein Vetospieler ein kollektiver oder individueller Akteur ist, dessen Zustimmung erforderlich ist, um eine Politikänderung herbeizuführen. Er wird unterschieden zwischen ”partisan” und ”institutional” Vetospielern. Institutionelle Vetospieler sind durch die Verfassung bestimmt (z.B. der Bundesrat) und ”partisan” Vetospieler werden durch das politische System bestimmt (parlamentarische Opposition). Die Stabilität der Staatstätigkeit und damit der Status Quo hängt von drei Faktoren ab: der Anzahl der Vetospieler, ihrer Kongruenz, d.h. von ihrer ideologischen Distanz und Polarisierung sowie von ihrer Kohäsion, also dem inneren Zusammenhalt der Vetospieler.

Nach dieser Theorie sind die Vetospieler die Akteure in einem politischen System. Außerdem existiert in jedem System ein Status Quo, d.h. der Zustand welcher die aktuelle politische Lage wiedergibt.

Ein weiterer zentraler Begriff des Vetospieleransatzes ist die ”politische Stabilität”. Je größer die politische Stabilität ist, desto schwieriger ist es, den Status Quo zu ändern.

Vetospieler wollen den Status quo verändern oder erhalten. Dazu steht ihnen ein Set möglicher Politikergebnisse (Winset) zur Verfügung, welche den Status Quo ändern könnten. Ein Mechanismus der Vetospieler, den Status Quo zu ändern, ist zum Beispiel das agenda setting. Damit wird die Fähigkeit eines politischen Akteurs bezeichnet, die Inhalte oder den Ablauf politischer Tagesordnungen zu bestimmen. Je mehr Vetospieler in einem politischen System existieren, desto geringer sind die Chancen auf die Veränderung des Status quo, da die Einflüsse breiter gestreut sind. Eine Bündelung eröffnet mehr Machtchancen für einen dominanten Vetospieler. Anders formuliert, ist ein politisches System stabiler, je mehr Vetospieler existieren. Das Winset schrumpft, je weiter die Vetospieler inhaltlich voneinander entfernt sind, da kein Vetospieler aufgrund der vielfältigen Interessen innerhalb eines Systems soviel gesellschaftliche Macht bündeln kann.

Ein zentraler Aspekt des Vetospieleransatzes ist die Reihenfolge der strategischen Züge in einem politischen System. Hier spielt der Gedanke an einen hierarchischen Aufbau eine Rolle. In einem politischen System unterbreiten Akteure anderen Akteuren Vorschläge, welche diese annehmen oder ablehnen. Es ist dabei entscheidend, wer den ersten Vorschlag macht, bzw. wer im politischen Entscheidungsprozeß der agenda setter ist. Am ersten Vorschlag richtet sich der folgende Verhandlungsprozess aus. Der vorschlagende Vetospieler kann also einen Punkt im Winset wählen, welcher seinen Vorstellungen am nächsten kommt. Die Bedeutung des agenda settings nimmt aber ab, wenn die politische Stabilität zunimmt, wenn also mehrere Vetospieler existieren, da jeder Vetospieler das gesamte Winset beachten muss, um von den anderen Vetospielern akzeptiert zu werden. Sonst laufen seine Vorschläge ins Leere. Ein einzelner Vetospieler hat mehr Chancen, sich seinem Idealpunkt anzunähern. Der Einfluss eines Vetospielers ist umso größer, je zentraler er sich zwischen den anderen Vetospielern befindet. Dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass er sich öfters innerhalb des Status Quo befindet. Der Bikameralismus erhöht nach Tsebelis die Zahl der Vetospieler. Je mehr Vetospieler existieren, desto kleiner ist das Winset, da mehr Akteure zur Abstimmung notwendig sind.

4. Methoden der Analyse von Entscheidungsstrukturen

In meiner Fallstudie wird die Policy-Analyse die grundlegende Untersuchungsmethode sein. Es handelt sich um Grundlagenforschung und ist die Analyse der Politik im Sinne von Form, Prozess und Inhalt. In der Policy-Analyse geht es vor allem um die Studie von Netzwerken. Deshalb stelle ich einige Gedanken zur Netzwerkanalyse voran.

4.1. Netzwerkanalyse

Um einen politischen Entscheidungsprozeß zu verstehen und die politischen Netzwerke aufzudecken, bedarf es einer Netzwerkanalyse.

Netzwerkanalysen entstanden aus der Kritik an früheren Elitentheorien, die von einer politischen und sozialen Herrschaft von Eliten ausgehen. Sie setzten sich aber eher mit dem Pluralismus als mit dem Neo-Korporatismus auseinander. Der Neo-Korporatismus bedeutet die Einbindung (”Inkorporation”) von organisierten Interessen in die Politik und ihre Teilhabe an der Formulierung und Ausführung von politischen Entscheidungen.[42] Der Begriff Pluralismus dagegen bezeichnet empirisch die ”Existenz einer gesellschaftlichen Bedürfnis-, Interessen- und Organisations- (Gruppen- bzw. Verbände) Vielfalt”.[43] Normativ meint Pluralismus die ”Umsetzung dieser Vielfalt in die Inhalte der politischen Ausgestaltung demokratischer Regierungssysteme”.[44] Gruppen und Verbände leiten ihre Legitimität daraus ab, dass sie individuelle Interessen vertreten. Es geht den Pluralisten vor allem um die Streuung der Macht und keinesfalls um eine Machtkonzentration. Sie betonen die Vielgliedrigkeit von Staat und Gesellschaft und heben das Prinzip der Meinungsfreiheit hervor.

Beide konnten aber nicht hinreichend erklären, wie die Inputs in der Blackbox des politischen Entscheidungssystems in Outputs umgewandelt werden, wie zum Beispiel die Pluralisten den Weg von der ”Vielheit zur Einheit”[45] beschreiten. Die Withinputs, die Zwischenschritte, wurden immer entscheidender. Zur Erklärung kann zum Beispiel die Arbeit der Verwaltung herangezogen werden, die längst über das Stadium eines bloßen Mitspielers hinaus gewachsen ist und aktiv Einfluss auf die Gesetzgebung nimmt. Netzwerke erklären somit die Umwandlung von Inputs in einem politischen System in Outputs aus dem politischen System.

Die Netzwerkanalyse bringt außerdem zutage, dass es keine einheitliche politische Klasse im Entscheidungsprozeß gibt, ”sondern allenfalls sektorale Netzwerke.”[46] Auch dafür ist der Gesetzgebungsprozeß zum Zuwanderungsgesetz ein hervorragendes Fallbeispiel. Gerade die Auseinandersetzungen zwischen parlamentarischer (Regierungs-)mehrheit und Opposition und zwischen den einzelnen (oppositionsnahen und regierungsnahen) Bundesländern bestimmte die öffentliche Debatte und die Entscheidung.

4.2. Policy-Analyse

”Policy-Analyse ist die wissenschaftliche Untersuchung von Politikinhalten, insbesondere des Handelns von Institutionen mit Kompetenz zur gesellschaftlich verbindlichen Regelung, ihrer Entstehungsgeschichte und Bestimmungsfaktoren wie ihrer Konsequenzen.”[47]

Die Erforschung der Politikinhalte steht hier im Zusammenhang mit institutionellen und prozessualen Bedingungen der Politik.

Zum ersten wird die Staatstätigkeit wie folgt kategorisiert und in ein Ordnungssystem gebracht.

1. Nominalkategorien
2. Wirkung von Politikinhalten
3. Steuerungsprinzipien
4. innere Beschaffenheit der Politikprogramme

Die Nominalkategorien sind der Gegenstandsbereich, die Zielgruppen und die Akteure. Der Gegenstandsbereich in der vorliegenden Fallstudie ist die Innenpolitik. Nach Zielgruppen geordnet handelt es sich um Asyl- und Migrationspolitik. Wenn wir einen Blick auf die Akteure legen, dann handelt es sich vor allem um Bundes- aber auch um Landespolitik.

Wie genau entstehen Policies? Wann handelt der Staat? Im Rahmen der Policy-Analyse gehe ich von einer Mischung der Theorieschulen aus. Die ”Theorie gesellschaftlicher Interessen”[48] besagt, dass Policies auf das Wirken und Kräftemessen von gesellschaftlichen Interessen, beispielsweise von gesellschaftlichen Klassen und zu Verbänden zusammengefasste Interessen zurückgeführt werden. Aber die Hauptakteure der Gesetzgebung sind immer noch die Parteien. Deshalb spielt hier die ”Parteiendifferenz-Theorie”[49] eine wichtige Rolle. Ihr zufolge werden Staatstätigkeiten vor allem von den regierenden Parteien geprägt. Dabei stehen zwei veränderliche Größen im Zentrum der Aufmerksamkeit: Die Umsetzung der jeweiligen Parteiprogrammatik und das in Wahlplattformen postulierten Vorhaben in der Politik. Die Akteure sind aber vor allem an der Wiederwahl interessiert. Diese Perspektive sollte auch nicht vergessen werden. Im vorliegenden Fall spielte die anrückende Bundestagswahl 2002 im ersten Gesetzgebungsakt eine entscheidende Rolle für das Verhalten der Akteure insbesondere der parlamentarischen Opposition. Eine weitere Schule der Policy-Forschung ist für diese Fallstudie von Bedeutung. Die sozio-ökonomische Schule begreift Policies als mehr oder minder direkte Reaktion auf sozioökonomische Entwicklungen und Problemlagen. Sich auf eine Schule festzulegen gäbe kein erklärendes Untersuchungsergebnis ab. Deshalb gilt es in dieser Fallstudie, den Gesetzgebungsprozeß des neuen Zuwanderungsgesetzes sowohl hinsichtlich der sozio-ökonomischen Entwicklung und Problemlage und der vorhandenen gesellschaftlichen Interessen, als auch der Parteiprogrammatiken zu untersuchen. Aber auch die institutionellen Bedingungen des Gesetzgebungsaktes in der Bundesrepublik Deutschland und die administrativen Bedingungen spielen eine Rolle, womit auch die letzten beiden Schulen (Theorie der institutionellen Bedingungen und die Implementations-Theorie) eine Rolle spielen.

Außerdem wird bei der Analyse von Policy-Netzwerken nach Entscheidungstypen unterteilt, was wiederum Hinweise auf die Konfliktstruktur der Politikfelder geben soll. Allgemein wird erst einmal zwischen Meinungs- und Interessenkonflikten entschieden.

Meinungskonflikte sind Konflikte zwischen Weltanschauungsgruppen. Interessenkonflikte sind Konflikte der Klassenpolitik mit relativ symmetrischer Organisation von Großgruppen. Es kann sich aber auch um Statuspolitik mit dominantem Interesse und organisiertem Gegenverband und mit losen Koalitionen staatlicher und gesellschaftlicher Akteure handeln. Jeder dieser Art von Konflikten zieht einen bestimmten Maßnahmetyp nach sich. Während es bei Interessenkonflikten mehr um Verteilungsfragen zwischen den einzelnen Gruppen dreht, geht es bei den Meinungskonflikten um Anrechtsspiele. Dort ist dann auch der restriktive (Einschränkung bestehender Rechte), extensive (Erweiterung von Rechten), protektive (Schutz durch Normen mit begrenztem Einsatz von Mitteln) und gelegentlich auch regulative (relativ neutrale Regulierungen) Maßnahmetyp vorherrschend. Bei den Interessenkonflikten geht es entweder um distributive (Verteilung ohne große Verlierer) oder redistributive (Umverteilung mit Gewinnern und Verlierern) oder protektive und distributive (Statuspolitik) Maßnahmetypen. Regulative Maßnahmen können bei allen Konfliktarten entstehen. Aber auch hier ist es schwer, eine genaue Trennlinie zu ziehen. Klaus von Beyme nennt ein Szenario. ”Sozialpolitische Verteilungsprobleme können an die Kernbereiche der Weltanschauungen von Parteien heranreichen und sich zu globalen Meinungskonflikten ausweiten.”[50] Genau das ist bei der Entstehung des Zuwanderungsgesetzes geschehen.

Die Abweichung vom status quo ist bei restriktiv-protektiven (Konservatismus) und extensiv-redistributiven (Sozialismus) Maßnahmetypen am größten. Die Konfliktintensität ist dann am höchsten. Restriktiv-protektive und regulativ-distributive (Liberalismus) Maßnahmetypen werden zusammen auch als ”liberal-konservativer Grundkonsens moderner Demokratien”[51] bezeichnet. Beim Zuwanderungsgesetz handelt es sich im Großen und Ganzen um eine extensiv-redistributive Maßnahme, also um die Erweiterung von Rechten und eine Umverteilung mit Gewinnern und Verlierern. Zu Zeiten sozial-liberaler bzw. sozial-grüner Koalition trat dieser Typ wieder vermehrt auf. Aus Sicht der Asylbewerber könnte es sich eher um eine restriktiv-distributive Maßnahme handeln, also um eine Einschränkung der Rechte mit wesentlichem Verbleib beim Status quo. Das Beispiel zeigt, dass die Zuteilung zu einem Maßnahmetyp im Auge des Betrachters liegt und ja nach Interesse unterschiedlich ausfallen kann. Als relativ neutrales Kriterium zur Einschätzung des Maßnahmetypes schlägt Klaus von Beyme den ”subjektiv gemeinten Sinn der gesetzgeberischen Mehrheit” vor.[52] Es gilt immer zu beachten, dass ”am Prozeß der Suche nach bindenden Entscheidungen eine Menge Akteure teilnehmen, die das Ziel des Initiators von Gesetzen nicht teilen.”[53]

[...]


[1] “Eine Zuwanderung in den deutschen Arbeitsmarkt auf Zuruf scheint damit zum ersten Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte gescheitert.” (Kolb, Holger, 2003: Ein Jahr “Green Card” in Deutschland: Ein Blick zurück – ein Blick nach vorn, in: Hunger, Uwe/ Santel, Bernhard: Migration im Wettbewerbsstaat, Opladen, S. 159)

[2] Leunig, Sven, 2004: Länder- versus Parteiinteressen im Bundesrat realer Dualismus oder fiktive Differenzierung? in: APuZ, B 50-51/2004, S. 33-38. Leunig, Sven, 2003: ”Öl” oder ”Sand” im Getriebe?, in: ZParl 4/2003, S. 778-792.

[3] Ismayr, Wolfgang, 2001: Der Deutsche Bundestag im politischen System der Bundesrepublik Deutschland. Opladen, 2001, S. 221.

[4] Ismayr (2001), S. 24.

[5] Ismayr (2001), S. 27.

[6] Schick, Rupert/ Schreiner, Hermann J., unter: http://www.bundestag.de/bic/gesgeb/01gesgeb1.html.

[7] Waldkirch, Barbara, 2004: Der Gesetzgeber und die Gentechnik. Das Spannungsverhältnis von Interessen, Sach- und Zeitdruck, Wiesbaden, S. 16.

[8] Holtmann, Everhard/ Brinkmann, Ulrich/ Pehle, Heinrich, 1994: Politik-Lexikon, München, S. 214.

[9] Holtmann (1994), s. 215.

[10] Waldkirch (2004), S. 17 f.

[11] Ismayr (2001), S. 216 ff.

[12] Ismayr, (2001), S. 221.

[13] Holtmann (1994), S. 215.

[14] Schulze-Fielitz, Helmuth/ Gößwein, Christoph, 1997: Bundesgesetzgebung als Prozeß, in: APuZ B 36-37, S. 21.

[15] Beyme, Klaus von, 1997: Der Gesetzgeber. Der Bundestag als Entscheidungszentrum, Opladen, S. 13.

[16] http://www.uni-protokolle.de/Lexikon/Netzwerk.html

[17] http://www.uni-protokolle.de/Lexikon/Soziales_Netzwerk.html

[18] Beyme (1997), S. 15.

[19] Beyme (1997), S. 32.

[20] Beyme (1997), S. 34.

[21] Schmidt, Manfred G. , 1997: Policy-Analyse. In: Mohr, Arno (Hrsg.): Grundzüge der Politikwissenschaft, München, S. 577.

[22] Beyme (1997), S. 46.

[23] Beyme (1997), S. 45.

[24] Beyme (1997), S. 46.

[25] Beyme (1997), S. 45.

[26] Beyme (1997), S. 43.

[27] Beyme (1997), S. 27.

[28] Massing, Peter/ Breit, Gotthard (Hrsg.), 2003: Demokratie-Theorien. Von der Antike bis zur Gegenwart. Texte und Interpretationen, Bonn, S. 250.

[29] Massing (2003), S. 251.

[30] Merkel (1999), S. 102 f.

[31] Merkel (1999), S. 105.

[32] Merkel (1999), S. 105 f.

[33] Beyme (1997), S. 19.

[34] Beyme (1997), S. 19.

[35] Beyme (1997), S. 24.

[36] Beyme (1997), S. 25.

[37] Beyme (1997), S. 25.

[38] Obwohl noch eher von einem Primat des ökonomischen Teilsystems gesprochen werden kann.

[39] Beyme (1997), S. 28.

[40] Beyme (1997), S. 31.

[41] Beyme (1997), S. 25.

[42] Holtmann (1994), S. 394.

[43] Holtmann (1994), S. 455.

[44] Holtmann (1994), S. 456.

[45] Holtmann (1994), S. 458.

[46] Beyme (1997), S. 42.

[47] Schmidt (1997), S. 567.

[48] Schmidt (1997), S. 569.

[49] Schmidt (1997), S. 571.

[50] Beyme (1997), S. 37.

[51] Beyme (1997), S. 38.

[52] Beyme (1997), S. 40.

[53] Beyme (1997), S. 41.

Ende der Leseprobe aus 114 Seiten

Details

Titel
Der Gesetzgebungsprozeß in der Bundesrepublik Deutschland am Beispiel des Zuwanderungsgesetzes - eine Fallstudie
Hochschule
Technische Universität Dresden
Note
2,2
Autor
Jahr
2006
Seiten
114
Katalognummer
V63832
ISBN (eBook)
9783638567817
Dateigröße
862 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Gesetzgebungsprozeß, Bundesrepublik, Deutschland, Beispiel, Zuwanderungsgesetzes, Fallstudie
Arbeit zitieren
Dörte Grabbert (Autor:in), 2006, Der Gesetzgebungsprozeß in der Bundesrepublik Deutschland am Beispiel des Zuwanderungsgesetzes - eine Fallstudie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/63832

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