Die Geburtenraten der letzten Jahre verraten eine allgemeine Stimmung, welche die moderne Gesellschaft als Ort der Kindheit in Frage stellt. Auf der einen Seite boomt der Markt für Erziehungsratgeber, die in teilweise voyeuristischer Form sogar bis in das Fernsehen vorgedrungen sind. Eltern setzen alles daran, bei der Erziehung ihrer Kinder den perfekten Weg zu gehen, damit sie zu besonderer Leistung gefördert werden können. Auf der anderen Seite werden entscheidende Erziehungsaufträge an den Türen von Institutionen wie der Schule oder dem Kindergarten abgegeben. Das vorherrschende materialistische und ehrgeizige Denken der Elterngeneration hat zur Folge, dass sich immer weniger Menschen für ein Kind entscheiden. Falls doch die Entscheidung für ein Kind getroffen wurde, so soll oft der Ehrgeiz der Eltern über das Kind befriedigt werden, dessen Leistungen sie mit Stolz erfüllen sollen. In einer solchen Situation stellt sich die Frage nach den Grundlagen einer gesunden Kindererziehung und den Ursachen für die schwersten Entwicklungsstörungen beim Kind. Im Laufe dieser Arbeit soll das pädagogische Konzept Alfred Adlers dargelegt und am Schluss auf seine Aktualität geprüft werden. Dazu erfolgt zunächst eine kurze Vorstellung Adlers, die begründen soll, weshalb seine Forschung für die Erziehungswissenschaft von entscheidender Bedeutung ist. Alfred Adler, der 1870 in Wien geboren wurde, gilt allgemein als Begründer der Individualpsychologie, welche die Persönlichkeit des Menschen als Einheit begreift und ihr eine Zielrichtung und Schöpfungskraft zuspricht. Dieser Ansatz zusammen mit dem Minderwertigkeitsgefühl als treibende Kraft unterscheidet Adlers Theorie von den vorigen Überlegungen Freuds. Doch auch auf dem Gebiet der Sozialpsychologie ist Adler ein Vorreiter, der den Menschen als Gemeinschaftswesen begreift. Der Charakter bildet sich als Resultat der Begegnung mit anderen und ist zur eigenen Verwirklichung auf die Gemeinschaft angewiesen. Trotzdem kann der menschliche Egoismus oft den gesellschaftlichen Anforderungen im Weg stehen. Adler hat seine gesammelten Erkenntnisse nicht nur im Sinne der Psychologie weiter verwandt, sondern früh deren Bedeutung für die Pädagogik erkannt. So hat er Aufsätze und Vorträge für Ärzte und Erzieher verfasst, welche seine Einblicke in die Seele der Kinder nutzbar machen sollten. Im Folgenden sollen einige dieser pädagogischen Beiträge zusammengefasst werden und damit sein Gesamtkonzept erklären. [...]
Gliederung
1. Einleitung
2. Das Minderwertigkeitsgefühl
3. Individualpsychologie und Erziehung
3.1 Organisch kranke Kinder
3.2 Die Rolle der Geschwister
3.3 Das Zärtlichkeitsbedürfnis des Kindes
4. Ausgewählte Aspekte von Entwicklungsstörungen
4.1 Verzärtelte Kinder
4.2 Trotz und Gehorsam
4.3 Verwahrloste Kinder
5. Fazit
1. Einleitung
Die Geburtenraten der letzten Jahre verraten eine allgemeine Stimmung, welche die moderne Gesellschaft als Ort der Kindheit in Frage stellt. Auf der einen Seite boomt der Markt für Erziehungsratgeber, die in teilweise voyeuristischer Form sogar bis in das Fernsehen vorgedrungen sind. Eltern setzen alles daran, bei der Erziehung ihrer Kinder den perfekten Weg zu gehen, damit sie zu besonderer Leistung gefördert werden können. Auf der anderen Seite werden entscheidende Erziehungsaufträge an den Türen von Institutionen wie der Schule oder dem Kindergarten abgegeben. Das vorherrschende materialistische und ehrgeizige Denken der Elterngeneration hat zur Folge, dass sich immer weniger Menschen für ein Kind entscheiden. Falls doch die Entscheidung für ein Kind getroffen wurde, so soll oft der Ehrgeiz der Eltern über das Kind befriedigt werden, dessen Leistungen sie mit Stolz erfüllen sollen. In einer solchen Situation stellt sich die Frage nach den Grundlagen einer gesunden Kindererziehung und den Ursachen für die schwersten Entwicklungsstörungen beim Kind. Im Laufe dieser Arbeit soll das pädagogische Konzept Alfred Adlers dargelegt und am Schluss auf seine Aktualität geprüft werden. Dazu erfolgt zunächst eine kurze Vorstellung Adlers, die begründen soll, weshalb seine Forschung für die Erziehungswissenschaft von entscheidender Bedeutung ist.
Alfred Adler, der 1870 in Wien geboren wurde, gilt allgemein als Begründer der Individualpsychologie, welche die Persönlichkeit des Menschen als Einheit begreift und ihr eine Zielrichtung und Schöpfungskraft zuspricht. Dieser Ansatz zusammen mit dem Minderwertigkeitsgefühl als treibende Kraft unterscheidet Adlers Theorie von den vorigen Überlegungen Freuds. Doch auch auf dem Gebiet der Sozialpsychologie ist Adler ein Vorreiter, der den Menschen als Gemeinschaftswesen begreift. Der Charakter bildet sich als Resultat der Begegnung mit anderen und ist zur eigenen Verwirklichung auf die Gemeinschaft angewiesen. Trotzdem kann der menschliche Egoismus oft den gesellschaftlichen Anforderungen im Weg stehen.
Adler hat seine gesammelten Erkenntnisse nicht nur im Sinne der Psychologie weiter verwandt, sondern früh deren Bedeutung für die Pädagogik erkannt. So hat er Aufsätze und Vorträge für Ärzte und Erzieher verfasst, welche seine Einblicke in die Seele der Kinder nutzbar machen sollten. Im Folgenden sollen einige dieser pädagogischen Beiträge zusammengefasst werden und damit sein Gesamtkonzept erklären. Dabei soll bei der Grundlage seiner Persönlichkeitstheorie, dem Minderwertigkeitsgefühl, begonnen werden. Anschließend werden Kernaspekte der kindlichen Entwicklung beschrieben und die Hauptfehlerquellen von Entwicklungsstörungen dargelegt. Am Schluss wird dann die Aktualität von Adlers Erkenntnissen ersichtlich sein, die in der heutigen Gesellschaft mehr denn je von zentralem Wert erscheinen.
2. Das Minderwertigkeitsgefühl
Alfred Adler hat 1906 seine Theorie der Organminderwertigkeit verfasst, die besagt, dass Neurosen auf organische Minderwertigkeiten und die Kompensation derselben zurück zu führen sind. Danach versucht die Person mit einer organischen Minderwertigkeit diese Ausfälle durch besonders erhöhte Leistung zu überwinden, um den Zustand der Überlegenheit gegenüber anderen Menschen zu erlangen.
Dieses kompensatorische Verhalten zur Überwindung der Minderwertigkeit setzt nach Adler bereits im Alter von 2 Jahren beim Kind ein und verfestigt sich zu einem so genannten Lebensstil, wenn es als Kompensationsstrategie erfolgreich ist. Das Kind befindet sich am Beginn seines Lebens in einem Wechselspiel von Versuch und Irrtum, um seine fiktiven Ziele zu erreichen. Ein fiktives Ziel ist für Adler eine Art Ideal oder die Vorstellung eines Ziels, welches unbewusst gewählt wird, um einen positiven Fixpunkt als Ausweg aus der Minderwertigkeit vor Augen zu haben. Ein Lebensstil entwickelt sich also unbewusst in den ersten Kindheitsjahren und ist dasjenige Konzept, welches das Kind seinem fiktiven Ziel am nächsten gebracht hat. Dabei schließt der Lebensstil eine Vielzahl von persönlichkeitsspezifischen Aspekten ein wie das Selbstkonzept, Einstellungen, Gefühle, Erwartungen und Ziele der Person. Lebensstile können unterschiedlich stark ausgeprägt sein; je größer das Minderwertigkeitsgefühl ist, desto größer ist der Zwang eines bestimmten Lebensstils. Der Lebensstil ist demnach die Bewegungslinie im Leben des Menschen, welche von Kindheit an auf dasselbe Lebensziel gerichtet ist und nur geringen Modifikationen unterliegt.[1]
So kann ein Kind mit Gehörschwäche diese durch überdurchschnittliche musische Leistungen zu kompensieren suchen. Oder ein besonders klein gewachsenes Kind kann durch Trainieren des Körpers zu überragender physischer Stärke und damit zu einem körperlichen Überlegenheitsgefühl gelangen. Die meisten Menschen kompensieren ihre Minderwertigkeit jedoch, indem sie auf einem anderen Gebiet als dem eigentlich benachteiligten überdurchschnittlich werden. Diese Phänomene der Kompensation begegneten Alfred Adler bereits zu seiner Zeit als Arzt und wurden später von ihm auf nicht organische Minderwertigkeitsgefühle übertragen.
Ebenso wie eine organische Minderwertigkeit können äußere Eindrücke auf das Kind einwirken, welche ihm das übermäßige Gefühl der Unterlegenheit vermitteln und in dem Kind eine feindselige Grundhaltung hervorrufen können. Diese pessimistische Grundhaltung dem Leben gegenüber, welche durch das von außen erwirkte Gefühl der Unterlegenheit und Minderwertigkeit entstanden ist, wird im Verlaufe der Arbeit noch näher beschrieben.
Adler kam jedoch wenig später zu der Annahme, dass nicht nur benachteiligte Kinder ein Minderwertigkeitsgefühl empfinden würden, sondern jedes Kind sich gegenüber den Eltern oder älteren Geschwistern unterlegen fühlen müsse. Dabei bezeichnet Adler die tatsächliche Unterlegenheit als objektive Minderheit, die auf organische oder soziale Benachteiligung zurück zu führen ist. Das oben erwähnte Gefühl der Minderwertigkeit, welches auf negativer äußerer Prägung beruht, bezeichnet Adler als Minderwertigkeitsgefühl, weil es nur subjektiv in der betreffenden Person selbst entsteht. Jedes Kind leidet aufgrund seiner körperlichen und geistigen Abhängigkeit von den Eltern an der natürlichen Minderwertigkeit.
Jedes Kleinkind sieht sich unbeholfen und unselbständig dem Leben gegenüber und braucht zur Befriedigung seiner elementarsten Bedürfnisse immer eine andere Person. Der Wunsch erwachsen zu werden wird aus vielen Spielen, in denen das Leben der Erwachsenen imitieren wird, deutlich und ist mit einem Streben nach Vollendung und Perfektion gleich zu setzen. Aus dieser Hilflosigkeit heraus strebt das Kind nun nicht bloß nach Sicherheit und Gleichwertigkeit mit anderen, sondern entwickelt ein Streben nach Macht.[2]
Dieses Streben nach Macht äußert sich beim Kind durch ein erhöhtes Aufmerksamkeitsbedürfnis, durch früh einsetzendes Geltungsstreben und durch das Bedürfnis, sich besonders gegenüber den Geschwistern in den Vordergrund zu drängen. Wenn nun das Minderwertigkeitsgefühl als besonders intensiv empfunden wird, kann das Kind in seiner Befürchtung, vom Leben zu wenig zu bekommen, ein übertriebenes Geltungsstreben an den Tag legen, um die selbst gesteckten, übermäßig hohen Ziele zu erreichen.
Als Mittel der passiven Überwindung der Minderwertigkeit kann das Kind seine Hilflosigkeit auch genießen lernen, wenn die Eltern es umsorgen und alle Schwierigkeiten aus dem Weg des Kindes räumen. Das Kind genießt dann aufgrund seiner Schwäche die volle Aufmerksamkeit und Liebe der Eltern und sieht darin seine Macht über sie, dass es sie zu seinem Werkzeug machen kann.
So steht für eine bewusste und gelungene Erziehung des Kindes der Ausweg aus der Minderwertigkeit im Mittelpunkt. Eltern sollten bestrebt sein, ihrem Kind aus seiner Hilflosigkeit heraus zu helfen und es auf ein eigenständiges Leben vorzubereiten.[3]
Dieser Vorsatz kann nur gelingen, wenn das Kind als Gegenpol zu seinem Machtstreben den Wert des Gemeinschaftsgefühls kennen lernt. Das Gemeinschaftsgefühl oder der Gemeinsinn ist für Adler eine elementare Größe im Leben, weil der Mensch nur in Gesellschaft leben kann, was bereits durch die Hilflosigkeit der Kinder ohne Erwachsene seinen Beweis findet. Alle menschlichen Haltungen, auch die egoistischen, sind in einem sozialen Kontext entstanden und von ihm geprägt. Die soziale Umgebung kann für die einzelne Person nun Anreiz sein, an ihr teil zu haben und das angeborene Gemeinschaftsinteresse nähren. Durch Fehlerziehung und insbesondere durch Verzärtlichung kann das angeborene Interesse an Gemeinschaft jedoch auch abebben und zur Isolation führen. Adler sieht den Grad des Gemeinschaftsgefühls als Kriterium für psychische Gesundheit. Es steht als Gegenwert zum Egoismus und vereint in sich sämtliche sozialen Beziehungen, den Umgang mit Liebe, Freundschaft und Kooperation unter Menschen. So beinhaltet das Gemeinschaftsgefühl im weitesten Sinne die Sorge für die Familie, die Gemeinschaft und die Menschheit im Ganzen und ermöglicht ein Zusammenleben in der Gesellschaft.[4] Das Gemeinschaftsgefühl und das Machtstreben wirken demnach zusammen und konstatieren in ihrem Wechsel- und Zusammenspiel das Grundgerüst des menschlichen Lebensweges.
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[1] Adler, Alfred: Menschenkenntnis. 2. Aufl. S. Hirzel Verlag, Leipzig 1927, S.61.
[2] Adler, Alfred: Menschenkenntnis, S. 52 f.
[3] Adler, Alfred: Praxis und Theorie der Individualpsychologie. Vorträge zur Einführung in die Psychotherapie für Ärzte, Psychologen und Lehrer. 3. Aufl. J. F. Bergmann Verlag, München 1924, S. 235.
[4] Adler, Alfred: Menschenkenntnis, S. 23
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