Die Schatten des klassischen Film Noir sind lang - und das nicht nur in einer zeitlichen, sondern auch in einer räumlichen Dimension. In der Zeit nach Orson Welles Epitaph TOUCH OF EVIL hatte der Neo-Noir den Weg angetreten, das reiche Erbe des klassischen Film Noir an narrativen und stilistischen Konventionen fortzuführen, und konnte sich auf seinem langen Weg von einem nationalen zu einem internationalen Phänomen entwickeln. Da sich die filmwissenschaftlichen Diskurse über das Noir-Phänomen bislang ausschließlich auf die amerikanische und europäische Filmlandschaft bezogen haben, ist eine analytische Auseinandersetzung mit dem asiatischen Kino bisher ausgeblieben. Dass sein „universal appeal“ aber auch vor dem Hongkong-Kino keinen Halt machte, verdeutlicht und analysiert die Arbeit anhand einer detaillierten und aufschlussreichen Filmanalyse von John Woos kantonesischem Meisterwerk THE KILLER. Der Autor nimmt dabei zunächst Rekurs auf den klassischen Film Noir und gibt einen ausführlichen Überblick über die Komplexität und Vielschichtigkeit seiner Erscheinungsformen sowie die damit verbundenen Definitionsprobleme für die Filmwissenschaft. Zudem werden die entstehungsgeschichtlichen Kontextbedingungen und die damit verbundenen Einflussnahmen auf seine einzigartige Erscheinungsform behandelt. Dabei werden sowohl soziokulturelle und gesellschaftspolitische Einflüsse als auch filmhistorische und literarische Beeinflussungen aufgezeigt, die seine narrativen und ästhetischen Verfahrensweisen sowie seine charakteristischen Figurentypen nachhaltig prägten. Daneben wird der visuelle Stil des Film Noir ebenso beleuchtet, wie die vielfältigen und Wesensbestimmenden narrativen Strukturelemente und die charakteristischen Handlungsmotive. Darüber hinaus verfolgt der Autor die Metamorphose eines nicht einvernehmlich klassifizierbaren Phänomens zu einem allgemein anerkannten Genre Neo-Noir und zeigt in einem Exkurs zur Selbstreflexivität im Neo-Noir-Film das postmoderne Zitatenspiel des neuen Genres auf. Ausgehend von dieser etablierten Analysegrundlage folgt die fundierte Auseinandersetzung zu John Woos Film THE KILLER, die durch zahlreiche Abbildungen, ein ausführliches Sequenzprotokoll und eine umfangreiche Literaturliste abgerundet wird.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Einführung
1.2 Aufbau
2. Was ist Film Noir?
2.1 Erste Annäherungen
2.2 Begriffsgenese
2.3 Genre, Stil und/oder Bewegung?
3. Die Wurzeln des Film Noir
3.1 Historische Einflüsse
3.2 Literarische Einflüsse
3.3 Filmische Einflüsse
4. Die Protagonisten im Film Noir
4.1 Männliche Protagonisten
4.2 Weibliche Protagonisten
5. Der visuelle Stil des Film Noir
5.1 Low-Key vs. High-Key
5.2 Schatten und Silhouetten
5.3 Expressive Kamerapositionen
6. Die narrativen Strukturen des Film Noir
6.1 Voice-over und Rückblende als Geständnis
6.2 Investigative Rückblenden und voice-over
6.3 Das Ende des Happy-Ends
6.4 Die auditive Ebene
7. Die Handlungsmotive des Film Noir
7.1 Der Handlungsort
7.3 Die Darstellung von Gewalt
7.4 Doppelgänger, Spiegel und Porträts
8. Vom Film Noir zum Neo-Noir
8.1 Die Entwicklungsphasen des klassischen Film Noir
8.2 Film Noir wird Genre
8.3 Die Entwicklungsphasen des Neo-Noir
9. John Woos The Killer: Ein Hongkong Neo-Noir
9.1 Biographie und Werkbeschreibung von John Woo
9.2 Exkurs: Selbstreflexivität im Neo-Noir
9.3 Selbstreflexivität und Intertextualität in The Killer
9.4 Protagonisten in The Killer
9.5 Visualität in The Killer
9.6 Narrative Strukturen in The Killer
9.7 Handlungsmotive in The Killer
10. Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
Anhang
Abbildungen
1. Einleitung
1.1 Einführung
Die Schatten des Film Noir sind lang – und das sowohl in einer zeitlichen wie auch in einer räumlichen Dimension. So schafften sie es nicht nur von Beginn der 40er Jahre bis in die Gegenwart zu überdauern, sondern breiteten sich auch von Amerika bis nach Hongkong aus. Standen anfangs Regisseure wie John Huston, Billy Wilder und Orson Welles für das Noir-Phänomen, so scheint auch John Woo seit 1989 zu den Anhängern der filmischen Schwarzmalerei zu zählen. Während in den 40er Jahren in Amerika bedingt durch den Zweiten Weltkrieg ein Klima der fortschreitenden Verunsicherung und Desillusionierung vorherrschte, breitete sich in Hongkong ab Mitte der 80er Jahre, durch die nahende Wiedervereinigung der britischen Kronkolonie mit der Volksrepublik China, eine ähnlich pessimistische Grundstimmung innerhalb der Gesellschaft aus. Der 1. Juli 1997, als festgesetztes Datum für die Rückgabe, schwebte wie ein drohender Schatten über den Bürgern, die sich mit einer ungewissen politischen Zukunft konfrontiert sahen und brachte nach Tony Williams „deep concern to both citizens and the artistic community.“[1] Wie schon die amerikanischen Filmschaffenden Jahrzehnte zuvor, hätten auch die Regisseure Hongkongs im Film Noir ein probates Mittel finden können, um ihren Ängste und Sorgen einen Ausdruck zu verleihen. Besonders John Woo, der bereits 1987 mit seinem Film A Better Tomorrow die Konventionen des kantonesischen Gangsterfilms neu definiert hatte, schien mit den Prinzipien des Noir-Films bestens vertraut gewesen zu sein, da er ein großer Verehrer Jean-Pierre Melville war, der wie die jungen Regisseure der Nouvelle Vague erheblich vom Film Noir beeinflusst worden war. „I deeply fell in love with Jean-Pierre Melville’s films […] and all the films made by the French New Wave directors. […] The French New Wave had not only changed the cinematic world, but they influenced me a lot”[2], erklärte Regisseur Woo in einem Interview mit Robert K. Elder. So konzipierte er sein 1989 erschienenes Meisterwerk The Killer (Diexeue Shuang Xiong) als eine Hommage an den Film Le Samourai (Jean-Pierre Melville, 1967), dessen Autor in den 60er und 70er Jahren zum Inbegriff des französischen Film Noir avancierte. In seinen nihilistisch-existentialistischen Geschichten, eingebettet in das Topos des Gangsterfilms, in denen das Verbrechen und das Töten zum Handwerk eiskalter Profis wurde, schrieb Melville die charakteristischen Verfahrensweisen des Film Noir fort, die sein Landsmann Nino Frank 1946 erstmals in seinem Zeitungsartikel Un nouveau genre policier: L’aventure criminelle[3] aufgezeigt hatte. Während die Franzosen in den 50er Jahren den Film Noir feierten, erblickten zeitgleich auf der anderen Seite des Atlantiks immer neue Filme das Licht der Leinwand, die die Konventionen des Genres bedienten ohne es zu wissen. Erst gegen Ende der 60er Jahre sollte sich der Begriff auch im Ursprungsland der Filme etabliert haben – und das, obwohl die klassische Periode des amerikanischen Film Noir zu diesem Zeitpunkt mit Toch of Evil (Orson Welles, 1958) bereits längst ihren letzten visuellen Höhepunkt gefunden hatte. Von den Kinoleinwänden war das Noir-Phänomen dennoch nicht wegzudenken. Vielmehr begegnete der aufmerksame Cineast auch weiterhin zynischen und pessimistischen Geschichten über gebrochene Charaktere, die mit einer bedrohlichen und unüberschaubaren Welt konfrontiert werden und dabei unausweichlich ihrem fatalistischen Schicksal entgegensteuern. In der Zeit nach 1958 trat der Neo-Noir das reiche Erbe an narrativen und stilistischen Konventionen an und begann seinem langen Weg von einem nationalen zu einem internationalen Phänomen, das schließlich die Kinos der Welt erobern sollte. James Naremore stellt dazu fest: „The characteristic features of film noir have been produced by […] nearly every cinema in the world.“[4] Dass sein „universal appeal“[5] auch vor dem Hongkong-Kino keinen Halt machte, soll in der vorliegenden Magisterarbeit exemplarisch anhand der Analyse von John Woos The Killer (1989) aufgezeigt werden. Angesichts der überaus vielschichtigen Komplexität des Film Noir, aufgrund seiner unterschiedlichen Themen, Motive und filmästhetischen Stilisierungen, konnte bis heute innerhalb der Filmwissenschaft keine allgemeingültige Definition gefunden werden. So formuliert Dale E. Ewing: „[T]he term film noir has been applied too loosely to give us an accurate definition of the subject.“[6] Es empfiehlt sich daher, zunächst eine konkrete Analysegrundlage zu schaffen, um einer definitorischen Beliebigkeit entgegenzuwirken. Die vorliegende Arbeit wird deshalb, ganz im Sinne der von Joan Copjec formulierten Maxime des „retheorizing“[7], eine möglichst genaue und zeitgenössische Beschreibung der einzelnen narrativen und ästhetischen Kennzeichen des Film Noir liefern, die in der sich anschließenden Untersuchung von John Woos Film The Killer zum Tragen kommen soll.
1.2 Aufbau
In Kapitel 2 wird zunächst ein ausführlicher Überblick über die Komplexität und Entstehungsgeschichte des Film Noir, sowie die damit verbundenen Definitionsprobleme für die Filmwissenschaft gegeben. Abschnitt 2.1 versteht sich als eine erste Annähung an das Phänomen im Allgemeinen, während im anschließenden Abschnitt 2.2 die Entstehungsgeschichte des Begriffs nachvollzogen wird. Die damit eng verbundene und bis heute unabgeschlossene Diskussion innerhalb der Filmwissenschaft, ob der Film Noir als Genre oder filmische Bewegung einzuordnen sei, wird im sich anschließenden Abschnitt 2.3 aufgezeigt, indem die unterschiedlichen Klassifizierungsansätze einander gegenüber gestellt und genauer betrachtet werden. Kapitel 3 behandelt die entstehungsgeschichtlichen Kontextbedingungen und die damit verbundenen Einflussnahmen auf seine einzigartige Erscheinungsform. Dabei werden sowohl die soziokulturellen und gesellschaftspolitischen Einflüsse (3.1), als auch die filmhistorischen (3.2) und literarischen Beeinflussungen (3.3) aufgezeigt, die seine narrativen und ästhetischen Verfahrensweisen, sowie seine charakteristischen Figurentypen, nachhaltig prägten.
Auf diese besonderen Noir-Protagonisten wird im folgenden Kapitel 4 näher eingegangen. Nach einer Präsentation der unterschiedlichen männlichen Helden bzw. Antihelden, mit ihren wesensbestimmenden Charaktereigenschaften (4.1), folgt eine Betrachtung der unterschiedlichen Formen von Weiblichkeit und den mit ihnen verbundenen Darstellungskonventionen (4.2).
Im 5. Kapitel wird der visuelle Stil des Film Noir mit seinen verschiedenen filmästhetischen Stilisierungsverfahren beleuchtet. Neben der typischen low-key-Lichtsetzung (5.1), sowie die daraus resultierenden Schattenbilder und Silhouetten (5.2), werden ebenso die bevorzugten expressiven Kamerapositionen (5.3) dargestellt.
Kapitel 6 gibt einen Überblick über die vielfältigen narrativen Strukturelemente. Während in den Abschnitten 6.1 und 6.2 die unterschiedlichen Rückblendeverfahren erläutert werden, gehen die Abschnitte 6.3 und 6.4 auf das nicht vorhandene Happy End und die Instrumentalisierung der auditiven Ebene ein.
Das nachfolgende Kapitel 7 beschreibt die charakteristischen Handlungsmotive des Film Noir, wie seine verschiedenen Schauplätze (7.1), das Element einer konstanten und expressiven Gewaltdarstellung (7.2), sowie die charakteristischen Doppelgängerstrukturen und Abbildungsverfahren im Porträt und Spiegel (7.3).
Kapitel 8 verfolgt die Evolution von dem frühen Noir-Phänomen zum gegenwärtigen Neo-Noir. Dabei werden zunächst die einzelnen Entwicklungsphasen von 1941 bis 1958 aufgezeigt (8.1.1 - 8.1.3), während in Abschnitt 8.2 die Metamorphose von einem nicht einvernehmlich klassifizierbaren Phänomen zu einem allgemein anerkannten Genre Neo-Noir vollzogen wird, das ebenfalls verschiedene Phasen und Ausprägungsformen in seiner Entwicklung bis zur Gegenwart durchlaufen hat (8.3.1–8.3.3).
Im 9. Kapitel wird nach einer biographischen Werkbeschreibung des Regisseurs, die sowohl die gesellschaftspolitischen als auch filmischen Einflüsse auf John Woo verdeutlichen soll (9.1), ein Exkurs zu den selbstreflexiven Verfahrensweisen eines Neo-Noir-Films vorgenommen (9.2-9.3), dem anschließend die eigentliche Hauptuntersuchung des Films folgt (9.4-9.7). Dabei dienen die in den Kapiteln 4 bis 7 herausgearbeiteten Kennzeichen eines Film Noir als Analysegrundlage für die Arbeit. Dazu gibt es im Anhang ein Sequenzprotokoll und Abbildungsverzeichnis, das es dem Leser ermöglicht, die dargelegten Beobachtungen und die damit verbundenen Thesen nachzuvollziehen und empirisch einzuordnen. Die Abbildungen sowie das Sequenzprotokoll basieren auf der Laser Paradise DVD Doppel Edition des Films The Killer. Abschließend werden die gewonnenen Erkenntnisse nochmals zusammengefasst und diskutiert (10).
2. Was ist Film Noir?
„The Americans made it and then the French invented it.”[8]
2.1 Erste Annäherungen
Film Noirs: Düstere, zynische und pessimistische Kriminalfilme aus einem Hollywood der 40er und 50 Jahre, die von der Kehrseite des „American Way of Life“ erzählten – von „Horrortrips zu den Randzonen einer Gesellschaft, deren moralische Kategorien angesichts ihrer politischen, ökonomischen und ideologischen Krisen versagen.“[9]
Film Noir: Ein expressives Verfahren aus Licht- und Schattenspiel, „a descriptive term for the American crime film as it flourished, roughly, from the early forties to the late fifties”[10] – als „ein poetisches Verfahren, dass [sic] signifikant von den bekannten Mustern des klassischen Erzählfilms abweicht.“[11] Es waren düstere Filme in denen Gut und Böse, Moral und Amoral nicht mehr von einander getrennt waren und aus dem einstigen Mythos Hollywood, mit seinen Helden als ewigen Siegern, nun Verlierer werden ließ – „gebrochene Charaktere, Einzelgänger, Gescheiterte, Pessimisten […], nie ganz gut, nie ganz böse, immer ambivalent.“[12] Diese Antihelden waren Gebrandmarkte, Außenseiter und Schattenwesen, deren Vergangenheit unweigerlich mit ihren unaufhaltsamen Schicksalen verbunden war und die dabei zugleich den essentiellen Kern bildete, um den ihre fatalistischen Lebensgeschichten kreisten. So sehr sie sich auch wehrten den Schicksalsschlingen ihrer Vergangenheit zu entkommen – „film noir heroes can never escape their past“.[13]
Diese Filme verklärten nicht mehr das Leben, träumten nicht länger von der großen Chance durch Tat und Eroberung, wie es stets das urtypische amerikanische Genre des Western propagierte – sie reflektierten stattdessen die finsteren Seiten einer bedrohlichen Welt, voll von Verrat, Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit. Film Noirs schufen düstere und abgründige Welten, „where people were […] deceitful and rotten […] a world where the opposite sex, especially women, was to be distrusted, often with good reason.”[14] Diese Filme waren „ein Kino der Angst-, Nacht- und Schattenseiten, der psychischen und charakterlichen Deformation der Helden und der Gesellschaft im Ganzen“[15], und bildeten damit einen „Gegenentwurf zu den realistischen Entwürfen und filmischen Errettungen einer idealisierten Wirklichkeit, der sich nicht länger mit der Re-Affirmation einer wie auch immer idealisierten Welt- und Gesellschaftsordnung zufrieden gab.“[16]
Immer stärker entwickelte sich der Film Noir zum Ausdrucksmittel einer großen Depression in der Gesellschaft, indem er die Desillusionierung und Ängste eines Landes während der Kriegs- und Nachkriegszeit reflektierte. „Der Film noir handelt immer von einer Krisensituation. […] Die Krisen sind psychologisch motiviert und verweisen auf eine tiefere allgemeine Krise gesellschaftlicher oder existentieller Art.“[17] Trotz seines vermeintlichen Status als „unique example of a wholly American film style [...] as a singular position in the brief history of American motion pictures”[18] entstand der Film Noir aber keineswegs strategisch oder stringent. Er vereinte eine Vielzahl verschiedener Genres (Melodram, Detektiv- und Kriminalfilm, Polizei und Gangsterfilm) und seine Wurzeln reichten noch vom deutschen expressionistischen Stummfilm der Weimarer Republik über den Poetischen Realismus bis hin zur Schule der hartgesottenen amerikanischen Kriminalbuchautoren der 30er und 40er Jahre.
Zwischen The Maltese Falcon (John Huston, 1941) und Touch of Evil (Orson Welles, 1958) entstand ein schwarzes Universum, in dem „die fragile Helligkeit ständig in Gefahr [war] von der Dunkelheit aufgezehrt zu werden.“[19]
2.2 Begriffsgenese
Sommer 1946: Die Cinémathèque Française ermöglichte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, mit ihren Retrospektiven amerikanischer Produktionen, Filmgeschichte in konzentrierter Form nachzuholen.[20] Filme wie The Maltese Falcon (John Huston, 1941), Double Indemnity (Billy Wilder, 1944), Laura (Otto Preminger, 1944), Murder, My Sweet (Edward Dmytryk, 1944) und The Woman in the Window (Fritz Lang, 1945) kamen nun erstmals nach der deutschen Okkupation in die Pariser Kinos und boten der intellektuellen Filmkultur, die von einer aufkommenden „noir sensibility“[21] geprägt war, die kritische Auseinandersetzung mit dem damaligen „wartime cinema“ Hollywoods. Der französische Filmkritiker Nino Frank prägte im Juli 1946 in seinem Artikel Un nouveau genre policier: L’aventure criminelle[22] erstmals den Begriff des Film Noir – parallel zu der nach dem Kriegsende in Frankreich erschienen Buchreihe Série noire.[23] Für Nino Frank markierten diese Filme nicht nur eine inhaltliche und strukturelle Veränderung innerhalb des Kriminal- und Detektivfilm-Genres, sie wurden für ihn ebenso durch das Moment des kriminellen Abenteuers und des psychologisierten Verbrechens erweitert. Die Konstruktionsprinzipien des traditionellen Kriminalfilms, nach den Methoden des klassischen whodunit, dessen stereotype Frage die Erzählung stets determinierte, waren in diesen neuen Filmen durch die psychologischen Motivationen der Protagonisten ersetzt worden:
La question essentielle ne consiste plus à découvrir qui a commis le crime. mais à voir comment va se comporter le protagoniste; il n’est même plus indispensable de comprendre en detail les aventures auxquelles il est mêlé […], seule importe la psychologie énigmatique des uns et des autres, à la fois amis et ennemis.[24]
Für Nino Frank bestand die wesentliche Frage der Film Noirs nicht mehr darin im deduktiven Moment aufzudecken, wer das Verbrechen begangen hatte, sondern im Verhalten der Figuren, ihrer „psychologie criminelle“, dem Erlebbarmachen der Ängste und Verzweiflungen der jeweiligen Protagonisten.[25]
1955 veröffentlichten die Franzosen Raymond Borde und Etienne Chaumeton mit ihrem Buch Panorama du film noir américain[26] die erste zeitgenössische Studie zum Film Noir. Wie schon zuvor Nino Frank definierten auch sie die Filme auf der Grundlage von erzähltechnischen und motivanalytischen Kategorien:
[L]’ambivalance morale, la violence criminelle et la complexité contradictoire des situations et des mobiles concourent à donner au public un même sentiment d’angoisse ou d’insécurité, qui est la marque proper du film noir à notre époque.[27]
Sie warfen erstmals Fragen nach einer Klassifizierung dieses einzigartigen Phänomens und seines filmhistorischen Status als Genre, Stil oder filmischen Ausdruck des Zeitgeistes auf. Während die französischen Filmkritiker von der neuen progressiven Noir-Methapher fasziniert waren und sich mit Werken von Regisseuren, wie Nicholas Ray, Robert Siodmak, Fritz Lang und Anthony Mann, befassten, ignorierte die amerikanische Filmwissenschaft den Forschungsgegenstand über Jahrzehnte.[28] Es dauerte bis zum Ende der 60er Jahre, bis die amerikanische Filmkritik die Anstöße der französischen Kollegen aufgriff und der Terminus Film Noir auch im englischsprachigen Raum populär wurde. Charles Higham und Joel Greenberg sprachen von „the specific ambience of film noir“[29] in ihrem 1968 erschienen Buch Hollywood in the Forties, und Raymond Durgnat stellte zwei Jahre später elf inhaltliche Haupt- und um die 50 Subkategorien des Film Noir in seinem Essay The Family Tree of Film Noir[30] auf. Doch erst Paul Schraders Essay Notes on Film Noir[31] leitete die Diskussion über den Wesenszustand des Noir-Phänomens in der angloamerikanischen Filmwissenschaft ein. In den folgenden Jahren wurde der Film Noir aus unterschiedlichen Perspektiven untersucht und entfesselte eine anregende und bis heute unabgeschlossene Diskussion um seinen Status als eigenständiges Genre, als einzigartiger visueller Stil oder als filmische Bewegung.
2.3 Genre, Stil und/oder Bewegung?
In der Filmgeschichte ist der Begriff des Film Noir inzwischen zu einem festen Terminus geworden, vergleichbar mit dem des Western, des Musical oder dem Melodram. Es gibt mittlerweile sehr viel Forschungsliteratur über den Noir-Film, doch liefert sie größtenteils unterschiedliche und teilweise auch konträre Definitionen über seinen Status. Paul Schrader bemerkte schon 1976 in Bezug auf die Klassifizierungsproblematik: „Fast jeder Kritiker verfügt über eine eigene Definition des Film Noir und hat so eine persönliche Liste von Filmtiteln und Daten, um sie zu stützen.”[32] Dass die Filmwissenschaft und Kritiker zu keiner befriedigenden Aussage kommen, liegt vielfach an der Heterogenität der Schwarzen Serie, ihrer amorphen Natur, aufgrund der Vielfalt von Themen, Motiven, Schauplätzen und ihres visuellen Stils. So steht in der Diskussion um den Status des Film Noir, letztlich immer die Frage im Raum, ob er als ein eigenständiges Genre angesehen werden kann oder nicht – und charakterisiert dabei die Schwierigkeiten der Filmwissenschaft mit dem Noir-Phänomen.[33]
Unter Genres werden in der Filmtheorie solche Filmgruppen verstanden, die gekennzeichnet sind „durch eine typische soziale oder geographische Lokalisierung, durch spezifische Milieus oder Ausstattungsmerkmale, Figuren- oder Konfliktkonstellationen oder durch besondere Themen oder Stoffe“.[34] Genres sind daher zunächst einmal Verständigungsbegriffe bzw. Kriterien zur Klassifikation unterschiedlicher Filme, „that are recognized and understood by both the spectator and the filmmaker via a ’common cultural consensus’ or a ’collectiv cultural expression’”.[35] Als ein Regulativ kinematographischer Erinnerungen stehen sie für die Organisation von Wissen über die filmische Gestaltung und regeln die Produktion von Filmen. Es lassen sich somit hinreichend viele Merkmale zusammentragen, um ein Genre Film Noir durch eben diese zu definieren. Die Vertreter einer Genretheorie plädieren aufgrund thematischer und narrativer Übereinstimmungen der Filme, den Film Noir als eigene Gattung anzusehen. Wiederkehrende Themen und Ästhetiken, sowie der Rückgriff auf das literarische Genre der hard boiled school of fiction, dienen ihnen als Grundlage zu einer gattungsbezogenen Klassifizierung.[36] „A genre, after all, is determined by conventions of narrative structure, characterizations, theme, and visual design, of just the sort noir offers in abundance”, schreibt Forster Hirsch und kommt zu dem Schluss, dass Film Noir ein Genre darstellt, „that is in fact as heavily coded as the western”.[37] Ebenso plädiert James Damico in seinem Aufsatz Film Noir: A Modest Proposal[38] aufgrund seines entwickelten Narrationsmodels für den Status eines eigenen Genres.
Diesen Ansätzen widerspricht allerdings die Heterogenität des Film Noir, auf die Steinbauer-Görtsch hinweist: „Die Vielfalt der Themen, Motive, Schauplätze und der Personen läßt den Genreansatz eher ungeeignet erscheinen, um dem Noir-Film in der Gesamtheit seiner Erscheinungsformen gerecht zu werden.“[39] Alain Silver und Elizabeth Ward weisen ebenfalls daraufhin, dass im Gegensatz zu den etablierten Genres „the noir cycle does not possess a ready catalogue of icons – it has none of the recurrent paraphernalia of the cowboy, the soldier, or the supernatural being”.[40] Zudem ist der Begriff Film Noir ein theoretisches Konstrukt ex post facto, das in seinem „Geburtsland“ bis Mitte der 60er Jahre weder von Seiten der Kritiker noch von den Filmschaffenden selbst gebraucht wurde.[41] Die Besonderheiten und Neuerungen der Filme fielen zunächst nur den französischen Kritikern auf, oder wie es David Bordwell formuliert: „[N]obody set out to make or see a film noir in the sense that people deliberately chose to make a Western, a comdey or a musical“.[42] Aufgrund der oben genannten Aspekte kommt auch Robert Ottoson zum dem Schluss, dass Film Noir kein eigenständiges Genre darstellt:
[...]
[1] Williams, Tony (1997): Space, Place, and Spectacle: The Crisis Cinema of John Woo. In: Cinema Journal 36, No. 2, S.70.
[2] Elder, Robert K. (2005): John Woo: Interviews. Jackson, S.10.
[3] Frank Nino (1946): Un nouveau genre policier: L’aventure criminelle. In: L’Écran Francais 61, S.8-9 & 14.
[4] Naremore, James (1998): More than Night. Film Noir in its Contexts. Berkley/Los Angeles/London, S.261.
[5] Martin, Richard (1997): Mean Streets and Raging Bulls. The Legacy of Film Noir in Contemporary American Cinema. London, S.4.
[6] Ewing, Dale E. (1988): Film Noir. Style and Content. In: The Journal of Popular Film and Television. Nr.2, S.61.
[7] Da innerhalb der Filmwissenschaft keine einheitliche und allgemeingültige Definition des Film Noir vorliegt, empfielt Joan Copjec bei der Auseinandersetzung mit dem Film Noir und auch seinen Nachfolgern, zunächst eine theoretische Basis für eine Analyse zu schaffen. Vgl. Copjec, Joan (Hrsg.) (1993): Shades of Noir. London/New York, S.X.
[8] Vernet, Marc (1993): Film Noir on the Edge of Doom. In: Joan Copjec (Hrsg.): Shades of Noir. London/New York, S. 1.
[9] Werner, Paul (2000): Film Noir und Neo-Noir. München, S. 12.
[10] Hirsch, Forster (1981): Film Noir. The Dark Side of the Screen. San Diego/London, S. 21.
[11] Röwekamp, Burkard (2003): Vom film noir zur méthode noire. Die Evolution filmischer Schwarzmalerei. Marburg, S. 26.
[12] Heinzelmeier, Adolf/Menningen, Jürgen/Schulz, Bernd (1981): Kino der Nacht. Hollywoods Schwarze Serie. Hamburg, S. 14.
[13] Crowther, Bruce (1988): Film Noir. Reflections in a Dark Mirror. London, S12.
[14] Ottoson, Robert (1981): A Reference Guide to the American Film noir: 1941-1958. Metuchen, S. 1.
[15] Engell, Lorenz (1992): Sinn und Industrie. Einführung in die Filmgeschichte. Frankfurt/Main, S. 130.
[16] Röwekamp Burkhard (2003): Vom film noir zur méthode noire, S. 17.
[17] Crowther (1988): Reflections in a Dark Mirror, S. 10.
[18] Silver, Alain/Ward, Elisabeth (1979): Film Noir. An Encyclopaedic Reference to the American Style. London, S. 1.
[19] Heinzelmeier/Menningen/Schulz (1985): Kino der Angst, S. 23.
[20] Vgl. Kamp, Werner (1999): Autorkonzepte in der Filmkritik. In: Fotis Jannidis (Hrsg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Thübingen, S. 441.
[21] Naremore, James (1998): More than Night, S. 11.
[22] Frank, Nino (1946): Un nouveau genre policier: L’aventure criminelle. In: L’Écran Francais 61, S. 8-9 & 14.
[23] Die Série noire war eine im Verlag Gaillmard erscheinende Reihe von Kriminalromanen, der so genannten hard-boiled school of fiction, in der die Romane von Dashiell Hammett, Raymond Chandler, James M. Cain und Horace McCoy veröffentlicht wurden.
[24] Frank 1946: Un nouveau genre policier, S. 8.
[25] Vgl. Ebd., S. 8ff.
[26] Borde, Raymond/Chaumeton, Étienne (1979): Panorama du film noir américain (1941-1953). Paris.
[27] Ebd., S. 24.
[28] Vgl. Silver, Alain/Ursini, James/Ducan Paul (2004): Film Noir. Köln, S. 10f.
[29] Higham, Charles/Greenberg, Joel (1968): Hollywood in the Forties. New York/London, S. 24.
[30] Durgnat, Raymond (1996): Paint it Black. The Family Tree of Film Noir. In: Alain Silver/James Ursini (Hrsg.): Film Noir Reader, New York.
[31] Schrader, Paul (1972): Notes on Film Noir. In: Film Comment Nr.1, S. 8-13. dt. Nachdruck, ders. (1976): Notizen zum Film Noir. In: Filmkritik. Nr. 238, S. 463-477.
[32] Schrader (1976): Notizen zum Film Noir, S. 9.
[33] Vgl. Werner (2005): Film noir und Neo-Noir, S. 22.
[34] Müller, Eggo (1997): Genre. In: Rainer Rother (Hrsg.): Sachlexikon Film. Reinbeck, S. 141.
[35] Doll, Susan/Faller, Greg (1986): Blade Runner and Genre: Film Noir and Science Fiction. In: Film Literature Quarterly. Nr.2, S. 89.
[36] Vgl. Ebd., S. 15.
[37] Hirsch, Forster (2001): Film Noir, S. 72.
[38] Vgl. Damico, James (2001): Film Noir: A Modest Proposal. In: Alain Silver/James Ursini (Hrsg.): Film Noir Reader. New York, S. 104.
[39] Steinbauer-Görtsch, Barbara (1997): Die Lange Nacht der Schatten. Film noir und Filmexil. Berlin, S. 14.
[40] Silver, Alain/Ward, Elizabeth 1979 (Hrsg.): Film Noir, S. 3.
[41] Elizabeth Cowie weist darauf hin, dass der Begriff weder von Seiten der Studios noch vom Publikum gebraucht wurde und der Film Noir somit ein „ genre that never was “ darstellt. Vgl. Cowie, Elizabeth (1993): Film noir and Woman. In: E. Ann Kaplan (Hrsg.) Woman in Film Noir. London, S. 121.
[42] Bordwell, David/Staiger, Janet/Thompson, Kristin 1985: The Classical Hollywood Cinema. Film Style & Mode of Production to 1960. London, S. 75.
- Arbeit zitieren
- Jürgen Overheid (Autor:in), 2006, Hongkong Neo-Noir. Narrative und ästhetische Kennzeichen des Film Noir am Beispiel von John Woos "The Killer", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/65350
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