Die antisemitische Welle 1959/60 in der BILD-Zeitung


Hausarbeit (Hauptseminar), 2006

33 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die antisemitische Schmierwelle 1959/60 im Kontext der deutschen Vergangenheitsbewältigung
2.1. Öffentliche und veröffentlichte Meinung zu Antisemitismus und nationalsozialistischer Vergangenheit bis 1959/60
2.2. Bedeutung der antisemitischen Schmierwelle für den Umgang mit der Vergangenheit

3. Die BILD-Zeitung
3.1. Bedeutung der BILD-Zeitung für die öffentliche Meinung

4. Die antisemitische Schmierwelle in der BILD-Zeitung

5. Schlussbetrachtung

Quellen- und Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Zur BILD-Zeitung, dem Erfolgsprodukt des Axel Springer Verlags, ist die Forschung so dünn wie die Meinungen gespalten. Trotz der Millionenauflagen der Zeitung, die sie zum erfolgreichsten Printmedium in der europäischen Presselandschaft machen, und obwohl sich die Gemüter seit Jahrzehnten darüber erhitzen, wurde BILD wissenschaftlich bisher zu weiten Teilen vernachlässigt. Zwar haben die Jahre ab 1967 und die drastische Kritik am Springer-Konzern eine Reihe von Journalisten zu Publikationen über Springer und BILD inspiriert, doch hielt sich die Forschung nach wie vor weitgehend zurück.[1] Nun führte die Mediengeschichte ohnehin noch bis vor einigen Jahren eine Art Nischendasein innerhalb der Zeitgeschichte, und möglicherweise schien das Boulevardblatt BILD als Gegenstand historischer Forschung über lange Zeit einfach zu banal. Dabei prägen nicht nur die kulturell und intellektuell fraglos ambitionierteren Qualitätszeitungen die Verständigungsprozesse einer Gesellschaft mit. Gerade die BILD-Zeitung dürfte über „vorherrschende öffentliche Konsensvorstellungen und Sagbarkeitsregeln“[2] Aufschluss geben können, legen doch die ungeheuren Auflagensteigerungen der 1950er Jahre nahe, dass hiermit ein zentrales Bedürfnis eines nicht unerheblichen Teils der Bevölkerung getroffen wurde. Neuere Untersuchungen – erwähnenswert besonders Büscher, Voss und Schirmer – befassen sich ausschließlich mit der Titelseite und vorrangig mit den Strategien zu Leserfang und Leserbindung, insbesondere hinsichtlich der Verfahren der Emotionalisierung. Es liegt bisher praktisch keine Analyse der Inhalte vor, die möglicherweise ein aussagekräftiges Bild der öffentlichen Meinung von Teilen der Bevölkerung zu bestimmten Themen zeichnen könnte.

Die Frage nach der öffentlichen Meinung macht auch die Untersuchung der Darstellung der antisemitischen Schmierwelle 1959/60 interessant – einer Konfrontation der bundesdeutschen Bevölkerung mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit, die hinsichtlich ihrer Symbolik, des Zeitpunkts (knapp 15 Jahre nach der Befreiung) und der auch internationalen Aufmerksamkeit andere Strategien des Umgangs erforderte als viele vorhergegangene Ereignisse. Die Thematisierung der Schmierwelle in der BILD-Zeitung soll hier untersucht werden: eine nicht ignorierbare Erinnerung in einem Massenblatt einer Gesellschaft, die die eigene Vergangenheit zu weiten Teilen am liebsten vergessen wollte, verantwortet von einer durchaus widersprüchlichen Verlegerfigur zwischen dem Engagement für die Aussöhnung zwischen Deutschen und Juden und einer eher rechtskonservativen Anti-Vordenkerrolle.[3] Wie die Zeitung den Spagat bewältigte, zum einen eine untadelige Haltung zu den Vorfällen einzunehmen, zum anderen auch die NS-belastete Leserschaft nicht zu verprellen, und was sie ihren Lesern in diesem Kontext zur Positionierung und für den Umgang mit der eigenen Vergangenheit und Schuld anbot, das soll die zentrale Fragestellung dieser Untersuchung sein.

Zu diesem Zweck möchte ich zunächst die Bedeutung der antisemitischen Schmierwelle für das deutsche Selbst- und Vergangenheitsbewusstsein verorten. In einem zweiten Schritt erläutere ich die Rolle der BILD-Zeitung für die öffentliche Meinung, und damit verbunden die Frage, welche Aussagen an Hand der Untersuchung möglich sind, und welche nicht. Es folgt die eigentliche Analyse: die Darstellung der antisemitischen Schmierwelle in der BILD-Zeitung[4] und – einen kurzen Vergleich mit der Darstellungsweise anderer Zeitungen eingeschlossen[5] - eine Auswertung der Ergebnisse. Zumindest wird eine Aussage darüber möglich sein, wie BILD die antisemitischen Vorfälle thematisierte und gewichtete; möglicherweise können an Hand dessen in gewissem Umfang Rückschlüsse gezogen werden auf die in der spezifischen – großen – Zielgruppe der BILD-Zeitung verbreitete Haltung zu Rechtsextremismus, Antisemitismus und der nationalsozialistischen deutschen Vergangenheit.

2. Die antisemitische Schmierwelle 1959/60 im Kontext der deutschen Vergangenheitsbewältigung

Am Heiligabend[6] 1959 wurde die erst kurz zuvor eingeweihte Kölner Synagoge mit Hakenkreuzen und antisemitischen Parolen beschmiert. Die recht schnell ermittelten Täter, zwei 25-jährige Männer, gehörten der rechtsextremen DRP an, die sich im Folgenden, angesichts eines andernfalls drohenden Parteiverbots, von den Tätern sowie vom Antisemitismus im Allgemeinen distanzierte. Zur Ergreifung der Täter soll ein Hinweis des Kölner DRP-Kreisvorsitzenden geführt haben.[7]

Mit einiger Sicherheit trug die große mediale Aufmerksamkeit zur als antisemitische Welle bekannt gewordenen großen Zahl an Folgetaten bei: Allein in Westdeutschland und Berlin zählte man rund 700 Anschlusstaten bis Ende Januar 1960[8], doch trugen sich ähnliche Fälle auch im benachbarten Ausland und sogar in Tel Aviv zu.

Nicht ungelegen kamen die Vorfälle der SED, die die Bundesrepublik als Hort unverbesserlicher Antisemiten diffamierte und darauf hinwies, dass derartiges Potenzial in Ostdeutschland längst beseitigt sei. Der Verdacht, die SED selbst habe die Schmierereien zu eben diesem Zweck veranlasst, wurde im In- und Ausland geäußert, und angesichts des drohenden Imageverlusts zumindest kurzfristig von Teilen der Bundesregierung zur eigenen Ehrenrettung instrumentalisiert.[9] Der tatsächliche Anteil der SED an der Welle ist nach wie vor nicht restlos geklärt; ob und wie viele Schmierereien, oder ob gar die Initialtat gezielt gesteuert wurde, darüber herrschen unterschiedliche Meinungen.[10] Einig ist man sich lediglich darin, dass die Taten von ihr propagandistisch genutzt wurden.

2.1. Öffentliche und veröffentlichte Meinung zu Antisemitismus und nationalsozialistischer Vergangenheit bis 1959/60

Gerade im Verlauf der 50er Jahre vollzog die öffentliche Haltung zur nationalsozialistischen Vergangenheit eine Wandlung; nach 1955 setzte der allmähliche Wechsel ein.[11] Dies ist zum einen darauf zurückzuführen, dass zu diesem Zeitpunkt die öffentliche Meinung erstmals maßgeblich von den Jahrgängen 1930-1940 mitbestimmt wurde, deren Haltung nicht von persönlicher Angst vor Strafverfolgung und Isolation geprägt war. Die Generation, die den Nationalsozialismus nicht nur mitgetragen, sondern sich auch stark dafür eingesetzt hatte, verweigerte sich zunächst einer radikalen Auseinandersetzung.[12] Die Zeit des „Beschweigens“ bis etwa 1955 scheint natürliche Folge der notwendigen Integration von Millionen ehemaliger Nationalsozialisten gewesen zu sein; nicht wenige Politiker vertraten noch weit darüber hinaus die Ansicht, sie sei notwendige Stütze der jungen Demokratie.[13] Das Aufrechterhalten dieser Haltung – die sich in den ersten Jahren der Bundesrepublik auch politisch, z.B. in Amnestierungen geäußert hatte – erwies sich aber, zum anderen, als zunehmend schwierig: In regelmäßigen Abständen beschäftigten antisemitische oder neonazistische Vorfälle die BRD.[14] Der Historiker Hermann Heimpel prägte 1955 das Stichwort von einer „unbewältigte[n] Vergangenheit“[15], die seitdem allmählich, aber zunehmend in das Bewusstsein der bundesdeutschen Bevölkerung drang.

Während die Publizistik durch alle politischen Lager (rechtsextreme Publikationen ausgenommen) in der Ablehnung des Nationalsozialismus und Antisemitismus sowie in der Anerkennung der deutschen Schuld und der NS-Verbrechen bereits weitestgehend einig war[16], zeigten Umfragen in der Bevölkerung eher ein Bild der Unentschlossenheit: Es herrschte eine deutliche Diskrepanz zwischen veröffentlichter und öffentlicher Meinung.[17] Für den Themenkomplex NS-Vergangenheit, Kriegsverbrechen und Juden/Antisemitismus zeigten die Allensbacher Jahrbücher auch in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre noch Widersprüche und eine enorme Unsicherheit: Die Bevölkerung wand sich. Nirgends sonst war der Anteil der Antwortverweigerer höher als bei Fragen zum Thema Juden; der ‚herkömmliche’ Antisemitismus hatte sich teilweise in einen überbetonten Philosemitismus gewandelt, jedoch immer noch aufgeladen mit den klassischen Ressentiments.[18] Aufschlussreich ist hier auch der Umgang der populäreren deutschen Medien, beispielsweise der Illustrierten, mit den einschlägigen Themen: Diese kamen mit häufigen Darstellungen eigener Vertreibungs- und Fluchterfahrungen bevorzugt einem Hang der Deutschen nach, sich selbst als Opfer zu empfinden.[19] Schornstheimer weist in seiner Untersuchung der erfolgreichen Illustrierten Quick und Stern[20] auch verhohlene antisemitische, rechtsextreme oder apologetische Tendenzen nach. Wo diese die Thematik nicht gleich unter den Tisch fallen ließen, bedienten sie, so scheint es, offenbar eine Neigung der Leserschaft, Mitwisserschaft oder gar Schuld weit von sich zu weisen oder sie gegen das eigene Leid aufzuwiegen[21] ; unterstützt wird diese These von der in mehreren Allensbach-Umfragen bestätigten Popularität eines „Schlussstrichs“.[22] Schornstheimer stimmt mit Wilke überein: „Sich der eigenen Verbrechen dann doch gelegentlich zu erinnern, braucht eine gesonderte Begründung.“[23]

Unsanft, nämlich durch die sich häufenden neuerlichen rechtsextremen und antisemitischen Vorfälle, wurde die Öffentlichkeit schließlich alarmiert und gezwungen, sich mit dem befürchteten Wiedererstarken nationalistischer Tendenzen bzw. verbliebenen Ressentiments auseinanderzusetzen. Ab 1955 fanden sich in den Medien gehäuft einschlägige Beiträge. Dabei steht zur Disposition, ob die zunehmende Thematisierung antisemitischer Vorfälle in der zweiten Hälfte der 50er Jahre auf eine Zunahme der Vorfälle oder auf eine Sensibilisierung der Öffentlichkeit zurückzuführen ist.[24]

Interessant ist ferner die Art der Darstellung: Wo es sich nicht um handfeste Justizskandale handelte, wurden aktuelle rechtsextreme Vorfälle, in großer Zahl von jungen Menschen initiiert, öffentlich zunächst häufig als individuelle Trotzreaktionen oder Halbstarken-Rowdytum bezeichnet[25], während die jüngere Generation dennoch insgesamt als gefestigt betrachtet wurde.[26] Dagegen verlor die Neigung, die Jahre 1933-1945 als eine Art ‚Ausrutscher’ zu betrachten[27], nach rund zehn Jahren des Beschweigens zunehmend an Zustimmung; der Umgang mit NS-Verbrechen wurde in Teilen strikter, obwohl auch die Verjährung von schweren NS-Verbrechen[28] 1960 noch eintrat; Ende 1958 nahm, unter dem Eindruck des Ulmer Einsatzgruppenprozesses, die Ludwigsburger Zentrale Stelle ihre Arbeit auf. Langsam schien sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass es sich bei der Zeit des Nationalsozialismus mit seinen Verbrechen eben doch um die eigene Geschichte handelte, die nicht losgelöst von der neuen Bundesrepublik und insbesondere ihrer Bevölkerung betrachtet werden konnte.

2.2. Bedeutung der antisemitischen Schmierwelle für den Umgang mit der Vergangenheit

Die Schmierwelle kam also durchaus nicht aus heiterem Himmel, sondern stand in einem Kontext zunehmender öffentlicher Wahrnehmung und Thematisierung antisemitischer Vorfälle, die auf ein entsprechendes rechtes Protestpotenzial in der Gesellschaft hindeuteten. Auch die Frage nach einem neuen Antisemitismus war gerade 1959 in der Presse diskutiert worden.[29] Der Skandal passte in die Debatte, zumal gerade diese Vorfälle den Umstand ins Gedächtnis riefen, dass Nationalsozialismus und Shoah aus der großteils nach wie vor hier lebenden deutschen Bevölkerung heraus möglich geworden waren und nicht einfach einer dämonenhaften Diktatorenbande angelastet werden konnten.

Der Kontext der Sensibilisierung mag neben der Brachialsymbolik – Hakenkreuze am Heiligabend – dazu beigetragen haben, dass die Öffentlichkeit auf die Hakenkreuze und Parolen an der Kölner Synagoge heftiger als auf vorhergegangene antisemitische Vorfälle reagierte, denn das tat sie: Die Empörung war parteiübergreifend, allgemein und international.[30] Auch die Umfrageforschung griff das Thema ebenso wie antisemitische Tendenzen allgemein wieder verstärkt auf. Und Heimpels und Adornos Warnungen vor der unbewältigten Vergangenheit kursierten, aktueller denn je, in Vorwürfen der Tabuisierung antisemitischer Einstellungen, die nach 1945 nicht einfach verschwunden gewesen waren.[31]

Die Aufmerksamkeit bedeutete auch einen internationalen Imageverlust: Man sah nun Handlungsbedarf für die Bundesregierung und die Gesellschaft, dessen Umsetzung geradezu aktionistisch anmutet. Der umstrittene Gesetzesentwurf gegen Volksverhetzung, bereits Januar 1959 von der Bundesregierung verabschiedet, dann jedoch zunächst zurückgestellt, wurde im April 1960 von einem es nun offenbar eilig habenden Bundestag abgesegnet. Ferner bemühte man sich als direkte Folge um eine Intensivierung der gezielten Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in der Forschung und der schulischen (und außerschulischen) Bildung; diverse Forschungsstellen zur Geschichte des NS und der Juden wurden eingerichtet.[32] Auch gesellschaftlich scheinen die Vorfälle eine Art Schock ausgelöst zu haben: In Umfragen distanzierten selbst Menschen mit Sympathie für antisemitische Einstellungen sich von den Tätern.[33] Eine deutliche Mehrheit sprach sich nun allgemein für die Bestrafung antisemitischer Taten aus, wenn auch freilich für die aktuellen Schmierereien die zivilen Methoden, von erzieherischen Gesprächen bis zu einer Tracht Prügel, favorisiert wurden.[34] Bundeskanzler Adenauer verurteilte die Kölner Synagogenschändung scharf – riet der Bevölkerung allerdings im Folgenden, irgendwo zwischen einem Herunterspielen der Vorfälle zu Flegeleien und dem Appell an die Verantwortung des Einzelnen, hakenkreuzschmierenden „Lümmel[n]“ einfach ebenjene populäre „Tracht Prügel“ zu verpassen.[35] Die Gratwanderung zwischen scharfer Verurteilung unter den internationalen Blicken und dem Vermitteln eines Gefühls an das eigene Wahlvolk, sich insgesamt als integer betrachten zu dürfen, verdeutlicht den Zwiespalt.

An den Reaktionen wird ein allmählicher Gesinnungswandel ebenso deutlich wie die immer noch vorhandenen Schwierigkeiten im Umgang mit der deutschen Schuld und bisherige Versäumnisse der Politik. Wo die BILD-Zeitung in der Debatte zu verorten ist und wie sie mit den antisemitischen Schmierereien und in deren Kontext mit antisemitischen Ressentiments, der deutschen Vergangenheit und dem diesbezüglichen bundesdeutschen Selbstverständnis umgeht, soll im Folgenden untersucht werden.

3. Die BILD-Zeitung

Die BILD-Zeitung, 1952 erstmals erschienen, war vom Springer-Verlag als Straßenverkaufszeitung mit hohem Unterhaltungswert nach Art der englischen Yellow Press konzipiert worden. Nach einem wenig erfolgreichen Start wurde das Konzept und das Layout des Blattes nach etwa einem halben Jahr überarbeitet; von da an schossen die Verkaufszahlen in die Höhe. Dass der Anteil der Straßenverkaufszeitungen an der Gesamtauflage aller Tageszeitungen, der noch 1950 weniger als 5% betragen hatte, 1960 bereits 30% ausmachte, ist fast allein auf die ungeheure Steigerung der BILD-Auflage zurückzuführen, die 1953 bei einer Million, 1955 bei zwei, 1956 bei drei und 1962 bei vier Millionen lag.[36] Die „Marktdurchdringung mit Kostenführerschaft“[37] wurde mit einem Preis von bis 1965 konstant 10 Pfennig erreicht; auch eine konsequente Regionalisierung trug zum Erfolg bei.

Das Blatt musste, da es über keinen Abonnentenstamm verfügte[38], stets aufs Neue eine Kaufentscheidung herbeiführen. Da dies vor allem über die am Kiosk präsentierte Titelseite geschah, war die Strategie bei der Platzierung von Reizen wie Schlagwörtern, brisanten Themen und Bildern von großer Bedeutung: Dort wurden naheliegenderweise die erfolgversprechendsten Themen untergebracht. Zudem „komponiert[e die BILD-Zeitung] Kurzartikel von verschiedenstem Inhalt nebeneinander, um den Eindruck zu vermitteln, sie erfasse die Welt in ihrer Totalität“.[39] Diese beiden Faktoren bestimmten die Auswahl der Titelthemen und Aufmacher, die häufig durch fundamentale Emotionen geprägt waren[40] und aus dem human interest -Bereich, regionalen Ereignissen oder dem Sport kamen. Letzterer war überhaupt das einzige Ressort mit festen Platzrechten.[41] Weitere Charakteristika von BILD waren beispielsweise das variationsreiche Layout ohne klare Grenzen zwischen den einzelnen Themen, die blickfangträchtigen Schlagzeilen, die überproportionale Verwendung der Schmuckfarbe Rot sowie vereinfachte und emotionalisierte Sprache.[42]

BILD bezeichnet sich selbst als „unabhängig“ und „überparteilich“. Es steht, auch auf Grund des von Axel Springer zeitweise stark ausgeübten Einflusses auf die Redaktion[43], zu vermuten, dass auch vor der Formulierung der Springerschen Verlagsprinzipien 1967 BILD sich mehr oder minder nach diesen richtete; für vorliegende Untersuchung ist besonders der angestrebte Einsatz für die Aussöhnung zwischen Deutschen und Juden relevant. Interessant ist in diesem Zusammenhang ferner der Umstand, dass Axel Springer nach seiner erfolglosen Moskaureise 1958[44] sich immer mehr in die Redaktionsgeschäfte der „Welt“ einmischte, die unter diesem Einfluss zunehmend nationalistisch wurde und 1965 sogar offiziell als „nationale Zeitung“ proklamiert wurde.[45] Es ist denkbar, dass auch bei der BILD-Zeitung, die unter dem Übergangs-Chefredakteur Oskar Bezold[46] eine Phase der – von Axel Springer gewünschten – Politisierung erfuhr[47], die nationalen Töne und das deutsche Wohlfühltum in diesem Zeitraum zunahmen.

In der DDR hatte BILD im Übrigen, wenig überraschend, einen immens schlechten Ruf.[48]

[...]


[1] Insgesamt stammen die meisten Publikationen aus den Jahren 1967-1973; Hans Dieter Müller hat die einzige wissenschaftliche Monographie über den Springer-Konzern bis 1998 (als Gudrun Kruip nachzog) bereits 1968 publiziert. Vgl. Gudrun Kruip: Das „Welt“-„Bild“ des Axel Springer Verlags, S. 10. Kruip selbst geht es jedoch mehr um Position und Ausrichtung von Springer als Gesamtkonzern als um die spezifischen Charakteristika der BILD-Zeitung; die Publikationen zu BILD wiederum befassen sich so gut wie gar nicht mit der frühen Phase, obwohl der durchschlagende Erfolg bereits vor Mitte der 50er einsetzte.

[2] Lu Seegers, Abs. 2. (s.u.)

[3] Eine Untersuchung deutscher Tageszeitungen über zehn Jahre ergab, dass lediglich die „Welt“ aus dem Hause Springer stets die Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung spiegelte; alle anderen untersuchten Blätter waren ihr fast immer etwas voraus. Vgl. Kruip, S. 263-264.

[4] Ich berücksichtige dabei ausschließlich die Hamburger Ausgabe, die sich von der Bundesausgabe sowie anderen regionalen Ausgaben teilweise unterscheidet. Die Hamburger BILD war für den Untersuchungszeitraum im Übrigen die auflagenstärkste in Hamburg erscheinende Tageszeitung. Etwa ein Drittel der Leser lasen ferner keine weitere Tageszeitung neben BILD. Vgl. Kröger 1973, S. 195.

[5] Dabei halte ich mich an Buschkes Untersuchung rechtsextremer Skandale in der Ära Adenauer in überregionalen Qualitätszeitungen, in der BILD naturgemäß nicht berücksichtigt wird. Die Untersuchung ist dennoch hilfreich bei der Einordnung von Rhetorik und Darstellungsweise.

[6] Der Begriff „Vergangenheitsbewältigung“ wurde wegen der suggerierten Möglichkeit der endgültigen Bewältigung häufig kritisiert. In Ermangelung einer besseren Alternative werde ich ihn jedoch im Folgenden verwenden, ohne damit eine Einschätzung der Erfolgsmöglichkeiten zu verbinden. Vgl. Wilke, S. 649.

[7] Vgl. Reichel, S. 148.

[8] Weißbuch der Bundesregierung, nach Reichel 2001, S. 148. Vgl. auch Vollnhals, S. 370.

[9] Reichel 2001, S. 148-149 sowie 151.

[10] Bei Reichel 2001, S. 234, Anm. 305, findet sich ein Hinweis auf einen Leserbrief vom ehemaligen Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes Dr. Volkmar Zühlsdorff (Bonn) in der FAZ vom 18.02.2000, nach dem ein Anfang der 70er Jahre in Washington übergelaufener KGB-Agent die These von einer kommunistisch gelenkten Aktion bestätigt hat. Dies hat jedoch für diese Untersuchung keine Relevanz.

[11] Diese These modifizierte die lange vorherrschende Verdrängungsthese des Ehepaars Mitscherlich und gewann seit den 1990er Jahren an Bedeutung. Berghoff weist den Wandel in seiner Untersuchung nach, indem er sich dem Thema von unterschiedlichen Seiten nähert (siehe dort).

[12] Vollnhals, S. 383. Ein soziologischer Ansatz zu Verdrängung bzw. Verleugnung samt Auseinandersetzung mit dem Klassiker „Die Unfähigkeit zu trauern“ der Mitscherlichs bei Thomas Herz/Michael Schwab-Trapp: Konflikte über den Nationalsozialismus nach 1945. Eine Theorie der politischen Kultur, in: Dies.: Umkämpfte Vergangenheit. S. 11-36, hier S. 12-19.

[13] So z.B. Gerhard Schröder noch im Zusammenhang mit der antisemitischen Welle 1960. Die Gegenposition – öffentliche Diskussion über den Nationalsozialismus sei nötig für die Demokratie – fand zunächst eher langsam entschiedene Anhänger, darunter aber Carlo Schmid. Vgl. Dubiel, S. 82-84.

[14] Vgl. Reichel, S. 139.

[15] Nach Wilke, S. 649.

[16] Wilke, S. 659.

[17] Vgl. Vollnhals, S. 370.

[18] Zwischen 39 und 68%, je nach Frage, gaben „Keine Einstellung an“; meist lag der Anteil um 50%. Ferner schrieben viele ‚den Juden’ besondere Begabungen und Intelligenz zu, zugleich seien sie geschäftstüchtig und „oft Ausbeuter“. Genaue Zahlen: Noelle: Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1965, S. 216-217.

[19] Wilke, S. 655.

[20] Deren Auflage stieg in den 50er Jahren auf je über 1 Mio; laut Schornstheimer erreichen beide gemeinsam 1959 bis zu 19,32 Millionen Leser; mehr als das Springer-Erfolgsprodukt „Hör zu“. Genauere Zahlen bei Schornstheimer, S. 14.

[21] Demnach scheint auch die Sicht der Deutschen als Opfer und sogar Hauptleidtragende populär gewesen zu sein. Schornstheimer, S. 240. Für Quick und Stern diagnostiziert Schornstheimer im Übrigen keinen Wandel zum Ende der 50er.

[22] Auch 1958 geben noch 34% Antworten, die die Bevorzugung eines Schlussstrichs erkennen lassen, 54% dagegen nicht. Die Frage ist allerdings sehr deutlich gestellt; möglicherweise schränkt das die Ehrlichkeit der Antworten ein, wie andere Untersuchungen (z.B. Schönbach 1961) nahe legen. Noelle 1965, S. 221.

[23] Zum Stern 1954. Schornstheimer, S. 29.

[24] Reichel 2001, S. 144: „Auffällig war jedenfalls, dass es nicht mehr nur um prominente Personen des öffentlichen Lebens ging.“

[25] Reichel 2001, S. 147. Außerdem: Thomas Herz/Heiko Boumann: Der „Fall Globke“: Entstehung und Wandlung eines NS-Konfliktes. In: Herz/Schwab-Trapp, S. 57-108; hier: S. 74-76.

[26] So etwa Professor Karl Schiller 1959 in der ZEIT, nach Reichel 2001, S. 147.

[27] So wurde der Nationalsozialismus über Jahre mit vagen Begriffen wie „das Jahr 1933 … mit seinen … Begleiterscheinungen“ oder Wendungen „von der ‚schweren’ oder ‚dunklen’ Zeit“ umschrieben oder anderweitig wegabstrahiert, was sich in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre langsam ändert. Berghoff, S. 100. Siehe auch Dubiel, S. 62-64.

[28] Verbrechen, die den Tatbestand des Totschlag und der schweren Körperverletzung erfüllten.

[29] Vgl. Vollnhals, S. 371.

[30] Reichel, S. 147.

[31] Vgl. Vollnhals, S. 371-372 sowie Buschke, S. 71.

[32] Vollnhals, S. 372 und 377.

[33] Schönbach, vgl. auch Vollnhals S. 371.

[34] Noelle 1965. 1949 hatte sich noch eine Mehrheit gegen die Bestrafung antisemitischer Taten gefunden, und auch 1958 hatten die Bestrafungsbefürworter mit 46% zwar eine relative, nicht aber die absolute Mehrheit; Januar 1960: 78% für und nur noch 7% (gegenüber 20% 1958) gegen eine Bestrafung. Auch die Positionierungsfreude stieg: Der Anteil der Unentschiedenen sank von 30% (1958) auf 10% (1960). In den konkreten Fällen jedoch sahen nur 12% ein Wiederaufleben des NS, die Mehrheit hingegen bloße „Umtriebe von Halbstarken“, und nahmen diese daher von der neuen Bestrafungswilligkeit aus.

[35] Reichel, S. 150-151.

[36] Schildt, in: Wilke, S. 638.

[37] Stöber, S. 306.

[38] Dies ist auch heute nicht der Fall, wie auch die meisten der folgenden Charakteristika sich nicht wesentlich verändert haben. Ich benutze jedoch, da ich das nur von den untersuchten Ausgaben mit Bestimmtheit sagen kann, die Vergangenheitsform.

[39] Mittelberg, S. 19.

[40] Zur Funktion des Aufmachers in der Boulevardpresse allgemein vgl. Schirmer, S. 27-30 in seiner Untersuchung der BILD-Titelseitenaufmacher.

[41] Stöber, S. 307.

[42] Cornelia Voss hat Letztere vom linguistischen Standpunkt aus umfassend untersucht; da sie sich jedoch auf neuere Ausgaben bezieht (Jahrgang 1997) und manche sprachliche Besonderheiten sich verändert haben mögen (bis hin zur Unvollständigkeit verkürzte Sätze beispielweise tauchen 1960 noch nicht in dem Maße auf), stütze ich mich hier, wo es relevant ist, auf Ekkehard Mittelberg, der 1967 die Sprache der BILD-Zeitung, Jahrgang 1964 untersucht hat.

[43] Stöber, S. 307.

[44] Zweck der Reise war, mit Chruschtschow über die Wiedervereinigung Deutschlands zu verhandeln. Das Scheitern des Unternehmens kam für Springer anscheinend überraschend. Zu diesem Zeitpunkt änderte sich sein Verhältnis zu seinem Mentor Hans Zehrer, damals Chefredakteur der „Welt“, drastisch; der Misserfolg soll für Springer traumatisch gewesen sein. Ausführlich Kruip, S. 102ff., Stöber, S. 300-301; journalistisch: Michael Jürgs: Der Fall Axel Springer. Eine deutsche Biographie. München/Leipzig 1995. S. 73ff.

[45] Stöber, S. 301.

[46] Im Untersuchungszeitraum; Bezold war Chefredakteur von Dezember 1958 bis November 1960.

[47] Stöber, S. 307, Anm. 59.

[48] Kröger, S. 194; geht auf Franz Knipping 1963 zurück.

Ende der Leseprobe aus 33 Seiten

Details

Titel
Die antisemitische Welle 1959/60 in der BILD-Zeitung
Hochschule
Universität Hamburg  (Institut für Philosophie und Geschichtswissenschaft)
Veranstaltung
Der Springer-Verlag, seine Publikationen und seine Kritiker in den 50er und 60er Jahren
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
33
Katalognummer
V64990
ISBN (eBook)
9783638576611
ISBN (Buch)
9783640184477
Dateigröße
575 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Eine Untersuchung der einschlägigen Berichterstattung und deren potenzieller Bedeutung für die öffentliche Meinung zur NS-Vergangenheit.
Schlagworte
Welle, BILD-Zeitung, Springer-Verlag, Publikationen, Kritiker, Jahren
Arbeit zitieren
Katja Schmitz-Dräger (Autor:in), 2006, Die antisemitische Welle 1959/60 in der BILD-Zeitung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/64990

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