Carl Einsteins 'Bebuquin' - Kunstreflexion und ästhetisches Experiment


Magisterarbeit, 2006

74 Seiten, Note: 1,6


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Die expressionistische Moderne
2.1 Kunst und Wirklichkeit
2.2 Der Expressionismus und Nietzsche
2.3 Expressionismus und Gesellschaft

3. Carl Einstein und die Moderne
3.1 Kubismus und Expressionismus
3.2 Einsteins Kunsttheorie
3.3 Einstein und der Symbolismus

4. Einsteins Bebuquin
4.1 Romankonzeption
4.2 Nomen est omen
4.3 Künstlerfiguren und Kunstreflexion im Bebuquin
4.4 Die Religion und das Wunder
4.5 Das Scheitern und die Reflexion

5. Schlussbetrachtung

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Carl Einstein wurde am 16. April 1885 als Sohn des jüdischen Lehrers und Predigers Daniel Einstein und dessen Ehefrau Sophie in Neuwied am Rhein geboren. Carls Vater starb einen frühen Tod und ließ ihn als Vierzehnjährigen mit seiner Mutter und seiner älteren Schwester zurück. Als er achtzehn Jahre alt war, ging Einstein ohne Schulabschluss nach Berlin und studierte dort zwischen 1904 und 1908 Philosophie und Kunstgeschichte. Während dieser Zeit begann er im Kreise der Frühexpressionisten mit dem Verfassen seiner ersten literarischen und kunsttheoretischen Texte. Dabei wurde er von dem Herausgeber Franz Blei gefördert, dessen Aufmerksamkeit er mit seiner Unkonventionalität geweckt hatte.

Die Zeit des Ersten Weltkrieges verlebte Einstein in Brüssel, lernte dort den Expressionisten Carl Sternheim kennen und schloss Freundschaft mit Gottfried Benn, der von diesem Zeitpunkt an bis zu ihrer durch politische Differenzen ausgelösten Auseinandersetzung ein enger Vertrauter und Bewunderer Einsteins wurde. Nach einer anschließenden weiteren Zeit in Berlin floh Einstein 1928 vor den Nationalsozialisten nach Paris, wo er als Exilant einem starken Gefühl der Abgeschiedenheit verfiel, das er selbst in einer Notiz von 1933 beschreibt:

ich sehe, immer mehr werde ich allein sein. jude, deutschsprechend, in frankreich. jude ohne gott und ohne kenntnis unserer vergangenheit, deutschsprechend, doch gewillt die deutsche Sprache nicht wie meine Landsleute und gleichzungigen faul und müde versacken zu lassen. in frankreich, d i ohne Leser.[1]

1940 beging er schließlich Selbstmord, nachdem er seine Situation während der vorrückenden Invasion der Deutschen in Südfrankreich als ausweglos begriffen hatte.

Als einer der kritischsten Schriftsteller seiner Zeit hatte Einstein einerseits einen großen Einfluss auf seine Generation, war jedoch auch ebenso von ihr gefürchtet und ausgegrenzt. Entsprechend wurde sein Werk nach dem Zweiten Weltkrieg – trotz der großen Zahl von Förderern und Bewunderern, die er zu Lebzeiten um sich versammelte – zu einem Randwerk, das erst in den sechziger Jahren rehabilitiert werden sollte.[2] Sibylle Penkert, die zu den ‚WiederentdeckerInnen’ des Einsteinschen Werkes gehört, schreibt über dieses Phänomen:

Einstein [ist] nach vierzig Jahren immer noch ein Unbekannter. Eine schnellebige Zeit vergißt gern ihre hartnäckigsten Kritiker, jene die als Außenseiter unintegrierbar sind und auf jeden Konformismus dezidiert verzichten.[3]

Seit seiner wiederbelebten Popularität wurde Einsteins Werk zu einer interpretatorischen Herausforderung für zahlreiche Literaturwissenschaftler. Vor allem sein Prosastück Bebuquin, das wegen seiner Bedeutungsdichte und des Bruchs mit erzählerischen Traditionen unerschöpfliche Deutungsmöglichkeiten in sich zu bergen scheint, übt bis heute eine große Anziehungskraft auf die Forschung aus. 1970, ein Jahr nachdem die grundlegende Arbeit Sibylle Penkerts erschien, die sich vor allem den biographischen Daten um Einstein widmet, verfasste Heidemarie Oehm ihre Monographie Die Kunsttheorie Carl Einsteins als eine der ersten und gleichzeitig umfangreichsten Interpretationen des Bebuquin. Sie wurde von ihren Nachfolgern zwar in einigen Punkten mal heftiger, mal milder kritisiert, doch noch immer gilt sie als grundlegend und wird dementsprechend oft zitiert.

Zur wichtigsten Forschung der 80er Jahre gehört Edith Ihekweazus Aufsatz von 1982 über die Funktion des Wahnsinns im Bebuquin, sowie das von Klaus Kiefer herausgegebene Carl-Einstein-Kolloquium von 1986, in dem unter anderem Aufsätze von Thomas Krämer und Katsumi Hara zu Einsteins Bebuquin veröffentlicht sind. Unbedingt zu nennen sind auch die 1984 und 1987 veröffentlichten Aufsätze Kiefers und sein Buch vom Diskurswandel im Werk Carl Einsteins aus dem Jahr 1994. Des Weiteren enthält der Beitrag „Das Kunstwerk ist in vielerlei Hinsicht eine Art Selbstmord“ von Hermann Haarmann und Klaus Siebenhaar, den Herausgebern der Einstein-Gesamtausgabe von 1994, neben wichtigen Angaben zum Leben Einsteins viele interessante Deutungsansätze. Dies gilt ebenso für Christoph Brauns Monographie Carl Einstein – Zwischen Ästhetik und Anarchismus von 1987.

Einen bedeutenden Stellenwert in der Einstein-Forschung haben auch die zwischen 1995 und 2001 veröffentlichten Aufsätze Erich Kleinschmidts zur Sprachtheorie und Literaturästhetik Einsteins, sowie sein Nachwort in der 1995 von ihm herausgegebenen Bebuquin -Ausgabe. Zu den wichtigsten Veröffentlichungen aus den 90er Jahren gehören außerdem die Dissertationen von Thomas Krämer (1991) und Dirk Heißerer (1992), sowie Rüdiger Riecherts Buch mit dem Titel Carl Einstein - Kunst zwischen Schöpfung und Vernichtung von 1992. Als erwähnenswerte jüngere Texte zu Einsteins berühmtestem Prosastück seien Reto Sorgs Aus den „Gärten der Zeichen“ - Zu Carl EinsteinsBebuquin’ von 1998 und Jens Steutermanns interessante und innovative Deutung des Raums im Bebuquin von 2004 genannt.

Die hier genannte Forschung steht dem Werk Einsteins und vor allem seinem Prosastück Bebuquin überwiegend konform gegenüber. Zwar gibt es individuelle Nuancen und Verschiebungen der Perspektive und des Fokus, doch findet sich kein ernsthaftes Streitthema zwischen den Deutungsansätzen. So werden auch viele Interpretationsansätze aus den älteren Texten in den jüngeren übernommen und dort erweitert bzw. präzisiert.

Einstein gilt in der Forschung einstimmig als ein Autor, der sich radikal von traditionellen Literaturtheorien abwendete und in Inspiration der neuesten Kunstrichtungen seiner Zeit eine innovative Ästhetik entwickelte.

Das Neue, das Einstein einklagt und mit seinem Bebuquin einzulösen trachtet, manifestiert sich also zuerst in der totalen Verabschiedung jener Erzähltradition, deren Muster der große bürgerliche Bildungsroman ist.[4]

Auf dieser Innovativität und Originalität Einsteins beruht aber auch die Schwierigkeit, ihn eindeutig einer Kunstrichtung zuzuordnen. Zwar wird er überwiegend schon wegen seiner Zeit in Berlin als Expressionist bezeichnet, doch hat er sich selbst stets davon distanziert. Trotzdem trifft man in den Anthologien der expressionistischen Literatur neben den Begründern und wichtigsten Schriftstellern dieser Strömung meist auch auf seinen Namen.[5] Die Schwierigkeiten seiner ästhetischen Zuordbarkeit sollen in der vorliegenden Arbeit als Indiz für seine sowohl dichterische als auch kunsttheoretische Originalität untersucht und gleichzeitig die Möglichkeiten einer Kategorisierung seines Werks beleuchtet werden. Dazu werden zunächst soziale, politische und philosophische Hintergründe und Einflüsse seiner Zeit, d.h. der Moderne betrachtet. Die gesellschaftliche Krise dieser Jahre, die bereits ein Ende der Monarchie erahnen ließ, inspirierte zahlreiche Künstlergruppen zum Bruch mit den Traditionen. Es soll gezeigt werden, welche dieser durch soziale und politische Spannungen vorangetriebenen künstlerischen Neuerungen sich Einstein zu Nutze machte und wie und zu welchem Anteil er sie in seine Kunst und Kunsttheorie aufnahm.

Eine Erläuterung der Einsteinschen Kunst- und Romantheorie soll unter anderem Aufschluss über seine Ansprüche an die Gattung Roman geben und zusammen mit der anschließenden Analyse seines Prosastücks Bebuquin die Schwierigkeit der Gattungszuordnung dieses Textes aufzeigen, bei der sich auch die Forschung überwiegend unsicher ist. Sie geht bei der Bezeichnung des Textes als Roman nämlich von einer ironischen Gattungszuordnung Einsteins selbst aus:

Aber nicht das ganz Andere ist das wahre Thema dieser ironisch Roman genannten experimentellen Prosa, [...] sondern die absolute Kunst, welche den Sprung ins Außerordentliche, Wunderbare und Transzendente leisten soll.[6]

So lässt sich der Bebuquin auch als Queste[7] oder als Essay[8] interpretieren, doch meist wird er, wie im zitierten Beispiel, als Experimentalprosa klassifiziert und so vor einer weiteren Einschränkung bewahrt. Durch die Beleuchtung der Unterschiede des Bebuquin zu traditionellen Romanen soll in dieser Arbeit die Schwierigkeit der Gattungsfrage verdeutlicht werden.[9]

Der Hauptteil der Arbeit wird sich der Interpretation des Bebuquin auf der Handlungs- und Figurenebene widmen. Dazu soll der Fokus zunächst auf der Namensdeutung liegen, die auch schon großes Interesse in der Einstein-Forschung fand. Deren wichtigste Ergebnisse, die viele Hinweise auf figurale Eigenschaften und Funktionen in sich bergen, sollen durch einige weitergehende Überlegungen ergänzt werden und so eine Grundlage für die anschließende Interpretation der Handlung bilden. Diese wird sich ganz der Frage nach der Kunstreflexion im Bebuquin widmen und dazu immer wieder auf die kunsttheoretischen Essays Einsteins zurückgreifen. Auch hierzu werden Ansätze aus der Forschung mit einfließen, die durch neue Überlegungen ergänzt werden.

Schließlich sollen die ästhetischen bzw. philosophischen Funktionen der zentralen Motive der Suche und des Scheiterns im Bebuquin geklärt werden. Außerdem stehen zuletzt die Innovativität des Prosawerks selbst und die Frage nach der dortigen Umsetzung der Einsteinschen Romantheorie im Zentrum der Aufmerksamkeit. Zunächst folgt jedoch, wie angekündigt, ein Überblick über die historischen Hintergründe des Beginns der expressionistischen Moderne, dem Schaffensumfeld Carl Einsteins.

2. Die expressionistische Moderne

2.1 Kunst und Wirklichkeit

Der Begriff ‚Moderne’ bezeichnet eine Phase von kulturellen und zivilisatorischen Neuerungen, deren Auswirkungen bis in die heutige Zeit reichen. Er umfasst eine Epoche der Technologisierung und Verwissenschaftlichung, der Urbanisierung und Industrialisierung, eine Zeit gravierender politischer Veränderungen und deren gesellschaftlicher Konsequenzen. Geprägt wurde der Begriff vermutlich von dem Literaturhistoriker Eugen Wolff, der ihn in einer Rede im September des Jahres 1886 als Entsprechung zum Begriff der Antike verwendete. Seither ist der von dem Adjektiv ‚modern’ hergeleitete Neologismus fester Bestandteil nicht nur des literarischen Diskurses.[10] Dort bezeichnet er eine Bewegung, die von den sozialen, technologischen und wissenschaftlichen Erneuerungen und Veränderungen der Jahrhundertwende stark beeinflusst war und diese in ihren Werken thematisierte. Vor allem in den Großstädten, und hier besonders in Berlin, entstanden Werke, die die ‚moderne’ Welt mit ihrer Hektik und Anonymität ohne Rücksicht auf die konventionellen ästhetischen Kriterien darstellen.

„[…] der Begriff der Moderne insgesamt ist komplex und in sich gegenläufig. Er enthält sowohl den Fortschritt der rationalistischen [i.e. der zivilisatorischen] Moderne, ihres Wissenschaftskonzeptes, ihrer technischen Anwendung und ökonomischer Verwertung als auch die kritische Auseinandersetzung damit“[11], wie sie in der ästhetischen Moderne zu finden ist. Die Moderne teilte sich demnach in eine durch Industrialisierung, Urbanisierung, Bürokratisierung und Verwissenschaftlichung gekennzeichnete ‚zivilisatorische’ Moderne und in eine ‚ästhetische’, welche aus Gruppierungen wie z.B. den Naturalisten, den Expressionisten und den Dadaisten bestand, die allesamt den Versuch unternahmen, sich mit den Mitteln der Kunst diesen Prozessen zu stellen.[12]

Den Naturalisten, welche als erste Generation der Moderne angesehen werden, galt die Forderung der Naturwissenschaft nach Exaktheit und Unverfälschtheit bei ihrem Versuch der Darstellung sozialer Zustände als Ideal:

Mit dem wissenschaftsnahen Anspruch auf Wahrheit statt auf Schönheit erschloss der Naturalismus der Literatur Bereiche, die für die Moderne des 20. Jahrhunderts in ihrer Opposition zur klassisch-idealistischen Ästhetik charakteristisch blieben: das Hässliche, das Pathologische und jenes soziale Elend einer neuen, von der Industrialisierung hervorgebrachten Klasse [...].[13]

Die Nähe zu den Naturwissenschaften war laut Thomas Anz aber gleichzeitig auch ein Versuch des Naturalismus, an ihrem „Prestige […] zu partizipieren [...] und ihre Adaption zum Ausweis seiner Modernität zu machen“.[14] Die Naturalisten nutzten also die Welle der wissenschaftlichen Glaubwürdigkeit um dem Publikum ihre sozialkritische Botschaft zu vermitteln.

Die Expressionisten als Folgegeneration der Naturalisten distanzierten sich von diesem Vorgehen. Zwar fand die so genannte ‚Ästhetik des Hässlichen’ auch im Expressionismus oftmals Anwendung, beispielsweise in den Morgue -Gedichten Gottfried Benns oder in Georg Heyms Erzählung Der Irre. Diese Texte sprengten bewusst den traditionellen Begriff von Schönheit und lösten im unvorbereiteten Leser vielmehr Schrecken und Ekel aus, als ihm ein ästhetisches Vergnügen zu bereiten, wie er es bisher gewohnt war. Bei dieser Verwendung hässlicher Motive handelte es sich aber gerade nicht, wie bei den Naturalisten, um eine naturwissenschaftsähnliche Darstellung der Welt, sondern vielmehr um eine Kritik an den Naturwissenschaften selbst, gegen deren Anspruch auf Wahrheit und Vorherrschaft die Expressionisten ein tiefes Misstrauen hegten. In ihrer Ästhetik lehnten sie nämlich die Mittel der Mimesis und „der Psychologie, der rationalen Handlungsverknüpfung [und] der logisch-kausalen Entwicklung von Zusammenhängen“[15], d.h. jegliches beschreibende wie empirische Vorgehen ab und forderten stattdessen die Schöpfung aus dem Inneren, aus der Subjektivität.

Der sich in der Forschung verbreitenden These, dass der Beginn der Moderne um das Ende des 18. Jahrhunderts anzusiedeln sei, entspricht die Absage der Expressionisten an die Kunsttheorie der Mimesis. Sie treten damit in die Fußstapfen der Romantiker, die mit der Forderung nach ästhetischer Autonomie ebenfalls versucht hatten, eine ‚eigene’ Realität zu schaffen, die nicht der empirischen Wirklichkeit entlehnt war.[16] Dazu sollte der Dichter ein selbstreferentes Sprachsystem entwickeln, das im Text puzzleartig zu deuten war. Hier wurde beim Leser ein fundiertes Interpretationswissen und ein flexibles Imaginationstalent vorausgesetzt, denn dieser musste die Kodierungen zunächst durch Bezüge innerhalb des Textes entschlüsseln, bevor er sie auf seine realen Welterfahrungen rückbeziehen konnte.[17]

In Texten, wie beispielsweise den oben genannten von Benn und Heym, wurden eben solche Verschlüsselungen vorgenommen. Die Darstellung hässlicher Szenarien war also keine Widerspiegelung der empirischen Welt, sondern die Konstruktion einer Wirklichkeit aus Sprache, die, statt Sozialkritik zu üben, vor allem ihr Publikum schockieren und mit dieser neuen Form der Wahrnehmung und Perspektive seine Aufmerksamkeit erregen sollte. Aufgrund ihrer Vorgehensweise und Wirkungsabsicht, durch die sie sich bewusst von anderen Kunsttheorien distanzierten, grenzte Kurt Hiller die Expressionisten wie folgt ab:

„Wenigstens erscheinen uns jene Ästheten, die nur zu reagieren verstehen, die nur Wachsplatten für Eindrücke sind und exakt-nuancensam arbeitende Deskribiermaschinen, [...] als ehrlich inferior. Wir sind Expressionisten. Es kommt uns wieder auf den Gehalt, das Wollen, das Ethos an.“[18]

Trotz der Abkehr von der nachahmenden oder reproduzierenden Kunst erkannten die Expressionisten die Bedeutung der gegenseitigen Nähe von Kunst und realem Leben. Auch hierin folgten sie in gewisser Hinsicht den Dichtern der Romantik. Diese hatten es nämlich bereits als ihre Aufgabe gesehen, die Dichtung stärker in das gesellschaftliche Leben einfließen zu lassen.[19] Die Expressionisten gingen jedoch mit drastischeren Mitteln vor als ihre Vorgänger und versuchten anhand verschiedener Zeitschriften wie dem Sturm oder der Aktion und vor allem durch sehr charakteristische öffentliche Lesungen und andere ‚aktionistische’ Veranstaltungen, die Kunst aus ihrer ‚Eremitenposition’ herauszuholen und mitten ins tägliche Leben zu führen. Die wohl bekannteste dieser Aktionsgruppen war der von Kurt Hiller präsidierte ‚Neue Club’, dessen Veranstaltungsreihe den Namen ‚Neopathetisches Cabaret’ trug. Jedoch blieben die jungen Autoren des Clubs, unter ihnen beispielsweise Georg Heym, Jakob van Hoddis und Ernst Blass, entgegen ihrer ‚aktionistischen’ Absicht meist unter sich, da die Resonanz der Öffentlichkeit auf das Programm des Cabarets weniger positiv war. Dies geht sehr deutlich aus dem in der Forschung oft zitierten Artikel Hans Hentigs in der Münchner Allgemeinen Zeitung vom 16. Juli 1910 hervor, der mit den wenig freundlichen Worten schließt:

Die Neopathetiker wollen noch weitere Abende veranstalten. Dem gewissenhaften Menschen aber bleibt nichts anderes übrig, als vor van Hoddis zu warnen und die anderen Neopathetiker nicht zu empfehlen.

Das ist man der geistigen Hygiene Berlins schuldig.[20]

Thomas Anz sieht in dieser Kritik deutlich „die tiefe Kluft“ zwischen dem Expressionismus und einer „das Hässliche tabuisierenden klassischen Ästhetik“ der „bildungsbürgerliche(n) Öffentlichkeit“.[21] Die Ansicht Hentigs verdeutlicht gleichzeitig die Widerstände, mit denen die Dichter zu kämpfen hatten, und stellt ein Beispiel für den bürgerlichen Konservatismus dar, gegen den sich die expressionistische Kritik wendete.[22]

Die Nähe von Kunst und Leben war für die expressionistischen Dichter aber trotz dieser unüberwindbaren Distanz zwischen ihrer Kunst und der Bourgeoisie von großer Bedeutung, denn sie sahen in der Rückführung der Kunst in das Leben die Möglichkeit einer wechselseitigen, fast symbiotischen Bereicherung und Belebung, denn: „Das Leben bringt die Kunst hervor, erhält sich durch die Kunst und steigert sich durch die Kunst in seine höchsten Möglichkeiten.“[23] Dieses Kunst-Leben-Konzept wurde aber nicht nur von den Dichtern der Romantik inspiriert, sondern es entsprang ebenso dem umfassenden Einfluss Nietzsches, dessen Ausmaß im folgenden Kapitel aufgezeigt werden soll.

2.2 Der Expressionismus und Nietzsche

Gottfried Benn stellte rückblickend auf die Zeit des jungen Expressionismus in seinem Aufsatz Nietzsche – nach fünfzig Jahren von 1950 fest:

Eigentlich hat alles, was meine Generation diskutierte, innerlich sich auseinanderdachte, man kann sagen: erlitt, man kann auch sagen: breittrat – alles hatte sich bereits bei Nietzsche ausgesprochen und erschöpft, definitive Formulierung gefunden, alles Weitere war Exegese. Seine gefährliche stürmische blitzende Art, seine ruhelose Diktion, sein Sichversagen jeden Idylls und jeden allgemeinen Grundes, seine Aufstellung der Triebpsychologie, des Konstitutionellen als Motiv, der Physiologie als Dialektik – ‚Erkenntnis als Affekt’, die ganze Psychoanalyse, der ganze Existentialismus, alles dies ist seine Tat. Er ist, wie sich immer deutlicher zeigt, der weitreichende Gigant der nachgoetheschen Epoche.[24]

Die Rezeption Nietzsches verursachte bei der Generation Benns eine tiefe Skepsis gegenüber dem Begriff der Wahrheit, vor der sich kaum jemand schützen konnte. Der Philosoph hatte das Kausalitätsprinzip der Naturwissenschaft und somit das, was als Wahrheit anerkannt wurde, als rein menschliche Konstruktion durchschaut. Daraus folgte, dass die Existenz objektiver Werte durch die menschliche Subjektivität, der jede Aussage über die Welt unterliegt, verhindert werde. Der Mensch als Subjekt sei somit von der Welt der Objekte getrennt, sie existieren gänzlich parallel zueinander. Dieses Phänomen der Subjekt-Objekt-Spaltung war eines der schwerwiegendsten Krisenmomente der literarischen Moderne.[25]

Auch der Sprache gegenüber entstand eine Skepsis, ähnlich derjenigen gegenüber den Wissenschaften. Die Sprache sei Nietzsches Theorie entsprechend nämlich ebenfalls ein lediglich auf menschlichen Konventionen beruhendes System, bei dem zwischen dem zu bezeichnenden Gegenstand und dem bezeichnenden Wort „verunklärende Transformationen“[26] nicht zu umgehen seien. Da der Mensch die Wahrheit nicht kennen und nicht erreichen kann, ist es auch unmöglich, sie durch die von ihm konstruierte Sprache mitzuteilen. Somit sei eine Wiedergabe der Wirklichkeit durch die Sprache schlicht unmöglich und jeder Versuch in diese Richtung zum Scheitern verurteilt. Nietzsche selbst versuchte dieses Problem zu überwinden, indem er seine Philosophie in Form von Poesie vermittelte. Wie beispielsweise beim Zarathustra kleidete er seine Erkenntnisse in ein künstlerisches Gewand. Er zeigte hiermit, dass zur Überwindung nicht nur der Sprach-, sondern der Sinnkrise überhaupt, das vorherrschende pragmatische Fortschrittsdenken durch eine schöpferische Kultur und Kunst abgelöst werden müsse.[27] Dazu sah er die Notwendigkeit eines „radikal neuen Daseins- und Weltentwurf(es) [...]“[28] gegeben:

Dies funktioniert aber nur, wenn der Schaffende sich von allem falschen Schein [...] löst, das Zurückgeworfensein auf sich selber annimmt und allein aus dem eigenen Selbstsein schöpferisch tätig wird.[29]

Dieses ‚Schöpfen aus sich selbst’ werde durch den von Nietzsche proklamierten Tod Gottes möglich. Die Gottverlassenheit des Menschen bringe ihm nämlich nicht nur die alleinige Verantwortung für sein Selbst, sondern auch Freiheit. Das kreative Schaffen wird somit zum Sinn des Lebens und lässt die Kunst an die Stelle der Religion treten.[30]

Hier wird schließlich auch die Forderung nach absoluter Kunst geweckt: sie soll sich von der Realität lösen und sich auf sich selbst konzentrieren. Damit ist die Basis geschaffen für die Philosophie der ‚Kunst für die Kunst’, des ‚l’art pour l’art’, nach dessen Theorie das Geschaffene aus sich selbst entstehen, seinen Zweck in sich selbst haben und in sich abgeschlossen sein muss. Die Realität kann in dieses geschlossene System nur mehr durch die Assoziationen und Erwartungen des Lesers mit einfließen.[31] Das Konzept des ‚l’art pour l’art’ ist somit der vollendete Gegensatz zum Prinzip der Mimesis, und wird dadurch zu einem ästhetischen Ideal für viele Künstlergruppen der Moderne, die dieses mit verschiedenen Mitteln zu verwirklichen versuchten.

Während das Krisenempfinden der Subjekt-Objekt-Spaltung in der Kunst des Impressionismus noch durch ein Zergliedern der Objekte in unendliche Einzelelemente dargestellt wird, und im Symbolismus in gleicher Absicht die realen Gegenstände durch das Aneinanderreihen von Gleichnissen ihrer ursprünglichen Bedeutung entfremdet werden, versuchen die Expressionisten sich nun gänzlich von der Realität zu lösen.[32] Es wird keine von der Wirklichkeit ausgehende Kunst mehr betrieben, sondern eine subjektive, ‚visionäre’.

An die Stelle realistischer Deskription tritt eine von der absolut gesetzten Einbildungskraft des künstlerischen Subjekts entworfene chiffrenhafte Collage von Realitätspartikeln, die kaum mehr sinnliche Qualität gewinnt.[33]

Oder, mit den Worten des expressionistischen Autors Kasimir Edschmid gesprochen:

So wird der ganze Raum des expressionistischen Künstlers Vision. Er sieht nicht, er schaut. Er schildert nicht, er erlebt. Er gibt nicht wieder, er gestaltet. Er nimmt nicht, er sucht. [...] Die Tatsachen haben Bedeutung nur soweit, als durch sie hindurchgreifend die Hand des Künstlers nach dem greift, was hinter ihnen steht.[34]

Auch sprachlich und stilistisch wurden einige Neuerungen hervorgebracht. In der appellhaften Lyrik wurde dies durch den häufigen Wegfall von Reim und Metrum deutlich, sowie durch Innovationen wie beispielsweise dem Reihungsstil oder der absoluten Metapher, die nur noch text- bzw. werkimmanent interpretierbar ist und keinerlei Bezug zur realen Welt mehr hat. In der Prosa finden sich neue Erzählformen wie der ‚Kinostil’, der vor allem durch Alfred Döblins Romane bekannt wurde. Döblin verzichtete in seinen Texten auf die Instanz des Erzählers, weil sie seiner Meinung nach die Illusion der Erzählung zerstöre.[35]

Eine weitere Neuerung der expressionistischen Prosa ist die Dominanz der Ich-Perspektive und die häufige Verwendung des inneren Monologs, durch die fortan das Stilmittel der Reflexion nicht mehr nur der Erzählerinstanz zugeschrieben wurde, sondern auch auf der Figurenebene zu finden war.[36] In den Zeitschriften der expressionistischen Szene wurden außerdem neue Sprachtheorien entwickelt. Ein bekanntes Beispiel sind die Innovationen in Lothar Schreyers Aufsatz Expressionistische Dichtung von 1917, der in der Zeitschrift Der Sturm veröffentlicht wurde.[37] Schreyer liefert hier eine theoretische Grundlage für neue Rhythmus- und Metrumregeln, sowie ‚Wortkonzentrationen’ und ‚Wortverkürzungen’. Für letztere wurden beispielsweise einfach Artikel oder Wortendungen eingespart, oder aus zwei Wörtern eines gemacht wurde. Zu diesen Neuerungen, die vor allem in den Texten August Stramms Anwendung fanden, gehörten außerdem durchaus bewusste Verstöße gegen die Regeln der Syntax und der Interpunktion.

Die Innovationen der expressionistischen Dichtung ergaben sich aus der Abkehr der Dichter von alten Traditionen und den gängigen literarischen Konventionen. Sie verlangten aber zudem vom Autor, mit jedem Werk immer wieder völlig neue Regeln zu entwerfen. Diese praktisch nicht erfüllbaren Ansprüche waren allesamt Versuche, die Sinn- und Sprachkrise der Zeit durch Innovativität und Originalität zu verarbeiten und zu überwinden.[38] Es war eine Auseinandersetzung mit der Undarstellbarkeit der Welt, die den Dichtern bewusst geworden war.

Wenn also die modernen Autoren eine derart zerrissene Welt vorfinden, daß sie ihnen nicht mehr direkt darstellbar erscheint, so wollen sie desto entschiedener wenigstens die abstrakte Eigenschaft der Zerrissenheit durch die Gestalt ihrer Werke nachahmen. Es soll nicht die brüchige Welt abgebildet, sondern die „Abbildungsfeindlichkeit“ dieser Welt durch die Brüchigkeit der Romanform widergespiegelt werden.[39]

Das Ausmaß des Einflusses Nietzsches auf die neuen Künstlerformationen der Jahrhundertwende wird hier und in den obigen Abschnitten sehr deutlich. Vermittelt wurde ihnen seine Philosophie vor allem durch den Soziologen Georg Simmel, der in Berlin lehrte. Neben den Arbeiten Nietzsches trug dieser auch seine eigenen sozialphilosophischen Überlegungen vor, mit denen sich die Studenten leicht identifizieren konnten. Simmel ging nämlich mit seiner Analyse der Psychologie des Großstädters auf einige zentrale Probleme der neuen Berliner Generation ein. Er erkannte das Phänomen der urbanen Reizüberflutung und der daraus resultierenden „Blasiertheit“ der Großstädter, die er als Unfähigkeit definierte, „auf neue Reize mit der ihnen angemessenen Energie zu reagieren.“[40] Damit knüpfte er direkt an die Thesen Nietzsches zur Subjekt-Objekt-Spaltung und der daraus folgenden Dissoziation des Ich an und verlieh ihnen eine außerordentliche Aktualität.

Zu den regelmäßigen Zuhörern seiner Vorlesungen zählten auch die Autoren des ‚Neuen Clubs’, deren ‚Cabaret’ wiederum von Simmel besucht wurde. Er entdeckte in der Ästhetik der jungen Schriftsteller Beispiele für seine Sozialphilosophie von der Spannung zwischen einem stets fortlaufenden Leben und der Starrheit der Geschichte.[41] In einer Rede, die er 1916 in Wien hielt, sagte er:

Der Prozeß zwischen dem immer weiterflutenden, mit immer weitergreifender Energie sich ausdehnenden Leben und den Formen seiner historischen Äußerung, die in starrer Gleichheit beharren oder wenigstens beharren wollen, wie er die ganze Kulturgeschichte erfüllt, scheint mir an einer großen Anzahl besonderer Kulturformen jetzt aufs deutlichste aufzeigbar.[42]

Simmel sah jedoch sowohl im expressionistischen als auch in dem ihm vorausgegangenen naturalistischen Vorgehen ein Scheitern des Versuchs, „das zur Äußerung drängende Leben“[43] in den jeweiligen, sich um Unverfälschtheit bemühten Kunst- und Literaturformen aufnehmen zu können. Der Grund dafür liege in der Eigenschaft des „inneren Lebens […], daß es seinen Ausdruck immer nur in Formen findet, die eine Gesetzlichkeit, einen Sinn, eine Festigkeit in sich selbst haben“[44]. Demnach war der Versuch der Expressionisten, das Leben in einer rein subjektiven, von Normen unabhängigen Ausdrucksform zu erfassen, zum Scheitern verurteilt, weil es sich erst im Kontrast zum fluktuierenden Subjekt und von diesem losgelöst präsentiert.

Der Einfluss Simmels ging also über die Vermittlung der Philosophie Nietzsches hinaus und weitete sich auf große Bereiche der expressionistischen Thematik aus. Genauso fand Simmel in den Werken der Dichtergruppe eine Inspiration für seine eigene Arbeit.

2.3 Expressionismus und Gesellschaft

Neben der durch die zivilisatorische Moderne ausgelösten Sinnkrise wurden auch Gesellschaft und Politik zu bedeutenden Themen der literarischen Moderne, denn die Zeit vor und während des Ersten Weltkriegs und die Ablösung des Kaiserreiches durch die Weimarer Republik brachten zahlreiche Veränderungen mit sich. Die politische Stabilität, wie sie das Kaiserreich lange Zeit aufrechterhalten konnte, wurde am Ende des 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert von den jungen Künstlerbewegungen mehr und mehr in Frage gestellt. Immer wieder waren aufkeimende demokratische Bestrebungen durch die Autoritäten der Monarchie unterdrückt worden, die so ihre Machtstellung gewaltsam sicherten. Diese Stimmungen und Ereignisse wirkten sich auf die jungen Künstler aus, auch wenn die Dichter der Moderne sich dessen bisher nicht bewusst geworden waren und den „ästhetischen Innenraum“ ihrer Kunst „gegenüber soziokulturellen Einflüssen“[45] zu schützen versucht hatten. Die Künstlergeneration der Jahrhundertwende begann also, teils verborgen, teils offensiv, ihre Sehnsucht nach Erneuerung in ihren Werken zu äußern.

Die Expressionisten gingen dabei vermutlich am weitesten, denn sie stellten in ihren Schriften Forderungen, die auf die Zerstörung des Bestehenden als Chance für die Schaffung eines ‚neuen Menschen’ hinausliefen. Damit revoltierten sie gegen jede Form von Bürgerlichkeit und Tradition, die für sie gleichbedeutend war mit Stillstand. Die beliebteste Gattung für diese Forderungen war das Manifest, da es die Äußerung der politischen Meinung mit poetischen Mitteln erlaubte. Mit seiner ursprünglichen Bedeutung eines herrscherlichen Dokumentes für politische und militärische Angelegenheiten sollte es zudem die Ernsthaftigkeit der Literaten symbolisieren.[46]

Die starke Aversion gegen die gesellschaftlichen Zustände, wie sie die Expressionisten entwickelt hatten, kommt in folgendem Tagebucheintrag von Georg Heym aus dem Sommer von 1910 zur Geltung: „Dieser Frieden ist so faul ölig und schmierig wie eine Leimpolitur auf alten Möbeln.“[47] Für die junge Künstlergeneration bedeuteten die sicheren, aber veralteten Verhältnisse des Kaiserreiches vor allem eine Einschränkung ihrer politischen Freiheit und damit einen ‚faulen’ Kompromiss, den ihre Väter für den Frieden eingegangen waren.[48] Demzufolge wird die Revolte der expressionistischen Generation häufig als Kampf der Söhne gegen die Väter bezeichnet.

Ein diesbezüglich besonders bezeichnendes Ereignis war die Inhaftierung des jungen Arztes und Freud-Schülers Otto Gross. Er wurde auf Veranlassung seines eigenen Vaters im Jahre 1913 in eine psychiatrische Klinik zwangseingeliefert, aus der er aber Dank einer Presseaktion seiner expressionistischen Freunde befreit werden konnte.[49] Gross hatte in den Jahren davor seinen Zeitgenossen die Psychoanalyse in einer eigentümlichen, geradezu „kulturrevolutionären Version“[50] vermittelt, welche dem Kampf gegen die Väter eine theoretische Grundlage und Berechtigung lieferte. Sie stellte sich explizit gegen jede Form patriarchalischer Strukturen und Autoritäten und machte die Figur des Vaters zum universalen Machtsymbol, stellvertretend beispielsweise für den König, den Richter, den Offizier und nicht zuletzt für Gott selbst. Die Themen und Metaphern in den Werken des Expressionismus waren dementsprechend provokativ und sagten jeder Form der Unterdrückung den Kampf an. Dies schloss auch das Ausleben von der bürgerlichen Norm abweichender, sexueller Vorlieben, starker Emotionen und eines ausschweifenden Nachtlebens ein. Teilweise forderte man die totale Regression um sich der Kontrolle der menschlichen Natur durch die Regeln des bürgerlichen Lebens entgegen zu stellen. Dies zeigt sich zum Beispiel in Carl Sternheims Erzählung Ulrike, in der die Protagonisten sich immer weiter aus der Zivilisation in ihre eigene Welt zurückziehen, um den gesellschaftlichen Zwängen zu entkommen und sich einem ursprünglichen Dasein anzunähern:

Da er sie afrikanisch wollte, schickte sie sich an, Trope schwarzer Beischlaf, halbtierische Schwellung und Geruch von Negerbeize zu sein. Alles Wirkliche war so von ihr abgespült, dass Geschosse, die oft genug noch in die Stadt fielen, ihr von draußen schreckliche Gegenwart nicht mehr vermittelten. […] Von Entwicklungen tropfte Ulrike sich frei, schabte Ursprüngliches, in Geschlechtern verschüttet, aus sich heraus, bis sie blank und ihr dichtestes Ich war. Jahrtausende hatte sie rückwärts eingeholt und wünschte das späte Paradies nicht herrlicher.[51]

Eine beliebte Alternative zur Regression war das Motiv des Wahnsinns, der ebenfalls die positive Eigenschaft hatte, betroffene Personen der Rationalität und den Normen der Gesellschaft zu entziehen. Der Wahnsinn wurde dadurch zu einer Art Katalysator für die Entfaltung der künstlerischen Phantasie und Kreativität. Allerdings wurde in den expressionistischen Texten weniger der klinisch-pathologische Wahnsinn dargestellt als vielmehr der des Rauschs und der Ekstase. Figuren, die sich in einem derartigen Zustand befanden und dadurch in Künstlerkreisen als Genies angesehen werden mochten, wurden von der Perspektive des ‚normalen’ Bürgers aus zu Wahnsinnigen erklärt, die gegen jede Vernunft verstoßen. So konnte nebenbei auch der Bruch mit dem psychologisierenden Erzählen vollzogen werden, denn Denken und Handeln des Wahnsinnigen entsprachen nicht mehr dem vorhersehbaren Verhalten von Protagonisten, die reine Abbilder realer Personen waren.[52]

[...]


[1] Zitiert in: Haarmann, Siebenhaar: „Das Kunstwerk...“, S. 204.

[2] Zu den biographischen Angaben vgl. Haarmann, Siebenhaar: „Das Kunstwerk...“, S. 204f, Penkert: Carl Einstein (1969), S. 26ff und Carl Einstein (1970), S. 9-12, sowie Kleinschmidt: Bebuquin. Nachwort, S. 73.

[3] Penkert: Carl Einstein (1970), S. 9. Einfügungen in eckigen Klammern hier und im Folgenden von der Verfasserin.

[4] Haarmann, Siebenhaar: ”Das Kunstwerk...”, S. 207.

[5] Vgl. Kiefer: Einstein und die Avantgarden, S. 98.

[6] Esselborn: Der literarische Expressionismus, S. 425.

[7] Vgl. Sorg: Aus dem ‚Garten der Erkenntnis’, S. 245-248, 255f.

[8] Vgl. Schramke: Theorie des modernen Romans, S. 156.

[9] Im Anschluss an diese Betrachtungen wird sich auf den Bebuquin mit der Bezeichnung ‚Roman’ bezogen, dies jedoch stets im Sinne Einsteins.

[10] Vgl. Anz/Stark: Literatur des Expressionismus, S. 11.

[11] Vietta: Die literarische Moderne, S. 30.

[12] Vgl. Anz: Berlin, S. 96.

[13] Anz/Stark: Literatur des Expressionismus, S. 12.

[14] Anz: Berlin, S. 97.

[15] Ihekweazu: Wahnsinn, S. 180.

[16] Vgl. hierzu Vietta: Die literarische Moderne, S. 20.

[17] Vgl. Nünning: Literatur- und Kulturtheorie, S. 563.

[18] Kurt Hiller: Die Jüngst-Berliner. Abgedruckt in Anz/Stark: Expressionismus. Manifeste, S. 34f.

[19] Vgl. Nünning: Literatur- und Kulturtheorie, S. 562.

[20] Hans Hentig: Bei den Neopathetischen. Münchner Allgemeine Zeitung, 16. Juli 1910. Abgedruckt in Anz / Stark: Expressionismus. Manifeste, S. 83f.

[21] Anz: Berlin, S. 92.

[22] Vgl. Anz: Berlin, S. 92.

[23] Meyer: Nietzsche als Paradigma, S. 144.

[24] Benn: Werke, Bd. I, S. 482. Vgl. Meyer: Nietzsche als Paradigma, S. 146.

[25] Vgl. Petersen: Roman der Moderne, S. 83.

[26] Esselborn: Der literarische Expressionismus, S. 418.

[27] Vgl. Meyer: Nietzsche als Paradigma, S. 140.

[28] Meyer: Nietzsche als Paradigma, S. 136.

[29] Meyer: Nietzsche als Paradigma, S. 144.

[30] Vgl. Meyer: Nietzsche als Paradigma, S. 136, 144.

[31] Vgl. Esselborn: Der literarische Expressionismus, S. 425.

[32] Vgl. Oehm: Subjektivität und Gattungsform, S. 224.

[33] Esselborn: Der literarische Expressionismus, S. 425.

[34] Kasimir Edschmid: Expressionismus in der Dichtung. Abgedruckt in Anz/Stark: Expressionismus. Manifeste, S. 46.

[35] Vgl. Esselborn: Der literarische Expressionismus, S. 424.

[36] Vgl. Schramke: Theorie des modernen Romans, S. 151

[37] Abgedruckt in Anz/Stark: Expressionismus. Manifeste, S. 623-629.

[38] Vgl. Schramke: Theorie des modernen Romans, S. 141.

[39] Schramke: Theorie des modernen Romans, S. 140.

[40] Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 196. Zu Simmels Psychologie des Großstädters vgl. Becker: Urbanität und Moderne, S. 40-45.

[41] Vgl. Anz/Stark: Literatur des Expressionismus, S. 5 und 53.

[42] Simmel: Die Krisis der Kultur. In Auszügen abgedruckt in Anz/Stark: Expressionismus. Manifeste, S. 205f.

[43] Simmel: Die Krisis der Kultur. In Auszügen abgedruckt in Anz/Stark: Expressionismus. Manifeste, S. 205.

[44] Simmel: Die Krisis der Kultur. In Auszügen abgedruckt in Anz/Stark: Expressionismus. Manifeste, S. 206.

[45] Kleinschmidt: Anspruch und Krise einer ‚politischen’ Literaturästhetik, S. 15f.

[46] Zur Gattung des Manifests vgl. Fähnders: Avantgardistischer Manifestantismus, S. 73 und 75.

[47] Heym: Dichtungen und Schriften, Bd. 3, Tagebücher, 6.7.1910, S. 139. Vgl. Braun: Ästhetik und Anarchismus, S. 10.

[48] Vgl.: Braun: Ästhetik und Anarchismus, S. 11.

[49] Vgl. Anz/Stark: Literatur des Expressionismus, S. 82. Zum ‚Kampf gegen die Väter’ vgl. ebenda S. 79-82.

[50] Anz: Berlin, S. 94.

[51] Sternheim: Ulrike. Gesamtwerk, Bd. 4, S. 157f.

[52] Vgl. Ihekweazu: Wahnsinn, S. 181f.

Ende der Leseprobe aus 74 Seiten

Details

Titel
Carl Einsteins 'Bebuquin' - Kunstreflexion und ästhetisches Experiment
Hochschule
Universität zu Köln  (Institut für Deutsche Sprache und Literatur)
Note
1,6
Autor
Jahr
2006
Seiten
74
Katalognummer
V66128
ISBN (eBook)
9783638584234
ISBN (Buch)
9783638711050
Dateigröße
713 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit bietet neben der Interpretation des 'Bebuquin' einen kurzen Überblick über die expressionistische Moderne und deren ästhetische Vorgänger und Vorbilder.
Schlagworte
Carl, Einsteins, Bebuquin, Kunstreflexion, Experiment
Arbeit zitieren
Anna Winkelmann (Autor:in), 2006, Carl Einsteins 'Bebuquin' - Kunstreflexion und ästhetisches Experiment, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/66128

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