Die Theorie der vier Selbstempfindungen nach Daniel Stern


Hausarbeit, 2005

15 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Daniel Sterns allgemeine Thesen zur Entwicklung des Säuglings

3. Die Theorie der vier Selbstempfindungen
3.1. 1. Phase: „ Das Empfinden des auftauchenden Selbst“
3.2. 2. Phase: „ Das Empfinden eines Kern-Selbst“
3.3. 3. Phase: „ Das Empfinden eines subjektiven Selbst“
3.4. 4. Phase: „ Das Empfinden eines verbalen Selbst“

4. Kritische Würdigung der Theorie von Daniel Stern

1.Einleitung

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich in erster Linie mit der Theorie der vier Selbstempfindungen nach Daniel Stern, die er in seinem umfassendsten Buch „Die Lebenserfahrung des Säuglings“ auf der Basis zahlreicher Befunde empirischer Säuglingsforschung entwickelt hat. Der Entwicklungspsychologe und Psychoanalytiker Daniel Stern wurde 1934 in New York geboren, arbeitete als Professor für Psychiatrie und war Direktor des Laboratory of Developmental Processes an der Cornell University New York, sowie seit 1987 als Professor für Psychologie an der Universität Genf. Er entwickelte die Theorie der vier Selbstempfindungen, die aufeinander aufbauen und das ganze Leben erhalten bleiben. Seine Theorie soll hierbei an die Stelle eines Modells der psychosexuellen Entwicklung und der Triebtheorie nach Freud treten.

Seiner Ansicht nach bestehen (psychoanalytisch bedeutsame) Themen wie Oralität, Autonomie und Urvertrauen altersunspezifisch und sind daher nicht nur in sensiblen Phasen, sondern vielmehr lebenslang von Bedeutung.

Demnach ist Daniel Sterns Auffassung nach keine Aussage über den Entwicklungszeitpunkt klinischer Probleme möglich, und erste Vorraussagen über die Ursprünge bedeutsamer klinischer Phänomene sind bezüglich der Bereiche des Selbst zu treffen.

Schwerpunkt dieser Arbeit wird die Darstellung der vier Selbstempfindungen anhand von empirischen Belegen sein, sowie eine kritische Auseinandersetzung mit der Thematik der Selbstempfindungen, insbesondere dem Begriff des auftauchenden Selbst und der damit verbundenen kritischen Betrachtung psychoanalytischer Sichtweisen.

2. Daniel Sterns allgemeine Thesen zur Entwicklung des Säuglings

Bevor auf die Theorie der vier Selbstempfindungen im Einzelnen eingegangen werden soll, sollen im Folgenden einleitend ein paar allgemeine Ansichten und Thesen Daniels Sterns vorgestellt werden bezüglich der Entwicklung des Säuglings. Alle Paraphrasierungen und theoretische Konzeptionen Sterns sind entnommen aus dem 1992 auf deutsch erschienenem Buch:„Die Lebenserfahrung des Säuglings“(Originaltitel: „The Interpersonal World of the Infant“, 1985, New York).

Säuglinge beginnen von Geburt an ein sich herausbildendes Selbst zu erleben; d.h., die Selbstentwicklung des Säuglings beginnt ab dem Tag seiner Geburt. Neugeborene verfügen schon über die Fähigkeit, Selbstorganisationsprozesse wahrzunehmen, was zu der Annahme führt, dass Säuglinge niemals eine Phase völliger Undifferenziertheit zwischen Selbst und Anderem erleben. Das Wahrnehmungsvermögen des Säuglings ist von Anfang an differenziert und Säuglinge sind damit von Geburt an in der Lage, auf äußere soziale Vorgänge selektiv zu reagieren. „Auch wenn das Neugeborene aus biologischer Sicht noch als unreif gilt, wird es aus psychologischer Sicht bereits als Persönlichkeit betrachtet, die mit den notwendigen Kompetenzen für ihre Weiterentwicklung ausgestattet ist, z.B. die Fähigkeit, die komplementären Verhaltensweisen beim Erwachsenen zu wecken uns zu nutzen.“ (Oerter/ Montada, S.142f.). Die Reaktionen des Säuglings auf seine Umwelt sind niemals willkürlich, sondern stets auf etwas gerichtet, auch wenn diese Fokussierung zu Beginn noch recht unscharf ist. Trotz dieser Unschärfe ist zu beobachten, dass eine Fokussierung und eine selektive Reaktion von Anfang an vorhanden sind. Diese grundlegenden Fähigkeiten differenzieren sich vom Tag der Geburt an mit jedem Tag weiter aus.

Zwischen dem 2. und 6. Monat konsolidiert der Säugling die Empfindung eines Kern-Selbst als getrennte kohärente körperliche Einheit.

Die grundlegende Fähigkeit, Selbstorganisationsprozesse wahrzunehmen, hat also nun zur Bildung eines Kern-Selbst geführt. Dieses Kern-Selbst ist die Voraussetzung dafür, dass ich mit Anderen Einssein kann, denn Einssein mit dem Anderen setzt die Erfahrung voraus, dass eigene psychische Vorgänge und Affekte mit einem Anderen geteilt werden können. Dafür müssen die Affekte und psychischen Vorgänge aber erstmal als „eigene“ erkannt, wahrgenommen und erlebt werden. Es vollzieht sich also ein sich gegenseitig bedingender Prozess: auf der einen Seite Separation: „ich bin ich und anders als die anderen“– andererseits dann die Ausbildung von Gemeinsamkeiten: „ich bin wie du, du bist mir ähnlich“. Diese Ansicht steht der psychoanalytischen Sicht der Symbiose diametral entgegen (vgl. dazu Mahler). Stern sieht in zahlreichen Phänomenen der Psychoanalyse, wie Verschmelzungsphantasien, Spaltungsprozessen, Abwehr etc., Prozesse, die erst mit der Fähigkeit zur Symbolbildung möglich sind und daher erst die Zeit nach dem Spracherwerb beschreiben.

Die Entwicklung eines Selbst beschreibt Stern nun in vier nacheinander sich entwickelnden, jedoch nicht sich ablösenden Selbstempfindungen:

1. Auftauchendes Selbst ® 0-2. Monat
2. Kern-Selbst ® 3.-7. Monat
3. Subjektives Selbst ® 8.-16. Monat
4. Verbal-Selbst ® ab 16. Monat

Zur Verdeutlichung der Gleichzeitigkeit der Bezogenheiten bzw. Selbstempfindungen kann hier die Aussage stehen: „Ich kann über dieses Thema gut sprechen – ich habe es verarbeitet“.

Diese verbale Aussage steht evtl. einem völlig anderen Empfinden des Kern-Selbst (z. B. Gefühl der Verletztheit) in ein- und derselben Situation diametral entgegen.

3. Die Theorie der vier Selbstempfindungen

3.1 1. Phase: „Das Empfinden des auftauchenden Selbst“(0.-2.Monat)

Diese Phase beschreibt die ersten beiden Lebensmonate, allgemeine Fähigkeiten und Entwicklungsmerkmale sind innerhalb dieser Phase:

- Blickkontakt, Lächeln
- Stabilisierung von Schlaf- / Wachzyklen
- Stabilisierung des Hormonniveaus
- Reifung motorische Verhaltensmuster
- EEG-Veränderungen

Was geschieht nun in den ersten zwei Lebensmonaten? Von Geburt an gibt es den Zustand der „wachen Inaktivität“ über mehrere Minuten außerhalb der Schlaf - und Ernährungszeiten. Dazu einige Beispiele und Merkmale dieser Phase:

- Kopfwenden® Erkennen der Milch der Mutter
- Saugen ® Schnuller mit Tonband ® menschliche. Stimmen, Rhythmus zu Bildern...
- Blicken ® Präferenz f. Gesichter, Ovale, Rahmen und Linien
- Säuglinge beginnen nach sensorischer Stimulierung zu suchen
- Vorlieben und Abneigungen im Hinblick auf Sinneseindrücke entwickeln sich
- Bestreben nach Bildung und Überprüfung von Hypothesen
- Affektive und kognitive Prozesse sind noch eng miteinander verwoben

Zentral innerhalb dieser ersten Selbstempfindung ist das Erleben von Prozess und Resultat: Erfahrungen bestehen aus vereinzelten, unverbundenen Ereignissen, die erst in eine zusammenfassende Perspektive integriert werden müssen; Daniel Stern nennt das:„Die Inseln der Konsistenz“.

Der Begriff des auftauchenden Selbst geht als Begriff aber noch über diesen Bedeutungshorizont hinaus und beschreibt den Prozess der Wahrnehmung der Organisation von Ereignissen. Das bedeutet, dass der Säugling erfährt, wie er sich selbst die Umwelt organisiert. Er erlebt sich selbst als aktives, Organisationsstiftendes Subjekt.

Diese Form der Selbstempfindung kann nicht undifferenziert sein, da die mangelnde Bezogenheit von einzelnen Ereignissen zunächst ja nicht wahrgenommen werden kann.

Während der Körper als erste Organisation mit Kohärenz, Handlungen und Gefühlszuständen, sowie Erinnerungen daran die erste Bezugsgröße für ein Selbstempfinden darstellt (Kern-Selbst) ist der Prozess der Organisation dieses Selbstempfindens ein entstehendes Empfinden (auftauchendes Selbst). Die Empfindung ist demnach gleichermaßen Prozess und Resultat.

Säuglinge haben die Fähigkeit zu amodaler Wahrnehmung und transmodalen Leistungen. Ihnen gelingen Informationstransfers von einem Modus in den anderen durch das Erkennen von Entsprechungen:

- Taktil®visuell (Schnuller mit versch. Oberflächen)
- auditiv®visuell (Lautstärke und Licht)
- auditiv ® visuell (Mundbewegungen-Laute)

Säuglinge verfügen über eine angeborene Fähigkeit solcherlei Integrationsleistungen.

Sie sind von Anfang an aktiv in der Erfahrung ihres Selbst und der Welt, Daniel Stern beschreibt so genannte „Vitalitätsaffekte“,

- Form, Intensitätsgrad, Bewegungen, Anzahl und Rhythmus von Affekten werden zunächst unmittelbar als globale modale Wahrnehmung erlebt
- Affektive Aspekte wie Zorn, Freude... werden kategorial erlebt.
- Ein großer Bereich des Empfindens ist dynamischer Natur: ® aufwallend, flüchtig, explosionsartig... und ist als eine nur schwer fassbare Erlebnisqualität zu beschreiben.

Diese unterschiedlichen Arten zu fühlen wirken die meiste Zeit über auf den Organismus ein und können in vielerlei Handlungen zum Ausdruck kommen. Sie werden im Selbst wie auch beim Gegenüber wahrgenommen. Affektkategorien sind hingegen interkulturell sehr ähnlich und angeboren. Die zentralen Affekte werden mimisch bereits frühzeitig erkannt, unterscheiden sich jedoch hinsichtlich ihrer Qualität:

® Aktivierung von Affekt (Stärke)

® Hedonischer Tonus des Affekts (Lust/Unlust, wie lustvoll...)

Die Vitalitätsaffekte beschreiben also nicht den Affekt selbst, sondern die Art des Fühlens (Stern vergleicht dies mit Tanz oder Musik).Die soziale Welt des Säuglings wird in Vitalitätsaffekten erlebt und zahlreiche unterschiedliche Sinneseindrücke mit ähnlichen Aktivierungskonturen können verknüpft werden. Somit beschreiben Vitalitätsaffekte eine zeitliche Dimension, die Dynamik eines Affektes.

Dazu ein Beispiel: Daumenlutschen ist ein intrinsisch motivierter Bewegungsablauf mit steigender Erregung bei wiederholter Tätigkeit und mit Erregungsabfall bei Erreichen des Zieles. Die Aktivierungskurve baut sich mit einem hedonischen Tonus auf.

Daniel Stern beschreibt die Entwicklung des Empfindens eines auftauchenden Selbst nun in drei Bereichen:

1. amodale Wahrnehmung
2. physiognomische Wahrnehmung (innere Welt)
3. Wahrnehmung von korrespondierenden Vitalitätsaffekten

Die zahlreichen empirischen Studien weisen darauf hin, dass Säuglinge ganzheitlich globaler wahrnehmen, als experimentell nachgewiesen werden kann. Dabei sind Grundelemente des frühkindlich subjektiven Erlebens: Intensität, Form, Zeitmuster, Vitalitätsaffekte, Kategoriale Affekte, Lust / Unlust.

[...]

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Die Theorie der vier Selbstempfindungen nach Daniel Stern
Hochschule
Universität zu Köln
Note
2,0
Autor
Jahr
2005
Seiten
15
Katalognummer
V65547
ISBN (eBook)
9783638580830
ISBN (Buch)
9783656815716
Dateigröße
412 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Theorie, Selbstempfindungen, Daniel, Stern
Arbeit zitieren
Achim Kirschall (Autor:in), 2005, Die Theorie der vier Selbstempfindungen nach Daniel Stern, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/65547

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