Darstellungen des Antisemitismus und Judentums im Werk von Joseph Roth


Magisterarbeit, 2006

94 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Das Spinnennetz (1923)
2.1 Theodor Lohse - Produkt des wilhelminischen Kleinbürgertums
2.2 Theodors Aufstieg – Karriere im Zeichen des Hakenkreuzes
2.3 Theodors Antisemitismus – „Die Juden sind unser Unglück“
2.4 Theodor – Arier oder Semit?
2.5 Trebitsch, Efrussi und Pisk – Des Feindes Handlanger?
2.5.1 Dr. Trebitsch
2.5.2 Efrussi und Pisk
2.6 Benjamin Lenz – Sprengstoff für Europa!
2.7 Fazit

3 Tarabas – Ein Gast auf dieser Erde (1934)
3.1 Nikolaus Tarabas – Auf gottverlassenen Wegen
3.2 Das Pogrom von Koropta
3.2.1 Ramsin
3.2.2 Die Marienerscheinung
3.2.3 Das Pogrom
3.3 Tarabas` Überwindung des Judenhasses – Zurück auf Gottes Wegen
3.4 Tarabas’ Bußweg
3.5 Nathan Kristianpoller – Vermittler zwischen Juden und Christen
3.6 Fazit

4 Die Flucht ohne Ende (1927)
4.1 Judenemanzipation im Westen Europas und Bewahrung der jüdischen Tradition in Osteuropa
4.2 Flucht us dem Shtetl
4.3 Ein Ostjude im Westen
4.4 Zwei ungleiche Brüder
4.5 Keine Rückkehr ins Shtetl
4.6 Fazit

5 Schlußbetrachtung

6 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

„Die Stimme der Wahrheit ist leise, die Stimme der Lüge laut. So wenig sicher ist sich die Lüge ihrer selbst, daß sie gewaltig schreien muß; als wolle sie sich selbst übertönen.“[1]

Der Antisemitismus hat in Deutschland nicht erst mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten Einzug in das allgemeine Gedankengut gehalten, obwohl das Phänomen heute meist im Kontext der Shoah betrachtet wird. Tatsächlich konnten Adolf Hitler und seine Helfer während der Herrschaft ihres „Dritten Reiches“ auf bereits tief verwurzelte judenfeindliche Ressentiments der Bevölkerung aufbauen. Demnach kann man durchaus von einer gewissen Kontinuität des Judenhasses in Deutschland (aber auch in ganz Europa) sprechen, mit der sich Joseph Roth in seinem Werk wiederholt beschäftigt hat.

Vielfach ist in der Forschung darauf hingewiesen worden, daß er mit geradezu prophetischer Weitsicht die antisemitische Bedrohung durch die Rechtsnationalen bereits zu Anfang seiner journalistischen und schriftstellerischen Arbeit erkannt hat. Dem ist vollends zuzustimmen; jedoch deckt er nicht nur die Strukturen und Wirkungsweisen des Antisemitismus auf, sondern beschäftigt sich auch intensiv mit dem Judentum. Zum einen, um die antisemitischen Stereotypen als falsch zu entlarven, zum anderen, um ihre Auseinandersetzung mit der ihnen entgegengebrachten Feindschaft aufzuzeigen. Zudem macht er auch deutlich, daß der Judenhaß unabhängig von der Propaganda der Nationalsozialisten gedeihen konnte, denn er war auch außerhalb Deutschlands weit verbreitet. Vor allem im Osten des Kontinents litt die jüdische Minderheit unter immer wieder ausbrechenden Pogromen. Darüber hinaus behandelt Roth auch die internen Probleme des Judentums in der europäischen Diaspora. Dabei unterscheidet er wie seine Zeitgenossen zwischen Ost- und Westjudentum, die stellvertretend für die Diskussion um Festhalten an der jüdischen Tradition (Ost) und Assimilation an die nichtjüdische Umwelt (West) stehen.

So früh und voraussehend wie Roth die antisemitische Gefahr durchschaut hat, so sehr verschlossen sich andere, nichtjüdische wie jüdische, Intellektuelle dieser Entwicklung in Deutschland. Dementsprechend fühlte er sich als einsamer Kämpfer gegen die rechtsnationale Agitation und hat mehrfach die Schriftsteller angesichts ihrer Zurückhaltung gegenüber den „barbarischen Formen des öffentlichen Lebens“ angegriffen:

„[…] selbst in Zeiten der stärksten moralischen Verrottung [schweigen die] ‚Sachverwalter [des] deutschen Geistes’ [unermüdlich]. Die deutschen Dichter gaben sich stets mit Inbrunst einer Beschäftigung hin: Sie reisten nach Italien. Sie reisten metaphorisch nach Italien, wenn sie des deutschen Klimas müde und überdrüssig geworden waren. […] In München sitzen sie, […] während Hitler, Ludendorff, Kahr plündern […] – wie bringen sie es fertig zu schweigen?“[2]

Besonders zu schaffen machte ihm auch noch nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten die Ignoranz einiger seiner Kollegen, wie etwa Gottfried Benn, der den jüdischen Emigranten vorwarf, sie würden unbegründete Panik verbreiten, worauf Roth erwiderte:

„Welch armselige Ironie eines Schriftstellers, der zufällig keine jüdische Großmutter hat und infolgedessen dem anderen sagen kann, der zufällig eine jüdische Mutter hat, es wäre ihm ‚nicht viel’ getan worden, wenn er geblieben wäre! Was heißt ‚nicht viel’, Herr Doktor [...] für einen Schriftsteller jüdischer Abstammung?!“[3]

Auf der anderen Seite kritisierte Roth auch das Judentum, vor allem das westliche, welches oftmals mit Geringschätzung auf das Ostjudentum blickte und sich der Gefahr im eigenen Land verschloß:

„In dem begreiflichen Bestreben, ihn [den Antisemitismus – I. B.] nicht zur Kenntnis zu nehmen oder ihn zu übersehen, und in jener tragischen Verblendung, die […] bei den meisten Westjuden den verlorenen oder verwässerten Glauben der Väter zu ersetzen scheint und die ich den Aberglauben an den Fortschritt nenne, fühlten sich die deutschen Juden trotz allerhand bedrohlichen antisemitischen Symptomen als ebenbürtige Deutsche […].“[4]

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten mahnte er beständig aus seinem französischen Exil, sich nicht der Herrschaft der „Bestien“ zu ergeben:

„Es gibt auf dem Schlachtfeld der Humanität, könnte man sagen, ebenfalls Etappen-Juden. Solch einer darf man nicht werden. […] es ist die Gemeinheit der Andern: Juden zu sehn. Es schickt sich nicht, daß wir durch Zurückhaltung allzusehr das Argument der törichten Tiere bestätigen. […]. Es ergibt sich daraus die Verpflichtung: […] Kein Sich-Ergeben in Das, was man voreilig Schicksal nennt.“[5]

Mit dieser Arbeit soll nun ein Beitrag zum Verständnis der Auseinandersetzung Joseph Roths nicht nur mit dem Antisemitismus bzw. Antijudaismus[6] seiner Zeit, sondern auch mit der Situation des europäischen Judentums geleistet werden.

Dabei werden drei Werke im Mittelpunkt stehen, anhand derer seine Darstellungen der Judenfeindschaft und des Judentums interpretiert werden sollen.

Zuerst sein literarisches Debüt „Das Spinnennetz“ aus dem Jahr 1923: Hier schildert Roth nicht nur die Karriere des Antisemiten Theodor Lohse, sondern zeigt auch verschiedene jüdische Figuren und ihren Umgang mit der extrem judenfeindlichen Atmosphäre der ersten Jahre der Weimarer Republik.

Danach wird sein erstes Exilwerk „Tarabas. Ein Gast auf dieser Erde“ (1934) betrachtet: Hier stellt Roth den Werdegang des Judenhassers Nikolaus Tarabas dar. Zudem spielen auch hier die jüdischen Charaktere eine tragende Rolle, vor allem die Figur des Gastwirts Kristianpoller. Des weiteren beschreibt Roth detailliert den Ausbruch eines Pogroms.

Abschließend sollen anhand des Romans „Die Flucht ohne Ende“ (1927) die Unterschiede und Konflikte zwischen Ost- und Westjuden am Beispiel der Brüder Franz und Georg Tunda gezeigt werden.[7]

Bei der Interpretation der Romane stehen folgenden Fragen im Mittelpunkt:

Wie stellt Roth das Phänomen des Judenhasses im „Spinnennetz“ und im „Tarabas. Ein Gast auf dieser Erde“ dar und bietet er Möglichkeiten der Überwindung?

Wie reagieren die Juden auf die ihnen entgegengebrachte Feindschaft? Gibt es Widerstand oder sind sie nur erduldende Opfer?

Welche Unterschiede und Konflikte beherrschen das Verhältnis zwischen Ost- und Westjuden? Welchen Einfluß haben diese auf die Beziehung des Brüderpaars Tunda in „Die Flucht ohne Ende“?

Es soll versucht werden, vor allem durch eine Charakterisierung der Protagonisten und problemrelevanter Nebenfiguren und durch eine Interpretation wichtiger handlungstragender Ereignisse Antworten auf jene Fragen zu finden.

Die Werke werden vor allem in ihrem historischen Kontext betrachtet, um so Roths Intentionen besser nachvollziehen zu können.[8] Auch wird sein journalistisches Werk bei Bedarf mit einbezogen, denn auch hier hat sich Roth Zeit seines Schaffens mit dem hier behandelten Thema beschäftigt. Vielfach kann dadurch ein besseres Verständnis für seine Überzeugungen und Absichten in seinem literarischen Werk gefunden werden, denn oft findet man Bezüge zur publizistischen Arbeit in den Romanen und umgekehrt.[9]

2 Das Spinnennetz (1923)

„Der Roman […] schildert den Sumpfboden der Reaktion, die moralische und geistige Verwilderung, aus der als Blüte das Hakenkreuzlertum aufsteigt.“[10]

So lautet die treffende Vorankündigung von Joseph Roths Erstlingswerk „Das Spinnennetz“. Hier setzt er sich zum ersten Mal literarisch mit dem zu jener Zeit wiedererstarkten Antisemitismus auseinander. Die Romanhandlung spielt in einem greifbaren zeitgeschichtlichen Kontext, nämlich in den ersten Jahren der Weimarer Republik, als diese sich sowohl wirtschaftlich, politisch als auch gesellschaftlich in einer schwierigen Zeit befand.

Im folgenden soll gezeigt werden, wie Roth an der Hauptfigur Theodor Lohse den Aufstieg eines rechtsnationalen judenfeindlichen Volksverhetzers beschreibt. Auf der anderen Seite zeichnet er hier auch verschiedene Darstellungen von Juden, an denen er ihre Reaktion auf den Antisemitismus darstellt.

2.1 Theodor Lohse - Produkt des wilhelminischen Kleinbürgertums

Theodor Lohse stammt aus einer typisch kleinbürgerlichen Familie der Kaiserzeit. Der Vater war Bahnzollrevisor, eine Stellung die zu zumeist von Personen ausgeführt wurde, die bereits in der Armee gedient hatten. Diese Leute werden heute als das „Korsett“ des deutschen Obrigkeitsstaates angesehen.[11] Folglich war des Vaters größter Wunsch eine Karriere Theodors in der Armee, die der Sohn auch selbst anstrebte. Doch der „große Krieg“ (S 5) ging verloren und er muß nun zu Beginn der Erzählung in der neuen Republik seinen Lebensunterhalt, neben seinem Jurastudium, als Hauslehrer beim jüdischen Juwelier Efrussi verdienen. Nicht nur Theodor ist enttäuscht vom Ausgang des Krieges und von seiner jetzigen Situation, auch seine Mutter und seine Schwestern „konnten es [ihm] nicht verzeihen, daß er nicht seine Pflicht […] zu fallen, erfüllt hatte.“, denn „[e]in toter Sohn wäre immer der Stolz der Familie geblieben. Ein abgerüsteter Leutnant und ein Opfer der Revolution war […] lästig.“ (S 6). Damit beschreibt Roth das Empfinden vieler aus dem Krieg heimgekehrter Soldaten, deren Familien die repressive wilhelminische Gesellschaft repräsentierten und die sich plötzlich in einer neuen Umwelt wiederfanden, die sie als ihnen feindlich erlebten.

Anfang der 1920er Jahre litten viele Deutsche nicht nur immer noch unter der Niederlage des Ersten Weltkrieges, sondern empfanden vor allem den Versailler Vertrag als zusätzliche nationale Demütigung. Zudem führte die katastrophale Wirtschaftslage zu großem sozialem Elend, das einen idealen Nährboden für extremistische Gruppierungen darstellte. So bildete sich eine unüberschaubare Parteienlandschaft heraus, die geprägt war von heftigen Kämpfen um die zukünftige Gestaltung Deutschlands. Folglich war das Land politisch zutiefst zerrissen und radikalisierte sich zunehmend. Außerdem hatten die Klassengegensätze der Monarchie den Krieg überlebt und manifestierten sich in den ideologischen Gegensätzen der Parteien und Vereinigungen. Neben den Sozialdemokraten, Linksliberalen und Kommunisten, die im Roman nur eine untergeordnete Nebenrolle spielen, wenn sie denn überhaupt erwähnt werden[12], sind für die Handlung besonders die sich neben den Parteien gegründeten rechtsradikalen und konservativen Organisationen von Bedeutung, welche eindeutig republikfeindlich waren. Deren Mitglieder kamen vor allem aus dem nun bedeutungslosen Adel, dem Militär und Bildungsbürgertum.[13] Diese Tendenz hat Roth als das Zentrum der antirepublikanischen Bewegung durchschaut und konzentrierte daher Anfang der 1920er Jahre darauf seine Angriffe. In der Tat gab es überall in Deutschland geheime Organisationen, in Form von paramilitärischen Kampfverbänden, die hauptsächlich im Untergrund die Zerstörung der Demokratie und die Wiederherstellung der Monarchie oder die Errichtung einer totalitären „großgermanischen“ Diktatur planten. Die Leitbilder dieser reaktionären Bewegungen und Parteien waren ein radikaler Nationalismus und Antisemitismus, den Roth als Weg enthüllt, um die als demütigend empfundene Niederlage von 1918 rechtfertigen zu können:

„Und als man schließlich merkte, daß etwas faul war im Staate, gab man die Schuld den Pazifisten, der ‚roten Internationale’, den Juden, mit denen man abrechnen wollte, sobald man zurückgekehrt wäre. Man kehrte zurück, und siehe da: Pazifisten, Internationalisten, Sozialisten, Freidenker, Zweifler, Demokraten, kurz: ‚Juden’ waren ‚am Ruder’. Nun war man arm, hatte nichts zu essen. Aber die ‚Ehre’ war auch nicht mehr da? […] Nun, soll man da nicht antirevolutionär sein?!“[14].

Man hatte den Krieg verloren, die identitätsstiftende Monarchie gab es nicht mehr, statt dessen regierte das gemeine Volk und man selbst und der Einsatz für das Vaterland waren nichts mehr wert: Folglich „[trug Theodor] jeden seiner Tage wie ein schmerzendes Joch über gebeugtem Nacken. […] Aber er sagte nichts.“, statt dessen „[nährte] er einen Haß gegen Sozialisten und Juden“ (S 6), denen er und seine Gesinnungsgenossen die Schuld an der Revolution gaben. Obwohl die Judenfeindschaft nahezu so alt ist wie das Christentum[15], fand die antisemitische Propaganda der Nachkriegszeit einen neuen Höhepunkt. So sieht auch die Antisemitismusforschung im Ersten Weltkrieg mit seinen für die Menschen verrohenden Wirkungen und dem darauffolgenden politischen Klima, die entscheidende qualitative Veränderung des Antisemitismus, auch wenn sich viele daran beteiligte Faktoren bereits davor herausgebildet hatten.[16]

Die Juden wurden zum Sündenbock für alles was das deutsche Selbstbewußtsein quälte: Kriegsniederlage, Revolution, Wirtschaftsniedergang, Republik. Dabei stützten sich die Argumente hauptsächlich auf den im 19. Jahrhundert entstandenen Rassegedanken und dem daraus entwickelten Sozialdarwinismus. Die Juden wurden als in ihren Rasse- und Charaktereigenschaften minderwertig und schädlich für die überlegene arische Rasse beschrieben. Daraus folgte der Aufruf, die „parasitären“ Juden – wenn auch (noch) nicht physisch zu vernichten – auszuweisen oder zumindest absolut auszugrenzen. Unterstützt wurden diese Gedanken durch die Hetze gegen die vermeintliche Herrschaft der Juden über das deutsche Volk und deren systematische Zersetzung der arischen Rasse.[17] Zur Vertiefung dieser Angstvorstellungen trugen zweifelsohne die „Protokolle der Weisen von Zion“ bei, die Roth treffend als „arische Bibel“ und den „größte[n] Bucherfolg des Jahrhunderts“[18] bezeichnet hat, in denen die angeblichen Pläne der Juden beschrieben, wie sie die Weltherrschaft erobern wollen. Man glaubte, daß sie sich in einer „alliance israélite“ zusammengeschlossen hatten, dem Organ „eines jüdischen Fürsten, der sich irgendwo unsichtbar aufhielt und regierte“[19]. Folglich war es leicht, vor dem verängstigten Volk die Weimarer Republik als „verjudet“ anzuprangern.[20] Höhepunkte der Verwirklichung dieser radikalen Überzeugungen waren die Morde an hochrangigen demokratischen Politikern, vor allem an Walther Rathenau im Sommer 1922, der natürlich besonders die jüdische Gemeinschaft erschütterte. Verantwortlich war die rechtsextreme geheime „Organisation Consul“ (OC), die Roth sicherlich als Vorbild für die Geheimorganisation „S II“ im Roman genutzt hat.[21]

Theodor ist also der repräsentative Vertreter des Untertanentypus des Kaiserreichs, der sich nun in der Republik um seine herrliche Zukunft betrogen fühlt:

„Erschwindelt war die Revolution, der Kaiser betrogen, der General genarrt, die Republik ein jüdisches Geschäft.“ (S 8).

Der gefügige Untertan, wie Theodor, hat selbst nur ein unterentwickeltes kritisches Bewußtsein und folgt stets dem hierarchisch Höherstehenden, angefangen beim Vater, bis hin zum Lehrer und zum Befehlshaber in der Armee. Bereits am Anfang der Erzählung wird er als ein Mensch charakterisiert, der aufgrund des durch die Erziehungsmethoden der Kaiserzeit geringen Selbstbewußtseins, große Schwierigkeiten hat, sich frei zu artikulieren und unfähig ist, sich auf neue Situationen einzustellen.[22] So heißt es:

„[n]ur das auswendig Gelernte, dessen Klang schon fertig und ein dutzendmal lautlos geformt in seinen Ohren, seiner Kehle lag, konnte er sprechen.“ (S 6),

und kurz darauf:

„Jede Stunde hatte ein fremdes Gesicht. Alles überraschte ihn. Jedes Ereignis war schrecklich, nur weil es neu war, und verschwunden, ehe er es sich eingeprägt hatte.“ (S 7).[23]

Folglich wäre ein Leben in der Armee genau nach seinem Wunsch gewesen, denn hier „nur war er glücklich. Was man ihm sagte, mußte er glauben, und die anderen mußten es, wenn er selbst sprach.“ (S 7). Niemand widersprach in der klar strukturierten Welt des Militärs. Dagegen muß sich Theodor im ungeliebten Zivilleben[24] mit seinem Schüler, dem jungen Efrussi, auseinandersetzen, der verdächtigerweise „so selbstbewußt“ jeden Fehler macht, daß er anfängt selbst am „Lehrbuch zu zweifeln“ und „Mühe hatte, […] Autorität zu bewahren.“ (S 7).

Aber Theodor wäre keineswegs nur damit zufrieden gewesen, irgendwo in der untersten militärischen Hierarchie zu dienen, vielmehr treiben ihn – in unterschiedlicher Ausprägung – Machtsphantasien: So war es „[i]mmer […] Theodors Bestreben gewesen, mit den Großen und Größten in irgendeinen Kontakt zu gelangen.“ (S 25) und der Traum vom „siegreichen Einzug [durch das Brandenburger Tor] von Fahnen umflattert und Jubel umbraust“ (S 13), begleitet ihn bereits seit dem Eintritt in die Armee. Er ist also durchaus zur Eigeninitiative in der Lage, wenn es um seinen eigenen Vorteil geht, wie sich im späteren Handlungsverlauf auch zeigt. Allerdings sieht er momentan seine Chancen auf Erfolg durch die Revolution und den daraus resultierenden Zusammenbruch der alten Ordnung zunichte gemacht:

„Er war ein Hauslehrer mit gescheiterten Hoffnungen, begrabenen Mut, aber ewig lebendigen, quälendem Ehrgeiz.“ (S 10).[25]

2.2 Theodors Aufstieg – Karriere im Zeichen des Hakenkreuzes

Ausgerechnet beim „Feind“, dem Juden Efrussi, lernt Theodor den ebenfalls jüdischen Doktor Trebitsch kennen. Daß dieser auch Jude ist, spielt für ihn zunächst keine Rolle. Er ist es, der Theodor bei einem Treffen der typischen Republikfeinde (Adel, Bildungsbürgertum, Militär) dem Prinzen Heinrich vorstellt. Nach einer gemeinsamen Nacht mit diesem, die er als äußerst demütigend empfindet und die er fortan aus seiner Erinnerung streichen möchte, nutzt er dennoch die Gelegenheit und fragt „als hätte sich seine Zunge von jeder Abhängigkeit befreit […], ob der Prinz einen Sekretär brauche.“ (S 18). Er wird zurück zu Trebitsch geschickt und dieser führt ihn „bei feierlichem Kerzenglanz“ (S 19) in die Geheimorganisation ein. Das anfänglich ungute Gefühl[26] wird verdrängt, wenn Theodor den möglichen Lohn bedenkt, den er aus dieser neuen Verbindung erhalten konnte:

„Ich […] werfe das drückende Joch dieser Tage ab, steige auf, […] ich, Theodor Lohse, ein Gefährdeter, aber ein Gefährlicher […]. In diesen Zeiten gewinnt der Wagende.“ (S 20).

Die Verbindungen der Organisation reichen in alle gesellschaftliche Schichten, zudem verknüpft Roth den militärischen Geheimbund mit tatsächlichen rechtsnationalen Aktivitäten der Republik. So tauchen hier auch reale Personen am Rande auf: Ludendorff, Hindenburg und selbst Hitler.[27] Dabei gilt das Hakenkreuz als Erkennungszeichen unter den Gesinnungsgenossen.[28] Zwar werden im Roman die genauen politischen Ziele der Organisation und ihrer rechten Freunde nicht formuliert, aber es ist dennoch offensichtlich, daß sie die Republik zerstören wollen.[29]

Die neue Mitgliedschaft steigert Theodors Selbstwertgefühl erheblich und er muß sein Bedürfnis unterdrücken, seinen Kameraden davon zu erzählen.[30] Auch der plötzliche Besitz von Geld, das ihm gleich zu Anfang gegeben wird, läßt ihn geradezu aufrechter gehen.[31] Aber die erste Euphorie verfliegt schnell. Hatte er nach zwei langen Jahren endlich bei dem verhaßten Efrussi kündigen können und glaubte sich auf dem sicheren Aufstieg „zu den Gipfeln“ (S 53), muß er schnell erkennen, daß er lediglich in neue Abhängigkeiten geraten ist. In der Organisation, welche nach den militärischen Hierarchien strukturiert ist, wird Theodors Eigeninitiative (der Brief an Ludendorff[32]) sofort geahndet und er muß erkennen, daß der Weg zum Erfolg „[ü]ber Abhänge und durch Niederungen führte.“ (S 28).[33]

Während Theodors erstem Auftrag – die Unterwanderung der Kommunisten[34] –, zeigt sich dennoch sein ganzer Ehrgeiz:

„Er trug seinen neuen Namen mit Inbrunst. Er, den jede neue Situation überraschte […] erfand selbst Situationen. […] Es war wie eine Gefreitencharge beim Militär, die man ganz durchkosten mußte, ehe man weiterkam.“ (S 29).

Zudem wird in dieser Episode sein Charakter um einige Eigenschaften erweitert, die typisch für Antisemiten sind, und die sich im weiteren Verlauf immer stärker ausprägen. Zunächst wird Theodors Größenwahn deutlich:

„Er hatte wieder Macht über Menschen.“ (S 31),

des weiteren seine Menschenverachtung:

„[…] Er betrachtete Thimme als sein Wild, seinen Menschen, sein Eigentum.“ (S 31).

Schließlich werden erste Anzeichen von schwerer Paranoia erkennbar:

„Die letzte Allee durchlief er, als würde er verfolgt, gedrückt in das Dunkel der schattenden Bäume.“ (S 31),

und der daraus resultierende Realitätsverlust:

„Und während er erzählte, steigerte sich seine Furcht. Er log nicht mehr mit Vorbedacht, sondern schilderte seine ängstlichen Vorstellungen.“ (S 32).

Die schon früh erkennbaren Allmachts- und Vernichtungsphantasien Theodors entladen sich schließlich in den Ermordungen von Günther und Klitsche:

„Aus Theodors Innerem kam das rauschende Blut, es erfüllte ihn, […] es machte ihn leicht. […] Es war wie ein leichter, roter Jubel, ein Triumph, der ihn hob, […] Tod den schweren Gedanken, Befreiung der verborgenen, begraben gewesenen Seele.“ (S 45).[35]

Roth hat hier, lange vor der planmäßigen Vernichtung der Juden während der nationalsozialistischen Herrschaft, den Zusammenhang zwischen den größenwahnsinnigen Übersteigerungen des Antisemiten und der gewissenlosen Tötung des vermeintlichen Feindes erkannt, welche vom Täter als Befreiung empfunden wird. Denn die Macht von der Theodor und seinesgleichen träumen, ist natürlich nur dann erreichbar, wenn der Widersacher vernichtet worden ist. Theodor opfert Günther, als er eine Chance wittert, um die Karriereleiter hinaufzusteigen. Er entledigt sich Klitsche bei der ersten Gelegenheit, weil dieser ihm nicht nur im Weg steht, sondern ihn vielmehr in einer demütigenden Abhängigkeit gehalten hat.[36] In der neuen demokratischen Ordnung sind Menschen wie Theodor, die in der Monarchie einer glänzenden Zukunft gewiß sein konnten, auf sich allein gestellt und müssen sich ihren „Platz an der Sonne“ selbst erkämpfen. Dies kann – so Roths Auffassung – nur auf Kosten der Humanität und Ethik gehen, denn durch das egoistische Machtstreben wird die Würde des Anderen leichtfertig mit Füßen getreten und mündet schließlich in einem gefährlichen Sozialdarwinismus, wie es hier deutlich wird.

Theodor selbst rechtfertigt diese Taten mit seiner patriotischen Gesinnung:

„Ja, er liebte sein Volk. Im Dienste seines Volkes stand er.“ (S 41).

Da die Rechtsnationalen behaupten, ausschließlich zum Wohle des deutschen Volkes zu handeln und es nicht nur beschützen, sondern vielmehr von allen subversiven Elementen bereinigen, kann letztendlich jeder als Staatsfeind gebrandmarkt werden, der als Hindernis für die eigenen Ambitionen betrachtet wird. Dabei wird der Feind grundsätzlich als „jüdisch“ dargestellt. Das zeigen vor allem die Stellen, in denen zum einen die Geheimorganisation Günther des Verrats für schuldig befindet und zum anderen als Theodor seine Leute auf den Arbeiteraufstand in Pommern vorbereitet. An beiden Stellen wird jeweils folgendes Trutzlied gesungen, welches die meist nichtjüdischen Feinde „judaisiert“, womit die mögliche vorhandene Hemmschwelle zu Töten gesenkt wird:

„Der Verräter zahlt mit Blut,

Schlage sie tot, die Judenbrut,

Deutschland über alles.“ (S 42, 57).[37]

2.3 Theodors Antisemitismus – „Die Juden sind unser Unglück“

Typisch für Theodors Wut auf die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Zustände in der neuen Demokratie ist, wie erwähnt, sein Antisemitismus. Für ihn sind „die Juden“ allein die Schuldigen für seine unbefriedigende Situation:[38]

„Wie überhaupt die Juden seine langjährige Erfolglosigkeit verursacht hatten und ihn an der schnellen Eroberung der Welt hinderten.“ (S 37).

Während er als Hauslehrer eines Juden sein Leben fristet und obendrein auch noch dessen Ehefrau begehrt[39], hatten es die „Glasers und Efrussis [leicht]“ (S 8).

Roth entlarvt im Roman die Judenfeindschaft als Konstrukt der Rechten, die sich als Opfer der Juden fühlen, um die eigenen Unzulänglichkeiten und die gesellschaftlichen (demokratischen) Restriktionen zu substituieren. Die Diskrepanz zwischen Theodors überzogenen Ambitionen („Er wollte Führer sein“, S 48) und ihrer Realisierbarkeit, wird von ihm durch seinen emotionalen Antisemitismus überbrückt. Wann immer er auf seinem Weg zur Macht auf Hindernisse stößt, wächst sein Haß gegen die Juden bis ins Grenzenlose, weil sie ihn hindern, den „Gipfel“ (S 53) zu erklimmen: „Er […] haßte [ihre] Sippe.“ (S 37).[40]

Jetzt erinnert sich Theodor, „daß er im Efrussischen Hause immer eine schüchterne Haltung eingenommen hatte.“ (S 37), und später meint er zu erkennen, daß die Juden immer mehr Macht besitzen werden als er:

„Groß war die Macht Efrussis, stärker war er als irgendein Theodor Lohse, man hörte niemals auf, sein Hauslehrer zu sein, sein Diener, sein Abhängiger. Und der alte Haß erwachte, schrie in Theodor: Blut, Blut, Judenblut!“ (S 50).[41]

Hier wird noch einmal die irrationale Vorstellung der Antisemiten deutlich, die Juden (0,9% der Bevölkerung in der Weimarer Republik!) würden das deutsche Volk beherrschen. Der „ehrliche“ Deutsche muß zwangsläufig dem Juden unterliegen, weil dieser seinen Erfolg „erschwindelt“:

„Denn alles war Schwindel, Glasers Wissen unredlich erworben wie das Geld des Juweliers. Es ging nicht mit rechten Dingen zu […]“ (S 8).

Diese vermeintliche Ungerechtigkeit erklärt den eigenen Mißerfolg, da dieser nicht an mangelnden eigenen Fähigkeiten liegt. Durch diese Verdrängung wird das Selbstwertgefühl gestärkt.[42] Hier macht Roth auch den ausgeprägten Sozialneid der Rechten deutlich, denn die erfolgreiche Aufstiegsgeschichte des deutschen Judentums während der Emanzipation führte dazu, daß die nichtjüdische Mehrheit dies nicht als das Ergebnis der Gleichstellung, sondern als ein Zeichen von jüdischer Dominanz und folglich als Bedrohung empfand.[43]

Theodors Antisemitismus ist jedoch nicht nur Kompensation für die eigenen Minderwertigkeitsgefühle, sondern auch schlichtweg eine Eintrittskarte für seine Karriere. Folgende Stelle macht dies deutlich:

„längst war sein Glaube erschüttert, sein Haß geschwächt, seine Begeisterung ausgekühlt, er glaubte nur an sich, liebte sich selbst, begeisterte sich an seinen Taten. Er haßte nicht mehr die Efrussis und nicht mehr die Glasers. […] Er sah die Sinnlosigkeit dieses Schlagwortes, jenes Arguments. Er verachtete die Zuhörer, zu denen er sprach. Er wußte, daß sie alles glaubten. Er las Broschüren, Zeitungen, nicht um ihre Gesinnung zu teilen, sondern um sie auswendig zu lernen. […] Es schmerzte ihn der Zwang zur Namenlosigkeit […] Und je geringer [seine] Überzeugung wurde, desto mehr erweiterte er die Gebiete seines vorgetäuschten Hasses: Nun sprach er nicht nur gegen Arbeiter und Juden und Franzosen, sondern auch gegen den Katholizismus, die Römlinge.“ (S 48)

Es geht im Grunde nicht um die Juden und ihren angeblichen Charakter oder um irgendwelche tatsächlichen Verschwörungen. Theodor erkennt sogar, daß sein Bild von den Juden nicht der Wirklichkeit entspricht:

„Anders, als in dem Buche stand, waren die Zionweisen. Sie strebten nicht die Macht in Europa an. Sie hatten Verstand.“ (S 104).

Bei Theodors antisemitischer Propaganda geht es vielmehr darum, daß er „ein kleiner Gott“ (S 48) sein will.[44] Er hat erkannt, daß dies am besten durch das Schüren von Ängsten zu erreichen ist, kurz: durch Volksverhetzung. Dies würde freilich bedeuten, daß der Haß auf Juden für Theodor ausschließlich eine „politische Geschäfts- und niemals Überzeugungssache“[45] ist. So heißt es im Roman auch: „Nationalsozialismus war ein Wort wie andere. Es bedingt nicht Gesinnung.“ (S 62) und an anderer Stelle: „Was war Sozialismus? Ein Wort. Man muß nicht daran glauben.“ (S 72). Die Inhalte sind demzufolge unbedeutend und hat er sich demnach einfach für die „falsche Seite“ entschieden? Schließlich gesteht Roth ihm die Fähigkeit zu, seine Position kritisch zu überdenken. In Zeiten, in denen „sein Glaube erschüttert“ (S 48) war, kam „der alte, undeutlich und behutsam geformte Wunsch“ zum Vorschein, „eine Brücke zu den anderen zu schlagen.“ (S 72). Bei den Sozialisten vermutet er „Ehrlichkeit“, während bei den Rechten nur „Selbstsucht [,] Sorge um Gehalt [und] Stellung“ (S 72) herrscht. Hier, so wußte Theodor, wurde er belogen und er lernte jedem zu mißtrauen.[46] Anscheinend zweifelt er schon länger, sonst hätte sich der Wunsch des Seitenwechsels nicht „[g]eborgen vor gefährlicher Entdeckung“ (S 72) in ihm ausgebildet. Tatsächlich scheint er, befreit von jeglichem Loyalitätsbewußtsein, dem linken „Feind“ die Pläne für den geplanten Schlag gegen sie am 2. November verraten zu wollen und zu diesem Zweck nimmt er auch Kontakt zu Benjamin Lenz auf.

Ist Theodors Judenfeindschaft also gar nicht echt, sondern lediglich Mittel zum Zweck? Austauschbar mit irgendeiner beliebigen Ideologie?[47] Die Antworten auf diese Fragen müssen verneint werden, da Theodors Antisemitismus wohl real ist, denn kaum als er erstmals auf Benjamin Lenz trifft, kommen seine Vorurteile wieder zum Vorschein:

„Er fühlte das Judentum Benjamins; wie ein Jagdhund überall Wild wittert, so witterte Theodor Juden, wo er einer Überlegenheit begegnete.“ (S 76).[48]

Vielmehr scheint es Roths Wille gewesen zu sein, durch diese komplexere Charakterisierung zu zeigen, daß selbst Theodor, der Prototyp des untertänigen Kleinbürgers, intellektuell in der Lage ist, kritisch die nationalistische Bewegung zu betrachten. Daß er aber, trotz der immer wiederkehrenden Zweifel, sich nicht von der rechtsradikalen Bewegung lossagt, beweist, daß seine nationalistischen und antisemitischen Überzeugungen zu tief verwurzelt sind. Folglich entscheidet sich Theodor nicht nur am Anfang des Romans für die „rechte Seite“, sondern immer wieder, womit Roth ihn als eindeutig negativ zu bewertenden Charakter darstellt:

„Das Ergebnis ist, daß Theodor Lohse unter den Hauptgestalten Roths als einziger der Sympathie des Autors gänzlich entbehrt.“[49]

Die Tatsache, daß es Theodor relativ schnell gelingt, in der jungen Weimarer Republik Karriere zu machen, zeigt zudem deutlich, daß seine Behauptung, nur die „Glasers und Efrussis“ hätten es einfach, nicht zutreffend ist. Vielmehr zeigt Roth, daß nicht die Juden die Mächtigen in der Republik[50] sind, sondern die alten Eliten. Das zeigt auch die große Unterstützung, die Theodor und seinesgleichen in ihrer antisemitischen und antirepublikanischen Propaganda finden, vor allem bei den Institutionen, die eigentlich die Republik schützen sollten: Reichswehr, Polizei, Justiz und Presse. Durch die erfolgreiche Unterwanderung demokratischer Strukturen gelingt es den Rechten an Macht und Einfluß zu gewinnen und die Demokratie von innen heraus zu demontieren.[51]

Der dramatische Höhepunkt der Handlung ist der 2. November, von dessen Ausgang sich Theodor viel erhofft:

„War er am 2. November noch Mittel nur, nicht Führer, Glied einer Kette, nicht ihr Anfang […], so hatte er seinen Tag versäumt. Dann erwartete ihn kein Glanz, sondern bescheidenes Ziel.“ (S 70f.).

Der geplante Zusammenstoß zwischen Polizei, Reichswehr, Studenten auf der einen und Arbeitern auf der anderen Seite, endet schließlich in einem Pogrom im Judenviertel. Bereits im Frühling 1923 bemerkt Roth, daß Deutschland „Pogrome auf Juden vor[bereitet]“[52] und im „Spinnennetz“ läßt er diese Vermutung wahr werden.[53]

Übergriffe auf die jüdische Minderheit waren schon seit Jahrhunderten das ideale Ventil für die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Spannungen innerhalb der überwiegend christlichen Gesellschaft. Im Roman wird dies veranschaulicht, indem ein Kampf, ursprünglich zwischen Arbeitern und rechten Kräften, schließlich in einem scheinbar gemeinsamen gewalttätigen Übergriff gegen die jüdische Bevölkerung ausartet. Gemeinsam deshalb, da Roth offen läßt, wer mit dem Angriff auf die Juden beginnt und wer daran beteiligt ist. Damit macht er auch die hohe gesellschaftliche Akzeptanz des Antisemitismus, unabhängig von sozialer Schicht und politischer Überzeugung, deutlich.[54] Die mögliche Mitverantwortlichkeit der Arbeiter zeigt zudem, daß Roth keineswegs der traditionellen linken Position folgt, die meint, auch in Bezug auf den Antisemitismus das proletarische Lager prinzipiell von den Rechten zu trennen. Tatsächlich nutzte auch die KPD bewußt judenfeindliche Vorurteile, so rief sie beispielsweise zum Kampf gegen das „jüdische Kapital“ auf.[55]

Der 2. November schließlich kennzeichnet im Roman den „Sieg“ der Republikfeinde: „Ihrer ist die Macht, sie dürfen schlagen, wer straft sie dafür?“ (S 95). Die Antwort ist: Niemand. Vielmehr führt der „Sieg der Ordnung“ (S 100) zur weiteren Demontage der Demokratie und zum wiedererstarkten Machteinfluß der in der Monarchie herrschenden Oberschicht.[56]

2.4 Theodor – Arier oder Semit?

Eine weitere Taktik Roths, um den Antisemitismus als falsch zu entlarven, ist es, typisch antisemitische Stereotype zu widerlegen, indem er sie auf den arischen Protagonisten Theodor Lohse überträgt.

Doch zunächst weist bereits der Titel des Romans auf ein antisemitisches Bild hin, welches die Juden als Spinnen darstellt:

„Hört man den Antisemiten zu, so herrscht über die Erde […] eine Art Spinne, welche […] erdumspannende Netzstränge geschlagen hat und in ihnen alle Völker sich abarbeiten und verzappeln läßt.“[57]

Roth konterkariert im Roman diese Metapher für die „jüdische Verschwörung“, indem er sie mehrmals in Bezug auf die Antisemiten verwendet:

„[Theodor] war im Begriff, an den unsichtbaren Fäden zu ziehen, an denen […] Minister, Behörden, Staatsmänner, Abgeordnete hingen.“ (S 24)

und etwas später:

„Er spreizte die Finger in den Hosentaschen. Er beugte den Oberkörper vor. Er nahm, ohne es zu wissen, die lauernde Haltung seiner Spinne an.“ (S 31).

Es sind also vielmehr die geheimen rechtsnationalen Organisationen, welche ein gefährliches Netz spinnen, in dem sie ihre Opfer fangen.[58]

Des weiteren entspricht Theodors Denkweise vollständig dem traditionellen Vorwurf, Juden würden stets nur auf ihren eigenen Reichtum bedacht sein und die nichtjüdische Bevölkerung um jeden Pfennig betrügen:

„Immer hatte er Geld geliebt […]. In der Schule vollbrachte er das erste Geschäft.“ (S 66). Er spekuliert an der Börse und „sah, wie sein Geld wuchs.“ (S 66).

Zudem hintergeht er seine eigenen Leute:

„Er verwaltete Geld […]. Er […] erteilte keine Vorschüsse, es sei denn an sich selbst.“ (S 46)

und später unterschlägt er auch noch den Lohn seiner Kameraden:

„der Freiherr hatte […] die drei Tagelöhne nicht abgezogen. Theodor gedachte es zu tun.“ (S 61).[59]

Ein weiteres Vorurteil ist der angebliche ausgeprägte Geschlechtstrieb der Juden. Im Roman ist es jedoch Theodor, der ständig (aber erfolglos) Frauen begehrt. Abgesehen von seiner späteren Ehefrau hat Theodor nur einmal ein „Abenteuer“ (S 10) gehabt, für das er nicht bezahlen mußte („Sein waren die kleinen Mädchen für billiges Geld.“, S 10). Nach der antisemitischen Vorstellung bedrohten die männlichen Juden mit ihrer Satyriasis die unschuldigen deutschen Jungfrauen (und damit die arische Rasse), weswegen die Mädchen stets vor dem Umgang mit Juden gewarnt wurden:

„Oft hatte der Vater Lohse seine Töchter vor dem Verkehr mit jungen Juden in der Tanzstunde gewarnt.“ (S 8).[60]

Hier ist es jedoch Theodor, der eine Jüdin begehrt und ihr sogar eine Affäre mit ihm andichtet.[61] Selbst nach seiner Eheschließung kann er sie nicht vergessen und gibt ihr, entsprechend seinem Charakter, die Schuld:

„schön war seine Braut, aber er dachte manchmal an Frau Efrussi, und tief […] wälzte er die Frage: ob sie schöner, besser sei als Elsa. Diese Jüdin ärgerte ihn.“ (S 111).

Zudem waren die Antisemiten überzeugt, daß Juden stets vorgeben, etwas zu sein, was sie nicht sind. Gerade die assimilierten Juden waren äußerlich nicht mehr als solche zu identifizieren und daher, so der Vorwurf, gelinge es ihnen, ihr Judentum zu verheimlichen, um die arische Rasse von innen heraus zu zersetzen und zu dominieren. Im Roman ist es jedoch wieder Theodor, der sich verstellt. Nicht nur, daß er als Spitzel Friedrich Trattner eine neue Identität annimmt, um den politischen Gegner zu unterminieren, vielmehr reproduziert er Erlebnisse anderer als seine eigenen:

„Theodor kannte viele Geschichten, er war Held und Mittelpunkt aller, er hatte nicht umsonst jahrelang zugehört […]“ (S 52).[62]

2.5 Trebitsch, Efrussi und Pisk – Des Feindes Handlanger?

Der zeitgenössische Antisemitismus der Weimarer Republik richtete sich zwar im Grunde gegen alle Juden, wurde aber im täglichen Leben hauptsächlich an den osteuropäischen Flüchtlingen ausgelassen. Diese waren meist orthodoxe Juden, die wegen Armut und aus Angst vor Übergriffen nach Deutschland kamen, um von hier aus vor allem in die Vereinigten Staaten oder nach Palästina auszuwandern.[63] Die Ostjuden waren meist noch leicht an ihrer traditionellen Kleidung zu erkennen, weswegen es für das gemeine Volk so aussah, als würde „ein[e] Lawine aus Unglück und Schmutz, […] langsam wachsend, aus dem Osten über Deutschland roll[en].“[64] Aber nicht nur die nichtjüdischen Deutschen sahen in den Flüchtlingen eine „Gefahr aus dem Osten“[65], sondern auch die ansässigen Juden, freilich aus anderen Gründen. Hier befürchtete man vor allem, daß die negative Einstellung gegenüber den Flüchtlingen auch auf sie übertragen werden könnte und infolgedessen waren Ostjuden in Deutschland „Außenseiter unter Außenseitern“[66]. Daher versuchten die deutschen Juden entweder, die Einreise der Ostjuden ganz zu verhindern, oder zumindest ihnen bei der Weiterreise behilflich zu sein, damit sie schnell wieder verschwanden. Die Versuche, dem immer weiter um sich greifenden Antisemitismus entgegenzuwirken, blieben zumeist vergeblich, zumal von der Regierung kaum Unterstützung kam. So waren der „Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ oder der konfessionsübergreifende „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ auf sich gestellt. Einzig die von vielen Juden gewählte und daher als „Judenpartei“ angegriffene Deutsche Demokratische Partei (DDP) bekannte sich offen gegen den Antisemitismus. Roth warf vielen deutschen Juden jedoch vor, erstens, die antisemitische Gefahr nicht zu erkennen und zweitens, nichts oder nur unzureichend etwas dagegen zu tun. Viele Juden, die sich vollkommen in die deutsche, christliche Kultur integriert hatten, glaubten, daß ihnen nichts geschehen könnte. Roth hatte für diese Haltung hauptsächlich Verachtung übrig[67] und daher erscheint nur auf den ersten Blick die Tatsache, daß Theodor sich nahezu ausschließlich von Juden helfen läßt, unvereinbar mit der antisemitismuskritischen Ausrichtung des Romans. Es ist Dr. Trebitsch, der ihn in die Geheimorganisation einführt und dessen Schriften er für seine Hetzkampagnen nutzt, Efrussi unterstützt die Verbindung finanziell, Pisk ist für seine Popularität verantwortlich und schließlich Benjamin Lenz, in dessen absolute Abhängigkeit Theodor gerät und der ihn lenkt wie kein anderer.

[...]


[1] Joseph Roth: Der apokalyptische Redner. Die Propaganda des Dritten Reiches – eine Weltgefahr [Pariser Tageszeitung, 20./21. 3.1938], in: Joseph Roth Werke in sechs Bänden, hrsg. v. Fritz Hackert u. Klaus Westermann, Köln 1990, Bd. 3, S. 798 (im folgenden: JRW).

[2] J. R.: Schweigen im Dichterwald [Prager Tageblatt, 16.11.1923], in: JRW 1, S. 1068f.

[3] J. R.: Dichter im Dritten Reich [Das Neue Tage-Buch, 1.7.1933], in: JRW 3, S. 486.

[4] Joseph Roth: Juden auf Wanderschaft, München 2006, S. 109.

[5] Brief an Stefan Zweig vom 26.3.1933, in: Joseph Roth, Briefe 1911-1939, hrsg. v. Hermann Kesten, S. 260 (im folgenden: JRB).

[6] Der Begriff Antisemitismus wird gemäß folgender Definition verwendet: „Feindschaft gegen die […] Anhänger der jüdischen Religion u. Nachkommen von solchen, die die Religion nicht mehr praktizieren, [insbes. aus sog. rass. Gründen].“ (Das aktuelle wissen.de Lexikon, Art. „Antisemitismus“, S. 336f.). Antijudaismus nennt man dagegen die Ablehnung, Anfeindung und Verfolgung von Angehörigen des Judentums durch die christlichen Kirchen. Allerdings sind die Grenzen naturgemäß schwer zu ziehen, da der Antisemitismus auf bereits vorhandenen christlichen Vorurteilen beruht. Dementsprechend kann es zu synonymen Verwendungen kommen.

[7] Im folgenden werden bei der Angabe der Seitenzahlen Siglen verwendet: ’S’ für „Das Spinnennetz“, ‚T’ für „Tarabas. Ein Gast auf dieser Erde“ und schließlich ‚F’ für „Die Flucht ohne Ende“.

[8] Die Biographie Roths soll allerdings mehr nebensächlich bleiben und nur zur Veranschaulichung – wenn passend – herangezogen werden. Entgegen der Ansicht von Ochse, die meint, daß „[b]ei einem jüdischen Schriftsteller, der sich mit dem Antisemitismus auseinandersetzt, eine Rekonstruktion des autobiographischen Kontextes [erforderlich ist], in dem die relevanten Texte jeweils entstehen. Nur so wird der Kenntnis- und Bewußtseinsstand des Autors bezüglich des Judenhasses […] faßbar.“ (Ochse, Katharina: Joseph Roths Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus (= Epistemata, Bd. 273), Würzburg 1999,S. 11), wird hier davon ausgegangen, daß die Texte allein, höchstens in ihrem historischen Zusammenhang, Aufschluß geben über die Intention, sowie über den „Kenntnis- und Bewußtseinsstand“ des Schriftstellers. Zudem ist es doch so, daß wenn man Roth auf seine Herkunft reduziert, auch die Wirkung des Werkes einschränkt, insbesondere da er immer Wert darauf gelegt hat, vor allem als „Mensch“ gegen den Antisemitismus zu kämpfen: „Nichts ist so tierisch wie Gleichgültigkeit […]. Ein einziger Mensch, dem es egal ist, ob ein Jude geschlagen wird oder nicht, ist schädlicher als die zehn, die den Juden – oder den Neger oder den Rothaarigen oder den Grünäugigen – mit eigenen Händen schlagen.“ (J. R.: Der Feind aller Völker [Pariser Tageszeitung, 3.1.1939], in: JRW 3, S. 861. In der Forschung gibt es zudem zahlreiche Beiträge zur Biographie Roths, vor allem auch zu seinem „offensichtlich“ gespaltenen Verhältnis zu seiner jüdischen Herkunft und zu seiner „Konversion“ zum Katholizismus. Viele Interpretationen seiner Werke scheinen auch eher die Intention zu haben, Roth in seinen Texten wiederzufinden und seine „Mythomanie“ (Bronsen, David: Joseph Roth. Eine Biographie, München 1981, S. 494) zu entschlüsseln. Das ist keinesfalls das Bestreben dieser Arbeit, schon deshalb, weil dies letztendlich in Spekulationen enden würde, da sich Roth zu nahezu jedem Thema (abgesehen vom Antisemitismus) widersprüchlich geäußert hat.

[9] Roth hat sich stets gegen die kulturkonservative Unterscheidung zwischen Literatur und Journalismus ausgesprochen. Es entspricht also vollkommen seinem Selbstverständnis als Dichter und Journalist, wenn seine Gesamtarbeit nicht voneinander getrennt betrachtet wird (vgl. Ochse, S. 11).

[10] Vorankündigung des „Spinnennetzes“ in der Wiener „Arbeiter-Zeitung“ (Nr. 274, 6.10.1923), zit. nach: Raffel, Eva: Vertraute Fremde. Das östliche Judentum im Werk von Joseph Roth und Arnold Zweig (= Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft, Bd. 54), Tübingen 2002, S. 121.

[11] Vgl. Ochse, S. 53.

[12] Im „Spinnennetz“ tauchen namentlich nur die Sozialisten und Kommunisten auf (obwohl Theodor Lohse und die Rechtsradikalen nicht in der Lage sind, die „feine[n] Unterschiede“ zwischen diesen zu verstehen, vgl. S 29).

[13] Für Deutschlands Zukunft wirkte sich besonders verheerend aus, daß ausgerechnet an den Universitäten der Antisemitismus weit verbreitet war. Als die Studenten, die „intellektuelle Elite“, die Hochschulen verließen, konnten sie in einflußreichen Positionen ihre judenfeindlichen Überzeugungen verbreiten, besonders weil sie bei der nichtakademischen Bevölkerung ein hohes Ansehen genossen und ihr Verhalten und ihre Wertvorstellungen als Vorbild dienten. So kann treffend gesagt werden: „Das Bildungsbürgertum [hat] der Ausbreitung der Inhumanität, des nationalen und rassischen Hochmutes […] und […] des Antisemitismus Vorschub geleistet.“ (Jochmann, Werner: Struktur und Funktion des deutschen Antisemitismus 1878-1914, in: Vorurteil und Völkermord. Entwicklungslinien des Antisemitismus, hrsgg. v. Wolfgang Benz u. Werner Bergmann, Bonn 1997, S. 203).

[14] J. R.: Die reaktionären Akademiker [Der Neue Tag, 1.2.1920], JRW 1, S. 235f.

Vgl. Berding, Helmut: Der Aufstieg des Antisemitismus im Ersten Weltkrieg, in: Vorurteil und Völkermord. Entwicklungslinien des Antisemitismus, hrsgg. v. Wolfgang Benz u. Werner Bergmann, Bonn 1997, S. 286; Winkler, Heinrich August: Die deutsche Gesellschaft der Weimarer Republik und der Antisemitismus – Juden als „Blitzableiter“ , in: Vorurteil und Völkermord. Entwicklungslinien des Antisemitismus, hrsgg. v. Wolfgang Benz u. Werner Bergmann, Bonn 1997, S. 355.

[15] Vgl. Kapitel 3 der Arbeit.

[16] Vgl. Benz, Wolfgang, Bergmann, Werner: Antisemitismus – Vorgeschichte des Völkermords?, in: Vorurteil und Völkermord. Entwicklungslinien des Antisemitismus, hrsgg. v. Wolfgang Benz u. Werner Bergmann, Bonn 1997, S. 12; Jochmann, S. 191; Berding, S. 286; Winkler, S. 355.

[17] Der rassische Antisemitismus basiert jedoch auf der traditionellen christlichen Judenfeindschaft. Vorstellungen vom „jüdischen Feind“, der das Christentum von innen heraus zersetzen will, sind bereits Jahrhunderte alt. Gründend auf der Rasselehre Gobineaus bekam der Antisemitismus im 19. Jahrhundert jedoch eine neue Qualität. Dessen Überzeugung vom Herrschaftsanspruch der „weißen Rasse“, nutzten die Antisemiten für ihre Argumentation. Gewöhnlich wird der Beginn der antisemitischen Publizistik in Deutschland mit der 1861 erschienenen Schrift „Die Juden und der deutsche Staat“ (anonym) gesehen. Hier heißt es richtungsweisend: „das Judentum [soll] nicht allein als Religion und Kirche, sondern auch als Ausdruck einer Rasseeigentümlichkeit“ verstanden werden (zit. nach: Berding, S. 311). Hitlers „Mein Kampf“ stellt dabei den Höhepunkt der judenfeindlichen Publizistik dar. (vgl. Benz u. Bergmann, S. 17; Berding, S. 304, 306, 311, 335).

[18] J. R.: Berliner Bilderbuch [Der Drache, 25.3.1924], in: JRW 2, S. 96.

Obwohl schnell erwiesen wurde, daß es sich um eine Fälschung handelt, erschienen 33 Auflagen bis 1933. Auch im Roman weist Roth daraufhin, daß Theodor seine antisemitischen Überzeugungen zum Teil aus der Lektüre dieses Buches entnommen hat (vgl. S 9).

[19] Handbuch des deutschen Aberglaubens, Art. „Jude, Jüdin“, S. 824.

[20] Eine Stelle im „Spinnennetz“ zeigt deutlich den Zusammenhang zwischen dem Gefühl der Minderwertigkeit in der neuen Gesellschaftsordnung und dem Antisemitismus als Mittel zur Kompensierung. So bekommt Theodor vom „wirtschaftlichen Verband der Reserveoffiziere“ nicht nur wöchentlich Hülsenfrüchte - statt des benötigten Geldes (vgl. S 5) -, sondern auch „Die Weisen von Zion“ (vgl. S 9).

[21] Roth berichtete über den Prozeß gegen die Mörder Rathenaus. Für die „Neue Berliner Zeitung“ saß er im Gerichtssaal und seine Artikel verdeutlichen die Rückwärtsgewandtheit der Gesellschaft der neuen Demokratie (so ist bereits der Gerichtssaal noch immer „überflüssig mit Kaiserbildern tapeziert“ [J. R.: Leipziger Prozeß gegen die Rathenau Mörder, in: JRW 1, S. 872-888, hier 872]). Es scheint, als hätte er diese Erfahrung im „Spinnennetz“ literarisch verarbeitet: So beschreibt er zum Beispiel den Angeklagten Günther als „Hörer der Rechte, […] Typus des schlechtbezahlten Hauslehrers.“ (S. 876) Hier sind zweifelsohne Parallelen zur Hauptfigur Theodor Lohse zu erkennen. Außerdem angeklagt war der „Bankbeamte v. Salomon“, scheinbar jüdischer Herkunft, der angibt, „die Judenregierung“ zu hassen (S. 876). Auch im Roman spielen Juden, welche selbst die Antisemiten unterstützen eine bedeutende Rolle, wie Dr. Trebitsch. Auch im Publikum finden sich Anhänger der „nationalen Sache“: „Gestern wurde ein Jüngling entdeckt, der im Knopfloch ein Hakenkreuz trug – offenbar aus völkischer Hochachtung vor dem Gericht der Republik. Es war, […] der Sprößling […] des Reichsgerichtsrats.“ (S. 877). Der Entlastungszeuge ist bezeichnenderweise ein „Studienrat“, der abends in seiner Wohnung „[Kurse] in Antisemitismus“ (S. 882) gibt. Hier wird, wie auch im Roman, deutlich, wie verbreitet die Judenfeindlichkeit im Bildungsbürgertum war.

Vgl. Berding, S. 319-327 304, 306, 311, 335.

[22] Bereits bei Karl Mannheim heißt es: „Der ganze Aufbau unseres Unterrichtssystems […] trägt möglichst dazu bei, den in einer Epoche der Umwälzung so lebenswichtigen Geist des Experimentierens zu töten. Die […] Methoden aber unterbinden das Verständnis für eine in einem Übergangsstadium befindlichen Welt, weil sie Wagemut und schöpferische Geistesgegenwart hindern.“ (in: Diagnose unserer Zeit. Gedanken eines Soziologen, Zürich 1951, zit. nach: Sonnleitner, Johann: Macht, Identität und Verwandlung. Joseph Roths frühe Romane, in: Co-existent contradictions: Joseph Roth in retrospect, hrsg. v. Helen Chambers, Riverside 1991, S. 174).

[23] Varianten dieser Charakterisierung durchziehen den ganzen Roman und begleiten Theodor auf seinem Weg zur Macht (vgl. z. B. S 15, 77).

[24] „Anders war das Leben in Zivil, grausam, voller Tücke in unbekannten Winkeln.“ (S 8).

[25] Vgl. Klaß-Meenken, Petra: Die Figur des schwachen Helden in den Romanen Joseph Roths (= Berichte aus der Literaturwissenschaft), Aachen 2000, S. 62ff., 106, 116; Juergens, Thorsten: Gesellschaftskritische Aspekte in Joseph Roths Romanen, Leiden 1977, S. 12; Beug, Joachim: Sprachkrise und Sprachgläubigkeit im Werk Joseph Roths, in: Joseph Roth und die Tradition. Aufsatz- und Materialiensammlung (= Schriftenreihe Agora, Bd. 27), hrsg. v. David Bronsen, Darmstadt 1975, S. 348; Sonnleitner, S. 167, 172f.; Ochse, S. 53f.

[26] Obwohl Theodor nun wieder Teil einer hierarchisch strukturierten Gemeinschaft war, die einem genau umfaßten Codex folgte (vgl. S 19), geht es ihm interessanterweise und „wider seinen Willen zu schnell und gegen die Bedächtigkeit seines Gemüts. Er erschrak wiederum vor so viel Neuem […] Er fürchtete sich […].“ (S 19) und die „geborgene Stille einer Hauslehrerexistenz“, welche zuvor so verhaßt war, erscheint ihm nun als „Freiheit“ (S 20).

[27] Theodor erkennt in Hitler „eine Gefahr“ (S 63), allerdings wohl lediglich für seine eigene Karriere, denn während die Zeitungen „jenen [täglich] nannten“, sah man „Theodors Namen nicht“ (S 63).

[28] So trägt Theodor „ein kleines goldenes Hakenkreuz“ an seiner Krawatte (S 35), ebenso wie der Untersuchungsrichter, welcher später für den „Aufstand der Arbeiter“ in Pommern zuständig ist (S 58).

[29] Vgl. Mehrens, Dietmar: Vom göttlichen Auftrag der Literatur. Die Romane Joseph Roths. Ein Kommentar, Hamburg 2000, S. 43; Marchand, Wolf R.: Joseph Roth und völkisch-nationalistische Wertebegriffe. Untersuchungen zur politisch-weltanschaulichen Entwicklung Roths und ihrer Auswirkung auf sein Werk, mit einem Anhang: bisher nicht wieder veröffentlichte Beiträge Roths aus „Das Neue Tage-Buch“, Bonn 1974, S. 41.

[30] Vgl. S 23f.

[31] Vgl. S 20.

Auch später nach der erfolgreichen Ausführung seines ersten Auftrages „kam er sich gewachsen vor“ (S 34).

[32] Vgl. S 25ff.

[33] Vgl. Sonnleitner, S. 175.

[34] Vgl. S 28-33.

[35] Das berauschende Gefühl, das Theodor beim Anblick von Blut verspürt, kommt in der Erzählung mehrmals vor und ist stets eine Wiederholung der hier zitierten Stelle (vgl. S 59, 120).

[36] Vgl. S 40-45.

Theodor ist jedoch nicht ohne schlechtes Gewissen: „es kamen Abende, an denen [er] sich mit der Frage beschäftigen mußte, ob die Toten endgültig tot seien.“ (S 51f.) Der Verrat, vor allem an Günther, wird Theodor bis zum Romanende nicht los: „Die Toten leben! Er haßt die Toten. […] Er nimmt Rache an den Toten, sie wollen nicht sterben.“ (S 100). Allerdings läßt auch Benjamin Theodor nicht vergessen, was dieser getan hat: „Manchmal sagte Benjamin: ‚für das Günther gestorben ist’. Und wenn er sich vergaß: ‚für das Sie ihn getötet haben’.“ (S 120f.). Theodor, anders als Tarabas, wählt jedoch nicht den Weg der Sühne für seine Taten. Bei seiner „Beichte“ gegenüber seiner Frau, verdreht er schließlich die Wahrheit derart, daß er in ihren Augen als der „Held“ erscheint, zu dem sie „aufblicken“ kann (vgl. S 112f.; Mehrens, S. 54 und Kapitel 3.4 der Arbeit).

[37] Vgl. Ochse, S. 70; Mehrens, S. 46f.; Jochmann, S. 186; Sonnleitner, S. 176f.

[38] Heinrich von Treitschke: Unsere Aussichten, in: Preußische Jahrbücher (1879), zit. nach: Katz, Jakob: Zwischen Messianismus und Zionismus. Zur jüdischen Sozialgeschichte, Frankfurt a.M. 1993, S. 108.

[39] Vgl. S 10f.

[40] Schon in der Schule war es der jüdische Mitschüler Glaser, der Theodor den Platz des Klassenbesten „wegnahm“ (S 7); eine Demütigung, die er nicht überwinden kann.

[41] Vgl. auch S 66.

[42] Ausserhofer hat Theodor diesbezüglich treffend charakterisiert: „ein wildgewordener Kleinbürger, der als […] Leutnant eines verlorenen Krieges den Anschluß an das Zivilleben […] nicht mehr findet und seinen angestauten Haß vor allem an den Juden abreagiert, denen er alles das zuschreibt, was er an sich selbst nicht wahrhaben will.“ (Ausserhofer, Hansotto: Joseph Roth und das Judentum. Ein Beitrag zum Verständnis der deutsch-jüdischen Symbiose im zwanzigsten Jahrhundert, Bonn 1970, S. 148).

In seinem Gedicht „Der Hakenkreuzler“ nimmt Roth diese Vorstellung von der angeblichen Omnipräsenz der Juden noch einmal satirisch auf: „Das Kainszeichen des Hakenkreuzes auf der gesenkten doofen Stirn […], sieht [er] den Juden auf dem deutschen Kaiserthron, in der römischen Kirche und in seiner eigenen Organisation, und er erkennt in der Ahnenreihe des deutschen Goethe einen Stammbaumvater der Poesie namens Rosenbaum.“ (J. R.: Der Hakenkreuzler [Lachen links, 25.7.1924], in: JRW 2, S. 26f.).

[43] Vgl. Rürup, Reinhard: Judenemanzipation und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland, in: Vorurteil und Völkermord. Entwicklungslinien des Antisemitismus, hrsgg. v. Wolfgang Benz u. Werner Bergmann, Bonn 1997, S. 148, 150f.; Ausserhofer, S. 147; Ochse, S. 64ff.; Mehrens, S. 43; Benz u. Bergmann, S. 17.

[44] Mehrens sieht in Theodor einen „Vorläufer von Tarabas. Genau wie [dieser] herrscht auch Theodor Lohse dank seiner Machtstellung als selbstgefälliger Autokrat, der mangels Glauben an einen Gott sich selbst zum Gott aufschwingt.“ (S. 48.). Tatsächlich sind die Charaktere sich teilweise ähnlich: Beide genießen in narzißtischer Selbstgefälligkeit ihre Macht (ob eingebildet oder nicht) über andere Menschen. Daß sich auch Tarabas wie ein kleiner „Gott“ aufführt, macht Roth im Roman mehrfach deutlich (vgl. S. 36 der Arbeit).

[45] J. R.: Die Lage in Westungarn [Der Neue Tag, 5.9.1919], in: JRW 1, S. 136.

[46] Vgl. S 46.

[47] Auch Pazi meint, daß Theodor nicht aus „weltanschaulicher Überzeugung, sondern aus menschlicher Insuffizienz“ Mitglied der Geheimorganisation wird (vgl. Pazi, Margarita: Exil-Bewußtsein und Heimat-Illusionen bei Joseph Roth, in: Wider den Faschismus. Exilliteratur als Geschichte [= Siebzehntes Amherster Kolloquium zur Deutschen Literatur], hrsgg. v. Sigrid Bauschinger u. Susan L. Cocalis, Tübingen u. Basel 1993, S. 167).

[48] Roth zeigt in Theodors Beziehungen zu den jüdischen Charakteren noch einmal deutlich die rational schwer eindeutig erklärbare Judenfeindschaft der Rechten. Denn obwohl er mit den zeitgenössischen antisemitischen Vorurteilen übereinstimmt, ist sein Verhalten den Juden gegenüber äußerst ambivalent. Einzig dem Juwelier Efrussi fühlt sich Theodor stets unterlegen und diesen haßt er bis zum Ende. Bei Trebitsch, Benjamin und Pisk – seinen Förderern – allerdings macht er nicht nur Ausnahmen, sondern scheint vielmehr das „Judesein“ dieser Figuren zu ignorieren, wenn nicht sogar zu vergessen. So erkennt er den „Juden“ in Trebitsch erst, als dieser die Organisation verraten hatte: „Theodor begann von Trebitsch zu erzählen. Der war ein sehr gefährlicher Jude. Theodor hatte ihn zu erst erkannt. Man hörte nicht auf Theodors Warnungen. Leider.“ (S 113) Und etwas später: „Und Theodor glaubte, sich erinnern zu können, daß Trebitsch jüdisch gesprochen hatte.“ (S 119). Mit Benjamin schließt Theodor sogar Freundschaft und erkennt dessen Doppelspiel nicht: „Er ordnete Benjamin Lenz unter seine Freunde wie den jüdischen Journalisten Pisk.“ (S 119).

[49] Bronsen, S. 239.

Dagegen ist Marchand der Meinung, daß die „Figur des Theodor Lohse […] sich bei dem Versuch, sie zum Bindeglied oder zur literarischen Brücke zwischen Rechts und Links zu machen, gewissermaßen selbständig [macht]“ und daher, so Marchand weiter, würde der Roman „undeutlich“ werden. (S 44). Offenbar macht ihm die Komplexität der Rothschen Charaktere Schwierigkeiten, denn auch Benjamin Lenz wird von ihm kritisiert (vgl. Anm. 96).

[50] „Sie waren, wie alle Welt wußte, furchtbar, weil sie Macht besaßen.“ (S 37).

[51] Vgl. Magris, Claudio: Weit von Wo. Verlorene Welt des Ostjudentums, Wien 1974, S. 136; Ochse, S. 72ff.; Mehrens, S. 50f.

[52] J. R.: Vergebliche Ruhrpropaganda [Die Glocke, 3.4.1923], in: JRW 1, S. 978.

[53] Die im Roman geschilderten Ereignisse wurden bereits einen Tag nach Abdruck der letzten Folge Wirklichkeit: Am 5. November 1923 kommt es zu Ausschreitungen im, meist von Juden bewohnten, Scheunenviertel, welche durch ungeheure Brotpreiserhöhungen ausgelöst wurden und am 8. und 9. November 1923 putschten Hitler und Ludendorff in München (vgl. Ochse, S. 76; Pazi, S. 166).

[54] Dies zeigt auch, daß die in der Weimarer Verfassung festgeschriebene Gleichberechtigung der Juden lediglich eine Formalität war. Faktisch wurden die Juden stets ausgegrenzt (vgl. Ochse, S. 74).

[55] Dagegen blieb die Anhängerschaft der SPD weitgehend frei von antisemitischen Ressentiments. (vgl. Jochmann, S. 215).

[56] Als ein weiteres Zeichen dieser Entwicklung ist auch Theodors Heirat mit dem adligen Fräulein von Schlieffen zu betrachten. Die Verbindung des Adels mit dem rechtsgerichteten Bürgertum zeigt den Versuch, die Machtstrukturen der Monarchie so weit wie möglich zu erhalten und die demokratischen Entwicklungen zu hemmen.

Vgl. Juergens, S. 19; Winkler, S. 349; Ochse, S. 76.

[57] Arnold Zweig: Die antisemitische Welle (1919), zit. nach: Ochse, S. 50.

[58] Vgl. Ochse, S. 50.

[59] Vgl. Ochse, S. 77.

[60] Zu diesem Vorwurf heißt es im Handbuch des deutschen Aberglaubens: „[...] betont [wurde] seine [des Juden – I. B.] Geilheit, die seit alters bekannt ist, und die sich heut besonders gegen harmlose Mädchen [arischen Blutes – I. B.] richte, um auf diesem Wege ‚die Rasse zu verseuchen’. Kinder von einem J. kommen dann mit roten Haaren zur Welt.“ (Art. „Jude, Jüdin“, S. 826; vgl. auch Anm. 128 zu Art. „rot“).

[61] Vgl. S 16.

[62] Vgl. Aschheim, Steven E.: Brothers and Strangers. The East European Jew in German and German Jewish Consciousness, 1800-1923, Madison u. London 1982, S. 69.

[63] Abgesehen von den Flüchtlingen befand sich auch eine große Zahl jüdischer Arbeiter in Deutschland, die während des Krieges aus Polen zwangsweise im Rahmen des „Hindenburg-Programms“ deportiert wurden, um in der Kriegsindustrie zu arbeiten. Nach dem Ende des Krieges waren sie jedoch überflüssig geworden und man wollte sich ihrer rasch wieder entledigen (vgl. Raffel, S. 14).

Es sollte auch erwähnt werden, daß nicht Deutschland bis dahin als typisch judenfeindlich galt, sondern eher Frankreich (Stichwort: „Dreyfus-Affäre“) und vor allem Polen und Rußland. Vielmehr kamen die Juden nach Deutschland, um hier Schutz zu suchen, galt es doch als Paradebeispiel für die erfolgreiche Judenemanzipation (vgl. Benz u. Bergmann, S. 15; Winkler, S. 345).

[64] J. R.: Flüchtlinge aus dem Osten“, in: JRW 1, S. 384.

[65] J. R.: Flüchtlinge aus dem Osten“, in: JRW 1, S. 384.

[66] Ochse, S. 40.

Roth selbst begann seine ostjüdische Herkunft verstärkt zu verbergen. So gibt er zum Beispiel bereits 1914 seinen Vornamen Moses auf (allerdings nicht bei familiären Briefen). Zudem behauptet er in Szwaby (Schwabendorf) geboren zu sein und nicht in dem östlichen klingenden Brody (vgl. Bronsen, S. 59f.). Viele Juden haben versucht, ihre Herkunft zu verbergen, vor allem durch Namensänderungen, um sich vor antisemitischen Übergriffen und Anfeindungen zu schützen (vgl. Ochse, S. 42).

[67] Vgl. Raffel, S. 15, 22.

Der Konflikt zwischen Ost- und Westjuden wird im vierten Kapitel der Arbeit behandelt.

Ende der Leseprobe aus 94 Seiten

Details

Titel
Darstellungen des Antisemitismus und Judentums im Werk von Joseph Roth
Hochschule
Freie Universität Berlin
Note
1,5
Autor
Jahr
2006
Seiten
94
Katalognummer
V67817
ISBN (eBook)
9783638594004
ISBN (Buch)
9783656133926
Dateigröße
841 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Darstellungen, Antisemitismus, Judentums, Werk, Joseph, Roth
Arbeit zitieren
Imke Barfknecht (Autor:in), 2006, Darstellungen des Antisemitismus und Judentums im Werk von Joseph Roth, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/67817

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