Antisemitismus und Frauenhass - Eine exemplarische Untersuchung von Martin Walsers "Tod eines Kritikers"


Hausarbeit, 2004

22 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt:

I. Einleitung
II.1 Zusammenfassung “Tod eines Kritikers”

II analytischer Teil
II. 1.a Der Jude als würdeloser Schmarotzer
1.b Ehrl-König: Ich-loser Parasit im deutschen Literaturbetrieb
2.a Der Jude als Personifizierung der kulturlosen, weiblich-definierten Moderne
2.b Ehrl-König: koitierender Totengräber der deutschen Literatur
3.a Der Jude als sexueller Antityp zum männlichen Ideal
3.b Ehrl-König: ein impotenter Lüstling
4.a Der Jude als weiblicher Mann, die Jüdin als männliche Frau
4.b Ehrl-König: ein halber Mann, Ehrl-Königs Frau: ein Mannweib, Ehrl-Königs Mutter: die schejne Jiddin
5.a Der Jude als Personifizierung der abstrakten Macht im Kapitalismus
5.b Ehrl-Königs Vater: ein spekulierender Geldjude

III Fazit

I.Einleitung

Zusammenhänge zwischen Antisemitismus und modernen Geschlechterdiskursen sind oft beobachtet worden. Dabei geriet vor allem die Häufigkeit von Sexualbildern in den Blick, mit deren Hilfe Verbindungen zwischen Vorstellungen des >Jüdischen< und des >Weiblichen< ermöglicht wurden. Aus der diskursiv hergestellten Beziehungen zwischen >Judentum< und >Weiblichkeit< entwickelt sich bestimmtes, folgerichtiges politisches Denken und Handeln – dieser Zusammenhang ist für diese Arbeit von grundlegender Bedeutung.

Während etwa die wechselseitige Verschränkung von Sexismus und Rassismus relativ breit diskutiert wird, spielen die Kategorien Sexualität und Geschlecht in der Analyse und Kritik des Antisemitismus noch immer eine geringe Rolle. Die vorliegenden Arbeit wird eine überblicksartige Zeichnung der dominantesten sexuellen Bilder und Geschlechterkonstruktionen entwerfen, die der antisemitische Diskurs in seiner Geschichte produziert hat. Der Roman von Martin Walser, “Tod eines Kritikers”1 soll hierbei gleichermaßen Anlass und Beleg für die Aktualität dieser immer wieder reproduzierten und modifizierten Stereotypen sein.

Es soll, dass sei hier vorangestellt, in der Analyse des Walser-Romans nicht um die offensichtliche Anspielung auf reale Personen oder die Bezugnahme auf historische Geschehnisse2 gehen. Gegenstand der Untersuchung sind lediglich die literarischen Bilder, klischeebelastete und stereotype, deren Aktualität aus der Historie heraus anhand des Buches nachgewiesen werden soll.

Formal zerfällt die Arbeit in drei Teile, eine Zusammenfassung des Romans (I), den analytischen Hauptteil (II), der fünf Kapitel (1-5) enthält. Jedes dieser Kapitel ist dreigegliedert (1, 1.a, 1.b usw.), wobei der erste Teil eine Auswahl an Zitaten aus dem Walser-Roman enthält, der zweite (.a) jeweils ein dominantes stereotypes Klischee in seiner historischen Herleitung anreißt und der letzte (.b) jenes gewachsene Klischee mit den, im Roman erzeugten Bildern verschiedener Personen und deren Funktionen vergleicht. Schlussendlich findet sich ein kurzes Fazit (III). Zum leichteren Verstehen, speziell der das Erscheinen des Romans kontextuierenden Diskussion, ist der Untersuchung der Plot des Romans vorangestellt.

Der Autor Martin Walser, auch das zum besseren Verständnis, lässt ausschließlich seinen fiktiven Erzähler Michael Landorff (der, wie sich herausstellen wird, identisch ist mit dem mutmaßlichen Kritikermörder Hans Lach) die Geschehnisse in Form von wiedergegebenen Gesprächen und Meinungen Dritter erzählen, also im Konjunktiv.

Alle Zahlen in runden Klammer sind die Seitenangaben der 3. Auflage von “Tod eines Kritikers”.

II 1 Zusammenfassung “Tod eines Kritikers”

Ehrl-König ist die “Erfindung” (121) seines Freundes Reiner Heiner Henkel, genannt RHH. Ohne ihn wäre er “nicht möglich” (51) oder zumindest “weniger als ein Schemen”. RHH sagt von sich selbst, er habe “Ehrl-König aufgeblasen” (112). Er sei eine “Fernsehlarve” (79), ein Produkt der “Chorknaben seiner Feuilletons” (73). Obwohl Ehrl-König der “Mächtigste” sei, “der je in der Literaturszene Blitze schleuderte” (52), verfügt er lediglich über “ein Repertoire von zwölf bis fünfzehn Sätze [...] dazu noch fünfzehn bis achtzehn Zitate.” (113). Sein beeindruckendes Gedächtnis, seine Schlagfertigkeit und sein Sprachwitz, die ihn berühmt machten, seien nicht authentisch, sondern in mühsamer Arbeit angelernt. RHH habe “Ehrl-Königs Aussprache gewisser Wörter so lange mit ihm geübt, bis dadurch eine Ehrl-König-Kenntlichkeit erreicht war. Dadurch wurde Ehrl-König von jedem imitierbar, und nichts macht populärer als Imitierbarkeit.” (110) Ehrl-König sei “vor allem wegen seiner leichten Imitierbarkeit so populär und deshalb so einflußreich” (48). Ehrl-König habe “charakterlich etwa den Zuschnitt einer Disney-Figur” (88) und sei trotzdessen “der Mächtigste im Kulturland” (92).

Er war die Macht und die Macht war er. Und wenn man wissen will, was Macht ist, dann schaue man ihn an: etwas Zusammengeschraubtes, eine Kulissenschieberei, etwas Hohles, Leeres, das nur durch seine Schädlichkeit besteht. (75)

Ständig klage er wie er unter “der deutschen Gegenwartsliteratür” leide, für die er sich aber verantwortlich fühle, “vor allem für die deutsche” (41). Nachdem er “ein paar Tage hintereinander deutsche Gegenwartsliteratur lesen müsse, beneide er die Leute von der Müllabfuhr” (41), sagt Ehrl-König. Über ihn und seine Literatursendung sagt ein Bekannter: “Der ejakuliert doch durch die Goschen, wenn er sich im Dienste der deutschen Literatür aufgeilt.” (135). Hans Lach resümiert über den öffentlichen Verriss seines Romans: “Was für eine Schlacht, wo einer glorios schlachte und der andere keinen Finger rühren könne zu seiner Verteidigung. Ein Schlachten seis und nicht eine Schlacht.” (54) “Mit jedem Lob, jedem Tadel wurde er [Ehrl-König] selber größer, mächtiger” (74). Er sei etwas “Leeres, das nur durch seine Schädlichkeit besteht, als Drohung, als Angstmachendes, Vernichtendes.” (75) Durch die “Herabsetzungslust” (109) des Kritikers werde Hans Lach zum “gequälte[n] Christ, der sich helfen kann zuerst im Delirium, dann mit der Tat [dem Mord an Ehrl-König, S.V.]” (69).

1.a Der Jude als seinem Wesen nach würdeloser Schmarotzer

Seit der Entstehung des Kapitalismus wird den Juden nicht nur eine spezifische Rolle in konkreten wirtschaftsgeschichtlichen Zusammenhängen zugewiesen, aufgrund derer sie Bedeutung erlangen konnten, sondern es wird eine dem jüdischen Wesen innewohnende “Artbeschaffenheit ihres Handelns3 entdeckt, eine außerordentliche Eignung für kapitalistisches Wirtschaften4. Dem Juden wird hierbei ein konstanter geistiger Typus zugeschrieben. Drei Formen der geistigen Beweglichkeit hält der Nationalökonom Werner Sombart in diesem Zusammenhang für wesentlich: Der “Intellektualismus” des Juden befähige ihn, gesellschaftliche Konstellationen, von denen er als ‚Fremder‘ weitgehend unberührt bleibt, hinsichtlich ihrer spezifischen Logik zu durchschauen, sich ihnen anzupassen und aus ihnen Nutzen zu ziehen. Sein “Teleologismus” verpflichte ihn zu rein materiellen Zielsetzungen, welchen er sich “hartnäckig und ausdauernd” widme. Schlussendlich ermögliche sein “Voluntarismus” dem Juden, immer auf sein Ziel konzentriert sich über jegliche moralischen Bedenken hinwegzusetzen und eine prinzipienlose Geschäftstüchtigkeit bis zur Selbstverleugnung zu betreiben.5 Die solchermaßen als wesentlich jüdisch definierte Macht scheint also an die Selbstaufgabe gekoppelt. Nach Otto Weininger ergibt sich aus dem, dem Juden innewohnenden “Mangel an Bewußtsein eines Selbst” ein “gewaltsame[s] Bedürfnis nach Steigerung des Wertes der eigenen Person durch Erniedrigung der Nebenmenschen, denn der echte Jude hat kein Ich und damit auch keinen Eigenwert.”6 Aufgrund der “jüdische[n] Arroganz” fehle es ihm an “Würde des eigenen und Achtung des fremden Ich7”.

In den antisemitischen Schriften gibt es ein besonders prägnantes Bild für die im Inneren einer Gesellschaft bzw. des nationalen Kollektivs auftretende Differenz: das Bild des Parasiten8. Die jüdische Form der Erwerbstätigkeit sei ein “parasitäres Wirtschaftsverhalten9. Auf dieser Stereotype basieren die, vor allem im Nationalsozialismus geprägten Gegenbilder vom “raffenden” (jüdischen) und “schaffenden” (deutschen) Kapital - bzw. von der ‚volksschädlichen‘, weil ‚parasitären‘ und der ‚gemeinschaftlich-produktiven‘ Arbeit10.

Für Eugen Dühring war die ‚Judenfrage‘ keine Frage des Unterschiedes von ‚Rassen‘ oder Geistesrichtungen, sondern eine Frage der “Rassenschädlichkeit”: “Der Jude schleicht mehr der allgemeinen Corruption nach, die er irgendwo findet oder wittert, um es mit ihr zu machen wie mit Allem, - nämlich um sich und seine auserwählt selbstsüchtigen, meist geschäftlichen Zwecke und für seine eigene Art von Corruption auszubeuten. Der Jude ist demnach an seinem eigensten Platze, wo er der Parasit einer bereits vorhandenen oder sich ankündigenden Corruption zu werden vermag.11 Der Jude wird so im antisemitischen Diskurs zum Inbegriff einer Abweichung von der Norm und muss, aufgrund seiner Schädlichkeit zuerst markiert, enttarnt und schlussendlich vernichtet werden – dies geschieht mit dem Anspruch der überlebensnotwendigen “biologischen Selbststärkung12. Der Ritualmordmythos, der besagt, dass “Juden christliche Kinder entführen und töten um deren Blut für religiöse Zwecke zu verwenden13 ist eine Parabel zum parasitenhaften Juden, die sich im Gesellschaftsdiskurs mehr oder minder abgemildert seit dem 13. Jahrhundert hält14. Der Jude stellt sich im Antijudaismus wie auch im modernen Antisemitismus als ein blutrünstiger Schlächter dar.

1.b Ehrl-König: Ich-loser Parasit im deutschen Literaturbetrieb

Das Stereotyp des Juden als Ich-loser Gestalt, die sich nur mit Demütigung und Ausbeutung des Anderen erhalten kann, ist eines, welches sich ganz klar in André Ehrl-König wiederfindet: ihm fehlt das Ich, er hat nichts Authentisches an sich, zumindest nichts, was ihn zu einer solch mächtigen Position im Literaturbetrieb brächte. Er besitzt keinen Eigenwert, denn alles an ihm ist angelernt und adaptiert. Darum ist er nicht nur mächtig sondern vielmehr identisch mit der Macht. Ehrl-Königs bloße Form imitiert die Abstraktheit, die die Macht im Kapitalismus angenommen hat, die abstrakte Form des Wertes15, des Unterhaltungswertes. Um überhaupt erst eine Identität zu erlangen, muss er unverkennbare Züge einüben denen es dem Juden ermangelt, sich aus einfachsten Versatzstücken immer wieder reproduzieren, aus dem Repertoire, das ihm zur Verfügung gestellt wird, seine leere, charakterlose Hülle füllen. Erst so bekommt der abstrakte Ehrl-König einen konkreten Umriss, einen Wiedererkennungswert.

Ehrl-König ist auf die Ausbeutung der Kreativität, der Arbeit Anderer angewiesen. Im Gegensatz zu den deutschen Schriftstellern, etwa seinem charismatischen Counterpart Hans Lach, entspringt der Einfluss des Kritikers nicht aus Persönlichkeit, verdienter Autorität oder eigener Kompetenz. Im Gegenteil. Mit dem Aneignen, Vernichten, Aussaugen der ihm äußerlichen deutschen Literatur, auf die er, trotzdem er eine prinzipielle Abneigung gegen sie hat, spezialisiert ist. So besteht der Kritiker nur durch seine Schädlichkeit. Er ist ein Parasit im deutschen Literaturbetrieb. Er profitiert nicht nur von fremder Kreativität, sondern profiliert sich auf Kosten der deutschen Literatur. Indem er die Macht hat deren Produkte unwiderspochen für seine Zwecke zu benutzen, sie zu verreißen, sie abzuschlachten, existiert er nur als Drohung, als Angstmachendes, Vernichtendes. Er hat die Funktion des jüdischen Schlächters im deutschen Literaturbetrieb. Durch seine quälende Anmaßung, seine Herabsetzungslust, seine parasitenhafte Schädlichkeit am deutschen Literaturkörper produziert Ehrl-König seine Mörder.

2

Ehrl-König, sagt eine Bekannte, verkörpere “das Gute schlechthin, immer im Dienste der Aufklärung.” (74)

Nietzsche hat sich fürchterlich überschätzt, als er verkündete, die Umwertung aller Werte vorangebracht zu haben, bürgerlich befangen, wie er nun einmal war, hat er nicht gemerkt, dass alles so weiterging wie immer! Die Umwertung aller Werte [...], die hat Ehrl-König vollbracht [...]. Bei diesem epochalen Reinemachen ist nur ein Wert übriggeblieben als der Wert aller Werte, und außer ihm ist nichts: der Unterhaltungswert. Quote, mein Lieber. Jeden Abend Volksabstimmung. Die Demokratie des reinen Werts. Endlich. Quod licet bovi non licet jovi.16 (116/117) Ehrl-König habe “aus der Ästhetik eine Moral gemacht. Die Moral des Gefallens, des Vergnügens, der Unterhaltung. Die Pleasure-Moral. Was mich nicht unterhält, ist schlecht.” (73) Gegen Ende des Buches steht ein fiktionaler Text von Hans Lach, der im Jahre 2048 spielt: “Die E-O-Kultur war da. [...] Ejakulationen und Orgasmen [...] Mit der E-O-Kultur wurde das Schreiben in bestimmten Kreisen epidemisch. Dadurch wurden die Kritiker wichtiger, als sie es je gewesen waren, wichtiger als die Schreibenden. [...] Als die E-O-Kultur global blühte, hatten einundsiebzig Prozent der Bevölkerung aufgehört zu lesen [...].” Dass die Kritiker noch lesen konnten “verschaffte ihnen eine Art religiöser Gewalt.” Das “Event schlechthin”, war eine Fernsehsendung, in der die letzten Literaten ihre Werke rezitierten und dafür gewertet wurden, ein “Wettkampf im Auffallen”. “Auch Onanieren kam vor. Aber nur der erste, der vor laufender Kamera lesend onanierte und ejakulierte, bekam den Publikumspreis.” Über einen der vier mächtigsten Kritiker heißt es: “Der Aal ließ, während er litt oder jubilierte, sein Geschlechtsteil zoomen. Und was dann zu sehen war, war Wirkung von Literatur.” (202-206)

2.a Der Jude als Personifizierung der kulturlosen, weiblich-definierten Moderne

Die Genese des Kapitalismus und der damit einhergehenden selbstsüchtigen Wirtschaftsmentalität, der Übergang der vormodernen zu modernen Gesellschaften ist geprägt von einer Frontstellung gegen den ‚Geist‘ des Kapitalismus – die Judenfrage steht hierzu in einem konstitutiven Zusammenhang17. Der moderne Antisemitismus ist ein Ausdruck des Prinzips bürgerlicher Kälte, der selbstzerstörerischen Dialektik bürgerlich-kapitalistischer Ausgrenzungs- und Verwertungsrationalität, des “Fortschritt[s] der barbarischen Beziehungslosigkeit18 und der herrschaftlichen Objektifizierung der Anderen (von der “racial science” bis zum Staatsbürgerschaftsrecht).

In seinen Untersuchungen zur Entstehungsgeschichte des Kapitalismus widmet sich Werner Sombart eingehend den Differenzierungslinien, die vormoderne von moderner Wirtschaftsgesinnung trennen, wobei er im Juden die Urgestalt kapitalistischen Unternehmertums entdeckt. Sombart kommt, indem er das spezifisch jüdische Wesen im sich Hinwegsetzten über jedwede moralische Bedenken zum alleinigen Zwecke der Maximierung des materiellen Nutzen “bis zur Selbstverleugnung19 erkennt, zu dem Schluss, “daß die Grundidee des Kapitalismus und die Grundidee des jüdischen Wesens in wahrhaft überraschendem Umfange übereinstimmen.20 Mit dem Heranbrechen der kapitalistischen Moderne verschärfe sich die Konfrontation der kapitalistischen “Erwerbswirtschaft” mit der vorkapitalistischen “Bedarfsdeckungswirtschaft”. Diese Dualität lässt Sombart das Entstehen des Kapitalismus als kulturelle Verfallsgeschichte des Ökonomischen sehen, durch die fortschreitende Überwucherung des gegebenen Bedarfs durch eine kapitalistische Erwerbsorientierung weit über den Bedarf hinaus. Luxus wird im antimodernistischen Diskurs als weiblich- bzw. jüdisch-parasitäre Eigenschaft der ‚entarteten‘ Bourgeoisie imaginiert21.

Ich wünschte, dass die ‚Verjudung‘ so breiter Gebiete unseres öffentlichen und geistigen Lebens ein Ende nehme: zum Heil der deutschen Kultur22, schreibt Sombart. ‚Verjudung‘ meint die “kulturwidrige Veräußerlichung und Verflachung23 des traditionellen Kulturbetriebs durch dessen zwangsweise Unterordnung unter das Diktat des jüdisch-kapitalistischen Unternehmergeists, der Verwertbarkeit, sprich: des abstrakten Wertes. Richard Wagner kommt zum selben Schluss: am “Verfall unserer Kultur24 seien die Juden schuld. Als völkisches Gefühl bildet der Antisemitismus eine letzte natürliche Instanz im Menschen – “eine schon durch ihre eigene Existenz hinreichend legitimierte instinkthafte Reaktion auf die moderne jüdisch dominierte Kultur.25.

Für Alice Salomon ist das Wesen der kulturellen Verflachung eine um sich greifende “grenzenlose Genußsucht26, die parasitäres Wirtschaftsverhalten nach sich ziehe. Der Aufbruch in die Moderne stellt sich als Manifestierung der “Koitus-Kultur27 dar, einer traditionslosen, als jüdisch-weiblich definierten Moderne. Otto Weininger: “Jüdisch ist der Geist der Moderne. Die Sexualität wird bejaht und die heutige Gattungsethik singt zum Koitus den Hymenaios28. In diesem Zusammenhang von Sexualität und Kultur ist auch Hans Blühers Theorie zu lesen, nach der “die Kultur [...] verursacht [ist] durch die Verdrängung der Sexualität.29 Die jüdisch definierte inflationäre Sexualität30, meint das, wirkt als Kultur-Vernichter und wird so zum ‚Volksfeind‘.

Im antirationalistischen Widerstand gegen die moderne industrialisierte Kultur liegt auch für den völkischen Schriftsteller und Kulturpessimisten Wilhelm Stapel der “Ursprung des Antisemitismus31. Der Antimodernismus, ein fester Bestandteil antiwestlicher oder -amerikanischer Einstellungen, ist in seinen verschiedensten Formen bis heute ein Chiffre für Antisemitismus geblieben. Der Jude ist die Personifizierung der modernen Kulturindustrie, als Symbol für Entdifferenzierung ist er exakt an den Krisenpunkt der symbolischen Ordnung der Moderne gebannt, als Zergliederer steht er den gewachsenen Kulturstrukturen entgegen und wird als deren Vernichter imaginiert.

[...]


1 Martin Walser: Tod eines Kritikers. Frankfurt/ Main 2003, 3. Auflage.

2 beispielhaft zu nennen sei hier die Drohung des mutmaßlichen Mörders Hans Lach, die er an den jüdischen André Ehrl-König richtet: “Ab heute Nacht Null Uhr wird zurückgeschlagen.” (10). Diese Hitlerparaphrase steht zusammenhang- und bezuglos im Roman, wird auch nicht wieder aufgegriffen. S.V.

3 Werner Sombart: Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 1. Leipzig 1916, 899f. Zitiert nach: Susanne Omran: Frauenbewegung und “Judenfrage”. Diskurse um Rasse und Geschlecht nach 1900. Frankfurt/ Main 2000, 195

4 siehe zur näheren Erläuterung in diesem Text auch das Kapitel: 5.a

5 Vgl. dazu: Werner Sombart: Die Juden und das Wirtschaftsleben. Leipzig 1911, 323ff

6 Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung. München 1980, 412

7 Ebd., 412

8 Vgl. dazu: Arno Schickedanz: Sozialparasitismus im Völkerleben. Leipzig 1927

9 Susanne Omran: Frauenbewegung und “Judenfrage”. Diskurse um Rasse und Geschlecht nach 1900. Frankfurt/ Main 2000, 181

10 Vgl. dazu: Jürgen Elsässer, Andrei S. Markovits (Hrsg.): “Die Fratze der eigenen Geschichte”. Von der Goldhagen-Debatte zum Jugoslawienkrieg. Berlin 1999, Kapitel: Deutsche Arbeit und eliminatorischer Antisemitismus, 103ff

11 Eugen Dühring: Die Judenfrage als Frage der Racenschädlichkeit für Existenz, Sitte und Cultur der Völker. Karlsruhe 1886, 7f

12 Michel Foucault: Leben machen und Sterben lassen. Die Geburt des Rassismus. In: Bio-Macht. Duisburg 1992, 45

13 Wolfgang Wippermann: Wie die Zigeuner. Antisemitismus und Antiziganismus im Vergleich. Berlin 1997, 26

14 Vgl.: Ebd.

15 Siehe zur näheren Erläuterung in diesem Text auch das Kapitel: 5.a

16 mit der Philosophie der “Umwertung aller Werte” kreierte Nietzsche einen moralisch ungebundenen “Übermenschen”, der durch den “Willen zur Macht” sich selbst und die Sinngebung der “ewigen Wiederkehr des Gleichen” überwindet. Besonders perfide ist diese Passage, da sie behauptet, der Antimoralist und Vordenker der Naziideologie Nietzsche sei zu sehr in den bürgerlichen Werten befangen gewesen, um dieses Werk vollbringen zu können. Der Jude Ehrl-König aber habe dies nun zu ende geführt. Es ist dies ein unverblümtes Motiv des sekundären Antisemitismus, der ‚Juden‘ mit dem Nationalsozialismus vergleicht, die Opfer- und Täterrollen schlicht vertauscht. Vgl. dazu: “Die Fratze der eigenen Geschichte” . Kapitel: Die Walserisierung der Berliner Republik. Die Renaissance des Nationalen und der sekundäre Antisemitismus.

17 siehe zur näheren Erläuterung in diesem Text auch das Kapitel: 5.a, 1.a

18 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt/ Main 1969, 169

19 Werner Sombart: Die Juden und das Wirtschaftsleben. 328

20 Ebd., 328

21 Vgl. dazu: Susanne Omran: Frauenbewegung und “Judenfrage”. Kapitel: Frauen, Juden und die Genese des Kapitalismus. Parasiten des Luxus: der “Bourgeois” und die “Dame”, 182ff

22 Werner Sombart: Artvernichtung oder Arterhaltung. In: Der Jud ist schuld...? Diskussionsbuch über die Judenfrage. Wien 1932, 96

23 Alice Salomon: Die Frau und die Arbeit. In: Die Frau. Jahrg. 18. 1910/1911, 579

24 Richard Wagner: Aufklärung über “das Judentum in der Musik. In: Richard Wagner: Gesammelte Schriften und Dichtungen. Bd. 8. Leipzig 1873, 322

25 Susanne Omran: Frauenbewegung du “Judenfrage”, 28

26 Alice Salomon: Die Frau und die Arbeit, 579

27 Otto Weininger: Geschlecht und Charakter, 409

28 Ebd., 441

29 Hans Blüher: Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft. Eine Theorie der menschlichen Staatsbildung nach Wesen und Wert. Jena 1919. Bd. 1, 70

30 siehe zur näheren Erläuterung in diesem Text auch das Kapitel: 3.a, 3.b

31 Wilhelm Stapel: Recht und Unrecht des Antisemitismus. In: Antisemitismus und Antigermanimus. Über das seelische Problem der Symbiose des deutschen und des jüdischen Volkes. Leipzig 1928, 67-90. Zitiert nach: Susanne Omran: Frauenbewegung und “Judenfrage”, 28

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Antisemitismus und Frauenhass - Eine exemplarische Untersuchung von Martin Walsers "Tod eines Kritikers"
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin
Veranstaltung
Männerbund- und Männlichkeitskonstruktion
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
22
Katalognummer
V65257
ISBN (eBook)
9783638578714
Dateigröße
523 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Antisemitismus, Frauenhass, Eine, Untersuchung, Martin, Walsers, Kritikers
Arbeit zitieren
Sonja Vogel (Autor:in), 2004, Antisemitismus und Frauenhass - Eine exemplarische Untersuchung von Martin Walsers "Tod eines Kritikers" , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/65257

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