Leseprobe
Judentum und Antisemitismus in mehrkonfessionellen Großstädten Frankfurt am Main und Breslau 1866-
Anmerkungen zu "Inge Schlotzhauer, Ideologie und Organisation des politischen Antisemitismus in Frankfurt am Main 1880- 1914 (Studien zur Frankfurter Geschichte Bd.28), Frankfurt a.M. 1989" und "Till van Rahden, Juden und andere Breslauer. Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt von 1860 bis 1925 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Bd.139), Göttingen 2000."
Die Zahl der Regionalstudien zum Antisemitismus und zur deutsch- jüdischen Geschichte im Kaiserreich ist in den letzten zwanzig Jahren enorm gewachsen und hat zu einer wesentlich differenzierteren aber auch diffuseren Hypothesenbildung zur Entstehung des modernen Antisemitismus in Deutschland geführt.[1] Weder die Realkonfliktthese, noch die Einstufung des Antisemitismus als reines kulturelles Konstrukt der Antisemiten, das der Präsenz der Juden nicht bedürfe, vermögen angesichts der neueren regionalgeschichtlichen Forschungsergebnisse in ihrer idealtypischen Reinheit zu überzeugen. Zu den Allgemeinplätzen der Forschung zählt hingegen mittlerweile, dass der Antisemitismus im Kaiserreich ein ländliches Phänomen war, während er sich in urbanen Zentren (mit Ausnahme der sächsischen Städte Dresden, Leipzig und Chemnitz) nicht behaupten konnte. Dieser Befund überrascht, da sich die jüdische Minderheit durch einen sehr hohen Urbanisierungsgrad auszeichnete, so dass die Wahrscheinlichkeit von Konflikten zwischen Juden und Nichtjuden in Großstädten wie Berlin, Frankfurt a.M., Breslau, Köln usw. eigentlich recht hoch gewesen sein müsste. Umso dringlicher erscheint es, danach zu fragen, wie das Zusammenleben von Christen und Juden in den Großstädten funktionierte und warum es den Antisemiten nicht gelang, die relativ starke Präsenz von Juden für die Verbreitung ihrer Ideologien und Organisationen zu nutzen. Im Folgenden soll versucht werden, an Hand von zwei in ihrer Herangehensweise sehr verschiedenen Arbeiten zu zwei deutschen Großstädten mit hohem jüdischen Bevölkerungsanteil (Frankfurt a.M. und Breslau), nach Antworten in der Historiographie zu fahnden.
Frankfurt war im Kaiserreich die Großstadt mit dem höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil (1866: 10%, 1914: 6%). Die jüdische Minderheit hatte im Gefolge der Auflösung der Judengasse 1796, der Emanzipation 1864 und der Annexion Frankfurts durch Preußen 1866 einen rasanten wirtschaftlichen Aufschwung erlebt. Selbst durch die restriktiven Judengesetze der Restaurationszeit wurde er kaum gebremst. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung waren die Juden im Wirtschafts- bürgertum und in den freien Berufen stark überrepräsentiert, und ihre durchschnittliche Steuerleistung übertraf diejenige der Protestanten um das 3,5 fache und diejenige der Katholiken um das 7 fache. Folgt man der Logik der Realkonfliktthese sollte man meinen, dass diese Rahmenbedingungen in der als "Neu Jerusalem am fränkischen Jordan"[2] verspotteten Großstadt Anlass zu Konflikten zwischen Juden und Nichtjuden geboten und zur Herausbildung eines florierenden politischen Antisemitismus geführt hätten.
Doch Inge Schlotzhauers Untersuchung zeigt, dass der politische Antisemitismus in Frankfurt nie richtig Fuß fasste. Anfang der 1880er Jahre wurden im Kontext der Agitation für die Antisemitenpetition erste Versuche zur Gründung eines Vereins unternommen, die allerdings im Sande verliefen. Erst mit der Gründung des "Deutschen Vereins" 1891/94 gelang die Etablierung einer judenfeindlichen Organisation. Sie blieb aber sowohl in der Frankfurter Kommunalpolitik, als auch im Rahmen der reichsweiten antisemitischen Bewegung ohne nennenswerten Einfluss. Die Mitgliedschaft schwankte zwischen 500 (1895) und 200 (1906) Personen mit abnehmender Tendenz, abgesehen von einem leichten Aufschwung um 1912. Reichsweiten Bekanntheitsgrad erlangten die Frankfurter Antisemiten nur durch die Skandale um den "Kölner Hof", während ihre Versammlungs- und Pressetätigkeit nicht die erhoffte Resonanz erzielten. Dies lag nicht zuletzt am entschlossenen Widerstand, den ganz unterschiedliche Frankfurter Bevölkerungsgruppen der antisemitischen Agitation entgegenbrachten. Jüdische wie christliche Kaufleute empörten sich über Boykottaufrufe der Antisemiten gegen jüdische Geschäfte und die Herausgabe eines Adressenbuches mit nichtjüdischen Geschäften pünktlich zum Weihnachtsfest. Sozialdemokraten störten regelmäßig die Versammlungen der Antisemiten, so dass man sich gezwungen sah, durch hohe Eintrittspreise entsprechende Klientel abzuschrecken. Der Magistrat begab sich in einen Rechtsstreit mit dem reichsweit bekannten "Kölner Hof", der damit warb, Juden nicht zu bewirten oder zu beherbergen. Es gelang, dem Betreiber des "judenfreien" Hotels, der gleichzeitig ein führendes Mitglied des "Deutschen Vereins" war, die Nutzung des städtischen Gehwegs für seinen Betrieb zu untersagen.
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[1] Zur deutsch- jüdischen Geschichte: Bibliographie zur deutsch- jüdischen Geschichte, hrsg. von Michael Brocke/ Julius H. Schoeps/ Falk Wiesemann, München u.a. 1989ff. Zur regionalgeschichtlichen Antisemitismusforschung: Helmut W. Smith, Alltag und politischer Antisemitismus in Baden 1890- 1900, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 141 (1993), S. 280- 303; Thomas Klein, Der preußische Konservatismus und die Entstehung des politischen Antisemitismus in Hessen- Kassel (1866- 1893), Marburg 1995; Stefan Scheil, Die Entwicklung des politischen Antisemitismus in Deutschland zwischen 1881 und 1912. Eine wahlgeschichtliche Untersuchung, Berlin 1999; Hnasjörg Pötzsch, Antisemitismus in der Region. Antisemitische Erscheinungs- formen in Sachsen, Hessen, Hessen- Nassau und Braunschweig 1870- 1914, Wiesbaden 2000; Matthias Piefel, Antisemitismus und völkische Bewegung im Königreich Sachsen 1879- 1914, Göttingen 2004.
[2] Zit. nach Schlotzhauer, Ideologie und Organisation, S. 37.