Die Faszination des Kruden - Heiner Müllers Bearbeitung von Shakespeares "Titus Andronicus"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

32 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Titus Andronicus – der ungeliebte Shakespeare

3. Shakespeares „Schwächen“ in Müllers Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar
3.1. Dramaturgische Schwächen
3.2. Gewalt
3.2.1 Gewalt als Spektakel
3.2.2 Gewalt als Produkt des Künstlers
3.2.3 Gewalt als Signum der Geschichte
3.3. Die Charaktere
3.3.1 Die generelle Problematik der Charaktere in Titus Andronicus
3.3.2 Titus Andronicus
3.3.3. Tamora
3.3.4. Lavinia
3.3.5 Aaron

4. Schlussbemerkung

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Das hinterfragende Spiel, oftmals als Hadern mit literarischen Traditionen und deren wichtigsten Vertretern, ist ein Aspekt, der sich in auffälligem Maße durch das Schaffen Heiner Müllers zieht. Insbesondere in seinen dramatischen Werken wird der Leser und Zuschauer mit einer beeindruckenden Vielzahl von intertextuellen Verweisen konfrontiert, die es oft schwermachen, alle Bezüge zu erkennen und einzuordnen. In Müllers kreativer Beschäftigung mit Literatur lassen sich, trotz ihrer enormen Vielfalt, dennoch einige Schwerpunkte entdecken. Neben dem Schaffen Bertolt Brechts ist auch William Shakespeare und sein Werk einer dieser markanten Schwerpunkte, zu denen Heiner Müller immer wieder zurückkehrt – am auffälligsten in den Produkten seiner „Shakespeare Factory“, die sich konkret einzelnen Arbeiten des Elisabethaners annehmen. Das künstlerische Spektrum der Bearbeitungen ist hierbei einigermaßen groß: Es reicht von reinen Übertragungen „Wort für Wort ins Deutsche“[1], (Wie es Euch gefällt) über übersetzende Neukonstruktionen (Macbeth) bis hin zum verstörenden Reduzieren und Verändern des Prätextes (Hamletmaschine). Im Mittelpunkt dieser Arbeit soll die letzte „große“ Bearbeitung eines Shakespeare–Stückes stehen, die wiederum durch einen völlig neuen Umgang mit der Vorlage gekennzeichnet ist: Müllers Anatomie Titus Fall of Rome, welches sich dem umstrittenen Titus Andronicus annimmt. Die letzte Arbeit im Rahmen der „Shakespeare Factory“ widmet sich ausgerechnet dem wahrscheinlich ersten Stück Shakespeares, welches die Literaturwissenschaft nur mit einigem Zaudern dem großen Dramatiker zuordnen wollte. Ein verständliches Zaudern, ist doch der Titus auf den ersten Blick nur schwerlich mit der Genialität des späteren Shakespeare in Einklang zu bringen und trägt den Makel der „Unreife“. Diese Unbeliebtheit soll Ausgangspunkt dieser Arbeit sein. Es soll untersucht werden, inwieweit gerade die Mängel, die spezifische Problemhaftigkeit des Titus Ansatzpunkte für Müller sind, wie es ihm gelingt, aus den Schwächen des Stückes Kapital für sein eigenes dramatisches Schaffen zu schlagen. Hierzu soll zunächst der Titus Andronicus Shakespeares betrachtet und dabei die geläufigsten Ansatzpunkte für die zuweilen herbe Kritik an diesem Stück herausgearbeitet werden. Diese sollen im weiteren Verlauf an Müllers Text herangetragen werden, um zu sehen, wie Müller mit diesen „Schwächen“ seiner Vorlage umgeht. Sind die angegriffenen Mängel durch Müllers Bearbeitung ausgemerzt? Ergeben die Eingriffe „etwas anderes“[2], wie Müller es als Impetus zur Auseinandersetzung angegeben hat? Inwieweit nutzt Müller vorhandene Anlagen des Shakespeare–Textes zur Umsetzung der eigenen dramatischen Vision? Anhand dieser Leitfragen soll in dieser Arbeit versucht werden, herauszuarbeiten, worin Reiz und Chance liegen, ausgerechnet „ein ziemlich krudes Stück“[3] für eine Neubearbeitung zu wählen. Um die spezifischen Leistungen von Müllers Arbeit schärfer zu profilieren, soll eine andere Bearbeitung des shakespearschen Titus durch einen renommierten deutschen Dramatiker des 20. Jahrhunderts immer wieder mit ins Blickfeld rücken: Friedrich Dürrenmatts Version aus dem Jahre 1970[4]. Auch wenn Dürrenmatts Äußerungen zum Titus nicht allzu umfangreich sind, offenbart sich in ihnen doch häufig eine erstaunliche Nähe zu Müllers Gedanken bezüglich dessen Bearbeitung. So verstand Dürrenmatt den Titus Andronicus als „Vorform zu den großen Werken Shakespeares“[5], und ähnliches klingt bei Heiner Müller an, der Shakespeares Stück als „Rohmaterial“[6] betrachtet, welches „schon alle Motive enthält, aber so gestopft, dass, daß Shakespeare sie in mehreren Stücken einzeln ausbreiten konnte“[7]. Auch in anderen, prägnanten Punkten sind Müller und Dürrenmatt sich nah – und da beide Bearbeitungen dennoch höchst unterschiedlich ausfallen, soll Dürrenmatts Variante gerade bei solchen „Schnittpunkten“ zum Vergleich herangezogen werden.

2. Titus Andronicus– der ungeliebte Shakespeare

Nicht immer war Titus Andronicus das Schicksal beschieden, ein seltener Gast auf den Spielplänen der Theater zu sein. Für Shakespeares Zeitgenossen scheint das Stück von außerordentlicher Anziehungskraft gewesen zu sein. So verweist der „Dramatiker Ben Johnson in seiner Einleitung zu Bartholomew Fair (1614) auf die seit 20 oder 30 Jahren anhaltende Beliebtheit von Titus Andronicus[8]. Zwar mag man Johnsons kritische Töne zu Titus als Ausdruck seines Neides verstehen – doch die Einschätzung des Stückes als „complete failure“[9] sollte einige Jahrhunderte später massiv geteilt werden. Die einstige Beliebtheit scheint für moderne Rezipienten einigermaßen unverständlich - „ Titus can only be called `much disliked´“[10]. Somit dürften die meisten der heutigen Leser bzw. Zuschauer Verständnis haben für die polemische Haltung T.S. Elliots, der das Stück gar als „one of the stupidest and most uninspired plays ever written“[11] geißelte und dem Kanon der Literaturhistoriker, die jahrzehntelang die Urheberschaft Shakespeares bestritten, nur zu gerne Glauben schenkte. Wenn man Shakespeare überhaupt einen Anteil am Titus zubilligte, dann quasi als Co-Autor, der diesem „heap of rubbish...only gave some Master-touches to one or two principal parts [...]“[12], wie es Edward Ravenscroft im Rahmen der Vorbemerkung seiner - bereits Ende des 17. Jahrhunderts entstandenen - Adaption des Stoffes behauptete. Mittlerweile wird die Urheberschaft Shakespeares allerdings nicht mehr ernsthaft angezweifelt. Zu häufig finden sich Themen und Charakterzüge, die bereits im Titus angelegt sind, in späteren Werken des Elisabethaners wieder, beispielsweise in Hamlet oder Richard III., besonders aber in König Lear, dessen Bühnengestalt in Titus mit seiner „altersbedingten Starrheit“[13] einen Vorläufer findet. Die vielgestaltige Verwendung literarischer Quellen – im Titus sind neben den allgegenwärtigen Metamorphosen des Ovid deutliche Einflüsse von Seneca und Euripides auszumachen – ist wie einige dramaturgische Mittel, beispielsweise die zahlreichen parallel verlaufenden Szenen, ebenfalls ein deutlicher Hinweis darauf, dass Shakespeare tatsächlich für den Titus verantwortlich ist. Dennoch: Titus Andronicus bleibt das „schwarze Schaf“ unter den Shakespeare–Stücken. Nicht nur im angelsächsischen Raum, sondern auch international betrachtet, was beispielsweise in den für die deutschsprachigen Shakespeare-Rezeption so wichtigen Epochen des Sturm und Drang und der anschließenden Klassik und Romantik deutlich ablesbar ist:

Not surprisingly, neither Wieland nor Schlegel included Titus among the dramas they translated; and it is symptomatic that Goethe, who left a rich commentary on Shakespeare, confined himself to a single sentence referring to Titus in his diaries.[14]

Was aber ist es , was es bereits seit Jahrhunderten allerorten Wissenschaft und Kritik so schwer macht, dieses Stück gleichberechtigt in den Kanon von Shakespeares Stücken einzureihen? Zum einen sind es handwerkliche Schwächen, die man der Theaterikone nicht ohne weiteres einräumen möchte: Der erste Akt ist von einer ermüdenden Geschwätzigkeit und lässt Shakespeares Talent des gelungenen „Timings“ schmerzlich vermissen. Dann sind es die quer durch das Stück verlaufenden „mechanisch motivierten Spielzüge der Intrige“[15], die Friedrich Dürrenmatt bei seiner Bearbeitung des Stückes aus gutem Grunde vermeiden wollte, da sie häufig ins geradezu Alberne abgleiten. Beispiele bei Shakespeares sind etwa die Szene, in der zwei Söhne des Titus allzu tölpelhaft in die von Aaron gestellte Falle – hier das Loch, in dem der Körper des frisch gemordeten Bassianus liegt – tappen[16] oder der obskure Besuch Tamoras als „Rache“ bei dem dann doch nicht ganz so wahnsinnigen Titus[17]. Auch die Sprache des Stücks erregt Widerwillen. Sie ist blumig, artifiziell und gespreizt, und passt dadurch kaum zum Inhalt , dessen Blutrünstigkeit mit die größte Problematik des Stückes darstellt, wie es beispielsweise Eugen Waith hervorhebt:

The succession of extraordinarily violent episodes has given rise to the opinion, that the play is crude – fit only for ‚vulgar audiences’ [...] The comibination of crude violence with...fanciful description ist incongruous[...][18]

Titus Andronicus ist vollgestopft mit Gräueltaten, mit Mord, Vergewaltigung und Verstümmelung, eine „accumulation of vulgar physical horrors“[19] die zu Zahlenspielereien wie dieser geradezu auffordert:

14 killings, 9 of them on stage, 6 severed members, 1 rape (or 2 or 3, depending on how you count), 1 live burial, 1 case of insanity and 1 of cannibalism – an average of 5.2 atrocities per act, or one for every 97 lines.[20]

Sicher: Mit dieser Anhäufung von Grausamkeiten hat Shakespeare dem Geschmack seiner Zeitgenossen entsprochen, sind doch auch andere Erfolgstücke seiner Zeit ebenfalls nicht gerade arm an einfallsreichen Brutalitäten. Stücke Marlowes – etwa sein Jude von Malta – sind hierfür ebenso Zeugnis wie Kyds The Spanish Tragedy, die traditionell immer wieder im Zusammenhang mit Titus genannt wird.

Doch damit ist Titus auch der Beweis, dass sich Shakespeare am Anfang seiner Karriere nicht durch eine relative Enthaltsamkeit gegenüber dem Blutdurst des zeitgenössischen Publikums, die ihm für andere Stücke zugutegehalten wird, auszeichnet. Um ein solches Arsenal an Grausamkeiten auffahren zu können, muss dieses in der Handlung und den Charakteren schlüssig motiviert werden können. Daraus resultieren nicht nur die bereits genannten arg konstruierten Spielzüge, sondern auch, dass die Charakterzeichnung zum Teil ausgesprochen widersprüchlich erscheint – ein weiterer Punkt, der dem modernen Rezipienten den Titus so schwer macht. Dramaturgische Mängel, die überbordende Gewalt, die diffusen Charaktere sind in diesem kurzen Überblick als „Hauptblöcke“ der Ablehnung von Shakespeares Titus aufgeführt worden. Im Folgenden, soll nun untersucht werden, wie Müller in seiner Bearbeitung mit diesen Mängeln umgeht.

[...]


[1] Alexander Karschnia, Wie es euch gefällt. In: Hans-Thies Lehmann, Patrick Primavesi (Hrsg.), Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2003. S. 290.

[2] Heiner Müller, Gesammelte Irrtümer. Interviews und Gespräche. Frankfurt a. Main 1986. S. 147.

[3] Ebd.

[4] Vgl. Friedrich Dürrenmatt, Titus Andronicus. Komödie nach Shakespeare. In: (ders.), König Johann. Titus Andronicus. Shakespeare-Umarbeitungen. Zürich 1985. S. 115-201

[5] Klappentext zu Titus Andronicus, In: (wie Anm. 4).

[6] Heiner Müller, Gesammelte Irrtümer (wie Anm. 2.). S. 147.

[7] Ebd., S. 146.

[8] Dieter Wessels, Nachwort. In: William Shakespeare, Titus Andronicus. Stuttgart 2003. S. 204.

[9] Philip C. Kolin, Titus Andronicus and the Critical Legacy. In: ders. (Hrsg.), Titus Andronicus. Critical Essays. New York, London 1995. S. 3.

[10] G.K. Hunter, Shakespeare´s Earliest Tragedies. Titus Andronicus and Romeo and Juliet. In: Mark Rose (Hrsg.), Shakespeare´s early tragedies: a collection of critical essays. New Jersey 1995. S. 6.

[11] T.S. Elliot, „Seneca in Elizabethan Translation“. Zit. nach: (wie Anm. 9). S. 5.

[12] Edward Ravenscroft, To the Reader. In: (wie Anm. 9). S. 375.

[13] Dieter Wessels, Nachwort (wie Anm. 8). S. 211.

[14] Horst Zander, „Seeking the Soul with a Dagger“. Titus Andronicus in Germany. In: (wie Anm. 9). S. 497.

[15] Friedrich Dürrenmatt, Notizen zu >Titus Andronicus<. In: (ders.), König Johann. Titus Andronicus. Shakespeare-Umarbeitungen. Zürich 1985. S. 210.

[16] Vgl. William Shakespeare, Titus Andronicus. Englisch/Deutsch. Stuttgart 2003.S. 58 – 63.

[17] Vgl. ebd., S. 138 – 149.

[18] Eugen Waith, The Metamorphosis of Violence in Titus Andronicus. In: (wie Anm. 10). S. 18.

[19] William Hazlitt, Characters of Shakespear`s Plays & Lectures on the English Poet. Zit. nach: (wie Anm. 9). S. 4.

[20] S. Clark Hulse, Wresting the Alphabet: Oratory and Action in Titus Andronicus. Zit. nach: (wie Anm. 9). S. 6.

Ende der Leseprobe aus 32 Seiten

Details

Titel
Die Faszination des Kruden - Heiner Müllers Bearbeitung von Shakespeares "Titus Andronicus"
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Institut für Theaterwissenschaft)
Veranstaltung
Heiner Müller
Note
2,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
32
Katalognummer
V65158
ISBN (eBook)
9783638577946
ISBN (Buch)
9783638670418
Dateigröße
642 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Faszination, Kruden, Heiner, Müllers, Bearbeitung, Shakespeares, Titus, Andronicus, Heiner, Müller
Arbeit zitieren
Mario Fesler (Autor:in), 2004, Die Faszination des Kruden - Heiner Müllers Bearbeitung von Shakespeares "Titus Andronicus", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/65158

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