Eine Erzählanalyse anhand von "Schlechtes Gewissen" von Thomas Bernhard


Seminararbeit, 2002

20 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Vorwort

2. Einteilung in Sequenzen

3. Ordnung
3.1. Die Ordnung der Geschichte im Vergleich mit der Ordnung der Erzählung
3.2. Anachronie
3.3. Analepsen
3.3.1. externe Anelepsen
3.3.2. partielle Analepsen

4. Dauer

5. Schlußbetrachtungen

6. Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Sekundärliteratur

Lexika

7. Anhang

1. Vorwort

In der folgenden Arbeit soll am Text „Schlechtes Gewissen“ von Thomas Bernhard[1] eine Erzählanalyse vorgenommen werden.

Grundlage für diese Analyse werden Gérard Genettes[2] theoretische Überlegungen zur literarischen Erzählung sein[3], die 1972 unter dem Titel „Discours du récit“ erschienen sind[4].

Genette, der in den 1960er Jahren stark vom Strukturalismus beeinflußt wurde, entwickelte auf dieser Basis ein neues System der formalen Textanalyse. In seinem Werk “Figures I“ aus dem Jahre 1966 anonymisiert er die Rolle des Autors und lehnt eine Psychologisierung des literarischen Textes durch einen Rückgriff auf die Erfahrung des historischen Autors ab. In “Figures II“ (1969), “Figures III“ (1972)[5] und “Nouveau discours du récit“ (1983) behandelt Genette Fragen der narratologischen Textanalyse. Dabei nimmt er eine Funktions- und Strukturanalyse der Erzählung vor[6]. Die Terminologie, die er dabei entfaltet hat, ist inzwischen zur ‚lingua franca‘ der Erzähltheorien geworden. Genettes strukturalistischer Taxonomie verdanken Erzähltheorien und Erzähltextanalyse entscheidende Fortschritte an terminologischer Präzisierung und Systematisierung, besonders im Hinblick auf die Beschreibung der Formen der erzählerischen Wiedergabe und zeitlichen Anordnung von Ereignissen[7].

Bezüglich der Zeitstruktur unterscheidet Genette zwischen den Kategorien der erzählerischen Anordnung des Geschehens (Ordnung), sowie der Geschwindigkeit (Dauer) und der Häufigkeit (Frequenz) des Erzählens. Außerdem differenziert er zwischen dem Erzählen (Stimme) und der Fokalisierung (Modus)[8].

Bernhards „Schlechtes Gewissen“ ist vor allem in Hinblick auf die Ordnung und die Dauer[9] interessant und soll unter diesen Gesichtspunkten, nachdem eine

Einteilung der Erzählung[10] in Sequenzen erfolgt ist, näher betrachtet werden.

2. Einteilung in Sequenzen

Die vorliegende Erzählung „Schlechtes Gewissen“ von Thomas Bernhard läßt sich in 14 Sequenzen einteilen[11]. Diese sollen nun, einhergehend mit einer kurzen Inhaltsangabe, dargestellt werden.

Die 1. Sequenz (Z. 1-6) schildert den Aufenthalt des Erzählers in einem von ihm gelobten Warschauer Schauspielerklub, wo er die Frau eines sehr bekannten polnischen Malers kennenlernt. In der 2. Sequenz (Z. 6-9) wird diese Dame als sehr gebildet beschrieben und ihre Tätigkeit als Übersetzerin erwähnt. In der 3. Sequenz (Z. 9-12) informiert die Dame den Erzähler darüber, daß ihr Mann im Sterben liegt. Die 4. Sequenz (Z. 13-15) klärt darüber auf, daß die Frau an diesem Abend zum erstenmal seit einem Jahr wieder ausgegangen sei. Die beiden Protagonisten der Erzählung treffen sich noch einige Male, wobei sie Gespräche über polnische und deutsche Literatur und Kunst (5. Sequenz, Z. 15-19) sowie über Politik führen, wobei der Erzähler stets voller Bewunderung für die Polen ist (6. Sequenz, Z. 19-22). Nach zehn Jahren zurück in Warschau, sucht der Erzähler die Dame erneut auf (7. Sequenz, Z. 22-25). In der 8. Sequenz (Z. 25-28), erfährt er, daß der Mann der Frau im Sterben liegt, woraufhin er sie für verrückt hält. Die Situation wird in der 9. Sequenz (Z. 28ff.) aufgeklärt, indem die Dame eröffnet, daß sie nunmehr seit fast zehn Jahren erneut verheiratet ist. Die Hochzeit hatte nach dem Tod ihres ersten Mannes stattgefunden (10. Sequenz, Z. 30f). In der 11. Sequenz (Z. 31-35) wird darüber informiert, daß sich der derzeitige Mann der Dame, der an derselben Krankheit leidet wie ihr erster, auch in derselben Klinik aufhält, in der der Verstorbene lag. In der 12. Sequenz (Z. 35ff.) lädt der Erzähler die Dame in den Schauspielerklub ein. Ein Jahr lang hatte sich diese zuvor nicht mehr in Gesellschaft befunden (13. Sequenz, Z. 37-40). Die 14. Sequenz (Z. 40-46) spielt weitere zehn Jahre später. Der Erzähler hält sich erneut in Warschau auf. Trotz dem er die Dame vermißt und ihn ein schlechtes Gewissen plagt, sucht er sie nicht mehr auf.

3. Ordnung

3.1. Die Ordnung der Geschichte im Vergleich mit der Ordnung der Erzählung

In diesem Kapitel soll das Verhältnis zwischen der temporalen Ordnung der Ereignisse in der Diegese[12] und der pseudo-temporalen Ordnung ihrer Darstellung in der Erzählung untersucht werden[13]. Dazu soll zunächst die Anordnung der Ereignisse oder zeitlichen Segmente im narrativen Diskurs mit der Abfolge derselben Ereignisse oder zeitlichen Segmente in der Geschichte verglichen werden[14]. Die Chronologie der Ereignisabfolge[15] läßt sich an Bernhards Erzählung gut ablesen und sieht, kurz zusammengefaßt, folgendermaßen aus:

A) Zu einem unbestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit hat die Dame Thomas Manns „Zauberberg“ ins Polnische übersetzt (2. Sequenz).
B) Seit einem Jahr hatte sich die Frau nicht mehr in Gesellschaft befunden (4. Sequenz),
C) als sie mit dem Erzähler im Warschauer Schauspielerklub zusammentrifft (1. Sequenz).
D) Im Gespräch stellt sich heraus, daß der Mann der Frau im Sterben liegt (3. Sequenz).
E) Der Erzähler und die Dame unterhalten sich über Literatur und Kunst (5. Sequenz)
F) sowie Politik (6. Sequenz).
G) Der Mann der Dame verstirbt (10. Sequenz),
H) sie heiratet erneut (9. Sequenz),
I) ihr zweiter Mann erkrankt ebenfalls (11. Sequenz).
J) Die Frau hat sich wiederum seit einem Jahr nicht mehr in der Öffentlichkeit ge- zeigt (13. Sequenz),
K) als sie vom Erzähler zehn Jahre später, während dieser sich in Warschau aufhält, erneut aufgesucht wird (7. Sequenz).
L) Während ihrer Unterhaltung berichtet sie ihm von ihrem erneuten Schicksals- schlag (8. Sequenz).
M) Die beiden gehen in den Schauspielerklub (12. Sequenz).
N) Als der Erzähler ein weiteres Mal, wiederum zehn Jahre später, nach War- schau kommt, tritt er nicht mehr in Kontakt mit der Dame (14. Sequenz).

Es läßt sich feststellen, daß hier eine Dissonanz zwischen der Ordnung der Geschichte und der der Erzählung besteht. Deutlich erkennbar ist dies, wenn man die Sequenzen, die nach der Reihenfolge ihres Erscheinens in der Erzählung durchnumeriert wurden, ihren entsprechenden Zeitpositionen in der Geschichte gegenüberstellt. So steht Sequenz 1 der Zeitposition C gegenüber, Sequenz 2 Position A, Sequenz 3 Position D, Sequenz 4 Position B, Sequenz 5 Position E, Sequenz 6 Position F, Sequenz 7 Position K, Sequenz 8 Position L, Sequenz 9 Position H, Sequenz 10 Position G, Sequenz 11 Position I, Sequenz 12 Position M, Sequenz 13 Position J und Sequenz 14 Position N. Daraus ergibt sich folgende Formel, die die Abfolgeverhältnisse zusammenfaßt:

A2 – B4 – C1 – D3 – E5 – F6 – G10 – H9 – I11 – J13 – K7 – L8 – M12 – N14

Schlußfolgern läßt sich daraus unter anderem, daß bei der Erzählung Bernhards eine Anachronie vorliegt; eben jene weiter oben schon erwähnte Dissonanz zwischen der Ereignisabfolge und ihrer Anordnung in der Geschichte[16].

3.2. Anachronie

Die Untersuchung von Anachronien setzt die Existenz einer Art von einem Nullpunkt voraus, an dem Erzählung und Geschichte in ihrem zeitlichen Verlauf vollständig koinzidieren würden. Dabei ist dieser Referenzpunkt jedoch eher hypothetisch als real[17].

Im Beispiel der Erzählung „Schlechtes Gewissen“ beginnt dieser sogenannte Nullpunkt an folgender Stelle: „Als ich jetzt, weitere zehn Jahre später, wieder nach Warschau gekommen bin, [...][18].“ Erzählung und Geschichte stimmen in diesem Moment in ihrem zeitlichen Verlauf überein. Diese Stelle soll also von nun an als Nullpunkt bezeichnet werden.

[...]


[1] Der Österreicher Thomas Bernhard wurde im Jahre 1931 in Holland geboren und verstarb 1989 in Oberösterreich. Vgl. hierzu Schmitz, Matthias: Bernhard, Thomas. In: Metzler Autoren Lexikon. Deutschsprachige Dichter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Lutz, Bernd. Ungekürzte Sonderausgabe. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart, Weimar 1997. S. 61-64.

[2] Der französische Literaturwissenschaftler wurde 1930 geboren. Vgl. hierzu Antor, Heinz: Genette, Gérard. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hrsg. v. Nünning, Ansgar. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart, Weimar 2001. S. 220f.

[3] Vgl. hierzu Genette, Gérard: Die Erzählung. Hrsg. v. Vogt, Jürgen. München 1994 (=UTB für Wissenschaft). S. 300.

[4] Vgl. hierzu Müller, Beate: Frequenz. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hrsg. v. Nünning, Ansgar. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart, Weimar 2001. S. 194; Für diese Arbeit soll folgende Ausgabe verwendet werden: Gérard Genette: Die Erzählung. Hrsg. v. Vogt, Jürgen. München 1994 (=UTB für Wissenschaft).

[5] Hierin befindet sich der oben genannte „Discours du récit“; vgl. hierzu Müller: Frequenz. S. 194.

[6] Vgl. hierzu Antor: Genette. S. 220.

[7] Vgl. hierzu Nünning: Erzähltheorien. S. 156.

[8] Ebd.

[9] Die genaue Bedeutung dieser beider Begriffe wird dann an entsprechender Stelle erläutert.

[10] ‚Erzählung‘ wird hierbei als Begriff zur Beschreibung des Untersuchungsgegenstandes der Narratologie verwendet; vgl. hierzu Antor, Heinz: Erzählung. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hrsg. v. Nünning, Ansgar. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart, Weimar 2001. S. 155.

[11] „Schlechtes Gewissen“ von Thomas Bernhard befindet sich als Anhang mit Zeileneinteilung auf Seite 17 dieser Arbeit.

[12] Der Begriff ‚Diegese‘ bezeichnet die ‚erzählte Welt‘; vgl. hierzu Martínez, Matías u. Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München 1999. S. 192.

[13] Vgl. hierzu Genette: Erzählung. S. 22.

[14] Ebd.

[15] Dabei werden die entsprechenden Zeitpositionen der Ereignisse in der Geschichte mit Buchstaben gekennzeichnet.

[16] Vgl. zur Definition des Begriffes ‚Anachronie‘ Genette: Erzählung. S. 23.

[17] Vgl. hierzu Genette: Erzählung. S. 23.

[18] Zitiert nach Bernhard, Thomas: Schlechtes Gewissen. In: Ders. Der Stimmenimitator. Frankfurt a. Main 1987 (=st 1473). Z. 40-46.

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Eine Erzählanalyse anhand von "Schlechtes Gewissen" von Thomas Bernhard
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Institut für Deutsche und Niederländische Philologie)
Veranstaltung
PS: Narratologie
Note
1,0
Autor
Jahr
2002
Seiten
20
Katalognummer
V6391
ISBN (eBook)
9783638139724
ISBN (Buch)
9783638864305
Dateigröße
541 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Eine, Erzählanalyse, Schlechtes, Gewissen, Thomas, Bernhard, Narratologie
Arbeit zitieren
Nadine Bliedtner (Autor:in), 2002, Eine Erzählanalyse anhand von "Schlechtes Gewissen" von Thomas Bernhard, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/6391

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