Bernardino de Sahagún - Ethnograf oder Ethnologe?


Hausarbeit (Hauptseminar), 2003

30 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung

2 Die Historia General de las cosas de Nueva España
2.1 Inhalt und Aufbau
2.2 Zur Überlieferung
2.3 Werksgeschichte und Methodik

3 Sahagún - ¿“primer antropólogo en Nueva España”?
3.1 Die Intention des Autors und sein ideologischer Rahmen
3.2 Kritische Ansicht der Methode
3.3 Akkulturation oder Transkulturation?
3.4 Ethnograf oder Ethnologe?

4 Abschließende Bemerkungen
4.1 Mögliche Vorbilder
4.2 Zur Bedeutung von Sahagúns Werk

5 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Die Historia General de las cosas de Nueva España[1] des Franziskanermönchs Bernardino de Sahagún gilt bis heute als wichtigstes ethnografisches Primärwerk zu Kultur und Geschichte des vorspanischen Mexiko. Für den Großteil aller modernen wissenschaftlichen Abhandlungen, die sich mit der Geschichte der Eroberung oder der präkolumbischen Zivilisation des Hochtals von Mexiko befassen, stellt sie nach wie vor die detaillierteste und vollständigste Ausgangsbasis dar.

Ihr Verfasser wurde um das Jahr 1500 im nordspanischen Sahagún en Campos, in der Nähe der Stadt León, geboren. Über seinen frühen Lebensweg liegen kaum zuverlässige Zeugnisse vor. Gesichert ist lediglich, dass Sahagún ein Studium an der Universität von Salamanca absolviert hat, wobei aufgrund seiner späteren Tätigkeit und seiner Schriften zu vermuten ist, dass er sich dort im Wesentlichen dem Studium der “humanidades latinas“ und des “saber teológico-escriturístico“ gewidmet hat[2]. Anschließend trat er in den Orden der Franziskaner ein und verließ im Jahre 1529 seine spanische Heimat, um fortan in Neu-Spanien als Missionar tätig zu sein. Über seine Zeit dort, die er vorwiegend im Hochtal von Mexiko verbrachte, liegen uns die wichtigsten Daten vor allem dank seines Ordensbruders Jerónimo de Mendieta (1525-1604) vor, der ebenfalls missionarisch in Neu-Spanien tätig war und dessen Hauptwerk, die Historia eclesiástica indiana, in groben Zügen die wichtigsten Lebensstationen sowie das Tätigkeitsfeld Sahagúns umreißt[3].

Nach dem Wiederauftauchen des Originalmanuskripts im 18. Jahrhundert wurde die HG noch lange Zeit als unverzichtbares Nachschlagewerk lexikalischen Charakters betrachtet und kaum Fragen an ihre inhärenten, nicht informationsbezogenen Problematiken, wie beispielsweise den linguistischen, literarischen oder methodologischen Aspekt gestellt. Erst seit relativ kurzer Zeit wird versucht, Sahagúns gewaltige Materialsammlung nicht mehr ausschließlich in ihre informativen und historisch-ethnologisch „nützlichen“ Bestandteile zu zerlegen, sondern als das zu betrachten, was sie vor allem anderen ist: nämlich ein zusammenhängendes und durchkonzipiertes Buch, in dem auf faszinierende Art und Weise die Interaktion zweier Kulturen zum Ausdruck kommt.

Im Folgenden möchte ich zunächst kurz auf die Überlieferung des Werkes und seine Entstehungsgeschichte eingehen, wobei zu sagen ist, dass an dieser Stelle eine ausführliche Darstellung aufgrund der Komplexität des Themas und der vielen voneinander abweichenden Meinungen nicht möglich ist. Auch auf andere von Sahagún verfasste Schriften kann nicht eingegangen werden, da sie entweder nur Teile der HG wiedergeben oder im Zusammenhang mit dem Thema nicht relevant sind (z. B. Predigten und Psalme in Náhuatl). Stattdessen beschränke ich mich auf allgemein akzeptierte Ansichten sowie auf eine knappe Darstellung des thematischen Aufbaus der HG.

Anschließend werde ich auf die von Sahagún verwendete Methodik eingehen und aufzeigen, worin deren Besonderheiten und Neuerungen bestehen. Der Kern der vorliegenden Arbeit wird jedoch vor allem von der Fragestellung nach der Betrachtungsweise des Anderen, der vollkommen fremden Kultur, bestimmt sein. In Bezug auf die spanischen Chroniken[4] der Entdeckung und Eroberung Amerikas wurde dieses Problem hauptsächlich von dem französisch-bulgarischen Linguisten Tzvetan Todorov aufgeworfen, dessen maßgebliches Werk Die Eroberung Amerikas - Das Problem des Anderen[5] in diesem Abschnitt eine besondere Rolle spielen wird. Daneben sollen auch die Fragen beantwortet werden, inwieweit der ideologisch-religiöse Rahmen einen Einfluss auf das Werk ausgeübt hat, ob es sich tatsächlich um das Werk nur eines Autors handelt und ob in diesem Zusammenhang der Autor als „Ethnologe“ bezeichnet werden kann, wie vielfach behauptet wird[6].

Am Schluss der Arbeit soll schließlich auf Sahagúns Bedeutung für die moderne Forschung eingegangen sowie auf mögliche Einflüsse verwiesen werden.

2 Die Historia General de las cosas de Nueva España

Die HG ist ein im Stile einer mittelalterlichen Enzyklopädie angelegtes Werk, das zwischen 1559 und 1579 von Sahagún und seinen aztekischen Zöglingen verfasst worden ist. Es existieren mehrere Manuskripte, so genannte Kodizes, welche die Grundlage der HG bilden.

2.1 Inhalt und Aufbau

Wie man dem ersten Prolog der HG entnehmen kann, war die ursprüngliche Organisation des Werkes in vier Bänden und zwölf Büchern geplant. Alle Bücher sind in Kapitel unterteilt, wobei jedoch zahlreiche unregelmäßig verteilte Einschübe und Kommentare des Autors das Werk durchziehen. Diese Anmerkungen geben stets die persönlichen Ansichten Sahagúns wieder und sind inhaltlich und formal klar vom Haupttext getrennt. Während Buch I bis XI eher enzyklopädischen Charakter haben, fällt Buch XII vollkommen aus den Rahmen. Es schildert die Eroberung Mexikos aus der Sicht der Indianer und wurde daher von dem Historiker Miguel León-Portilla unter der Sammelbezeichnung “visión de los vencidos“[7] eingeordnet. Als einziger Teil der HG ist es literarisch durchformt und von einer zusammenhängenden Handlung gekennzeichnet.

Qualität und Darstellungsweise der einzelnen Beiträge sind höchst unterschiedlich, wobei wörtliche Reden, Gesänge oder kurz gefasste informative Beiträge direkt nebeneinander stehen können. Sahagúns Enzyklopädie, die darüber hinaus reich illustriert ist, umfasst Bücher über die Gottheiten, die Festlichkeiten, den Unsterblichkeitsglauben und die Begräbnisriten, die Astrologie, die Astronomie und den Kalender, die Magie und die Weissagungen, die Naturphilosophie, die großen Gestalten der Geschichte, über die Wirtschaft und das Brauchtum, die Laster und die Tugenden, die Tiere, Pflanzen und Metalle und schließlich den Bericht über die Eroberung des Aztekenreiches durch die Spanier.

2.2 Zur Überlieferung

Die meisten Forscher stimmen darin überein, dass von den zahlreichen kursierenden Manuskripten der so genannte Codex Florentinus[8] das wichtigste, weil kompletteste ist. Man nimmt an, dass Sahagún 1578/79 auf Anregung des Ordensprovinzials Francisco de Sequera eine neue, zweisprachige (Náhuatl und Spanisch) Fassung seiner bisherigen Arbeiten anfertigen ließ und diese dann von Sequera persönlich nach Spanien transportiert wurde. Dieses Manuskript, das später auf Umwegen nach Florenz gelangte (daher Codex Florentinus), wurde wahrscheinlich aufgrund eines königlichen Erlasses von 1577 nach Spanien beordert, da man zu dieser Zeit die Herstellung und Verbreitung von Schriften in Indianersprache unterbinden wollte und zu diesem Zweck deren Konfiszierung anstrebte. Möglicher Grund für dieses Verhalten der spanischen Krone war vielleicht die Angst, durch das Anfertigen von derartigen Schriften dem heidnischen Götzenkult Vorschub zu leisten und damit seine gewünschte Ausrottung zu behindern bzw. zu verzögern[9]. Jedenfalls scheint es, dass Sahagún diesem Befehl Folge leistete und mit dem Codex Florentinus gewissermaßen eine von ihm editierte Abschrift der HG nach Spanien gelangte, damit diese dort verwahrt bzw. untersucht werden konnte. Der Kodex besteht aus über 700 Seiten und zahlreichen Abbildungen. Eine Besonderheit ist, dass das gesamte Werk zweisprachig in zwei Kolumnen gehalten ist, wobei die linke Spalte jeweils den spanischen, die rechte jeweils den Náhuatl-Text wiedergibt.

Ein anderes wichtiges Manuskript, das ebenfalls als Quelle der HG gilt, ist der so genannte Manuscrito de Tolosa[10] . Während sich der Titel “Historia General“[11] beim Codex Florentinus lediglich aus einer einzigen Textstelle ableiten lässt, da dessen Titelblatt vollständig fehlt, ist beim Manuscrito de Tolosa der Titel “Historia Universal de las cosas de la Nueva España”[12] zu lesen. Dennoch tendiert die Mehrzahl der Forscher dazu, dem Codex Florentinus als Grundlage für die Beschäftigung mit der HG den Vorzug zu geben. Ausschlaggebend hierfür ist, dass der Manuscrito de Tolosa zwar ein stilistisch und orthografisch einwandfreieres Spanisch aufweist, dafür aber die Náhuatl-Spalte und die Zeichnungen vollkommen fehlen. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass der Náhuatl-Text beim Codex Florentinus wesentlich umfangreicher ist als der spanische Text, der einige Stellen völlig ausspart und andere falsch übersetzt. Bei einem Vergleich der beiden spanischen Versionen (Manuscrito de Tolosa und Codex Florentinus) fallen jedoch inhaltlich keine größeren Unterschiede auf. Nur in wenigen Punkten sind Veränderungen festzustellen, so vor allem im Buch VI, Kap. 42 und 43. Auch im Buch XII, das als Thema die Eroberung Mexikos hat, fehlen einige indianische Bezeichnungen und Namen. Die meisten Forscher glauben mittlerweile, dass der Manuscrito de Tolosa nicht einmal von Sahagún selbst stammt, sondern um das Jahr 1580 von Sequera in Spanien angefertigt wurde. Diese Theorie ist jedoch nach wie vor heftig umstritten[13].

Die Grundlage der meisten Ausgaben der HG ist somit der Codex Florentinus, der im Jahre 1783 wieder entdeckt und 1829 erstmals in Teilen veröffentlicht wurde. Eine kritische Edition, die beiden Kodizes Rechnung trägt und auch die Náhuatl-Texte korrekt wiedergibt, ist bis heute nicht erschienen. Als beste Ausgabe der HG, die sich sowohl auf die spanischen als auch auf die náhuatl-sprachigen Teile des Codex Florentinus stützt, gilt noch immer die vierbändige Edition von Angel María Garibay aus dem Jahre 1956[14].

2.3 Werksgeschichte und Methodik

Die moderne Forschung hat in den letzten Jahren schlüssig dargelegt, an welchen Orten und in welchen Zeiträumen die Arbeit an der HG vonstatten ging. Insbesondere die maßgebliche Arbeit von Munro S. Edmonson[15], auf die sich auch die folgenden Angaben stützen, macht den Verlauf der Arbeit und deren einzelne Phasen anschaulich.

Die ersten systematischen Untersuchungen fanden demnach wahrscheinlich in Tepepulco (1559-61) statt, wo Sahagún mit Hilfe von Fragebögen aztekische Vornehme und Kaufleute zu ihren religiösen Festen und Vorstellungen befragte. In einer zweiten Phase in Tlatelolco (1661-65) sammelte er weitere Informationen und bediente sich hierzu eines regelrechten Netzwerkes von Informanten, die ihm sowohl mündliche Informationen als auch piktografisches Material aus dem gesamten Hochtal beschafften. In der dritten Phase, in Mexiko-Stadt (1565-1569), ergänzte er deren Angaben durch abermaliges Befragen und fügte dem Gesamtkorpus schließlich noch zwei weitere, bereits im Vorfeld begonnene Bücher hinzu. Diese beiden Bücher sind das Buch XII über die Eroberung Mexikos aus der Sicht der Indianer sowie das Buch VI über Moral und Rhetorik.

Lange Zeit war sich die Forschung einig, dass Sahagúns methodischer Ansatz, nämlich mit Hilfe von Fragebögen das Wissen seiner Informanten zu Papier zu bringen, das Besondere an dem Werk darstellte. Mittlerweile ist jedoch klar, dass andere dies schon vorher getan hatten, wenngleich sie diese Vorgehensweise niemals mit der gleichen ausufernden Konsequenz wie Sahagún angewandt haben dürften[16]. Es scheint, als hätten sich seine Fragen (die leider nicht mehr erhalten sind) auf nahezu alle Wissensgebiete erstreckt. Sahagún selbst gibt im Prolog zum Buch II Auskunft über seine Methode:

Con estos principales y gramáticos, también principales, platiqué muchos días, cerca de dos años, siguiendo la orden de la minuta que yo tenía hecha.

Todas las cosas que conferimos me las dieron por pinturas, que aquella era la escritura que ellos antiguamente usaban, y los gramáticos las declararon en su lengua, escribiendo la declaración al pie de la pintura. Tengo aun ahora estos originales[17] (II, prólogo).

Interessant ist ebenfalls, dass sich das gesamte Werk durch eine formal strenge Abgrenzung von Sahagúns eigenen Aussagen und den Aussagen seiner Informanten auszeichnet, die er stets ausführlich zu Wort kommen lässt. Darüber hinaus wurde Sahagún immer von náhuatl-sprachigen Zöglingen unterstützt, die er vorher persönlich im Kloster Santa Cruz de Tlatelolco[18] ausgebildet hatte. Die Ausbildung bestand im Wesentlichen darin, dass die Söhne aztekischer Adliger in humanistischer Bildung, Latein und Spanisch unterwiesen wurden. Einige der Zöglinge werden im Werk sogar namentlich erwähnt und es wird darauf hingewiesen, dass weite Teile der HG komplett von ihnen verfasst worden sind, während Sahagún gewissermaßen die Rolle des Wächters und Lehrmeisters übernahm.

[...]


[1] Sahagún (1981). Im Folgenden als HG abgekürzt.

[2] Castro/Rodríguez Molinero (1986), S. 30.

[3] Mendieta (1973). Alle biografischen Angaben und Daten beziehen sich auf dieses Werk.

[4] Zur Gattungsbezeichnung “Crónicas de Indias“ siehe Esteve Barba (1992), S. 7-21.

[5] Todorov (1985). Französische Originalausgabe: La conquête de l’Amérique. La question de l’autre. Paris: Seuil 1982.

[6] Diese These findet sich u. a. bei Castro/Rodríguez Molinero (1986) u. Nicolau d’Olwer/Cline (1973).

[7] León-Portilla (1985).

[8] Sahagún (1979).

[9] Castro/Rodríguez Molinero (1986), S. 140 ff.

[10] Sahagún (1905-07).

[11] Ders. (1979), libro X, f. 1: „Comiença el décimo libro de la General Historia [...]”

[12] Sahagún (1905-07).

[13] Zum Forscherstreit siehe Thomas (1998), S. 869 f.

[14] Sahagún (1981).

[15] Edmonson (1974), S. 3-12.

[16] Schmidt (1993), S. 35.

[17] Sahagún (1981). Alle Stellenangaben im Text beziehen sich auf diese Ausgabe.

[18] Das Kloster Santa Cruz de Tlatelolco wurde wahrscheinlich an der Stelle eines ehemaligen calmécac, einer Art „Tempelschule“ für die Kinder des aztekischen Adels, erbaut. Möglicherweise bezweckten die Franziskaner damit, die aztekische Bildungstradition teilweise fortzuführen. Vgl. dazu Baudot (1996), S.299.

Ende der Leseprobe aus 30 Seiten

Details

Titel
Bernardino de Sahagún - Ethnograf oder Ethnologe?
Hochschule
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Veranstaltung
Chroniken der Entdeckung und Eroberung Amerikas
Note
1,0
Autor
Jahr
2003
Seiten
30
Katalognummer
V65771
ISBN (eBook)
9783638582612
ISBN (Buch)
9783638670845
Dateigröße
568 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
In dieser Arbeit wird das umfassende Werk des spanischen Missionars Bernardino de Sahagún nach literaturwissenschaftlichen Kriterien untersucht. Im Mittelpunkt steht vor allem die Frage, wie sich Kulturvermischung und Transkulturationsprozesse im Mexiko des 16. Jahrhundert in Sahagúns Schriften spiegeln. Sein Hauptwerk, die "Historia General des las cosas de la Nueva España", gilt bis heute als wichtigste Primärquelle zur Kultur der Azteken.
Schlagworte
Bernardino, Sahagún, Ethnograf, Ethnologe, Chroniken, Entdeckung, Eroberung, Amerikas
Arbeit zitieren
Sven Schuster (Autor:in), 2003, Bernardino de Sahagún - Ethnograf oder Ethnologe?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/65771

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