Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Der Ausgangspunkt: Die Situation türkischer Jungen
2.1 Die Erziehungsziele der türkischen Eltern
2.1.1 Primäre Erziehungsziele
2.1.1.1 Respekt vor Autoritäten
2.1.1.2 Erziehung zur Ehrenhaftigkeit
2.1.1.3 Erziehung zur Zusammengehörigkeit
2.1.1.4 Erziehung zum Lernen und Leistungsstreben
2.1.2 Sekundäre Erziehungsziele
2.1.2.1 Erziehung zur türkischen Identität
2.1.2.2 Erziehung zur religiösen Identität
2.1.3 Tertiäre Erziehungsziele
2.2 Konträre Werterziehung
2.3 Gewaltfördernde Indikatoren
3. Die Konfrontative Pädagogik
3.1 Das Konzept der Konfrontativen Pädagogik
3.2 Die Anwendung der Konfrontativen Pädagogik bei türkischen Jugendlichen
3.3.1 Die Konfrontative Gesprächsführung
3.3.2 Die Konfliktlösung
4. Fazit
5. Bibliographie
1. Einleitung
Aktuelle Veröffentlichungen beweisen, dass das Interesse an „unseren“ Jungen in der Öffentlichkeit groß geworden ist. Autoren fragen, ob die „armen Jungen“ nun „die neuen Verlierer“[1] sind und stellen fest, dass die „kleinen Helden in Not“[2] sind.
Was aber passiert dann erst mit Jungen, deren Eltern ihre Heimat verlassen haben, um in Deutschland zu leben? Dies sind Jungen, die eine andere Sprache und im Fall der türkischen Migranten auch eine andere Religion mit bringen/besitzen.
Die PISA – Studien zeigen es ganz deutlich: Kinder, deren Eltern nicht in Deutschland geboren sind/wurden, schneiden signifikant schlechter ab als Kinder mit mindestens einem in Deutschland geborenen Elternteil.
Im Jahr 2000 wies die Förderschule in Deutschland mit 19,9% den höchsten Anteil an Ausländern auf. 10,3% der Hauptschule waren Kinder mit Migrationsgeschichte.[3]
48% der ausländischen Schülerpopulation haben türkische Eltern, Großeltern oder stammen selbst aus der Türkei.[4]
Da aus meiner Sicht die Kluft zwischen der deutschen und der türkischen Kultur im Vergleich zu den anderen in Deutschland vorherrschenden Migrantengruppen am größten ist und sie? den Großteil der gesamt ausländischen Bevölkerung ausmachen, soll in dieser Hausarbeit die Situation der türkischen Jungen in Deutschland thematisiert werden.
Dr. Ahmet Toprak, Diplom – Pädagoge und Referent für Gewaltprävention, spricht in der Einleitung zu seinem Buch „Jungen und Gewalt“ von einer Hilflosigkeit und Verunsicherung seitens der Pädagogen gegenüber den türkischen Jugendlichen.[5] Mehrfachauffällige, auch gerade mit türkischer Herkunft, erscheinen erziehungsresistent. Für die Jugendlichen besteht keine primäre Veränderungsmotivation.[6]
Es lässt vermuten, dass das Problem aus den unterschiedlichen Sprachen resultiert – jedoch sei es ebenso oder auch gerade das kulturelle Missverständnis, welches zu Konflikten führt. Worin liegt das Dilemma der türkischen Jungen wirklich?
Da unserer Gesellschaft das Dilemma der ausländischen Jugendlichen, insbesondere der türkischen Jungen, bewusst ist, soll in dieser Arbeit nicht allein die Schilderung der Situation sondern auch ein Lösungsansatz mit Hilfe der derzeit vieldiskutierte Konfrontative Pädagogik angeboten und hinterleuchtet werden.
Um eine Verständnisbasis zu schaffen stelle ich zunächst die Situation der türkischen Jugendlichen vor. Dies impliziert die Darstellung ihrer Erziehung, die Werte, welche ihnen vermittelt werden und eine genauere Betrachtung der gewaltfördernden Indikatoren.
Daraufhin stelle ich die Methodik der Konfrontativen Pädagogik im allgemeinen vor. Anschließend aber soll sie auch in Bezug auf türkische Jugendliche erläutert werden, was mir allein mit Hilfe Topraks, der als erstes ein Buch zu diesem Thema veröffentlicht hat[7], möglich ist.
Im letzten Punkt soll Arbeit letztendlich in Form eines Resümees abgeschlossen werden.
Ich gehe allein auf das Verhalten von türkischen Jungen im Jugendalter ein, da sie in dieser Zeitspanne die höchste Gewaltbereitschaft aufweisen. Daher schließt der Ausdruck „türkische Jugendliche“ das weibliche Geschlecht nicht mit ein, sondern bezieht sich nur auf das männliche Geschlecht. In dieser Arbeit werden „türkische Jugendliche“ und „türkische Jungen“ synonym verwendet.
In den folgenden Formulierungen wurde für den Beruf der Lehrer und Pädagogen die männliche Person verwendet, gemeint sind damit beide Geschlechter, sowohl die männliche, wie aber auch die weibliche Form.
2. Der Ausgangspunkt: Die Situation türkischer Jungen
Die Erziehung durch die Eltern, die dazu konträr verlaufenden Werte, die in der Schule oder von Pädagogen vermittelt werden – das alles trägt zur Identitätsentwicklung bei. Ebenso führt sie aber auch zu Verwirrungen bei dem Jugendlichen und kann in Verbindung mit einem Gefühl der Ausweglosigkeit aggressives sowie gewalttätiges Verhalten begünstigen.
2.1 Die Erziehungsziele der türkischen Eltern
Toprak schreibt, dass Fachkräfte in der Praxis immer wieder berichteten, dass Jungen mit türkischer Migrationsgeschichte schwer ansprechbar und erziehbar seien. Umso bedeutender sei es, den familiären Kontext zu beleuchten, da ihr Verhalten so am ehesten eingeordnet werden könne.[8]
Auf den ersten Blick erscheinen die Erziehungsziele der türkischen Migranten aus Sicht der deutschen Mehrheitsgesellschaft konservativ. Die Familien halten an ihren Erziehungsmaßnahmen fest, da sie ihnen einen großen Wert beimessen.
Im Folgenden sollen die primären, sekundären und tertiären Erziehungsziele, wie Toprak sie festgelegt hat, wiedergegeben werden.
2.1.1 Primäre Erziehungsziele
2.1.1.1 Respekt vor Autoritäten
Für die immigrierten/türkischstämmigen Eltern sind die traditionellen Wertvorstellungen keinesfalls überholt. Toprak spricht davon, dass die Erziehung hin zu Respekt, Gehorsam, Höflichkeit, Ordnung und gutem Benehmen an Relevanz gewonnen habe. Um den gebührenden Respekt erweisen zu können, muss man sich die Familien„hierarchie“ bewusst machen: Die oberste Autorität besitzt der älteste Mann, im Normalfall der Familienvater. Darauf folgen die Söhne in chronologischer Reihenfolge. Erst dann folgt die Mutter und als letztes stehen die Töchter.
Unter dem Respekt vor Autoritäten versteht sich unter anderem, dass die Kinder nicht in der Gegenwart von ihren Eltern (Großeltern...)rauchen oder Alkohol konsumieren. Es soll für sie eine Selbstverständlichkeit sein, für Ältere Platz zu machen oder in deren Gegenwart zu schweigen. In der Öffentlichkeit muss dieses Verhalten ebenso eingehalten werden. Dort wird ihr Verhalten von dem sozialen Netzwerk der Familie, zumeist bestehend aus Verwandten oder anderen Mitgliedern der türkischen Community, registriert, welche den Eltern davon berichten. Daher unterstehen die Kinder einem sozialen Druck. Da die Eltern sich nicht auf ein vertrautes soziales Umfeld wie in der Türkei stützen können, ... Falls ein Kind sich zu sehr von den Wertvorstellungen der Eltern entfernt, wird es mit „den Deutschen“ verglichen. Den Eltern liegt viel daran, dass ihre Kinder türkisch sozialisiert sind.
Aus ihrer Sicht würden die deutschen Kinder nicht zu Respekt erzogen. Obwohl sie diese Meinung auf Grund von vorschnellen Beurteilungen geformt haben, bewegt diese bloße Annahme sie zu einer strikteren Einforderung von Respekt.[9]
2.1.1.2 Erziehung zur Ehrenhaftigkeit
Unter diesem Aspekt ist zunächst einmal die Beachtung der Grenze zwischen der Innen – und Außenwelt entscheidend. Das innere Leben spielt sich in der Familie ab, während die Öffentlichkeit das Äußere darstellt. Die Jungen werden schon früh dahin erzogen, „[…] auf etwaige Grenzüberschreitungen sensibel und entschieden zu reagieren[…]“[10], sodass sie eine Teil – Verantwortung für das äußere Bild der Familie übertragen bekommen. So gehört es von je her zu ihren Aufgaben, die Geschwister zu verteidigen, um das Ansehen der Familie aufrecht zu erhalten.
Dieses Stichwort bietet noch eine weitere Facette: Die geschlechtsspezifische Ausrichtung der Ehre. Der Begriff Ehre hat für das weibliche und das männliche Geschlecht eine jeweils andere Bedeutung. Die Frau verhält sich ehrenhaft, wenn sie sich ihre Jungfräulichkeit bis zur Eheschließung bewahrt. Dagegen definiert der Mann seine Ehre über das Verhalten der Frau. Dies meint aber nicht allein das Benehmen der Ehefrau, sondern bezieht sich genauso auf die eigene Mutter, die Schwestern, Töchter und möglicherweise auch auf entferntere weibliche Verwandte. Um eine ehrenhafte Frau/Tochter/Schwester(...) zu haben und damit selbst ein Mann von Ehre zu sein, muss er deren Sexualität kontrollieren. Mit der Jungfräulichkeit fällt gleichzeitig auch das Auftreten in der Öffentlichkeit, der Umgang mit außerfamiliären Männern und der Kleidungsstil unter die Kontrolle des Mannes. Sogar der kleine Bruder kann seine ältere Schwester ermahnen, ihre Ehre, welche die gesamte Familienehre impliziert, zu bewahren. Sollte er ihr anweisen, gewisse Tätigkeiten einzustellen, muss sie sich ihm ganz selbstverständlich fügen.[11]
2.1.1.3 Erziehung zur Zusammengehörigkeit
Das Erziehungsziel der Zusammengehörigkeit innerhalb der Familie entstand erst durch die Migration, da das in der Türkei übliche soziale Netz in der neuen Heimat nicht vorhanden ist, sodass die Eltern befürchten, ohne ihre Kinder alleine da zu stehen?. Daher ist es für sie besonders wichtig, den familiären Zusammenhalt zu festigen. Nicht selten erscheint die Familie als einzig rechtmäßiges Rückgrad. In Deutschland existieren keine der für sie vertrauten sozialen Netzwerke oder Institutionen. Sie hegen großes Misstrauen und wenden sich damit verstärkt der Familie zu.[12]
Umso unbegreiflicher erscheint es ihnen, wenn ihre Kinder sich auf deutsche Netzwerke und Institutionen „einlassen“. Türkische Eltern mögen dies als eine Abwendung verstehen, welche aus ihrer Perspektive eine Rückwirkung auf die familiäre Ehre haben kann.
2.1.1.4 Erziehung zum Lernen und Leistungsstreben
Dieses Erziehungsziel wird vordergründig aus sozioökonomischen Gründen angestrebt. Viele türkische Migranten sind der Auffassung, dass sie in Deutschland benachteiligt werden. Sie meinen, dass die Kinder für sich und die Familie eine höhere gesellschaftliche Position erlangen, wenn sie entsprechend hohe Leistungen bringen.[13]
2.1.2 Sekundäre Erziehungsziele
2.1.2.1 Erziehung zur türkischen Identität
In der Türkei ist die Erziehung zur türkischen Identität eine Aufgabe der Schule. Da dies die deutsche Schule nicht übernehmen kann, wird es zur Aufgabe der Eltern. Ihre Hauptmotivation liegt in ihrer Angst, dass ihre Kinder sich von familiär – türkischen Wertvorstellungen abwenden und sich mit den Attitüden der deutschen Peer – group identifizieren. Daher sprechen die Eltern mit ihren Kindern weiterhin in der türkischen Sprache, fahren regelmäßig mit ihnen in ihre alte Heimat und schicken sie gegebenenfalls zu dem in der Schule angebotenen Türkischunterricht.
Toprak ergänzt, dass seit Mitte der 1990er Jahre die türkische Identität mit einem großen Selbstbewusstsein und einer gewissen Selbstverständlichkeit seitens der Jugendlichen nach außen vertreten werde. Die in den 90er Jahren vermehrten ausländerfeindlichen Übergriffe, das Gefühl der Benachteiligung gegenüber Spätaussiedlern und das Scheitern der beruflichen sowie sozialen Integration bedingten die stärkere Identifikation mit der Türkei. Diese Entwicklung wird von Toprak sogar als Rückzug in die türkische Identität gewertet.[14]
2.1.2.2 Erziehung zur religiösen Identität
Die Einhaltung der religiösen Pflichten, die für jeden Muslim verbindlich sind, wird in der Türkei unterschiedlich gehandhabt. In Deutschland fehlt die religiöse Unterweisung, welche in der Türkei ein Teil des schulischen Systems darstellt. Da die Eltern zu verhindern wünschen, dass der Islam ihren Kindern fremd wird, schicken sie die Kinder vielfach in die von den Moscheen organisierten Koranschulen.[15]
2.1.3 Tertiäre Erziehungsziele
Zu diesen Zielen zählen Selbstbewusstsein und Selbständigkeit, welche jedoch jeweils unterschiedlich interpretiert werden. Das Selbstbewusstsein der Jungen werde, insbesondere vom Vater, gefördert, da sie die männlichen Rollen einnehmen müssen. Dagegen wird die Förderung des Selbstbewusstseins bei den Mädchen abgelehnt. Eine Förderung des Selbstbewusstseins impliziert nicht, dass die Eltern ihre Kinder zu deren Selbstverwirklichungswünschen ermutigen.[16] Dies würde aus ihrer Sicht nur zu einer Entfremdung und dem Verlust der Zusammengehörigkeit führen.
[...]
[1] vgl. Rose; Schmauch, 2005
[2] vgl. Neutzling; Schnack, 2003
[3] vgl. Statistische Veröffentlichungen der Kultusministerkonferenz, 2002
[4] vgl. http. www.statistik-bund.de/basis/d/biwiku/schultab13.htm
[5] vgl. Toprak: Jungen und Gewalt, 2005, S. 12
[6] vgl. Weidner, 2001, S. 15
[7] Toprak, Ahmet: Jungen und Gewalt. Die Anwendung der Konfrontativen Pädagogik in der Beratungssituation mit türkischen Jugendlichen
[8] vgl. ebd. S. 31
[9] vgl. ebd. S. 34f.
[10] vgl. ebd. S. 35
[11] vgl. ebd. S. 35f.
[12] vgl. ebd. S. 36
[13] vgl. ebd. S. 37f.
[14] vgl. ebd. S. 38f.
[15] vgl. ebd. S. 39
[16] vgl. ebd. S. 42