Vom kollektiven Gedächtnis zur Konvergenzhistorik - Afrikanische und europäische Erinnerungen an den Kolonialismus philosophisch hinterfragt.


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2005

14 Seiten


Leseprobe


Vom ‚kollektiven Gedächtnis‘ zur Konvergenzhistorik. Europäische und afrikanische Erinnerungen an den Kolonialismus – philosophisch hinterfragt.

Jacob Emmanuel Mabe

1. Kann Gedächtnis kollektiv sein?

Allgemein bezeichnet ‚Gedächtnis’ eine subjektive Fähigkeit, bestimmte Erfahrungen, Ideen und Informationen möglichst für längere Zeit in Erinnerung zu bewahren. Diese Fähigkeit des Individuum wird in den Sozial-, Kultur- und Geschichtswissenschaften unterschiedlich thematisiert. Dabei wird das Gedächtnisvermögen zwar dem individuellen Bewusstsein zuerkannt. Gleichwohl weisen die Wissenschaftler auch auf die konstitutive Rolle hin, die kulturelle und soziale Faktoren für die Gedächtnisbildung insbesondere in der Auseinandersetzung mit der Geschichte spielen. Danach wird dem Gedächtnis die Doppelfunktion zugewiesen, persönliche Erinnerungen mit den Erfahrungen zu verbinden, die den meisten Menschen in einer Gesellschaft gemeinsam sind.[1]

Die Anwendung der Kategorie ,kollektives Gedächtnis‘ mag in manchen wissenschaftlichen Zusammenhängen zulässig erscheinen, doch sie ist nicht nur philosophisch, sondern auch im Hinblick auf den Kolonialismus problematisch. Im kolonialen System standen sich Europäer als vorsätzliche Täter und Afrikaner als unschuldige Opfer gegenüber, d.h. sie standen stets in einem Konfliktverhältnis zueinander. Kolonisierte und Kolonisierer konnten deshalb kein gemeinsame Gedächtnis kultivieren, weil ihre Erfahrungen mit der Kolonisation und ihre Erinnerungen an jene Zeit konträr und unvereinbar sind.

Die Philosophen reflektierten die Frage des Gedächtnisses stets in Verbindung mit dem Erinnerungsbegriff und in Abgrenzung von der sozialen und kulturellen Dimension. Als philosophische Kategorie wird das Gedächtnis als übersinnliches Vermögen begriffen, das allein dem individuellen Geist zusteht. Die Funktion des Gedächtnisses besteht dabei darin, das Verhältnis zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem herzustellen sowie den Weg zur Erinnerung an die vergangenen Zeiten zu weisen. Da dieser Artikel nicht auf alle interessanten philosophischen Ansätze[2] eingehen kann, beschränkt er sich auf Platon und Aristoteles, die als erste Schriftdenker fundierte, systematische und ausführliche Analysen durchgeführt haben, die für eine kritische Auseinandersetzung mit der Gedächtnisproblematik ausreichen.

In seiner Beschäftigung mit dem Terminus Gedächtnis (mnémè) ist Platon bestrebt, die Erkenntnisfrage zu untersuchen. Als Erkenntnis bezeichnet er eine Wiedererinnerung (anamnesis) der Seele an die Ideen, die sie in ihrem früheren Zustand, d.h. vor ihrem Eintritt in die menschliche Existenz, geschaut hat.[3] Gedächtnis ist nach Platon ein geistiger und tranzendenter Akt (d.h. es manifestiert sich ausschließlich im übersinnlichen Bereich), der die Erinnerung und somit den Erwerb von Wissen überhaupt ermöglicht. Während das Zurückrufen der Ideen ins Gedächtnis ein Lernprozess ist, hat die Anamnesis selbst die Erkenntnis der Wahrheit zum Ziel.[4]

Die Konsequenz, die sich aus dieser platonischen Überlegung ergibt, ist dass das Gedächtnis nun als ein geistiger Prozess begriffen wird, dessen Funktion darin besteht, autonome sowie erworbene Gedanken in das Bewusstsein einzutragen oder im Gehirn dauerhaft zu speichern. Per Analogie wirkt das Gedächtnis wie ein immaterieller Computer, der vergangenen Ideen, Erlebnissen und Erfahrungen überhaupt lebendige Aktualität zu verleihen sowie das Bewusstsein so zu aktivieren vermag, dass es das Vergessen des vorher Gewussten, Gesehenen und Erlebten verhindert. Das Gedächtnis gilt in dieser Hinsicht zudem als ein intellektuelles Dispositiv, welches das Gewesene als ein lebendiges Gegenwärtiges und zugleich unvergängliches oder immerwährendes Geschehnis erfahrbar macht.

Aristoteles stimmt der platonischen Grundthese zur Anamnesis zu, hebt aber hervor, dass das Zurückrufen der Ideen ein intentionaler Akt sei, d.h. von Absichten abhänge.[5] Spricht Aristoteles davon, dass Gedächtnis „der Vergangenheit teilhaftig“[6] sei, so betrachtet er es nicht als ein Werk der Zeit, weil die Zeit nach seiner Ansicht ein stetiges und gleichmäßiges Kontinuum sei, an dem alle Bewegungen im Bewusstsein und im Gedächtnis gemessen werden. Gedächtnis gilt demnach als ein individueller Erkenntnisprozess, der von der Zeit unabhängig ist und zugleich an der Zeit teilhat. Das Gedächtnis ermöglicht daher das Denken der Zeit in der Zeit sowie deren Einteilung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Das wirkliche Werk der Zeit ist nach Aristoteles letztlich nicht das Gedächtnis selbst, sondern das Vergessen, wie Paul Ricœur hervorhebt.[7] Das Gedächtnis dient lediglich dazu, das Vergessen, d.h. die Abwesenheit der Erkenntnisse in der Seele, zu verhindern.[8] Ist das Gedächtnis eine immaterielle Entität, kann es nach Aristoteles dennoch auch aus der sinnlichen Erfahrung hervorgehen. Doch seine Funktion besteht stets darin, die Verbindung zwischen den Ideen im Geiste und ihrer empirischen Objektivierbarkeit in der Zeit und im Raum herzustellen. So gelingt es dem Gedächtnis, auch reinen transzendenten Momenten reale Existenz zu verleihen.

Die vorliegende Untersuchung ist als Versuch zu verstehen, eine zeitgemäße Auseinandersetzung mit dem Begriff ‚kollektives Gedächtnis‘ vorzunehmen. Es sei dabei zwischen transzendentalem Gedächtnis, welches dem individuellen Erkennen, Handeln und Erinnern dient, und kommunikativem Gedächtnis unterschieden, welches kulturimmanent ist. Während das hier als transzendental bezeichnete Gedächtnis aus einer autonomen Tätigkeit des menschlichen Geistes resultiert, die weder messbar noch kollektivierbar ist, gilt als kommunikativ dasjenige Gedächtnis, das sich aus der gemeinsamen Erfahrung der Menschen mit der Geschichte ergibt.[9]

Mit anderen Worten hängt die kollektive Geschichtlichkeit von den Erinnerungen ab, die möglichst viele Menschen mit ihren individuellen Verletzungen, Trauererlebnissen, Verlust- und Schuldgefühlen einander verbinden. Geschichte, Gesellschaft und Kultur (Religion, Tradition, Wissenschaft etc.) dienen hierbei als die prägenden Momente des Bewusstseins, die nicht nur positive Erinnerungen wachrufen, sondern auch künstliche Bilder hervorrufen können, die das subjektive Erleben und Bewusstsein oft beeinflussen.[10] Dazu zählen nicht zuletzt die vielen obrigkeitlichen Anordnungen religiöser und politisch-ideologischer Natur mit ihren negativen Auswirkungen auf das menschliche Gedächtnis. Dabei können bestimmte Bilder willkürlich selektiert und konstruiert oder historische Dokumente und Quellen so verfälscht und manipuliert werden, dass sie mit dem tatsächlich Gewesenen nicht übereinstimmen. Die damit verbundene Gefahr ist, dass man den politisch und ideologisch motivierten Missbrauch des Gedächtnisbegriffs kaum verhindern kann.[11]

Die Philosophie allein ist nicht in der Lage, die Dialektik zwischen transzendentalem und kommunikativem Gedächtnis aufzulösen. Doch sie kann zumindest auf die allgemeinen Aporien der auf Kollektivismustheorien beruhenden Gedächtnisdeutung verweisen, indem sie im Falle der kolonialen Forschung beispielsweise auf die möglichen ideologisch bedingten Konstrukte und Fälschungen aufmerksam macht. Das besagt, dass angesichts der bisherigen wissenschaftlichen Diskurse kein Preis zu hoch ist, um die Frage zu beantworten, ob es ein universales Prinzip der kolonialen Wahrnehmung geben kann, das die Verwendung der Kategorie ‚kollektives Gedächtnis‘ erlauben würde. Der Beitrag der Philosophie zur Erinnerungsarbeit besteht zudem darin, Afrikanern und Europäern zu der Einsicht zu verhelfen, dass sie trotz ihrer Erinnerungsdifferenzen eine gemeinsame Zukunft aufbauen können und müssen.

[...]


[1] Vgl. dazu u.a. Maurice Halbwachs, Les cadres sociaux de la mémoire, Paris 1927; dt. Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt a.M. 1985; ders., Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart 1967; A.-M. Thiesse, La création des identités nationales en Europe, 18e-20e siècles, Paris 1999; Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis – Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Kulturen, 3. Aufl., München 2000.

[2] Z.B. in Anlehnung sowohl an die metaphysische Erinnerungsthese Platons als auch an die psychologische Lehre von Aristoteles. Dazu zählen die Ansätze von Aurelius Augustinus, René Descartes, G.W. Leibniz, John Locke, David Hume, Henri Bergson, Sören Kierkegaard, Martin Heidegger, Paul Ricœur etc.

[3] Siehe Platon, „Menon“ und „Phaidon“, in: Werke in acht Bänden (Griechisch-Deutsch), Sonderausgabe, hrsg. von G. Eigler, Darmstadt 1990.

[4] Einzelheitem bei C.E. Huber, Anamnese bei Platon, München 1964; M. Suhr, Platon, Frankfurt 1992.

[5] Diese These hängt allerdings mit seiner empiristischen Auffassung zusammen, der zufolge alle Erkenntnis auf sinnliche Erfahrung oder Wahrnehmung zurückzuführen sei. Einzelheiten bei W. Jaeger, Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung, Berlin 1923; H. Schmitz, Die Ideenlehre des Aristoteles, 2 Bde, Bonn 1987.

[6] Aristoteles, „Über Gedächtnis und Erinnerung“, in: ders., Kleine naturwissenschaftliche Schriften, Stuttgart 1997, S. 87.

[7] Vgl. Paul Ricœur, Das Rätsel der Vergangenheit. Vergessen – Erinnern – Verzeihen, Göttingen 1998, S. 88.

[8] Vgl. auch D. Jervolino, Paul Ricœur. Une herméneutique de la condition humaine, Paris 2002, S. 75 ff.

[9] Ein profunde Untersuchung des Verhältnisses zwischen Geschichte und Gedächtnis findet sich bei Paul Ricœur, Temps et récit, Tome I und III, Paris 1983 und 1985; Paul Nora, Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990.

[10] Nach Paul Ricœur können Wiedererinnern und Gedenken zu einer Wechselwirkung zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis führen. Paul Ricœur, Das Rätsel der Vergangenheit, a.a.O., S. 74 ff.

[11] Einzelheiten bei R. Ofshe und E. Watters, Die mißbrauchte Erinnerung, München 1996.

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Details

Titel
Vom kollektiven Gedächtnis zur Konvergenzhistorik - Afrikanische und europäische Erinnerungen an den Kolonialismus philosophisch hinterfragt.
Autor
Jahr
2005
Seiten
14
Katalognummer
V64375
ISBN (eBook)
9783638572118
ISBN (Buch)
9783638793254
Dateigröße
530 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Gedächtnis, Konvergenzhistorik, Afrikanische, Erinnerungen, Kolonialismus
Arbeit zitieren
PD Dr. Dr. Jacob Emmanuel Mabe (Autor:in), 2005, Vom kollektiven Gedächtnis zur Konvergenzhistorik - Afrikanische und europäische Erinnerungen an den Kolonialismus philosophisch hinterfragt., München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/64375

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