Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Darstellung der Bewusstseinzustände des Protagonisten Anton Lerch in der „Reitergeschichte“ von Hugo von Hofmannsthal. Es soll untersucht werden, welche Bedeutung die dargestellten Bewusstseinszustände für eine Interpretation der Novelle haben. Hierbei soll insbesondere herausgearbeitet werden, inwieweit die Bewusstseinsveränderungen Lerchs im Laufe der Geschichte, ausgelöst durch bestimmte Ereignisse und Begegnungen, die Befehlsverweigerung am Ende des Textes erklären können. Zu diesem Zweck werden auch einige Arbeiten zur Interpretation der Reitergeschichte, soweit sie in Zusammenhang mit der gewählten Betrachtungsweise stehen, im Rahmen der Untersuchung unterstützend bzw. kontrastierend aufgegriffen.
Eine zu einseitige Interpretation der geschilderten Bewusstseinsphänomene (im Sinne einer bestimmten psychologischen Theorie) soll vermieden werden, die Unbestimmtheit und Irrationalität der geschilderten bewussten und unbewussten psychologischen Motive soll auch im Rahmen einer Interpretation nicht auf eindeutige, rational vollkommen verstehbare Beweggründe im Sinne eines bestimmten Interpretationsschemas reduziert werden.
Es wird die These aufgestellt, dass die komplexe Gesamtheit der im Laufe der Geschichte bei Lerch geweckten Empfindungen, Gefühle, Wünsche und Triebe zu der Befehlsverweigerung führt, die ihm am Ende den Tod bringt.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Darstellung von Bewusstseinszuständen und deren Bedeutung für eine Interpretation der Novelle
2.1 Triumphale Stimmung beim Ritt durch Mailand
2.2 Begegnung mit der Vuic und Durst nach unerwartetem Erwerb
2.3 Aufgeregte Einbildung beim Ritt durchs Dorf
2.4 Die Erbeutung des Eisenschimmels und die symbolische Befriedigung
2.5 Zorn, Befehlsverweigerung und das Ende
3 Schlussbemerkung
4 Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Sekundärliteratur
1 Einleitung
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Darstellung der Bewusstseinzustände des Protagonisten Anton Lerch in der „Reitergeschichte“ von Hugo von Hofmannsthal.
Es soll untersucht werden, welche Bedeutung die dargestellten Bewusstseinszustände für eine Interpretation der Novelle haben. Hierbei soll insbesondere herausgearbeitet werden, inwieweit die Bewusstseinsveränderungen Lerchs im Laufe der Geschichte, ausgelöst durch bestimmte Ereignisse und Begegnungen, die Befehlsverweigerung am Ende des Textes erklären können.
Zu diesem Zweck werden auch einige Arbeiten zur Interpretation der Reitergeschichte, soweit sie in Zusammenhang mit der gewählten Betrachtungsweise stehen, im Rahmen der Untersuchung unterstützend bzw. kontrastierend aufgegriffen.
Eine zu einseitige Interpretation der geschilderten Bewusstseinsphänomene (im Sinne einer bestimmten psychologischen Theorie) soll vermieden werden, die Unbestimmtheit und Irrationalität der geschilderten bewussten und unbewussten psychologischen Motive soll auch im Rahmen einer Interpretation nicht auf eindeutige, rational vollkommen verstehbare Beweggründe im Sinne eines bestimmten Interpretationsschemas reduziert werden.
Es wird die These aufgestellt, dass die komplexe Gesamtheit der im Laufe der Geschichte bei Lerch geweckten Empfindungen, Gefühle, Wünsche und Triebe zu der Befehlsverweigerung führt, die ihm am Ende den Tod bringt.
2 Darstellung von Bewusstseinszuständen und deren Bedeutung für eine Interpretation der Novelle
2.1 Triumphale Stimmung beim Ritt durch Mailand
Die Novelle „Reitergeschichte“ von Hugo von Hofmannsthal schildert einen Tag einer Reiter-schwadron in der damals noch österreichischen Lombardei im Krieg gegen Italien und spielt im Revolutionsjahr 1848.
Am Anfang der Novelle wird berichtet, wie die Schwadron in feindliches Territorium vordringt, welches von italienischen Freischärlern besetzt ist. Diese italienischen Widersacher sind allerdings eine kaum ernst zunehmende Gefahr und werden vom Kollektiv, der Schwadron, in kleineren Gefechten schnell besiegt:
„Zu Beginn der Geschichte stellt uns der Erzähler das Prinzip der Gewalttätigkeit im Kollektiv der idealisiert weißgetünchten Schwadron vor. Ihre Einheit ist Norm – eine gut geölte, ‚schöne’ Kriegsmaschine, als wäre sie dem Reißbrett eines Generals entsprungen, der mit Zinnsoldaten spielt.“[1]
Nach diesen drei siegreichen Gefechten, bei denen diese Kriegsmaschine lediglich einen Toten zu beklagen hat, aber zig Feinde gefangengenommen hat, will die Schwadron unter Rittmeister Baron Rofrano in die Stadt Mailand „in der Pose des überlegenen Siegers laut triumphierend“[2] in die Stadt Mailand einziehen:
„Nachdem laut übereinstimmender Aussagen der verschiedenen Gefangenen die Stadt Mailand von den feindlichen sowohl regulären als auch irregulären Truppen vollständig verlassen, auch von allem Geschütz und Kriegsvorrat entblößt war, konnte der Rittmeister sich selbst und der Schwadron nicht versagen, in diese große und schöne, wehrlos daliegende Stadt einzureiten.“(122)[3]
Die Reiter ziehen unter dem Geläute der Mittagsglocken ein, strahlend im Glanze des sich in den Waffen und Rüstungen spiegelnden Mittagslichts, in gehobener Stimmung im Bewusstsein der vorangegangenen Siege. Es herrscht eine triumphale Stimmung vor.
„Unter dem Geläute der Mittagsglocken, der Generalmarsch von den vier Trompeten hinaufgeschmettert in den stählern funkelnden Himmel, an tausend Fenstern hinklirrend und zurückgeblitzt auf achtundsiebzig Kürasse, achtundsiebzig aufgestemmte nackte Klingen; Straße rechts, Straße links wie ein aufgewühlter Ameishaufen sich füllend mit staunenden Gesichtern; fluchende und erbleichende Gesichter hinter Haustoren verschwindend, verschlafene Fenster aufgerissen von den entblößten Armen schöner Unbekannter; (...) so ritt die schöne Schwadron durch Mailand“(122f)
2.2 Begegnung mit der Vuic und Durst nach unerwartetem Erwerb
Von dieser triumphalen Stimmung wird auch der Wachtmeister Anton Lerch ergriffen, der nun in den Mittelpunkt der Novelle rückt. Sein Erleben und Verhalten wird von nun an detailliert geschildert, beginnend damit, dass er ein ihm bekanntes Gesicht zu erblicken meint:
„Nicht weit vom letztgenannten Stadttor, wo sich ein mit hübschen Platanen bewachsenes Glacis erstreckte, glaubte der Wachtmeister Anton Lerch am ebenerdigen Fenster eines neugebauten hellgelben Hauses ein ihm bekanntes weibliches Gesicht zu sehen.“(123)
Unter einem Vorwand löst er sich von der Schwadron und reitet zu dem Haus, in dem er das Gesicht wahrgenommen hat, wobei die Erzählperspektive sich auf Lerchs Bewusstsein konzentriert, indem seine Wahrnehmungen und Empfindungen genauer beschrieben werden.
Bemerkenswert ist, dass er das Haus nicht erst betreten muß, um mit seinem „scharfen Blick“ im ersten Zimmer sogleich „Häuslichkeit, Besitz, Intimität (vgl. Mauser)“[4] feststellen zu können.
Lerch sieht dann die Frau, deren Gesicht ihm bekannt vorkommt:
„(...)als wirklich eine aus dem Inneren des Hauses ganz vorne in den Flur mündende Zimmertür aufging und in einem etwas zerstörten Morgenanzug eine üppige, beinahe noch junge Frau sichtbar wurde(...)“(123)
Er erinnert sich daran, dass er mit der Frau vor „neun oder zehn Jahren in Wien (...) einige Abende und halbe Nächte verbracht hatte (...)“(124):
„Indem aber dem Wachtmeister der Name der Frau einfiel und gleichzeitig eine Menge anderes: dass es die Witwe oder geschiedene Frau eines kroatischen Rechnungsunteroffiziers war, dass er mit ihr vor neun oder zehn Jahren in Wien in Gesellschaft eines anderen, ihres damaligen eigentlichen Liebhabers einige Abende und halbe Nächte verbracht hatte, suchte er nun mit den Augen unter ihrer jetzigen Fülle die damalige üppig-magere Gestalt wieder hervorzuziehen.“(123f)
Das sexuelle Interesse Lerchs ist hierdurch geweckt:
„(...), die auch sofort wieder sein sexuelles Interesse wachruft. Allerdings steht diese für den Helden so begehrenswerte Frau wie bei ihrer ersten Begegnung in Wien mit einem Dritten in Verbindung; damals war das ihr `eigentliche(r) Liebhaber`, und jetzt ist es `ein beleibter, vollständig rasierter älterer Mann`, der sich jedoch eilig durch eine Tapetentür im hinteren Teil des Zimmers zurückzieht – fast als habe der Held das Paar in einer etwas verfänglichen Situation überrascht. Diese Begegnung ruft in dem Wachtmeister eine Mischung aus besitzergreifender Begehrlichkeit und Einschüchterung hervor..“[5]
Er erblickt in einem Spiegel einen vollständig rasierten älteren Mann und nimmt die Zimmereinrichtung mit allen Details wahr:
„(...)während seinem scharfen Blick noch gleichzeitig in einem Pfeilerspiegel die Gegenwand des Zimmers sich verriet, ausgefüllt von einem großen weißen Bette und einer Tapetentür, durch welche sich ein belebter, vollständig rasierter älterer Mann im Augenblicke zurückzog.“(123)
Auch, so Mollenhauer:
„(...)fällt das Sich-Zurückziehen des älteren Mannes auf, was den Wachtmeister im selben Moment veranlasst, sich gleichfalls zurückzuziehen: in die Vergangenheit. Aus ihr holt er sich nun das Material zur Bestätigung eines für die Zukunft gewünschten Zustandes: (...)“[6]
Durch das vermeintliche Wiedererkennen der Frau von früher[7] wird der Wachtmeister an die zehn Jahre zurückliegende Zeit erinnert, als er sich nicht im Krieg befand und unbeschwert einige Abende und Nächte verbracht hatte. Als er dann den Nacken der Frau berühren will,
„erfüllte ihn das Bewusstsein der heute bestandenen Gefechte von oben bis unten, so dass er ihren Kopf mit schwerer Hand nach vorwärts drückte und dazu sagte: Vuic – diesen Namen hatte er gewiss seit zehn Jahren nicht wieder in den Mund genommen(...) ‚in acht Tagen rücken wir ein, und dann wird das da mein Quartier’ auf die halboffene Zimmertür deutend.“(124)
Der Wunsch nach einem Wiederzusammenkommen mit der Frau, in Erinnerung an die frühere Zeit mit ihr, vermischt sich mit dem Machtbewusstsein der siegreichen Gefechte und Glücksfälle des Tages, so dass Lerch seinen Anspruch auf die Frau siegesgewiss zum Ausdruck bringt: „das ausgesprochene Wort aber machte seine Gewalt geltend“(124). Die Frau weckt ein Verlangen in Lerch, er möchte sie gerne „in Besitz nehmen“, woraufhin er ihr Zimmer kurzerhand zu seinem zukünftigen Quartier erklärt, kraft der Autorität eines siegreichen Soldaten.
Das Zimmer, das Lerch zu seinem künftigen Quartier erklärt hat, dient ihm als Ausgangspunkt zu Phantasien über ein mögliches ziviles Leben, „eine Atmosphäre von Behaglichkeit und angenehmer Gewalttätigkeit ohne Dienstverhältnis“(124f).
„Gewalttätigkeit“ scheint Lerch in dieser Gegenphantasie zu seiner realen Soldatenexistenz – im Gegensatz zu der ihn unterdrückenden Gewalt des Dienstverhältnisses – durchaus angenehm und auch für eine zivile Existenz nützlich.
In Lerchs Phantasien spielt nun „der Rasierte“ die Hauptrolle, er stellt sich vor, wie der rasierte ältere Mann zu benutzen, auszubeuten, zu erpressen wäre:
„Der Rasierte nahm bald die Stelle eines vertraulich behandelten, etwas unterwürfigen Freundes ein, der Hoftratsch erzählte, Tabak und Kapaunen brachte, bald wurde er an die Wand gedrückt, musste Schweiggelder zahlen, stand mit allen möglichen Umtrieben in Verbindung(...) und wuchs zu einer schwammigen Riesengestalt, der man an zwanzig Stellen Spundlöcher in den Leib schlagen und statt Blut Gold abzapfen konnte.“(125)
[...]
[1] Mollenhauer, Peter: Wahrnehmung und Wirklichkeitsbewusstsein in Hofmannsthals ‚Reitergeschichte’. In: GQ 50, 19, S. 285. Im Folgenden zitiert als Mollenhauer.
[2] Mollenhauer, S.286.
[3] Die Zahlen in Klammern bezeichnen Seitenzahlen in Hofmannsthal, Hugo von: Reitergeschichte. In: Ders.: Erzählungen, Erfundene Gespräche und Briefe. Reisen. Frankfurt am Main: Fischer 1979.
[4] Mauser, Wolfram: Fatalität der Identitätsstörung: ‚Reitergeschichte’. In: Hugo von Hofmannsthal. Konfliktbewältigung und Werkstruktur. Eine psychosoziologische Interpretation. München: Wilhelm Funke Verlag 1977. S.103. Weiterhin zitiert als Mauser..
[5] Steinlein, Rüdiger: Hugo von Hofmannsthals ‚Reitergeschichte’. Versuch einer struktural- psychoanalytischen Lektüre. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 110,1991. S. 213. Weiterhin zitiert als Steinlein.
[6] Mollenhauer, S. 289.
[7] Mollenhauer ist der Meinung, „dass der Wachtmeister die junge Frau lediglich verdächtigt, mit ihr aus Wien bekannt zu sein, weil ihn der Blick in den Pfeilerspiegel dazu gezwungen hat, den Wahrnehmungsprozess über sie in glaubwürdiger Art und Weise zu vollenden“. (S. 289)
- Arbeit zitieren
- Vanessa Lichtsinn (Autor:in), 2003, Darstellung von Bewusstseinszuständen in Hugo von Hofmannsthals "Reitergeschichte" und deren Bedeutung für eine Interpretation der Novelle , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/64978
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