Die Rezension untersucht die Konstellationen von Judentum und Antisemitismus in mehrkonfessionellen Großstädten zur Zeit des Kaiserreichs an Hand der Arbeiten von Inge Schlotzhauer zu Frankfurt am Main und Till van Rahden zu Breslau. Im Mittelpunkt steht die Frage, warum sich im großstädtischen Raum vor dem Ersten Weltkrieg eine politische Kultur etablieren und erhalten konnte, in der Antisemitismus keine nennenswerte Rolle spielte.
Inhaltsverzeichnis
- Die Zahl der Regionalstudien zum Antisemitismus und zur deutsch- jüdischen Geschichte im Kaiserreich
- Frankfurt war im Kaiserreich die Großstadt mit dem höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil
- Viel stärker haben sich die methodischen Innovationen der letzten Jahrzehnte in der Geschichtswissenschaft im Allgemeinen und der deutsch- jüdischen Geschichte im Besonderen in Till van Rahdens Studie über Breslau niedergeschlagen.
- Die Studie gliedert sich in fünf thematische Schwerpunkte, an Hand derer das Zusammenleben von Juden und anderen Breslauern ausgeleuchtet wird.
- Ein Feld, in dem die Debatte über die Inklusion und Exklusion von Juden besonders intensiv geführt wurde war die Bildungspolitik.
- Wie sich am Beispiel der Schulpolitik bereits aufzeigen ließ war Breslau eine der wenigen verbliebenen Hochburgen des Linksliberalismus im Kaiserreich – nicht zuletzt aufgrund des politischen Engagements der jüdischen Minderheit.
- Angesichts dieser Gemengelage von Inklusion und Exklusion, von Assimilation und Bewahrung von Tradition könne, so das Resümee des Autors, von einem das Judentum praktisch auflösenden Assimilations- prozess nicht die Rede sein.
- Der Antisemitismus der nichtjüdischen Umwelt beeinträchtigte die Ausformung der \"situativen Ethnizität\" der jüdischen Minderheit Breslaus nur marginal.
- Dieses im Vergleich zu den Verhältnissen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus geradezu idyllische Bild verführt van Rahden zu der Aussage, dass die Wirkung des Antisemitismus im Kaiserreich oft überzeichnet werde und es in diesem Punkt keine direkten Kontinuitätslinien vom Kaiserreich zum Nationalsozialismus gebe.
- In Frankfurt am Main und Breslau war das Vorherrschen von Liberalismus und Toleranz in der politischen Kultur nur möglich, weil durch das Dreiklassenwahlrecht und die Persistenz der Honoratiorenpolitik all jene kleinbürgerlichen und mittelständischen Bevölkerungsgruppen, die als potentielle Trägerschichten des Antisemitismus zu gelten haben, noch weitgehend von der politischen Bühne ausgeschlossen blieben.
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit analysiert die Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden in den deutschen Großstädten Frankfurt am Main und Breslau im Zeitraum von 1866 bis 1914. Sie untersucht, wie das Zusammenleben in diesen Städten funktionierte und warum es den Antisemiten nicht gelang, die relativ starke Präsenz von Juden für die Verbreitung ihrer Ideologien und Organisationen zu nutzen.
- Die Herausforderungen und Möglichkeiten des Zusammenlebens von Juden und Nichtjuden in mehrkonfessionellen Großstädten des Kaiserreichs
- Die Rolle von Inklusion und Exklusion in der Gestaltung von Beziehungen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Bevölkerungsgruppen
- Der Einfluss von liberalen und konservativen politischen Strömungen auf das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden
- Die Bedeutung von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Faktoren für die Präsenz und den Einfluss von Antisemitismus
- Die Herausforderungen und Chancen der Bildung im Kontext von Religions- und Kulturpluralität
Zusammenfassung der Kapitel
Die Arbeit untersucht zwei deutsche Großstädte mit hohem jüdischen Bevölkerungsanteil: Frankfurt am Main und Breslau.
Die Untersuchung von Frankfurt am Main konzentriert sich auf die Frage, warum der politische Antisemitismus in dieser Stadt nie richtig Fuß fasste. Die Arbeit analysiert die Organisation und Ideologie der antisemitischen Bewegung in Frankfurt und beleuchtet den Widerstand verschiedener Bevölkerungsgruppen gegen deren Agitation.
Die Untersuchung von Breslau konzentriert sich auf die Bedingungen und die praktische Ausgestaltung des Zusammenlebens von Juden und Nichtjuden in dieser Stadt. Sie beleuchtet die vielfältigen Mechanismen von Inklusion und Exklusion, an deren Aushandlung sich die Breslauer Juden aktiv beteiligten.
Die Arbeit untersucht die jüdische Berufs- und Einkommensstruktur in Breslau und zeigt, dass die jüdische Minderheit im Vergleich zur nichtjüdischen Bevölkerung im Bürgertum deutlich überrepräsentiert war.
Die Arbeit analysiert die Bildungspolitik in Breslau und zeigt, wie der liberale Magistrat gegen den Widerstand des preußischen Kultusministeriums und der Interessenvertreter der katholischen Bevölkerung Breslaus die Einrichtung des überkonfessionellen Johannesgymnasiums und die Einstellung jüdischer Lehrkräfte an Volksschulen durchsetzte.
Die Arbeit untersucht das politische Engagement der jüdischen Minderheit in Breslau und zeigt, wie sie die linksliberale Prägung der politischen Kultur der Stadt bis zum Ersten Weltkrieg bewahren konnte.
Die Arbeit analysiert die Einbürgerung von jüdischen Zuwanderern aus Russland und Österreich- Ungarn in Breslau und zeigt, wie die Stadt sich nicht gegen die latent antisemitisch gefärbte preußische Einbürgerungspraxis durchsetzen konnte.
Die Arbeit kommt zu dem Schluss, dass in Breslau kein das Judentum praktisch auflösender Assimilationsprozess stattgefunden hat, aber auch kein Rückzug in ein jüdisches Milieu oder eine Subkultur. Die jüdische Gruppenidentität lässt sich am besten mit dem Begriff \"situative Ethnizität\" erfassen.
Die Arbeit zeigt, dass der politische Antisemitismus in Breslau zur Zeit des Kaiserreichs keine nennenswerte Rolle spielte und von den städtischen Eliten als illegitime Politisierung und Verhetzung diskreditiert wurde.
Die Arbeit stellt fest, dass die Wirkung des Antisemitismus im Kaiserreich oft überzeichnet wird und es keine direkten Kontinuitätslinien vom Kaiserreich zum Nationalsozialismus gibt.
Die Arbeit analysiert die Rolle des Dreiklassenwahlrechts und der Honoratiorenpolitik für die Präsenz von Antisemitismus in Frankfurt am Main und Breslau.
Schlüsselwörter
Antisemitismus, deutsch- jüdische Geschichte, Kaiserreich, Mehrkonfessionelle Großstädte, Frankfurt am Main, Breslau, Inklusion, Exklusion, Assimilation, Integration, situative Ethnizität, politische Kultur, Liberalismus, Konservatismus, Bildungspolitik, Kommunalpolitik.
- Quote paper
- Thomas Gräfe (Author), 2004, Judentum und Antisemitismus in Frankfurt am Main und Breslau 1866- 1914, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/66698