Recht und Gerechtigkeit in Dramen und Erzählungen Heinrich von Kleists


Examensarbeit, 2002

70 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Gliederung:

0. Vorwort

1. Einleitung
1.1. Naturrechtliche Staatstheorien und ihre Kritik
1.1.1. Thomas Hobbes
1.1.2. Jean-Jacques Rousseau
1.1.3. Immanuel Kant
1.1.4. Adam Heinrich Müller
1.2. Archaische Rechtsformen
1.2.1. Die Fehde
1.2.2. Kriegsrecht und Gnadenrecht

2. Recht und Gerechtigkeit in Kleists Erzählung Michael Kohlhaas
2.1. „.einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen“
2.2. Der Rechtsbruch auf der Tronkenburg und seine Folgen
2.2.1. Der Paßschein – ein landesherrliches Privilegium?
2.2.2. „.daß er sich Recht zu verschaffen wissen würde.“
2.2.3. „so möge mir Gott nie vergeben, wie ich dem Junker vergebe“ – Selbsthilfe oder Rache?
2.2.4. Führt Kohlhaas eine Fehde?
2.3. Das Gespräch mit Luther
2.3.1. Gottesrecht kontra Naturrecht
2.3.2. Die Erteilung der Amnestie
2.4. Das Todesurteil in Sachsen
2.4.1. Die Abdeckerszene – Ist Kohlhaas´ Wille gebrochen?
2.4.2. Der Bruch der Amnestie
2.4.3. Das Todesurteil
2.4.4. Die Auslieferung an Brandenburg
2.5. „.ein Amulett,.es wird dir dereinst das Leben retten“
2.6. Das Todesurteil in Brandenburg
2.6.1. Das Amulett – Werkzeug der Rache oder Werkzeug der Gerechtigkeit?
2.6.2. Kohlhaas´ Tod – Strafe oder Sieg der Gerechtigkeit?
2.7. Fazit

3. Recht und Gerechtigkeit in Kleists Drama Prinz Friedrich von Homburg
3.1. Der Ungehorsam des Prinzen von Homburg
3.1.1. Die Traumszene
3.1.2. Die Vorbereitungen zur Schlacht
3.1.3. Die Schlacht bei Fehrbellin
3.2. Das Todesurteil
3.2.1. „.daß dem Gesetz Gehorsam sei“ - Die Rechtsauffassung des Kurfürsten
3.2.2. „.nun wird er dem Herzen auch gehorchen“ - Die Rechtsauffassung Homburgs
3.3. „Seit ich mein Grab sah, will ich nichts, als leben“ – Die Wandlung Homburgs.
3.3.1. Kriegsrecht kontra Gnadenrecht - Der Konflikt des Kurfürsten
3.3.2. Physischer oder moralischer Tod? – Die Entscheidung Homburgs
3.3.3. Die Rechtsauffassung des Obrist Kottwitz.
3.4. Die Begnadigung – Akt der Rettung oder Akt der Grausamkeit?
3.5. Fazit

4. Fazit: Recht und Gerechtigkeit in Heinrich von Kleists Michael Kohlhaas und Prinz Friedrich von Homburg

5. Literaturverzeichnis

0. Vorwort:

Heinrich von Kleist beschäftigt sich in vielen seiner Werke mit der Thematik Recht und Gerechtigkeit. In dieser Arbeit sollen seine Erzählung Michael Kohlhaas und sein Drama Prinz Friedrich von Homburg auf diese Thematik hin untersucht werden, da in beiden Werken die Protagonisten Opfer eines Rechtssystems werden, das von den Machthabenden willkürlich gebeugt wird. Die in den Werken enthaltenen Ansichten über Recht und Gerechtigkeit sowie deren Entwicklung bei den einzelnen Figuren sollen herausgearbeitet und verglichen werden. Der Vergleich der inhaltlich gegenläufigen Struktur der beiden Werke sowie deren rechtlicher Bedeutungsebenen wird Aufschluß über Kleists Vorstellung von Recht und Gerechtigkeit geben.

Außerdem soll gezeigt werden, inwiefern Kleist die rechtsphilosophischen Staatstheorien von Thomas Hobbes, Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant und Adam Müller, mit denen er sich intensiv beschäftigt hat, in diese beiden Werke einarbeitet und beurteilt.

Die Untersuchung der beiden Werke erfolgt chronologisch, um die Entwicklung der Rechts- und Gerechtigkeitsansichten der Figuren besser nachvollziehen zu können.

1. Einleitung:

Im folgenden werden verschiedene Staatstheorien und Rechtsformen vorgestellt, die für die Betrachtung von Kleists Werken im Hinblick auf das Thema Recht und Gerechtigkeit relevant sind.

1.1. Naturrechtliche Staatstheorien und ihre Kritik:

Heinrich von Kleist setzt sich in seinen Werken Michael Kohlhaas und Prinz Friedrich von Homburg unter anderem mit den Staatstheorien von Thomas Hobbes, Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant und Adam Müller auseinander, die im folgenden kurz skizziert werden sollen.

1.1.1. Thomas Hobbes:

Thomas Hobbes´ (1588-1679) „scharf-pessimistische Fassung der menschlichen Natur vor und außerhalb ihrer Vergesellschaftung“[1] bildet die Grundlage seiner Staatsphilosophie. Hobbes geht davon aus, daß der Mensch von Natur aus böse ist, stets aus rein egoistischen Motiven handelt und nicht davor zurückschreckt, anderen Menschen zur Verfolgung seiner Ziele Schaden zuzufügen. In diesem Sinne spiegelt das von Plautus geprägte Prinzip des Mißtrauens „Homo homini lupus“ den von Hobbes umrissenen Urzustand des Menschen wider. Um dem drohenden „Krieg eines jeden gegen jeden“[2] zu entgehen, übergeben die Menschen nach Hobbes´ Theorie ihre Macht und ihre Rechte einem einzigen Individuum, dem Souverän. Die Grundlage dieser Vergesellschaftung ist der Staatsvertrag, der den Souverän zum alleinigen „privilegierte[n] Inhaber des alten Faustrechts“[3] macht und die Untertanen zu „unbedingte[m] Gehorsam[...] jedem Befehl des Autorisierten gegenüber“[4] verpflichtet. Mit dem Beitritt zum Staatsvertrag geht der Mensch vom Naturzustand in den Gesellschaftszustand über. Die Staatsbildung basiert auf dem Prinzip der Selbsterhaltung, denn der so entstandene Staat bietet den Untertanen Schutz vor feindlichen Übergriffen.

Ein weitere wichtige Rolle in Bezug auf die Erzählung Michael Kohlhaas spielt das Eigentum, denn laut Hobbes´ Definition ist „Gerechtigkeit [...] der ständige Wille, einem jeden das Seine zu geben“[5]. Ohne Eigentum kann es also keinen Staat geben, da derselbe auf der unbedingten Einhaltung von Verträgen fußt, besonders auf der Einhaltung der Eigentumsrechte, die „die Menschen durch gegenseitigen Vertrag als Entschädigung für das aufgegebene universale Recht erwerben“[6]. In seiner Theorie sieht Hobbes jedoch keinerlei Recht zum Widerstand vor, da jeder Zweifel an der Autorität des Staates „zum allgemeinen Erwachen der natürlichen Einzelinteressen und Begierden [...] führen könn[te]“[7].

1.1.2. Jean-Jacques Rousseau:

Die Staatstheorie Jean-Jacques Rousseaus (1712-1778), die er in seinem 1762 verfaßten Werk Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundlagen des politischen Rechts entfaltet, „enthält nirgends mehr ursprüngliche Unterwerfung“[8]. Laut Rousseau ist „[d]er Mensch frei geboren“[9], und diese Freiheit gilt es unter allen Umständen zu schützen. Um sich diesen Schutz zu sichern, treten die Menschen dem Gesellschaftsvertrag freiwillig bei, da durch ihn „die Person und die Güter jedes Teilhabers verteidigt und [ge]schützt“[10] werden und das Individuum trotzdem „nur sich selber gehorcht und ebenso frei bleibt wie zuvor“[11].

Mit dem Eintritt in den Gesellschaftsvertrag setzt sich im Menschen die „Gerechtigkeit anstelle des Instinktes“[12] durch, und der Mensch gewinnt, nach dem Verlust der natürlichen Freiheit, „seine bürgerliche Freiheit und das Eigentum an allem, was ihm gehört“[13]. Diese Freiheit definiert Rousseau als den „Gehorsam vor dem Gesetz, das man sich selber gegeben hat“[14]. Die Regierung, die sich aufgrund dieses Vertrages bildet, stellt ein „Vollzugsorgan“[15] des Volkes dar und muß daher die vereinbarten Gesetze respektieren, da der Gesellschaftsvertrag ansonsten „null und nichtig“[16] wird, und die Individuen in den Naturzustand zurückkehren. Der Staatsvertrag kommt also nach Rousseau nur „zum Schutz [...] [der] Freiheit“[17] zustande und ist „zu ihrem Schutz [auch] [...] wieder kündbar“[18].

1.1.3. Immanuel Kant:

Immanuel Kants (1724-1804) Staatsvertrag fußt auf der Annahme, daß „jeder Gesetzgeber seine Gesetze so zu geben habe, als sie aus dem vereinten Willen eines ganzen Volkes hätten entspringen können“[19]. Jedoch, und hierin liegt der Unterschied zu Rousseau, fällt das Urteil hierüber ausschließlich der Gesetzgeber, also nach Kant allein der Fürst. Kant lehnt innerhalb seiner Staatstheorie ein Widerstandsrecht vehement ab, „verneint es selbst einer satanischen Obrigkeit gegenüber“[20]. Im Gegensatz zu Rousseau sieht Kant nicht die individuelle Freiheit der Menschen als Grundprinzip des menschlichen Zusammenlebens an, sondern die „eingeschränkte oder allgemeine Freiheit“[21].

In seiner Rechtsphilosophie unterscheidet Kant Legalität und Moralität, wobei der Begriff Legalität den „Inbegriff der äußeren Gesetze, welche die Glieder eines Staatswesens in Koexistenz halten“[22], umfaßt, Moralität dagegen das „innere[...] Sittengesetz“[23] ist, das durch den guten Willen des Menschen geprägt wird. Diese Trennung von Legalität und Moralität beruht auf einem Vernunftprinzip, das den Naturcharakter des Rechts aufhebt: für Kant ist daher die Vernunft der Ursprung aller Gesetze, die Natur ist nicht länger maßgebend.

1.1.4. Adam Heinrich Müller:

Adam Heinrich Müller (1779-1829), ein Freund Kleists und Mitherausgeber der Zeitung Phöbus, kritisiert die naturrechtlichen Staatstheorien. Er lehnt die Idee eines Gesellschaft- oder Staatsvertrags strikt ab. Einen vorstaatlichen Zustand hat es Müller zufolge nie gegeben, denn der Mensch kann außerhalb eines Staates nicht existieren.

Müllers Theorie fußt auf einem „lebendigen, bewegten, in allen seinen Elementen kriegerischen (nicht bloß militärischen) Staat“[24]. Das Kriegerische stellt das motivierende Element innerhalb der Beziehungen zwischen zwei Staaten oder zwischen den einzelnen Gruppen oder Individuen eines Staates dar. Es birgt außerdem die Idee der „Dialektik von Agieren und Reagieren, von Hinnehmen und Trotzen, Dulden und Bessern“[25], denn nur durch ihre entsprechende Gegenkraft kann eine Kraft erst wirksam werden.

Der Kern seiner Theorie ist das Prinzip der Vermittlung, wobei besonders „Staat, Gesellschaft, Familie, vor allem aber Recht und Gesetz [...] als die Ergebnisse lebendiger, historischer Vermittlungsprozesse“[26] angesehen werden können. Dabei spielt die Differenzierung von Begriff und Idee eine zentrale Rolle. Wendet man diese Differenzierung auf die Rechtsordnung an, so gilt:

„Je mehr das Recht den Charakter der Idee verliert und zum Begriffe wird, um so mehr trennt sich der Geist des Rechtes von dem Buchstaben desselben, die Wissenschaft zerfällt in ein sogenanntes natürliches und in ein sogenanntes positives Recht“[27].

Auch hier greift die Idee des Kriegerischen, denn nur aus dem „unendlichen Streite der Freiheit mit der Gegenfreiheit [der anderen] erzeugen sich die besten Fabrikate, die besten Gesetze“[28]. Das Gesetz bzw. das Recht kann also „nie abgeschlossen und fixiert werden [...], sondern [muß] in´s Unendliche fort wachsen“[29]. Deshalb wird das Individuum Staat und Recht als etwas über die Generationen Existierendes begreifen, und notfalls auch bereit sein, „sich selbst und [...] [sein] ganzes Daseyn“[30] für diese Idee zu opfern.

1.2. Archaische Rechtsformen:

In den hier zu behandelnden Werken Heinrich von Kleists spielen Rechtsformen wie die Fehde und das Kriegs- bzw. Gnadenrecht eine zentrale Rolle. Daher werden ihre theoretischen Grundlagen im folgenden kurz erläutert.

1.2.1. Die Fehde:

Im Mittelalter wurde den Menschen oftmals ihr Recht nicht zuteil, weil sich entweder kein Richter bereit erklärte, den entsprechenden Prozeß zu führen, oder sich der Prozeßgegner dem ergangenen Urteil nicht beugen wollte. In solchen Fällen griffen die Geschädigten zur Fehde als letzte Möglichkeit, ihr Recht einzufordern, denn „der Zweck einer solchen Fehde bestand darin, den Gegner vor Gericht oder zu einer Sühneverhandlung zu zwingen“[31]. Bevor jedoch die Fehde als letztes Rechtsmittel angewandt werden konnte, war der Rechtsuchende verpflichtet, alle anderen möglichen Rechtswege zu beschreiten. Konnte der Geschädigte die erfolglose Ausschöpfung aller anderen rechtlichen Möglichkeiten glaubhaft machen, so stand es ihm frei, eine Fehde zu führen. Um sich von einem Verbrecher abzuheben, war ein Fehdeführender auf ein gewisses Maß an Schriftlichkeit angewiesen. Mittels Fehdebriefen versuchte der Fehdeführende, die Öffentlichkeit von der Rechtlichkeit seiner Fehde zu überzeugen.[32]

Mit dem Reichslandfrieden von 1495 wurde die Fehde als unterstützendes Rechtsmittel in Deutschland verboten.

1.2.2. Kriegsrecht und Gnadenrecht:

Im Hinblick auf Kleists Drama Prinz Friedrich von Homburg soll an dieser Stelle die Militärgesetzgebung Brandenburgs aus dem Jahre 1673 betrachtet werden. Die Paragraphen acht, fünfzehn und siebzehn sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung.

Paragraph acht forciert den Gehorsam und die Treue der Soldaten dem Kurfürsten gegenüber: „...so sollen vor allen Dingen Uns, als dem Haupte, die hohen und anderen Officierer, Reuter und Knechte [...] getreu, hold, gehorsam und gewaertig seyn“[33].

Paragraph fünfzehn enthält eine Sanktionsandrohung gegen denjenigen, dessen Befehl den Interessen des Kurfürsten widerspricht:

„Im Fall einer oder der andere von unsern Oficierern ihrem unterhabenden Volcke etwas commandirten, so [...] unsers hohen Churhauses Bestes, und ihre Aemter nicht betraefe, so soll Kriegs=Recht darueber gehalten, und [...] Strafe ergehen.“[34]

Paragraph siebzehn geht konkreter auf die Insubordination eines Untergebenen ein:

„Ein jeder [...] soll seines Commandeurs Geboth nachleben, und allen [...] angekuendigten Gebothen und Verbothen gehorsame Folge leisten, oder im Widrigen, nach Kriegs=Manier erkannte Strafe leiden“[35].

Die Rechtsfolgen sind jedoch auch hier nicht näher definiert.

Im Mittelalter blieb das Recht der Begnadigung ausschließlich den Richtern vorbehalten. Erst Ende des 16. Jahrhunderts ging dieses Privileg in zunehmendem Maße an die Landesherren über. Ab dem 17. Jahrhundert war das Begnadigungsrecht schließlich ein Hoheitsrecht des Fürsten, das ihn zur Aufhebung, Abmilderung und Umwandlung einer Strafe, auch schon vor dem Urteilsspruch, befähigte.[36] In Preußen wurde das Begnadigungsrecht des Souveräns erstmals im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 schriftlich bestätigt. Dort heißt es in Paragraph neun:

„Das Recht, aus erheblichen Gründen Verbrechen zu verzeihen; Untersuchungen niederzuschlagen; Verbrecher [...] zu begnadigen; [...] Leibesstrafen in gelindere zu verwandeln, kann nur von dem Oberhaupte des Staats unmittelbar ausgeübt werden“[37].

2. Recht und Gerechtigkeit in Kleists Erzählung Michael Kohlhaas:

Die Erzählung Michael Kohlhaas erscheint 1808 in der Zeitschrift Phöbus erstmals als Fragment, dessen Handlung nach dem Überfall auf die Tronkenburg abbricht, im August 1810 schließlich als erweiterte Fassung in Kleists erstem Band der Erzählungen.

Die historische Grundlage der Erzählung bildet der in der Maerckischen Chronik des Peter Hafftitz vermerkte Fall des Hans Kohlhase, der aufgrund einer unrechtmäßigen Nutzung seiner Pferde zur Feldarbeit den sächsischen Kurfürsten befehdet und deswegen im Jahre 1540 in Cölln hingerichtet wird[38].

2.1. „...einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen“:

Bereits zu Beginn der Erzählung wird ein Paradox verwendet: Der Roßhändler Michael Kohlhaas wird als ein „außerordentliche[r] Mann“[39] beschrieben, der seine Kinder, „in der Furcht Gottes, zur Arbeitsamkeit und Treue“ (S. 9) erzieht und seine Nachbarn mit „seiner Gerechtigkeit erfreut“ (S. 9). Jedoch wird er nur solange als „das Muster eines guten Staatsbürgers“ (S. 9) angesehen, bis ihn sein „Rechtgefühl [...] zum Räuber und Mörder“ (S. 9) macht, denn Michael Kohlhaas ist „einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit“ (S. 9).

Dieses Paradox eröffnet ein breites Interpretationsspektrum. Einerseits kann es darauf hinweisen, daß sich Kohlhaas im Verlauf der Erzählung von einem rechtschaffenen zu einem entsetzlichen Menschen wandelt[40]. Andererseits kann es in der Weise aufgelöst werden, daß das Wort `entsetzlich´ etymologisch verstanden wird, nämlich als `einen mit großem Erstaunen verbundenen Schrecken in hohem Grade empfinden´[41]. Demnach deutet der widersprüchlich anmutende Satz darauf hin, daß in der Erzählung ein rechtschaffener Mensch außer Fassung gebracht wird, also „außerhalb der Ver fassung steht“[42]. Das Paradox kann jedoch auch als Steigerung verstanden werden: Ein rechtschaffener Mensch kann dann zugleich entsetzlich sein, wenn die Entsetzlichkeit „nicht im normalen Maß, sondern im Übermaß auftritt.“[43] Diese Untersuchung soll unter anderem zeigen, daß die Charakteristika `rechtschaffen´ und `entsetzlich´ sich nicht notwendigerweise gegenseitig ausschließen, sondern zwei Seiten des Roßhändlers repräsentieren, die immer gegenwärtig sind und seine Handlungen beeinflussen.

2.2. Der Rechtsbruch auf der Tronkenburg und seine Folgen:

Die Betrachtung der Ereignisse auf der Tronkenburg trägt zur Klärung der Motive für Kohlhaas´ umstrittene Rechtssuche bei.

2.2.1. Der Paßschein – ein landesherrliches Privilegium?

Auf seinem Weg zum Leipziger Markt wird von Kohlhaas an einem neu errichteten Schlagbaum bei der Tronkenburg unter Berufung auf ein landesherrliches Privilegium Wegzoll verlangt. Er bezahlt den verlangten Wegzoll, ohne sich über die Rechtmäßigkeit des Privilegiums, die auch im weiteren nicht geklärt wird, Gedanken zu machen. Seine einzige Reaktion auf den geforderten Wegzoll ist, daß es „für mich und Euch“ (S. 9) besser gewesen wäre, „wenn der Baum im Walde stehen geblieben wäre“ (S. 9). Diese Aussage scheint eine vage Vorahnung von dem zu bergen, was sich im Verlauf der Erzählung noch ereignen wird, denn als Kohlhaas sich anschickt, die Tronkenburg mit seinen Pferden zu verlassen, verlangt der herbeieilende Burgvogt nach einem Paßschein. Kohlhaas, der „alle landesherrlichen Verfügungen, die sein Gewerbe [...] [angehen], genau kennt[...]“ (S. 10), ist erbittert über „diese ungesetzliche Erpressung“ (S. 10). Doch obwohl der Roßhändler die Unrechtmäßigkeit der Forderung erkennt, versucht er einzulenken, indem er „nach kurzer Besinnung“ (S. 10) mit dem Junker Wenzel von Tronka persönlich zu sprechen wünscht. Wenzel bestätigt die Richtigkeit der Forderung „mit einem verlegnen Gesicht“ (S. 12). Er scheint zu wissen, daß „die Geschichte von dem Paßschein ein Märchen“ (S. 13) ist, wie sich in der Dresdner Geheimschreiberei zu einem späteren Zeitpunkt herausstellen wird.

Es stellt sich nun die Frage, warum Wenzel die Lüge seines Burgvogts bekräftigt, obwohl er sich über dessen Ungesetzlichkeit bewußt ist. Die Antwort liegt in der sozialen Stellung Wenzels begründet: Der Adel „weiß sich im Recht [...], weil [...] [er] mit der Macht verschwägert ist“[44] – aus diesem Grund muß Wenzel zunächst auch nicht mit rechtlichen Konsequenzen rechnen.

Kohlhaas darf, auf Vorschlag des Burgvogts, die Grenze passieren, wenn er zwei seiner Rappen als Pfand übergibt. Trotz der offensichtlichen Ungesetzlichkeit der Forderungen beschließt Kohlhaas, die „unverschämte Forderung“ (S. 12) zu erfüllen, und läßt die Pferde samt seinem Knecht Herse auf der Tronkenburg zurück. Kohlhaas erfährt in der Geheimschreiberei, „was ihm [...] sein erster Glaube schon gesagt hatte“ (S. 13), kehrt aber trotz dieser Erkenntnis „ohne irgend weiter ein bitteres Gefühl, als das der allgemeinen Not der Welt“ (S. 13) zu Wenzels Burg zurück.

Obwohl Kohlhaas schon bei der erstmaligen Forderung nach dem Paßschein von deren Unrechtmäßigkeit überzeugt ist, lehnt er sich nicht dagegen auf. Er lächelt sogar über „den Witz des dürren Junkers“ (S. 13). Der Auslöser für den späteren Kampf des Kohlhaas um sein Recht ist also nicht allein in der ungesetzlichen Paßscheinforderung begründet.

2.2.2. „...daß er sich Recht zu verschaffen wissen würde“:

Bei seiner Rückkehr zur Tronkenburg ist Kohlhaas „auf das äußerste entrüstet“ (S. 14) als er statt seiner stattlichen Rappen lediglich zwei „abgehärmte Mähren“ (S. 13) vorfindet. Kohlhaas widerfährt hier laut Hobbes´ Staatstheorie Ungerechtigkeit, da der Vertrag, in dem die Individuen ihr Eigentum gegenseitig anerkennen, verletzt worden ist. Trotzdem ist er bereit, die Ungerechtigkeit zu ertragen und ohne Widerstand hinzunehmen. Sein „Rechtgefühl, das einer Goldwaage“ (S. 14) gleicht, ist zwar aufs Empfindlichste getroffen, jedoch ist er sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht sicher, „ob eine Schuld seinen Gegner drücke“ (S. 14 ). Erst als der Burgvogt dem eintreffenden Junker von dessen angeblicher Weigerung, die Pferde als die seinigen anzuerkennen, erzählt, beginnt Kohlhaas, Widerstand zu leisten, da er nun auch Beleidigungen von Wenzel, „der noch als schlichtender und für Gerechtigkeit sorgender Herr hätte eingreifen können“[45], erfährt. Es geht Kohlhaas nicht mehr um die Pferde als solche, denn „er hätte gleichen Schmerz empfunden, wenn es ein Paar Hunde gegolten hätte“ (S. 24), sondern einzig um die Willkür, mit der Wenzel einen redlichen Mann „im Gefühl der Macht“[46] beleidigt. Kohlhaas beschließt aus diesem Grund, „sich Recht zu verschaffen“ (S. 15). Doch Zweifel an der Unschuld seines Knechts lassen es Kohlhaas „klug und gerecht“ (S. 15) erscheinen, denselben persönlich zu verhören. Sollte sich bei dem Verhör eine Mitschuld des Knechts herausstellen, wäre Kohlhaas bereit, die Kränkungen und den Verlust der Pferde „als eine gerechte Folge“ (S. 16) hinzunehmen. Kohlhaas´ Gefühl für Gerechtigkeit verbietet es ihm, seine Klage vorschnell vor Gericht zu bringen, ohne die Situation selbst zu prüfen.

Während des Verhörs seines Knechts Herses bleibt Kohlhaas nicht nur neutral, sondern versucht sogar, seinem Knecht eine Schuld an den Vorfällen auf der Tronkenburg zu unterstellen. Nachdem er sich aber von Herses Unschuld überzeugt hat, steht für Kohlhaas fest, daß

„er mit seinen Kräften der Welt in der Pflicht verfallen sei, sich Genugtuung für die erlittene Kränkung, und Sicherheit für zukünftige seinen Mitbürgern zu verschaffen“ (S. 16).

Lisbeth, seine Frau, versteht das Vorhaben ihres Mannes, „Unordnungen, gleich diesen, Einhalt zu tun“ (S. 20), als „ein Werk Gottes“ (S. 20), also als ein „der Allgemeinheit verpflichtetes reines Streben nach Gerechtigkeit“[47]. Kohlhaas dagegen handelt aus einem anderen Motiv. Er sucht Genugtuung für die Kränkungen, die ihm auf der Tronkenburg zuteil wurden.

Seine Beschwerde wird nach Monaten aufgrund Wenzels Verwandtschaft mit dem Kämmerer und Mundschenk des brandenburgischen Kurfürsten niedergeschlagen. Hier bestätigt sich die Annahme, daß von Adeligen begangenes Unrecht oftmals ungesühnt bleibt, weil sie auf die Unterstützung von Verwandten in Machtpositionen zurückgreifen können. Damit übt Kleist Kritik an der „Rechtsunsicherheit, Korruption und Parteilichkeit der Justiz“[48] im Preußen seiner Zeit.

Kohlhaas fühlt sich den Machenschaften der Tronka-Sippe hilflos ausgeliefert, er läßt sogar „eine Träne auf den Brief“ (S. 22), der ihm die Ablehnung seiner Beschwerde verkündet, fallen.

Doch nicht nur Wenzel nutzt seine Beziehungen zu seinem Vorteil, auch Kohlhaas versucht, sich mit der Hilfe des ihm gut bekannten Heinrich von Geusau, dem Stadthauptmann von Brandenburg, Recht zu verschaffen. Die Aussicht auf landesherrlichen Schutz in Sachsen, zu dem ihm Geusau verhelfen soll, läßt Kohlhaas zuversichtlich in die Zukunft blicken, er ist „beruhigter über den Ausgang seiner Geschichte, als je“ (S. 23). In diesem Stadium der Erzählung ist das spätere Ausmaß der Geschehnisse noch nicht abzusehen. Kohlhaas vertraut zu diesem Zeitpunkt noch darauf, daß ihm auf dem Weg über die Gerichte Gerechtigkeit widerfahren wird. Sein Recht wird Kohlhaas aber erneut verwehrt - seine Bitte wird abgewiesen, da der Graf Kallheim, dem sie übergeben wurde, mit dem Hause Tronka verschwägert ist.

[...]


[1] Ernst Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, Frankfurt/Main 1975, S. 60.

[2] W. Hennis/ H. Maier (Hrsg.), Politica. Abhandlungen und Texte zur politischen Wissenschaft, Band 22: Thomas Hobbes, „Leviathan“, Berlin: Luchterhand 1966, S. 96.

[3] A.a.O., S. 61.

[4] Ebd.

[5] Hennis/Maier , Politica. Abhandlungen und Texte zur politischen Wissenschaft, Band 22: Thomas Hobbes, „Leviathan“, S. 110.

[6] Ebd.

[7] Friedmar Apel, Kleists Kohlhaas. Ein deutscher Traum vom Recht auf Mordbrennerei, Berlin 1987, S. 125.

[8] A.a.O., S. 76.

[9] Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundlagen des politischen Rechts, Frankfurt am Main/ Leipzig: Insel Verlag 2000, S. 12.

[10] Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundlagen des politischen Rechts, S. 26.

[11] Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundlagen des politischen Rechts, S. 26.

[12] A.a.O., S. 32.

[13] A.a.O., S. 32/33.

[14] A.a.O., S. 33.

[15] Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, S. 77.

[16] Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundlagen des politischen Rechts, S. 26.

[17] Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, S. 77.

[18] Ebd.

[19] A.a.O., S. 82.

[20] Ebd.

[21] Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, S. 83.

[22] A.a.O., S. 86.

[23] Ebd.

[24] Adam Müller, Die Elemente der Staatskunst, Band 1, Jena: Verlag von Gustav Fischer 1922, S. 133.

[25] Apel, Kleists Kohlhaas. Ein deutscher Traum vom Recht auf Mordbrennerei, S. 128.

[26] Regina Ogorek, „Adam Müllers Gegensatzphilosophie und die Rechtsausschweifungen des Michael

Kohlhaas“, Kleist-Jahrbuch 1988/1989, S. 109.

[27] A. Müller, Die Elemente der Staatskunst, Band 1, S. 126.

[28] A.a.O., S. 134.

[29] A.a.O., S. 202.

[30] A.a.O., S. 274.

[31] Hartmut Boockmann, „Mittelalterliches Recht bei Kleist. Ein Beitrag zum Verständnis des >Michael

Kohlhaas<“, Kleist-Jahrbuch 1985, S. 91.

[32] Vgl. auch Boockmann, Mittelalterliches Recht bei Kleist. Ein Beitrag zum Verständnis des >Michael

Kohlhaas<, S. 91-92.

[33] Johann Christian Luenig, Corpus Juris Militaris, Leipzig 1723, S. 864.

[34] A.a.O., S. 865.

[35] Ebd.

[36] Vgl. auch Renate Just, Recht und Gnade in Heinrich von Kleists Schauspiel „Prinz Friedrich von Homburg“, Göttingen: Wallstein Verlag 1993 (Quellen und Forschungen zum Recht und seiner Geschichte 4), S. 67-70.

[37] Hans Hattenhauer, Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, Frankfurt am Main/ Berlin:

Alfred Metzner Verlag 1970, S. 590.

[38] Vgl. auch Klaus-Michael Bogdal, Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas, München: Wilhelm Fink Verlag

1981 (UTB 1027), S. 11.

[39] Zitiert wird nach Heinrich von Kleist, Sämtliche Erzählungen und Anekdoten, hrsg. v. Helmut Sembdner, 13. Auflage, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1995. Zitat hier: S. 9. Die folgenden Zitate werden innerhalb des Textes mit der entsprechenden Seitenzahl belegt.

[40] Vgl. auch Hans Heinz Holz, Macht und Ohnmacht der Sprache. Untersuchungen zum Sprachverständnis und

Stil Heinrich von Kleists, Frankfurt/M.: Athenäum Verlag 1962, S. 120-121.

[41] Vgl. Bogdal, Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas, S. 47.

[42] Ebd.

[43] Ogorek, Adam Müllers Gegensatzphilosophie und die Rechtsausschweifungen des Michael Kohlhaas, S. 96.

[44] Joachim Bohnert, „Kohlhaas der Entsetzliche“, in: Kleist-Jahrbuch 1988/1989, S. 412.

[45] Falk Horst, „Kleists Kohlhaas: Über die Täuschbarkeit von Beweggründen“, in: Wirkendes Wort. Deutsche Sprache und Literatur in Forschung und Lehre 44 (1994) 1, Bonn, S. 49.

[46] Ebd.

[47] Horst, Kleists Kohlhaas: Über die Täuschbarkeit von Beweggründen, S. 50.

[48] Apel, Kleists Kohlhaas. Ein deutscher Traum vom Recht auf Mordbrennerei, S. 135.

Ende der Leseprobe aus 70 Seiten

Details

Titel
Recht und Gerechtigkeit in Dramen und Erzählungen Heinrich von Kleists
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main  (Institut für deutsche Sprache und Literatur I)
Note
2
Autor
Jahr
2002
Seiten
70
Katalognummer
V6713
ISBN (eBook)
9783638142205
ISBN (Buch)
9783638716994
Dateigröße
578 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Recht, Gerechtigkeit, Dramen, Erzählungen, Heinrich, Kleists, Thema Michael Kohlhaas
Arbeit zitieren
Julia Reichert (Autor:in), 2002, Recht und Gerechtigkeit in Dramen und Erzählungen Heinrich von Kleists, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/6713

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Recht und Gerechtigkeit in Dramen und Erzählungen Heinrich von Kleists



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden