Werteerziehung an beruflichen Schulen


Diplomarbeit, 2004

81 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einführung

2. Der Wertbegriff und sein terminologisches Umfeld
2.1 Sozialwissenschaftlicher Ansatz der Wertedefinition
2.2 Werte, Tugenden und die Moral
2.3 Werte und Werteerziehung

3. Werteerziehung und Schule
3.1 Prinzip der Leistungsorientierung
3.2 Prinzip der Wertorientierung
3.3 Zusammenfassung

4. Ansätze der Werte- und Moralerziehung
4.1 Wertevermittlung
4.1.1 Umsetzung der Wertevermittlung in der Schule
4.1.2 Kritik an der Wertevermittlung
4.2 Wertklärung
4.2.1 Wert als Ergebnis eines Bewertungsvorgangs
4.2.2 Wertklärung in der schulischen Praxis
4.2.3 Kritische Anmerkungen zur Wertklärung
4.3 Moralkognitive Entwicklung nach Lawrence Kohlberg
4.3.1 Lawrence Kohlberg - Biographischer Exkurs
4.3.2 Empirische Grundlage
4.3.3 Das Stufenmodell moralischer Entwicklung
4.3.4 Umsetzung der moralkognitiven Entwicklungstheorie im Rahmen der Pädagogik
4.3.5 Die Dilemmamethode als unterrichtspraktikable Umsetzung der moralkognitiven Entwicklungstheorie
4.3.6 Kritische Betrachtung

5. Theoriegeleiteter Entwurf einer Dilemmadiskussion
5.1 Annahmen zu den Lernvoraussetzungen
5.1.1 Niveau der moralischen Urteilsfähigkeit (nach Kohlberg)
5.1.2 Erfahrung mit verschiedenen Sozialformen des Unterrichts
5.1.3 Themenrelevantes Vorwissen
5.2 Zielvorstellungen des Unterrichtskonzeptes
5.3 Lernaktivitäten und Lehrhandlungen
5.4 Der Unterrichtsprozess
5.4.2 Einführung des Dilemmas
5.4.2 Erarbeitungsphase
5.4.3 Ergebnispräsentation
5.4.4 Diskurs
5.5 Tabellarischerüberblicküber die Unterrichtseinheit
5.6 Zusammenfassung

6. Schlussbemerkung

7. Anhang

8. Literaturverzeichnis

9. Quellenverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Vorgang des Modell-Lernens nach Bandura

Abbildung 2: Transformationsmodell zur nächsten Moralstufe

Abbildung 3: Bipolare Struktur eines hypothetischen Dilemmas

Abbildung 4: Partiell-symmetrische Struktur eines Realdilemmas

Abbildung 5: Asymmetrische Struktur eines Politikdilemmas

Abbildung 6: Anfangsimpuls

Abbildung 7: Arbeitsblatt zur Dilemmaeinführung

Abbildung 8: Angestrebtes Tafelbild

Abbildung 9: Arbeitsblatt der Erarbeitungsphase

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Verfassungsforderungen einzelner Bundesländer

Tabelle 2: Stufenmodell des moralischen Urteilens nach Kohlberg

Tabelle 3: Antwortmöglichkeiten im Stufenmodell

Tabelle 4: Pro- und Contra-Argumente im Kohlberg-Schema

Tabelle 5: Geplanter Unterrichtsverlauf

1. Einführung

Werteerziehung hat sich zu einem neuen pädagogisches Schlagwort entwickelt1. Während sie sich in der Vergangenheit nahezu von selbst vollzog, haben heute Debatten um Werte und Moral Konjunktur. Früher war sie ein selbstverständlicher Teil dessen, was heute gemeinhin als Sozialisation bekannt ist, und diente zur Integration des Einzelnen in die freiheitlich- demokratische Gesellschaft2. Heute entsteht der Eindruck, dass dem Thema vor allem immer dann besonderer Nachdruck verliehen wird, wenn die Gesellschaft eines geschwächten Wertefeldes ansichtig wird3. Anonymer internationaler Bombenterror und die Ohnmacht der Staatsgewalt, Missachtung von Institutionen und Autoritäten, Kinderpornographie und Rassenhetze im Internet, Jugendkriminalität, Sinnlosigkeitserlebnisse sowie Selbstzweifel, Sozialhilfeschwindel, Steuerhinterziehung, Subventionsbetrug und Korruption sind nur einige Auswirkungen angeblich zunehmenden Werteverfalls4. Es scheint nicht gut bestellt zu sein um die gesellschaftliche Moral - so das allenthalben zu vernehmende Lamento. Der ›einfache‹ Bürger steht ebenso in der Kritik wie Wirtschaftsbosse und Politiker. Schnell wird demnach der Ruf nach Wiederbelebung der Werte laut, ohne differenzierter auszuführen was damit gemeint ist. Der Wertebegriff wird heute inflationär und äußerst vage benutzt. Eine Vielzahl von Wertkopplungen, zu denen auch der Terminus Werteerziehung gehört, erhöht die Schwierigkeit begriffliche Klarheit zu generieren. Vor diesem Hintergrund der Orientierungslosigkeitüber Werte und Werteerziehung im Allgemeinen, sollen die Schulen als Stätten des Wissens und der Erziehung, Konzepte zur Werteerziehung entwerfen und der Ruf nach ihr kommt von vielen verschiedenen Autoritäten5. Doch stellt sich diese Aufgabe nicht ganz so einfach dar und die Auseinandersetzung mit einigen zentralen Fragen scheint unausweichlich.

1. Was ist gemeint wenn wir von Werten und Moral sprechen?
2. Ist Werterziehung Aufgabe der Schule?
3. Welche Konzepte der Werteerziehung existieren?
4. Wie können Erziehungskonzepte in der Praxis umgesetzt werden?

Es wäre vermessen im Rahmen dieser Arbeit in ›wertphilosophischen Gewässern‹ zu fischen. Ausführungen zur ersten Frage sind jedoch wichtig um grundlegende Klarheitüber einige Begriffe zu schaffen. Die zweite Frage zielt auf den Ort des Geschehens ab und soll klären ob Werteerziehung in den Aufgabenbereich der Schule fällt. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt im Bereich der dritten und vierten Frage. Es werden drei unterschiedliche Ansätze zur Werteerziehung aufgezeigt, um sie anschließend auf ihre Praxiseignung hin zu untersuchen. Im letzten Teil wird ein konkretes Unterrichtskonzept zum Thema entwickelt und vorgestellt. Im folgenden soll nun zunächst der Wertbegriff und sein terminologisches Umfeld näher erläutert werden.

2. Der Wertbegriff und sein terminologisches Umfeld

Der Wertbegriff spiegelt kein eindeutiges Konzept wieder, er ist mehrdeutig. Es existiert keine Verwendungsregel für den Ausdruck der alle folgen könnten. Weder im Alltag noch in der Philosophie noch in den Wissenschaften besteht Konsensüber die Definition und die Verwendung des Begriffs. Einige Philosophen vertreten sogar die Auffassung er sei undefinierbar6. In einer Untersuchung aus dem Jahre 1969 zählte man jedoch bereits die bemerkenswerte Anzahl von 180 Definitionen des Begriffes ›Wert‹ oder entsprechender Synonyme7. Betrachtet man dabei die Vielzahl und Unterschiedlichkeit dessen, was als Wert oder Werte bezeichnet wird, so behauptete Martin Heidegger zu Recht, dass der Häufigkeit des Redens von Werten, die Unbestimmtheit des Begriffes entspreche8. Aussagenüber das Verhältnis von Werten und Erziehung können aber nur getroffen werden, wenn geklärt wird, welches Verständnis man im Bereich der Werte vertritt.

2.1 Sozialwissenschaftlicher Ansatz der Wertedefinition

Die folgende Grundlegung ist an die soziologische Deutung des Wertbegriffes angelehnt. In den Sozialwissenschaften einschließlich der Erziehungswissenschaften geht es nicht in erster Linie um Wertschätzungen, die bestimmten Dingen entgegengebracht werden. Vielmehr werden Vorstellungen von ›gesellschaftlich Wünschenswertem‹ dargestellt9. So auch in der Definition von Clyde Kluckholm, die große Bedeutung und Verbreitung in der sozialwissenschaftlichen Literatur gefunden hat:

„A value is a conception, explicit or implicit, destinctive of an individual or characteristic of a group, of desirable which influences the selection from available modes, means, and ends of action.“10

Hillmann greift die Gedanken Kluckholms auf, arbeitet aber vor allem die gesellschaftliche Komponente heraus, indem er schreibt: „Werte bilden aus sozialwissenschaftlicher Sicht den Kern der Kultur”11. Sie dienen: „ (…)als das entscheidende Fundament für das sinnvolle koordinierte, aufeinander abgestimmte und wechselseitig berechenbare soziale Handeln“12.

Folke teilt diese Auffassung und interpretiert Hillmann wie folgt: „Indem das einzelne Subjekt anhand gemeinsam geteilter Werte die Handlungen seiner Mitmenschen vorauszuschauen und so sein Handeln darauf abzustellen vermag, wird soziales Handeln wechselseitig berechenbar“13. Werte bilden somit durch ihre Anerkennung ein Fundament auf dem das Zusammenleben aufgebaut werden kann. Dabei ist eine weitere Vorraussetzung die Zustimmung durch eine Vielzahl von Individuen (Subkultur, Kultur oder sogar die ganze Menschheit), denn: „ Ein Wert, den keiner mit mir teilt - er mag mir noch so heilig sein -, ist den anderen eine Marotte.“14

2.2 Werte, Tugenden und die Moral

Wert, Tugend und Norm werden oft synonym verwandt, agiert ein Individuum nach ihnen handelt es moralisch. Es gilt jedoch zu klären, ob ein Zusammenhang derart einfach gebildet werden kann. Wenn in dieser Arbeit von Werten gesprochen wird, steht vor allem im Hinblick auf die Werteerziehung der gesellschaftliche Aspekt im Mittelpunkt. Es geht grundsätzlich darum, sich in der Gesellschaft an anerkannten Werten zu orientieren. Tugenden bezeichnen gelebte Wertorientierungen15. Werte werdenüber Tugenden in Handlungen umgesetzt16. Will man beispielsweise Frieden als Wert und Orientierung für das Zusammenleben der Menschen erreichen, benötigt man Tugenden wie Geduld, Einfühlungsvermögen, Gerechtigkeitssinn und die Bereitschaft diesen zu relativieren17. Unter Moral versteht man die erwartete Wertorientierung in einer Gesellschaft18. Der Moralbegriff bildet demnach die Brücke zwischen den Werten als Fundament oder Sinnrahmen des Handelns und der Tugend als konkrete Handlung. Als weitere Orientierungshilfe des Zusammenlebens, resultierend aus der Vorstellungüber das ›moralisch Richtige‹, dienen Normen. Sie bilden eine Verhaltensvorschrift oder Verhaltenserwartung19. So beziehen sich Normen häufig auf dahinter stehende Werte oder Moralvorstellungen. Wieder auf den Wert Frieden bezogen, könnte eine daraus abgeleitete gesellschaftliche Norm lauten: „Du sollst nicht töten“.

2.3 Werte und Werteerziehung

Zielstellung dieses Kapitels war es, neben der Abgrenzung einiger zentraler Begriffe, vor allem unter den unterschiedlichen Ansatzpunkten zur Begriffesbestimmung des Wortes ›Wert‹ jenen herauszugreifen, der im Hinblick auf das Gebiet der Werteerziehung besonders geeignet erscheint. Die sozialwissenschaftliche Zugangsweise wurde aufgrund ihrer Betonung der gesellschaftlichen Relevanz von Werten ausgewählt. Betrachtet man Werte als Fundament einer Gesellschaft, liegt der Schluss nahe, dass soziale Probleme unter anderem aus einem brüchigen Wertefundament resultieren können. Hieraus lässt sich das Verständnisüber die Werteerziehung näher bestimmen:

Stärkung bzw. Vermittlung einer Wertebasis zur Verbesserung des gesellschaftlichen Zusammenlebens.

3. Werteerziehung und Schule

Werteerziehung ist dem Begriff zu Folge eine Erziehungsaufgabe. Die Frage nach der erzieherischen Funktion der Schule eröffnet die Diskussionüber die generelle Auffassung des schulischen Aufgabenbereiches20. Es werden zwei Gegenpositionen vorgestellt, die Position der Leistungs- und die der Wertorientierung.

3.1 Prinzip der Leistungsorientierung

Anhänger der ersten Position vertreten den Standpunkt, dass die Aufgabe der Schule im wesentlichen darin besteht, bei Schülerinnen und Schülern eine differenzierte wissenschaftsadäquate Vorstellungswelt aufzubauen, Analyse- und Problemlösungskompetenz zu vermitteln, sowie Reflexionsmöglichkeiten bereit zu stellen21. Unterrichts- und Schulprozessen werden erzieherische und dabei bewusst oder unbewusste Wertevermittelung nicht abgesprochen. Weitere Forderungen, die Schule mit erzieherischen oder wertorientierenden Aufgaben auszurüsten lehnt man jedoch ab. Die Möglichkeiten der Schule erscheinen dazu nicht ausreichend und ihrer Leistungsfähigkeit als Stätte der Wissensvermittlung drohe Gefahr22. Dieser Standpunkt soll mit dem Stichwort Leistungs- orientierung umschrieben werden.

3.2 Prinzip der Wertorientierung

Die zweite Position verlangt von der Institution Schule eine verstärkte Berücksichtigung erzieherischer und damit wertorientierter Aufgaben23. Ohne die Frage nach dem ›wie‹ anzuschneiden, soll im Folgenden versucht werden diese Forderung von verschiedenen Bezugspunkten aus zu legitimieren.

1. Bezugspunkt Recht

Aus der Gültigkeit der Grundrechte folgt, dass sich die Schule mit den Werten des Grundgesetzes identifizieren muss, also Unterricht und Erziehung sich an ihnen zu orientieren hat. Genauere Erziehungsziele sind im Grundgesetz allerdings nicht genannt. Die Verfassungen der Bundesländer konkretisieren aufgrund der Kulturhoheit, resultierend aus Artikel 30 und 70 des Grundgesetzes, den Erziehungsauftrag der Schulen weiter24. Ohne Auszüge aus allen Länderverfassungen aufführen zu wollen, soll die nachfolgendeübersicht exemplarischüber einige Verfassungsforderungen informieren25.

Tabelle 1: Verfassungsforderungen einzelner Bundesländer

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Nahezu alle Länder berufen sich auf Menschenrechte, und heben wenn auch in unterschiedlichen Formulierungen klassische Begriffe wie Frieden, Gerechtigkeit, Toleranz und Tüchtigkeit, neben eher interpretationsbedürftigen Begriffen wie dem ›Wahren‹, ›Schönen‹ und ›Guten‹ hervor. Für einen Grossteil der Bundesländer zählt der Schutz von Umwelt und Natur als zu vermittelnder Wert. Die Aufzählung der Werte in den Bundesländern macht jedoch nach Meinung des Autors einen eher aneinander gereihten Eindruck ohne Anspruch auf Hierarchie oder Vollständigkeit. Somit können die Nennungen nur als Anhaltspunkte dienen, nicht aber als Wertekatalog oder Wertehierarchie. Es kann lediglich resümierend festgestellt werden, dass der Auftrag der Schule zur moralischen Bildung des Nachwuchses Verfassungsauftrag ist. Dabei werden einige Anhaltspunkte gegeben welche Werte aus staatlicher Sicht wichtig erscheinen. Wie eine schulische Werte- oder Moralerziehung zu konzipieren ist und welche Mittel zu deren Erreichung ergriffen werden können bleibt jedoch ungeklärt.

2. Bezugspunkt Erziehungsverständnis

Nachdem gezeigt wurde, dass der Erziehungsauftrag der Schule gesetzlich legitimiert ist, soll als weitere Argumentationsstütze der Werteorientierungsposition das Wort ›Erziehung‹ selbst näher untersucht werden. Was Erziehung ist, glaubt jeder aufgrund eigener aktiver oder passiver Erfahrungen zu wissen. Aber nicht alle meinen auch zwangsläufig das gleiche wenn sie darüber sprechen. Unter Erziehung werden Handlungen verstanden, durch die Menschen versuchen, das Gefüge der psychischen Disposition anderer Menschen in irgendeiner Hinsicht dauerhaft zu verbessern oder seine als wertvoll beurteilten Kompetenzen zu erhalten oder die Entstehung von Dispositionen, die als schlecht bewertet werden, zu verhüten26. Man kann psychische Disposition vereinfacht als Verhaltensmuster ansehen, die sich nur indirekt feststellen lassen. Die Verhaltensweisen selbst sind nur die beobachtbaren Anzeichen dafür, dass bestimmte Dispositionen angenommen wurden. Es gibt vier Möglichkeiten der Beeinflussung:

1. neue Dispositionen erwerben
2. vorhandene, positiv bewertete Dispositionen ausbauen
3. negativ bewertete Dispositionen abbauen
4. Prävention vor negativ bewerteten Dispositionen

Bereits der Definitionsversuch des Wortes Erziehung verweist an mehreren Stellen auf den Wertebegriff. Ein Erzieher muss Verhaltensmuster und Fähigkeiten der Schüler bewerten, sinnvolle Dispositionen auswählen und aufbauen, weniger sinnvolle abbauen und negativ beurteilten Verhaltensweisen präventiv entgegenwirken. Auf diesen Tatsachen beruht die Annahme, dass Erziehen ohne zu werten nicht möglich ist, denn bevor der Akt der Erziehungüberhaupt ausgeführt werden kann muss bereits gewertet werden27. Folgt man diesem Verständnis wird deutlich, dass Erziehung unweigerliches Nachdenkenüber Werte und Wertungsprozesse nötig macht.

3. Bezugspunkt Gesellschaft

Der Ruf nach Erziehung wurzelt nicht selten in der Annahme: „Alles wird schlimmer!“28. Doch blickt man zurück, beklagten schon frühere Generationen den Mangel an Werten unter den Jugendlichen.

Zwei Beispiele:

1. „Diese heutige Jugend ist von Grund auf verdorben, sie ist böse, gottlos und faul. Sie wird nie wieder so sein wie die Jugend vorher, und es wird ihr niemals gelingen, unsere Kultur zu erhalten“29.

2. „Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte“30. In einem Punkt kann den historischen Äußerungen uneingeschränkt zugestimmt werden: die Jugend der Gegenwart wird niemals so sein, wie die der vorhergehenden Generation. Aber das bedeutet nach Meinung des Autors nicht zwangsläufig schlechter, sondern einfach anders. Doch was hat die Schule damit zu tun? Die Veränderung der Jugendlichen betrifft nach Meinung von Wolfgang Schulz die Schule heute mehr den je31. Als Hauptgrund fügt er die angewachseneüberschneidung von Schul- und Jugendzeit an. Während in den 50er und 60er Jahren für 70 Prozent der Bevölkerung der typische Bildungsgang mit 14 oder 15 Jahren beendet war32, ist der Schulbesuch in Deutschland heute bis zum Alter von 16 Jahren die Regel33. Die Konsequenz die sich daraus ergibt ist, das Orientierungsprobleme, Krisen in Wertfragen, Identitätsprobleme, Autoritätskonflikte und Verhaltenserprobungen sich stärker als damals in der Schule abspielen und somit zum Thema der Erziehung an Schulen werden müssen34.

3.3 Zusammenfassung

Unter dem vorangegangenen Punkt sollte gezeigt werden, dass es aus verschieden Perspektiven notwendig erscheint die Werteerziehung in den Bereich der Schule aufzunehmen. Nach Meinung des Autors ist der Erziehungsauftrag (1) gesetzlich vorgeschrieben und (2) ohne Wertungsbewusstsein nicht zu erfüllen. Die Veränderung der Gesellschaft macht es (3) notwendig, moralische Fragen in den schulischen Rahmen mit einzubeziehen. Sie ist als gesellschaftliche Institution mit der Aufgabe der Sozialisation beauftragt, da sie wie gezeigt die Schüler den Großteil ihrer Jugendphase begleitet und ihr daraus eine gewisse Verantwortung erwächst35. Bisher wurde die Frage nach dem ›wie‹ ausgeklammert. Der folgende Teil der Arbeit widmet sich genau dieser Fragestellung.

4. Ansätze der Werte- und Moralerziehung

Das Feld unterschiedlicher Ansätze zur Wert und Moralerziehung ist sehr weit. Die dabei getroffenen Annahmen sind oftmals verschieden, wenn nicht sogar widersprüchlich. Im Folgenden soll auf drei Ansätze zur Werte- und Moralerziehung eingegangen werden:

1. Ansatz der Wertevermittlung

Er basiert auf der Annahme, dassüberlieferte Werte und Normen, genauso wie Kenntnisse und Fertigkeitenübermittelt werden müssen36.

2. Ansatz der Wertklärung

Vor allem in den Vereinigten Staaten von Amerika unter der Bezeichnung »Values Clarification« bekannter und weit verbreiteter Ansatz37. Er geht von der Gleichberechtigung aller Werthaltungen in der pluralen Gesellschaft aus.

3. Moralkognitiver Ansatz

Von Lawrence Kohlberg weiterentwickeltes Modell, dass inüberlegungen von John Dewey und Jean Piaget wurzelt38. Kohlberg beschreibt die Entwicklung moralischer Urteilsfähigkeit mittels eines Stufenmodells.

In der Darstellung soll (1) der jeweilige Ansatz mit seinen Hintergründen kurz vorgestellt werden, (2) Einsatzmöglichkeiten der Modelle in der schulischen Praxis aufgezeigt und (3) Punkte die Anlass zur Kritik geben erläutert werden.

4.1 Wertevermittlung

In den Sechziger Jahren war die Welt noch in Ordnung. Die Wirtschaft boomte, es herrschte Arbeitskräftemangel und Bildung war der Motor des sozialen Aufstiegs. Die moralische Basis der damaligen Gesellschaft war fundiert auf den Nachkriegswerten39: Disziplin, Ordnung, Fleiß, Gründlichkeit, Perfektion und für die großen moralischen Fragen waren die Kirchen zuständig. Jugendliche, die in diesen Wohlstand hineingeboren wurden, sorgten für den ersten Wandlungsschub in der Gesellschaft. Der Politikwissenschaftler Roland Ingelhardt formulierte dazu in den 70er Jahren seine Theorie des Wandels von materialistischen zu postmaterialistischen Wertorientierungen40. Unter materialistischen Werten verstand er das Streben nach stabilen wirtschaftlichen Verhältnissen, nach Wirtschaftswachstum, Preisstabilität bzw. innerer und äußerer Sicherheit. Als postmaterialistische Werte bezeichnete er dagegen immaterielle Forderungen nach Selbstverwirklichung und sozialer Anerkennung41. Die damaligen Jugendlichen, die bereits an Wohlstand und wirtschaftliche Sicherheit gewohnt waren, fühlten sich durch die Moralvorstellungen der damaligen Gesellschaft eingeengt. Sie strebten nach postmateriellen Werten und lösten einen Individualisierungsschub aus der sich in den Folgejahren fortsetzte. Die folgenreichsten Einflüsse auf die Gesellschaft sind Auswirkungen zunehmenden Individualismus und Hedonismus.

1. Individualismus

Individualismus wird verstanden als die einseitigeüberbetonung der Interessen des Einzelnen. Der Eigenwert der Person und deren Rechte werden in den Mittelpunkt gerückt. Unberücksichtigt bleiben die Werte der Gemeinschaften und die daraus resultierenden Pflichten42.

2. Hedonismus

Hedonismus wird verstanden als einseitigeüberbewertung von Lust, Vergnügen und Genuss. Gesteigerter Hedonismus ist ein Zeichen kulturellen Verfalls und nicht ohne historischen Hintergrund wird in vielen Weisheitslehren die Askese, also die Zügelung der Begierden, das Maßhalten empfohlen43. Die Favorisierung des privaten Glücks geht zu Lasten des Gemeinwesens und fördert den Individualismus.

Individualismus und Hedonismus haben die Bereitschaft geschwächt sich in Gemeinschaften einzuordnen und Autoritäten anzuerkennen. Unter dem Deckmantel der gegenseitigen Toleranz entwickelte sich eine pluralistische Gesellschaft. Toleranz bedeutet eigentlich die Meinung, die Lebensweise, das Denken und Handeln anderer zu respektieren44. Gelebt wird allerdings bloße Duldung konträrer Meinungen und Lebensweisen um sich in seiner eigenen nicht stören zu lassen. Die daraus entstandene pluralistische Gesellschaft ist geprägt durch die Vielfalt an Freiheiten, Lebensformen und -stilen. Unter dem Schutz des Toleranzgebotes wird Kritik an der eigenen Lebens- und Denkweise zurückgewiesen. Der Anspruch jegliches Verhalten zu tolerieren ist jedoch schlichtweg nicht durchführbar. Auch wenn unsere Gesellschaft in den letzten dreißig Jahren nicht in Anarchie und Chaos versunken ist, so hat der Missbrauch des Toleranzgedankens doch zur Verunsicherung des Wertebewusstseins vieler Menschen beigetragen45. Toleranz als einziger sinnstiftender Wert reicht nicht aus. Das Individuum ist auf äußeren Halt angewiesen um inneren Halt zu finden. Dieser Halt kann nur in einer Gemeinschaft bzw. Gruppe mit gefestigtem Wertesystem gefunden werden. In einer unpersönlichen individualisierten Gesellschaft bleibt moralische Anstrengung aus und die Neigung auf Kosten anderer zu leben wird begünstigt. Auf Basis dieser Erkenntnis wird der Ruf nach Wertevermittlung verständlich und Vertreter dieser Richtung sehen als Erziehungsziel, die Vermittlung gemeinsamer Werte als Befähigungsgrundlage der Edukanten46 die Anforderungen, die in Gruppen einer Gesellschaft an ihre Mitglieder gestellt werden zu erfüllen47. Dabei wird angenommen, dass jedes Individuum in eine bestimmte Gruppe mit einer bestimmten Kultur eintritt, die ihm vorgegeben wird48. Anleitung zur Kritik wird nur als Ergänzung zurübernahme der gemeinschaftlichen Werte gesehen. Brezinka warnt eindringlich davor den Jugendlichen durch Aufforderung zur Pauschalkritik an feststehenden Prinzipien der Lebensordnung, die Aufgabe aufzubürden unsere Gesellschaft radikal verbessern zu können49.

4.1.1 Umsetzung der Wertevermittlung in der Schule

Zwei in der Unterrichtspraxis praktikable Ansatzpunkte der Wertevermittlung basieren auf der Theorie des Modelllernens, sowie auf der Annahme moralisch gutes Handeln ließe sich durch Kontrolle und Sanktion beeinflussen.

1. Lernen am Modell

Um die Verinnerlichung von gesellschaftlichen Werten zu unterstützen wird von den Lehrkräften verlangt, die zu vermittelnden Werte selbst zu leben. Im Sinne der lernpsychologischen Theorie des Modelllernens soll den Schülern ein gutes und damit nachahmenswertes Vorbild, Leitbild oder Muster geliefert werden. Die Bedeutung des Beobachtungs-, Nachahmungs- oder Modelllernens gilt in der modernen Psychologie als unstrittig50. Albert Bandura einer der bekanntesten Vertreter des Lernens am Modell gliedert die dabei ablaufenden Vorgänge in zwei Abschnitte mit jeweils zwei Unterpunkten. (1) Die Aneignungsphase oder Akquisition mit (a) den Aufmerksamkeitsprozessen und (b) den Gedächtnisprozessen, sowie (2) die Ausführungsphase oder Performanz mit (c) den motorischen Reproduktionsprozessen und (d) den Verstärkungs- und Motivationsprozessen (siehe Abbildung 1)51.

Abbildung 1: Vorgang des Modell-Lernens nach Bandura

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: eigene Darstellung

(1a) Aufmerksamkeitsprozesse

Aufmerksamkeitsprozesse gegenüber dem Gegenstand der Nachahmung, auch Modell oder Beispiel genannt, nehmen eine wichtige Funktion im Rahmen des Beobachtungslernens ein und sind Grundvoraussetzung für die Aufnahme des zu erlernenden Verhaltens52. Dabei haben sich bei Banduras Untersuchungen vor allem Modellpersonen als besonders effektive Vorbilder herausgestellt, die für den Edukanten soziale Macht repräsentieren53.

(1b) Gedächtnisprozesse

Da beobachtbares Verhalten oft nicht sofort selbst angewandt werden kann, liegt die Vermutung auf der Hand, dass es vom Individuum gespeichert wird. Siegfried Uhl unterscheidet hierbei zwei Arten der Speicherung. Das Modellverhalten kann z.B. als bildhafter Vorstellungsinhalt gespeichert werden54. Ein Kind das aggressives Verhalten beobachtet, speichert dies beispielhaft unter der bildlichen Vorstellung des ›an den Haaren ziehen‹55. Die zweite Möglichkeit nach Uhl ist die Speicherung des Modelverhaltens nach einer Phase der Abstraktion, Verallgemeinerung und Synthese. Nicht das Verhaltensmuster als Ganzes sollübernommen werden, sondern auch die dahinter liegenden Prinzipien und Regeln. Dies erscheint im Rahmen der Werteerziehung von besonderer Bedeutung, dass eben gerade nicht zu bloßer mechanischer Kopie von Erlerntem erzogen werden soll. Uhl fügt als Verdeutlichung die Samaritergeschichte im Religionsunterricht an. Die Kinder erkennen (im Idealfall) nicht nur die einemüberfallopfer entgegen zu bringende Hilfestellung, sondern auch abstrahiert von der konkreten Situation, die Norm der Hilfeleistung56.

(2c) Motorische Reproduktionsprozesse

Aus Punkt (1b) lässt sich folgern, dass das Modell das Verhalten zwar nicht direkt beeinflusst, aberüber den Umweg der kognitiven Organisation des Beobachters57. Das gespeicherte Verhaltensmuster wird ganz oder teilweise nachgeahmt und bei nicht zufrieden stellenden Ergebnissen wiederholt, also geübt. Die Intensität desübungsprozesses hängt ab von der Komplexität des Verhaltensmusters58.

(2d) Verstärkungs- und Motivationsprozesse

Verstärkung oder Motivation erfährt ein Individuum vor allem dann, wenn sich von ihm nachgeahmte Handlungsweisen als zweckmäßig oder in irgendeiner Weise als lohnend herausstellen. Sind Sanktionen zu erwarten oder Umstände die keinen Ansporn bieten, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass das Individuum gelerntes Verhalten offen zeigt. Hier zieht Walter Edelmann Parallelen zu einem anderen Bereich der Lernpsychologie dem so genannten instrumentellen Lernen59. Dort geht man davon aus, dass die Auftretenswahrscheinlichkeit gelernten Verhaltens von nachfolgenden Konsequenzen abhängt60. Dieser Zusammenhang wird vorerst kurz zurück gestellt und in diesem Kapitel unter dem Punkt »Lenkung des Handelns durch Kontrolle und Konsequenz« näher behandelt. Nach der Darstellung der Theorie bleibt noch die Frage zu beantworten welche Möglichkeiten sich daraus für den Unterricht ergeben. Der Autor möchte drei Empfehlungen geben: (1) Als Lehrer selbst moralisch handeln, (2) schlechte Beispiele vermeiden oder ausschalten und (3)über die eigene Person hinaus gute Modelle in den Erfahrungskreis der Edukanten einbringen61.

Vereinfacht formuliert bedeutet Punkt (1): Wer zur Moral erziehen will, muss selbst moralisch handeln. Damit ist die erste Möglichkeit im Rahmen des Modelllernens definiert. Punkt (2) ist die Umkehrung der Annahme Schüler würden gute Beispiele nachahmen und deren Verhaltensweisen adaptieren. Genauso wie gutes kann z.B. auch schlechtes Benehmenübernommen werden. Die Empfehlung die sich daraus an die Lehrer ergibt liegt auf der Hand: Halte schlechte Beispiele aus dem Erfahrungskreis der Schüler soweit wie möglich fern.

Punkt (3) rät dem Pädagogen, die Edukanten neben dem eigenen noch mit weiteren, als Vorbild geeigneten Modellen, zu konfrontieren. Denkbar wären z.B. erwachsene Personen die im alltäglichen Leben besondere Leistungen erbringen (Sanitäter, Altenpfleger, Sportler, usw.), dabei ist es zunächst unwesentlich ob die Edukanten real oder nur fiktiv, anhand von Texten, Videobändern, etc. mit den Vorbildern in Kontakt treten62. Aber auch erfundene Akteure sind denkbar. Märchen und Fabeln werden nicht nur aufgrund ihres Unterhaltungscharakters geschätzt, sondern auch wegen beinhalteter moralischer Botschaften. Man erinnere sich nur an Passagen wie: und die Moral von der Geschicht.

2. Lenkung des Handelns durch Kontrolle und Konsequenz

Unter Kontrolle versteht man: „ (…) alle sozialen Handlungen, mit der die Menschen das Verhalten von anderen Menschen zuüberwachen und - falls nötig - zu beeinflussen und in die gewünschte Richtung zu lenken versuchen.“63. Die Beeinflussung geschieht - hier kommt man in einen weiteren Bereich der Lernpsychologie - durch auf die Kontrolle folgende Konsequenzen. In der Literatur hat sich leider keine einheitliche Terminologie durchgesetzt und so kann man in diesem Zusammenhang von Lernen am Erfolg, operantem Konditionieren oder instrumentellem Lernen sprechen. Nach der Theorie des instrumentellen Lernens unterscheidet man vier mögliche Konsequenzen: (1) positive Verstärkung, (2) negative Verstärkung, (3) Bestrafung und (4) Löschung. Von instrumentellem Lernen spricht man deshalb, weil das Verhalten das Instrument oder Mittel ist durch das eine entsprechende Konsequenz hervorgerufen wird64. Möchte der Pädagoge bestimmtes Verhalten aufbauen, kann er sich der beiden erstgenannten Möglichkeiten bedienen. Bei positiver Verstärkung folgt dem Verhalten ein positives Ereignis wie z.B. Anerkennung, Lob oder eine besondere Auszeichnung. Ein Schüler hilft einem kleineren Klassenkameraden, der von anderen Mitschülern bedroht wird. Folgt Anerkennung des Mutes und der Hilfsbereitschaft durch den Lehrer, wird der Schüler in ähnlicher Situation sein Verhalten sehr wahrscheinlich wieder an den Tag legen. Bei der negativen Verstärkung folgt dem Verhalten der Wegfall einer unangenehmen Konsequenz. Verhielten sich die beiden aggressiven Schüler des vorangegangenen Beispiels z.B. in zunehmendem Masse nett zu ihren Mitschülern, könnte eine möglicherweise gesteigerte Aufmerksamkeit der Lehrer auf das Verhalten der beiden Schüler entfallen. Ist das Ziel des Pädagogen Abbau bestimmten Verhaltens, kann er Möglichkeit (3) und (4) ergreifen. Bei der Bestrafung wird nicht nur eine unangenehme Konsequenz angedroht, sondern sie folgt dem gezeigten Verhalten. Im gewählten Beispiel wäre dies z.B. denkbar in Form der Nacharbeit für die beidenübeltäter. Die Löschung, als Alternative zum Abbau von Verhaltensweisen hält der Autor für nur bedingt geeignet. Sie geht maßgeblich davon aus, dass das Verhalten vor allem Aufmerksamkeit erzeugen soll. Bei ausbleibender Beachtung sinkt die Attraktivität des Verhaltensmusters für das Individuum und es wird abgelegt65. Inkonsequenz in der Nichtbeachtung kann nach Meinung des Autors den gegenteiligen Effekt auslösen.

4.1.2 Kritik an der Wertevermittlung

Die beschriebenen Methoden der Wertklärung zielen darauf ab, als Pädagoge seinen Handlungen eine Wertebasis zugrunde zu legen, bzw. das Verhalten der Schüler an bestimmten Wertvorstellungen zu messen und gegebenenfalls bei Nichtbeachtung zu sanktionieren. Der Autor hält diese Ansatzpunkte der Wertevermittlung für problematisch. Zweifel resultieren nicht aus derüberlegung, dass ein Basiskonsens an Werten falsch wäre, sondern aus den damit verbundenen Schwierigkeiten diesen Konsens zu schaffen und die Werte anschließend durch geeignete Methoden zu vermitteln. Folgende vier Punkte sollen diese Position argumentativ untermauern.

1. Unmöglichkeit des Wertekonsens

Die Position der Wertevermittlung geht davon aus, dass unsere heutige pluralistische Gesellschaft die Rückbesinnung auf gemeinsame Werte unverzichtbar macht. Es stellt sich jedoch die Frage welche Werte dabei gemeint sind. Oser und Althof geben zu bedenken, dass eine Kultur ihre Werte nicht aus sich selbst heraus reflektieren kann66. Dies bedeutet: alleine die Gültigkeit bestimmter Werte innerhalb einer Kultur rechtfertigen sie nicht. Während das deutsche Rechtssystem die Todesstrafe nicht als adäquate Strafe für einen Schwerverbrecher ansieht67, ist dies in einigen Staaten der USA noch praktiziertes Recht68. Doch nach Meinung von Oser und Althof ist Gerechtigkeit unteilbar und gerade dann in Gefahr, wenn sie nach Einzelbedingungen modifiziert wird69. Sie erheben demnach den Anspruch der Universalität von Werten. Doch auch damit ist die Frage welche Werteübergreifende Gültigkeit besitzen nicht geklärt, sondern nur festgestellt, dass ein bestimmter Kulturkreis sie auf sich gestellt nicht benennen kann. Kohlberg geht noch einen Schritt weiter und hält einen Mehrheitskonsensüber Werte oder vereinfachtüber gutes oder schlechtes Verhalten schlichtweg für nicht erreichbar70.

2. Gefahr der Indoktrination

Allzu leicht kann man versucht sein eine bereits bestehende Werteeinstellung einem neuen Mitglied der Gesellschaft aufzuoktroyieren, den Akt der Wertsetzung nicht dem Subjekt zuüberlassen und ihm Verantwortlichkeit und Autonomie abzusprechen71. Die Anerkennung gemeinsamer Werte wird als Grundvoraussetzung eines funktionierenden Gemeinwesens nicht in Frage gestellt, jedoch muss nach Meinung des Autors auf den Prozess der Vermittlung der Werte ein besonderes Augenmerk gerichtet werden, um Ideologisierung zu vermeiden. In der allgemeinen wissenschaftlichen Definition ist mit Ideologie die Lehre von Ideen gemeint, ein System von Weltanschauungen, Grundeinstellungen und Wertungen, an die eine soziale Gruppe oder eine Kultur gebunden ist72. Ideologie ist aber im Kontext dieser Arbeit, wie sehr häufig in unserer Gesellschaft, negativ behaftet und wird als eine gefährliche Tendenz zur gedanklichen Engführung ohne Offenheit gesehen73. Das Individuum muss befähigt werden, Wertungsprozesse zu verstehen und selbst durchzuführen, Werte zu modifizieren und möglicherweise auch zu verwerfen. Die Setzung von Werten als oberste Richtlinie ohne Reflexion durch die Individuen und die Gesellschaft kann zu extrem unmoralischen Ergebnissen führen. Unsere Geschichte ist voll von Beispielen bei denen unter Berufung auf oberste Werte Gräueltaten verübt wurden. Präsidentenmord, Flugzeugentführungen und das Massaker an Athleten bei olympischen Spielen sind unter Vorwand selbstloser Motive höchster Moral begangen worden74.

3. Fehlender Einblick in Handlungsmotive

Ist die Werterziehung primär auf das Hervorrufen des ›richtigen Verhaltens‹ ausgerichtet, kann bei fehlender Kenntnisüber die Handlungsmotive nichtsüber den moralischen Stellenwert des Verhaltens ausgesagt werden75. Es kann im Extremfall zu äußerer Konformität bei inner Ablehnung kommen.

[...]


1 Vgl. Brezinka, W. (2003: 20)

2 Vgl. Brezinka, W. (1992: 147)

3 Vgl. Engfer, D. (1999: 11)

4 Vgl. Hentig, H. v. (1999: 18)

5 Vgl. Speck, O. (1995: 10) vgl. auch Hentig, H. v. (1999: 16f)

6 Vgl. Folke, W. (2002: 125ff)

7 Vgl. Höhn, E. (2003: 15)

8 Vgl. Heidegger, M. (1977: 227)

9 Vgl. Baumann, U. (1987: 42)

10 übersetzung: „Wert ist eine explizite oder implizite, für ein Individuum oder eine Gruppe charakteristische Konzeption des Wünschenswerten, welche die Auswahl unter verfügbaren Handlungsarten, Handlungsmitteln und -zielen beeinflusst.“ Kluckholm, C. (1962: 395)

11 Hillmann, K.-H. (1986: 54)

12 ebenda S. 55

13 Folke, W. (2002: 141)

14 Hentig, H. v. (1999: 71)

15 Vgl. Engfer, D. (1999: 16)

16 Vgl. Ahlborn, H.-U. (1996: 40)

17 Vgl. Hentig, H. v. (1999: 70)

18 Vgl. Engfer, D. (1999: 24)

19 Vgl. Brockes, W. (1996: 186)

20 Vgl. Lechinsky, A., Kluchert, G. (1999: 15)

21 Vgl. Massing, P. (2000: 169) vgl. auch Lechinsky, A., Kluchert, G. (1999:15)

22 Vgl. Lechinsky, A., Kluchert, G. (1999: 15)

23 Vgl. Massing, P. (2000: 170)

24 Vgl. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland

25 Alle zitierten Verfassungstexte sind der Quellensammlung von Schuster, R. (1992) entnommen.

26 Vgl. Brezinka, W. (1978: 42ff) vgl. auch Brezinka, W. (1974: 84)

27 Vgl. Brezinka, W. (1992: 142)

28 Vgl. Massing, P. (2000: 167)

29 Babylonische Ziegelinschrift, ca. 3000 v. Christi; zit. nach Schulz, W. (1997: 6)

30 Sokrates, ca. 400 v. Christi; zit. nach Schulz, W. (1997: 6)

31 Vgl. Schulz, W. (1997: 12f)

32 Vgl. Schulz, W. (1997: 12)

33 Vgl. Deutsche, S. (2002: 62)

34 Vgl. Schulz, W. (1997: 12)

35 Vgl. Dobbelstein-Osthoff, P. (1987: 55)

36 Vgl. Oser, F., Althof, W. (1992: 96f)

37 Vgl. Mauermann, L. (1983: 85)

38 Vgl. Oser, F., Althof, W. (1992: 41f)

39 Vgl. Lorenz, A. (1996: 27)

40 Vgl. Ingelhardt, R. (1979)

41 Vgl. ebenda

42 Vgl. Brezinka, W. (1993: 15ff)

43 Vgl. ebenda S. 23

44 Vgl. Fees, K. (2000: 43)

45 Vgl. Brezinka, W. (1993: 23)

46 Edukant = zu erziehende Person. Abgeleitet von Edukation = Erziehung.

47 Vgl. Reinhardt, S. (1997: 244)

48 Vgl. Brezinka, W. (1992: 162)

49 Vgl. Brezinka, W. (1993: 46)

50 Vgl. Uhl, S. (1996: 144) Die Bezeichnungen Beobachtungs-, Nachahmungs- oder Modellernen werden von einigen Autoren synonym verwandt, so auch bei Siegfried Uhl, von anderen gegeneinander abgegrenzt. Einig ist man sich aber in der Tatsache, dass die Wahrnehmung eines Modells einen Beobachter beeinflusst.

51 Vgl. Bandura, A. (1976: 24f)

52 Vgl. Edelmann, W. (2000: 191)

53 Vgl. Ahlborn, H.-U. (1996:53)

54 Vgl. Uhl, S. (1996: 144) vgl. auch Edelmann, W. (2000: 192)

55 Vgl. Edelmann, W. (2000: 192)

56 Vgl. Uhl, S. (1996: 145)

57 Vgl. Edelmann (2000: 192)

58 Vgl. Uhl, S. (1996: 145)

59 Vgl. Edelmann, W. (2000: 192)

60 Vgl. ebenda S. 69

61 Vgl. Uhl, S. (1996: 146)

62 Vgl. Edelmann, W. (2000: 189) vgl. auch Uhl, S. (1996: 144)

63 Vgl. Uhl, S. (1996: 201)

64 Vgl. Edelmann, W. (2000: 68f)

65 Vgl. Edelmann, W. (2000: 93f)

66 Vgl. Oser, F., Althof, W. (1992: 99), vgl. auch Oser, F. (1988: 20)

67 Vgl. Artikel 102 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland

68 Vgl. http://www.todesstrafe.de/thema/laender/usa/ (23.06.2004)

69 Vgl. Oser, F., Althof, W. (1992: 99)

70 Vgl. Kohlberg, L., Turiel, E. (1978: 27)

71 Vgl. Fees, K. (2000: 267)

72 Vgl. Duden (1982: 327)

73 Vgl. Waibel, E.M. (1994: 217)

74 Vgl. Mischel, W. (1976: 107)

75 Vgl. Oser, F., Althof, W. (1992:101)

Ende der Leseprobe aus 81 Seiten

Details

Titel
Werteerziehung an beruflichen Schulen
Hochschule
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
81
Katalognummer
V66655
ISBN (eBook)
9783638591690
Dateigröße
641 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Theoretische Beleuchtung unterschiedlicher Ansätze zur Werteerziehung, sowie die Ausarbeitung einer Unterrichtseinheit basierend auf den Theorien von Lawrence Kohlberg.
Schlagworte
Werteerziehung, Schulen
Arbeit zitieren
Jürgen Mehrlich (Autor:in), 2004, Werteerziehung an beruflichen Schulen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/66655

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Titel: Werteerziehung an beruflichen Schulen



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