Rappräsentation. Deutschsprachige Raptexte als Literatur einer nicht-literarischen Jugendkultur


Examensarbeit, 2006

103 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Theoretische Grundlagen der Arbeit
2.1 Begriffserklärung deutschsprachiger Raptext
2.2 Literaturwissenschaftliche Berechtigung 10 deutschsprachiger Raptexte
2.3 Literaturwissenschaftliche Relevanz deutschsprachiger Raptexte
2.4 Literarische Situation von Jugendlichen in Deutschland
2.5 Der hermeneutisch-kontextualistische Ansatz

3. Forschungsgegenstand Rap im Kontext
3.1 Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Rap im Kontext der HipHop-Kultur
3.1.1 Entstehung des Rap im Kontext der HipHop-Kultur in den USA
3.1.2 Entwicklung des Raps im Kontext der HipHop-Kultur in den USA
3.1.3 Entstehung des Raps im Kontext der HipHop-Kultur in Deutschland
3.1.4 Entwicklung des Raps im Kontext der HipHop-Kultur in Deutschland
3.2 Afrikanische Sprachpraktiken im Rap
3.3 Rapgenres in Deutschland
3.1.1 Polit-Rap
3.1.2 Story-Rap
3.1.3 Party-Rap
3.1.4 Pimp-Rap
3.1.5 Battle-Rap
3.1.6 Gangster-Rap
3.1.7 Freestyle-Rap

4. Hermeneutisch-kontextualistische Analyse und Interpretation ausgewählter Raptexte
4.1 Präsentation und Konstruktion von Identität in deutschsprachigen Raptexten
4.1.1 Interpretation des Polit-Raptextes „Eins auf Eins“ von Skills En Masse
4.1.2 Interpretation des Story-Raptextes „Die Jungs aus’m Reihenhaus" von Blumentopf
4.1.3 Interpretation des Story-Raptextes „Ich hab’ geschrieben" von Torch
4.2 Präsentation von Gesellschaftsbildern und Erfahrungswelten in deutschsprachigen Raptexten
4.2.1 Interpretation des Gangster-Raptextes „Mein Block" von Sido
4.2.2 Interpretation des Gangster-Raptextes „Mein Block" von Azad
4.2.3 Interpretation des Story-Raptextes „Mein Block" von Blumentopf
4.2.4 Interpretation des Battle-Raptextes „Mein Block" von Aggro Berlin
4.2.5 Interpretation des Battle-Raptextes „Mein Block" von Eko
4.3 Resümee und Fazit der Interpretation

5. Schluss

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Goethe, Nietzsche und die Kirche shit, der nie im Kontext zu mir entstand [...] ich brech' Dir die Strophe, Vers nach Verse.1

In dieser Arbeit soll gezeigt werden, dass die jugendlichen Ange- hörigen der HipHop-Kultur in Deutschland, die meist migrantischer Abstammung sind und, aufgrund ihres sozial schwachen Umfeldes und eigener Existenz- und Zukunftsängste, meist nur einen geringen bis gar keinen Bezug zu traditionellen Literaturformen wie Gedichten, Dra- men, Novellen oder Romanen haben, mit der Aneignung und Prak- tizierung von Rap eine neue literarische Gattung etablierten. Im Sinne einer „Rappräsentation“ erfahren, reflektieren und kommunizieren sich die Jugendlichen selbst und den Rap an sich über die Raptexte. In der Rezeption, Produktion und Performanz von Rap suchen, entwickeln, präsentieren und behaupten sie Identität und bringen ihre individuellen Gesellschaftsbilder zum Ausdruck.

Im Sinne einer „Literatur einer nicht-literarischen Jugend“ finden gerade vieler solcher Jugendlicher, die in Zusammenhang mit ihrer persönlichen, sprachlichen oder schulischen Situation literaturverdrossen sind, in den Raptexten einen freien Aktionsraum, in dem sie sich ungezwungen und eigenständig in deutscher Sprache literarisch betätigen, entwickeln und entfalten kön-nen. Besonders wichtig erscheint dabei die Möglichkeit, als gesell-schaftlicher Außenseiter Kritik an der Herrschaftsgesellschaft ausüben und auf soziale Missstände hinweisen zu können.

In Kapitel 2 werden zunächst die theoretischen Grundlagen dieser Arbeit erläutert, um aufzuzeigen, auf welche Art und Weise deutschsprachige Raptexte die Literatur einer nicht-literarischen Jugendkultur bilden, welche Funktionen sie für die Jugendlichen erfüllen und wie sie von den Jugendlichen inhaltlich gestaltet werden. Dazu wird zuerst der Begriff „deutschsprachiger Raptext“ erläutert und seine wesentlichen Charakteristika beschrieben. Anschließend wird das Phänomen „deutschsprachiger Raptext“ auf seine Berechtigung und Relevanz als literaturwissenschaftlicher Forschungsgegenstand unter- sucht. Dazu werden verschiedene Literaturbegriffe auf das Phänomen „deutschsprachige Raptexte“ angelegt, um dessen Berechtigung als Forschungsgegenstand der Literaturwissenschaft zu begründen. Dafür wird in dieser Arbeit zwischen einem pragmatischen, einem des- kriptiven und einem normativen Literaturbegriff unterschieden. Diese Absicherung auf theoretischer Ebene ist insofern notwendig, dass Rap- texten ein besonderes Kommunikationsverhältnis zugrunde liegt, welches einen überwiegend schreibend konzipierenden Sender und gleichzeitig einen überwiegend hörend rezipierenden Empfänger vor- sieht, und Raptexte demzufolge nicht als Literatur im klassischem Sinne verstanden werden können.

Die Relevanz deutschsprachiger Raptexte als Forschungsgegenstand der Literaturwissenschaft wird an-hand der kontroversen Bedeutung und Wertschätzung erläutert, die den Texten seitens der Jugendlichen und der Gesellschaft zugesprochen wird, was aus aktuellem Anlass anhand der Zusammenhänge von sozialkritischen französischen Raptexten und den Vorstadtkrawallen in Frankreich 2005 aufgezeigt wird.

Anschließend erfolgt eine vereinfachte Darstellung der literarischen Situation der Jugendlichen in Deutschland, in der der fehlende Bezug vieler Jugendlicher zu Literatur im klassischen Sinn aufgezeigt wird. Dafür wird sich in erster Linie auf die Erkenntnisse aus der PISA- Studie 2004 und der Shell-Jugendstudie 2006 berufen. Es wird im Sinne eines heuristischen Konstrukts zwischen literarischen und nicht- literarischen Jugendlichen unterschieden. Unter „literarisch“ sind diejenigen Jugendlichen zu verstehen, die weitgehend aus dem gebil- deten sozialen Mittelstand stammen und in der Regel über eine weiter- führende Schulbildung und Kenntnisse und Erfahrungen mit klas- sischer Literatur verfügen. Analog dazu sind unter dem Begriff „nicht- literarisch“ diejenigen Jugendlichen erfasst, die wenig oder keinen

Bezug zu deutscher Literatur haben, da sie meist aus einem sozial benachteiligten Migrantenmillieu stammen und weder sprachlich noch gesellschaftlich in Deutschland integriert sind.

Als letzte theoretische Grundlage wird sowohl auf theoretischer Ebene das Verständnis von Hermeneutik als Interpretations-Methode, als auch auf praktischer Ebene die Anwendung des hermeneutisch-kontex- tualistischen Ansatzes in dieser Arbeit vorgestellt. Nach diesem Ansatz wird sich der möglichst richtigen Interpretation der Texte über das Wissen und die Kenntnisse um den Rap und seine Sprachpraktiken und um die soziale und literarische Situation der jugendlichen Rapper in Deutschland angenähert. Um eine korrekte Interpretation der im Rah- men des hermeneutisch-kontextualistischen Ansatzes verwendeten soziohistorischen Daten, Raptexte und deren Zusammenhänge optimal zu gewährleisten, sieht der Ansatz zudem vor, Aussagen von deutsch- sprachigen Rappern in diversen veröffentlichten Interviews und per- sönlich geführten Gesprächen zu bestimmten Thematiken und Aspek- ten heranzuziehen.

Im Kapitel 3 wird dann zunächst der Forschungsgegenstand Rap im Kontext untersucht. Dazu erfolgt eine Beschreibung des Forschungsgegenstandes Rap, die sowohl eine Erklärung seiner soziohistorischen Entstehung und Entwicklung im Kontext der HipHop-Kultur in den USA und seiner späteren Entstehung und Entwicklung in Deutschland, als auch eine Betrachtung wesentlicher dem Rap zugrunde liegender afrikanischer Sprachpraktiken umfasst. Ergänzend dazu wird eine Übersicht über die verschiedenen Rap- Genres gegeben, die sich in Deutschland als eigenständige Untergattungen entwickelt und etabliert haben.

Im abschließenden Kapitel 4 werden dann ausgewählte deutschsprachige Raptexte entsprechend des hermeneutisch- kontextualistischen Ansatzes untersucht. Unter Bezugnahme auf die Untersuchung von MENRATH (2001) zur Identitätskonstruktion im HipHop wird exemplarisch aufgezeigt, wie die Jugendlichen die Prozesse ihrer Identitätskonstruktion und Identitätsbehauptung in den Raptexten sprachlich formulieren und wie die Auseinandersetzung um die Durchsetzung eigener Identitätspositionen zum literarischen Prozess wird. Weiterhin wird aufgezeigt, wie die jugendlichen Rapper über den Rap Kritik an der Gesellschaft und an den sozialen Missständen, in denen sie sich befinden, ausüben. Dazu werden zum

Identitätsaspekt drei und zum Gesellschaftsaspekt fünf deutschsprachige Raptexte hermeneutisch im Kontext der soweit erarbeiteten soziohistorischen Daten und Kenntnisse von der HipHopKultur interpretiert.

Zu den Schwierigkeiten und Einschränkungen dieser Arbeit soll an dieser Stelle auf den aktuellen Forschungsstand verwiesen werden. Trotz gestiegener Akzeptanz und erhöhter Zunahme von HipHop und Rap als wissenschaftlichen Forschungsgebieten in der Linguistik, der Soziologie und der Pädagogik liegen bisher noch keine eigenständigen literaturwissenschaftlichen Publikationen zu deutschsprachigen Raptexten vor, die sich mit der Darstellung von Identität und Gesellschaftsbildern der Jugendlichen auseinandersetzen. Deshalb wird dieser Arbeit zu großen Teilen Forschungsliteratur zum Thema HipHop zugrunde gelegt, die vorwiegend aus eben jenen angeführten Disziplinen stammt, aber teilweise auch eine literaturwissenschaftliche Perspektive einnimmt.

Außerdem wird darauf hingewiesen, dass die Raptexte in einer Schreibweise festgehalten wurden, die nicht dem Reimschema folgt, sondern, um den Textfluss zu verdeutlichen, dem musikalischen Takt. Des besseren Verständnis wegens liegt der wissenschaftlichen Arbeit auch eine CD mit Hörbeispielen zu einigen der in Kapitel 4 untersuchten Texten bei.

2. Theoretische Grundlagen der Arbeit

In diesem Kapitel werden deutschsprachige Raptexte auf ihre Berechti- gung und Relevanz als Forschungsgegenstand der Literaturwissen- schaft betrachtet. Dazu wird zunächst der Begriff „deutschsprachiger Raptext“ geklärt. Im Anschluss daran werden der deskriptive, der normative und der pragmatische Literaturbegriff nach BAASNER (1998) auf Raptexte angelegt, um die Aufnahme von Raptexten in den Kanon literarischer Gattungen und damit die Legitimierung als literaturwissenschaftlichen Forschungsgegenstandes zu begründen.

Zudem wird die Relevanz von Raptexten als Forschungsgegenstand der Literaturwissenschaft über einen Exkurs zu den Zusammenhängen zwischen französischen Raptexten und den landesweiten Vorstadtkra- wallen in Frankreich 2005 und dem Bezug zur aktuellen Situation in Deutschland verdeutlicht. Abschließend werden die derzeitige literari- sche Situation von Jugendlichen in Deutschland aufgezeigt und der hermeneutisch-kontextualistische Ansatz dieser Arbeit vorgestellt.

2.1 Begriffserklärung „deutschsprachiger Raptext“

Der Rap selbst ist eine Form oraler Dichtung, ein Sprechgesang - mit dem Lied, dem Minnesang, dem Gedicht und der Ballade vergleichbar

-, der über ein rhythmisch einfaches Bass- und Schlagzeug-Fundament gesprochen wird. Der Begriff „Rap“ leitet sich dabei vom englischen Verb „to rap“ für „lebhaftes Daherreden“ oder „prahlen“ und dem Akronym „r.a.p.“ für „rythm and poetry“ ab. Auf der anderen Seite ist es aber „nicht gleich Rap, wenn jemand über einen 4/4-Takt spricht und nicht singt“ (Loh und Güngör 2002, 185).

Der Rap entstand ursprünglich in den 1960er Jahren in den afroameri- kanischen Gettos der USA als „Sprachspiel voller ironischer Übertrei- bungen, Wortspiele und Slang-Fragmente, bei dem nicht nur rhyth- misch gesprochen, sondern auch mit Tempo, Tonhöhe und Klangfarbe gespielt wird“ (Klein und Friedrich 2003, 15). Im Laufe der Jahre hat er sich weiterentwickelt und diverse Genres ausgebildet, in denen Rapper vorwiegend soziale Missstände kritisieren, Geschichten erzählen, Partys besingen oder sich selbst und ihre Rapkunst zum Mittelpunkt sprachlicher Auseinandersetzungen machen.

Seit seiner Kommerzialisierung und seiner globalen Verbreitung in den 1980er Jahren ist der Rap das prominenteste der vier Elemente2der wettkampforientierten HipHop-Kultur. So kann zwar auf der einen Seite gesagt und gerappt werden, „der Text steht im Zentrum, der Rest ist nur Schabernack“3, aber es gilt auch, dass er im Kontext dieser an- deren kulturellen Praktiken und der übergeordneten HipHop-Kultur zu untersuchen ist, denn „Hip Hop ist kein Musikstil, sondern Sprechge- sang, nur ein Teil der Kultur, B-Boys nur ein Teil der Kultur, Graffiti nur ein Teil der Kultur“4.

Eines der wesentlichsten Elemente dieser Kultur, den performativen Charakter, hat der Rap im Zuge seiner Kommerzialisierung jedoch verloren. Anfangs existierte Rap nicht auf Tonträgern, sondern nur im Moment der Aufführung vor einem Publikum. Damit lag jedem Rap eine individuelle und einmalige Art des Vortrags, Sprechgeschwindig- keit, Pausen und Betonung durch einen Rapper zugrunde. Während die DJs die instrumentale Grundlage der Raps von der Platte abspielten, trugen die Rapper dazu ihre Texte vor; einzeln, in Gruppen oder im Wettstreit miteinander, dem sogenannten Battle. Dieser performative Charakter ging aber mit der Kommerzialisierung des HipHop weitge- hend verloren, da der Rap heutzutage größtenteils über Tonträger wie CDs transportiert wird und damit reproduzierbar fixiert ist. Seine ande- ren wesentlichen kulturellen Merkmale und die Funktionen, die diese erfüllen, hat der Rap dabei aber beibehalten.

2.2 Literaturwissenschaftliche Berechtigung deutschsprachiger Raptexte

In diesem Kapitel sollen Raptexte auf ihre Berechtigung als Forschungsgegenstand der Literaturwissenschaft betrachtet werden. Dieser Aspekt ist insofern zu untersuchen, dass Raptexte zwar - abgesehen vom Genre des Freestyles - schriftlich konzipiert werden und teilweise schriftlich dokumentiert in Form von CD-Booklets, Büchern und Internetseiten vorliegen, in der Regel jedoch eher auditiv rezipiert werden. Zieht man diesen Umstand als kritischen Einwand heran, könnte man Raptexten wohl in der Tat die Zugehörigkeit zum literarischen Kanon absprechen. Andererseits birgt eine zu eng gefasste Kanonisierung

Gefahren für die literarische Tradition. Sie führt im Laufe der Zeit zur weitgehenden Erstarrung des literarischen Lebens. [...] Es hat sich allerdings in den vergangen Jahren ebenfalls erwie- sen, daß die Verständigung über Literatur unbefriedigend ver- läuft, wenn nicht gewisse Normen den Gegenstandsbereich be- grenzen und inhaltlich festlegen. (Baasner 1996, 18)

Deshalb werden im Folgenden der deskriptive, der normative und der pragmatische Literaturbegriff nach BAASNER auf Raptexte angelegt, um diese auf ihre Literarizität hin zu überprüfen (Baasner 1996, 20ff). Während der deskriptive Literaturbegriff das als Literatur beschreibt, was in einer Kultur an Literatur vorgefunden wird, macht der normati- ve Literaturbegriff explizite Vorschriften, wie Literatur zu sein hat. Der pragmatische Literaturbegriff schließlich erklärt Literatur als das, was eine Gruppe von Leuten zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort dafür hält.

Reduziert man BAASNERS beschreibenden deskriptiven Literaturbeg- riff nun zunächst auf dessen Kernaussage, dass Literatur primär „aus abgeschlossenen, zusammenhängenden sprachlichen Äußerungen in Schriftform“ (BAASNER 1996, 31) besteht, ergibt sich für die litera- turwissenschaftliche Betrachtung von Raptexten das Problem, dass diese zwar durchaus in dieser Form existieren, aber nur selten auch so rezipiert werden. Diese Problematik kann aber durch BAASNERS ei- gene Ergänzungen seiner Literaturbegriffs-Definition aufgelöst wer- den: „Den Einwurf, mündliche überlieferte Märchen oder Lieder gehörten aber doch auch zur Literatur, müssen wir gelten lassen. Es gibt eine Tradition der mündlichen (oralen) Überlieferung“ (1996, 12).

Diese bezeichnet die erzählende Weitergabe von geschichtlichen, ge- sellschaftlichen und religiösen Informationen, insbesondere in Form von Geschichten, Sagen, Legenden und Traditionen. Sie spielt in allen Kulturkreisen eine große Rolle, vor allem in jenen, die keine oder erst eine späte schriftliche Überlieferung kennen. Dort werden wichtige Erzählungen in Rituale eingebaut, die sich dann wegen ihrer nonverba- len Inhalte den Beteiligten besonders ins Gedächtnis einprägen. Für eine dauerhafte Überlieferung wird meist auch die Gedichtform ge- wählt, weil Reim und Versmaß verhindern, dass einzelne Wörter leicht vergessen und verändert werden können. In diesem Sinne lassen sich auch die Raptexte dieser Tradition zuordnen, wenn man Tonträger wie CDs, Kassetten und Schallplatten als deren moderne Medien versteht oder wenn man die auf Jams5und Konzerten live performten Raps zur Betrachtung heranzieht.

Der engere normative Literaturbegriff definiert nach BAASNER nur das als Literatur, „was ausgewählte Merkmale der Literarizität auf- weist“ (Baasner 1996, 31). Diese normative Literaturbegriff lässt sich aber ebenfalls als eigentlich deskriptiver bezeichnen, da es sich bei besagten Merkmalen vordergründig um Fiktionalität, literarische Frei- heit und Mehrdeutigkeit handelt, die als Grundvoraussetzung für Lite- ratur anzusehen sind. Das Merkmal der Mehrdeutigkeit ist ein Kriteri- um, das im weitesten Sinne jeder Art Text, und damit auch Raptexten, zugrunde liegt. Und die Frage nach Fiktionalität stellt sich beispielsweise für den Leser erst gar nicht, sondern wird automatisch angenommen. Die Fiktion bezieht sich dabei als Ganzes durchaus auf Zusammenhänge der Erfahrungswelt, doch ist diese Referenz vieldeutig (Mehrdeutigkeit, Polysemie der Literatur) und stellt nie einen direkten Zusammenhang her. Es handelt sich um vermittelte Referenz, auf deren Zustande- kommen mehrere Faktoren einwirken, wie die Lektüreerfah- rung, das allgemeine Wissen oder der Gemütszustand der Le- senden. [...] Eindeutig ist die Bedeutung gewöhnlich selten; je nach gewählter Perspektive bekommt ein Text gewöhnlich ver- schiedene Bedeutungen, er ist mehrdeutig, bedeutungsoffen. [...] Alles was erreicht werden kann, ist eine teilweise Aus- schöpfung des Bedeutungspotentials einer Fiktion. (Baasner 1996, 14)

Lassen sich Raptexte nach dem deskriptiven bzw. normativen Litera- turbegriff relativ eindeutig als zulässiges Element des literarischen Ka- nons bestimmen, birgt der pragmatische Literaturbegriff diesbezüglich eine paradoxe Schwierigkeit. Er orientiert sich nämlich nicht an den vorliegenden Inhalten oder an traditionellen Vorgaben von Literatur, sondern geht von der Produzenten- bzw. Rezipientenseite aus, indem er das zur Literatur erklärt, was innerhalb einer Gesellschaft von den Zeitgenossen dafür gehalten wird.

Die Meinungen darüber gehen aber in der unsrigen modernen plura- listischen Gesellschaft weit auseinander und auffallend ist dabei, dass selbst unter den Rappern keine homogene Auffassung von der Literari- zität ihrer Texte vorherrscht. „Wer Rap als 'Literatur' begreift, sollte daher nicht verkennen, dass es sich dabei also vor allem um eine 'Anti- Literatur' handelt - eine bewusst oder unbewusst abgegebene Stellung- nahme gegen die Vernunftrhetorik und die literarischen Vorbilder des Establishments“6.

Damit schlägt sich die ablehnende Haltung vieler Rapper gegenüber dem, was man als „klassische Literatur“ bezeichnen könnte nicht nur auf formaler Ebene nieder, beispielsweise im bewussten Aufbrechen tradierter Reimschemata, sondern auch auf der intentionalen Ebene. Rap-Lyrics stehen dabei der traditionellen Gedichtlyrik formell stets nach, die Form wird sozusagen erst durch die Musik geliefert. Mal wird Fließtext daraus, mal werden willkürlich Pseudo-Versgrenzen gesetzt, die sich aber nicht einheitlich durchziehen, da Rap sich nicht an den Endreim hält, sondern dort reimt, wo es gerade geht. Daraus resultiert die Lebendigkeit, daraus resultiert die neue Freude am Reim einer literaturverdrossenen Jugendkultur. Vor allem Jugendliche aus migrantischen Kulturen bemühen sich um diesen Bruch mit gesell- schaftlich etablierten Normen.

Für sie stellen Rap und HipHop ein Gegenentwurf zu bestehenden Le- bensweisen dar. Dementsprechend versuchen sie in Konsequenz auch die sprachlichen Mittel, die sie für diesen Bruch mit der Gesellschaft einsetzen, im Gegenentwurf zu bisherigen sprachlichen Ausdrucksfor- men zu entwickeln. Viele Rapper ordnen darüber hinaus ihr Betäti- gungsfeld eher dem musikalischen oder journalistischem als dem litera- rischen Gebiet zu. So bezeichnete Chuck D. von der Rap Gruppe Pub- lic Enemy HipHop einst als das „CNN der Schwarzen“7. Diese Weige- rung einiger Rapper, ihren Rap als literarische Gattung einordnen zu lassen, kann aber mit dem Verweis auf ihre tatsächliche Unkenntnis von Literarizität teilweise entkräftet werden: „Die meisten Schriftstel- ler verstehen von Literatur nicht mehr als Vögel von Ornithologie“8.

Auf der Gegenseite bezeichnen einige Literaturwissenschaftler und - kritiker einzelne Rapper hingegen sogar als Dichter und sprechen ihren Texten besondere poetische Sprachkraft zu:

Es gibt einen jungen deutschen Dichter, der sich als Rapper e- tabliert hat. [...] Er heißt Frederik Hahn und nennt sich Torch - also ein englisches Wort. Es kann Fackel heißen oder Taschenlampe. Egal, eine Leuchte in Deutschland, wenn er seinen Rap runterrattert, ist dieser Torch allemal. Warum? Weil er das auf den Punkt bringt, was in den Augen der Welt und in unserem eigenen Auge unsere Identität ausmacht“9.

Fasst man nun die Ergebnisse der Anlegung des deskriptiven, des nor- mativen und des pragmatischen Literaturbegriffes auf Raptexte nach BAASNER zusammen, lässt sich zweifelsfrei von der literarischen Gattung Rap sprechen, die sich einerseits über Ähnlichkeiten ihrer Tex- te in Rhythmus und Metrik definiert und andererseits jedoch erheblich divergiert, was deren Themen und deren sprachliche Darbietung be- trifft. Diese Divergenz führte wie bereits aufgezeigt zur Ausbildung weiterer Subgenres des Rap, wie des Polit-, Gangster- oder Battle- Raps, die wiederum, wenn auch weniger deutlich und abgrenzbar von- einander, in sich divergieren.

2.3 Literaturwissenschaftliche Relevanz deutschsprachiger Raptexte

In diesem Kapitel sollen Raptexte hinsichtlich ihrer Relevanz als Forschungsgegenstand der Literaturwissenschaft betrachtet werden. Aus Gründen der Veranschaulichung soll deshalb die Bedeutung von Rap und Raptexten für Jugendliche im Kontext politischer und sozialer Rahmenbedingungen beispielhaft anhand aktueller und gesellschaftlich relevanter Ereignisse aufgezeigt und anschießend eine entsprechende literaturwissenschaftliche Relevanz über das gesellschaftliche Bedürf- nis nach neuen Erkenntnissen abgeleitet werden. Die landesweiten Vorstadtkrawalle in Frankreich im Oktober und November 2005 eignen sich besonders gut, um die Zusammenhänge von Rap, Jugend, Politik und Literatur an einem konkreten Beispiel aufzuzeigen.

Brothers Keepers. Auf: http://www.brotherskeepers.de/aktivisten_torch.html. [Zugriff erfolgt am: 10.10.2006]

Nach Beendigung der tagelang andauernden gewalttätigen Krawalle im November 2005 wurde der Justizminister von mehr als 200 Parlamen- tariern dazu aufgefordert, sieben Rapper strafrechtlich zu verfolgen, weil diese mit ihren Texten „Hass in der Bevölkerung säen“, „zu Ge- walt aufrufen“ und „ihre Musik zu den Faktoren der Unruhen in den Vorstädten gehört“10. Zu diesen Rappern zählt beispielsweise auch der Rapper "Fabe", der im Stück „Impertinent“ rapt: „Das Leben ist eine Demo, Frankreich eine Glasscheibe und ich der Pflasterstein“11.

Der Abgeordnetensprecher Grosdidier verwies dementsprechend auf einen Zusammenhang zwischen den Vorstadtkrawallen und den Gewalt verherrlichenden Liedtexten vieler französischer Rapper: „Wenn ich mit den jungen Leuten diskutierte, hörte ich genau die gleichen Argumente, die auch in den Songs immer wieder auftauchen.“ Natürlich seien die Raptexte nicht „der ausschließliche Grund“, aber die „ständige Verbreitung dieser Aufrufe zu Gewalt und Aufstand" habe mit dem Ausbruch der Unruhen "durchaus etwas zu tun“12.

Interessanter Weise äußerten sich auf der Gegenseite viele politik- und sozialkritische Rapper, dass sie mit ihren Texten nicht aufhetzen, son- dern lediglich bestehende Situationen dokumentieren wollten. Das Ta- ges- und Nachtgeschehen in den Vorstädten findet sich in gereimter Versform in den Raptexten wieder, denn ein Rapper ist „der Lautspre- cher einer Generation, ein städtischer Journalist“, stellte der Rapper Rost in einem Zeitungsinterview fest. Gleichsam erklärte der Rapper Rohff bezüglich des Zusammenhangs zwischen seinen Raptexten und den Vorstadtkrawallen: „Natürlich übertreibe ich manchmal in meinen Texten, aber dabei geht es nur darum, eine bestimmte Realität zu kriti- sieren“13.

Und die französische HipHop-Gruppe Psy4 de la Rime14, die ihre Mu- sik und ihre Texte ein „SOS der Elendsviertel“ nennt, verwies bereits drei Wochen vor Beginn der frankreichweiten Vorstadtkrawalle in ei- nem Interview auf die bedeutende Aussagekraft der umstrittenen Rap- texte selbst: „Es will doch niemand wissen, warum die Leute Autos kaputtschlagen und Shit rauchen oder verkaufen. Über den Rap könn- test du nämlich all diese netten Antworten finden“15. Diese Fähigkeit aber, Raptexte im Sinne der Autorenintention „richtig“ zu interpretie- ren, wird dem durchschnittlichen Raphörer vom französischen Kultur- minister de Vabres und dem Abgeordneten Grosdidier klar abgespro- chen: „Die Leute, die das hören, haben doch nicht die Bildung, die es ihnen ermöglicht, diese Worte im übertragenen Sinne zu verstehen“16.

Angesichts dieser Ereignisse in unserem Nachbarland Frankreich und des Wissens um ähnliche soziale Strukturen, Problematiken in der Migrations- und Bildungspolitik und Einflüsse der Globalisierung, stellt sich die Frage nach der Wiederholung solcher Ausschreitungen unter vergleichbaren Umständen und Konstellationen in Deutschland. Der brandenburgische Innenminister Schönbohm warnte bereits, dass es „auch in Deutschland Entwicklungen in Richtung Gettoisierung gibt, weil wir die Integration lange Zeit nicht ernst genug genommen ha- ben”17.

Und auch der innenpolitische Sprecher der CDU-Bundestagsfraktion Bosbach beurteilt die Situation kritisch. „Auch wenn die gesellschaftli- che Realität bei uns anders ist, sollten wir uns nicht der Illusion hinge- ben, daß so etwas wie in Frankreich bei uns nicht geschehen könnte“18. Die jüngsten Vorfälle an der Rütli-Schule in Berlin im März 2006 und die Berliner Krawalle vom 1. Mai belegen und unterstreichen die Be- deutung dieser Schlussfolgerung. Für die Literaturwissenschaft ergibt sich somit auch die Aufgabe, die deutschsprachigen Raptexte auf ihre Inhalte zu überprüfen und Methoden und Mittel zu ihrer Verständlich- machung bereitzustellen.

2.4 Literarische Situation Jugendlicher in Deutschland

Die literarische Situation der Jugendlichen in Deutschland korreliert anzunehmender Weise stark mit ihrer sozialen Situation, wie in Kap. 4.2 beschrieben wird, da beide ähnlichen bis identischen Einflussfaktoren unterliegen. Der Schlüssel zum Erfolg, so eine der zentralen Aussagen der Shell-Studie, ist und bleibt der Schulabschluss. Während von 100 Abiturienten nur acht Prozent arbeitslos sind, beträgt diese Quote bei den Hauptschulabsolventen 28 Prozent. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Kinder von Migranten häufig ein Bildungsdefizit haben (Hurrelmann und Albert 2006).

In der Grundschule bleiben Kinder aus Migrantenfamilien vier mal so häufig sitzen wie Kinder von „Einheimischen“. Dabei spielen die mangelnden Deutschkenntnisse eine erhebliche Rolle. So gehen nach wie vor nur 12 Prozent aller Arbeiterkinder von der Grundschule auf ein Gymnasium über. Und von allen Migrantenkindern besuchen 50 Prozent eine Hauptschule und nur 9 Prozent ein Gymnasium (Baumert und Schümer 2001, 373). Hingegen besuchen über 70 Prozent aller Beamtenkinder nach der Grundschule ein Gymnasium.

Die erste gute Note bekam ich dann auch ziemlich schnell, mein Klassenlehrer war Melle Mel. Er brachte mir sehr früh schon ziemlich viel bei. […] Ach bevor ich’s vergess, Metaphern lernte ich bei Lord Finesse. […] Mein Lieblingsfach das war schnell entdeckt: Poesie bei last Poets weckt den Intellekt, oder Politik bei Chuck D... Ich vergess nie die Texte von Public Enemy19.

Darüber hinaus lässt sich aber für alle Jugendlichen in Deutschland ein Defizit bezüglich des Umgangs mit Literatur festhalten. Laut einer PISA-Studie aus dem Jahr 2000 liegen die durchschnittlichen Leistungen der Jugendlichen in Deutschland im Bereich Lesekompetenz unter dem Mittelwert der OECD-Mitgliedsstaaten.

Unter Lesekompetenz versteht PISA dabei ein wichtiges Hilfsmittel für das Erreichen persönlicher Ziele, als Bedingung für die Weiterentwicklung des eigenen Wissens und der eigenen Fähigkeiten und als Voraussetzung für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Der PISA-Test (PISA-Studie 2000) erfasst, inwieweit Schülerinnen und Schüler in der Lage sind, geschriebenen Texten gezielt Informationen zu entnehmen, die dargestellten Inhalte zu verstehen und zu interpretieren sowie das Material im Hinblick auf Inhalt und Form zu bewerten.

Auch nach einer Studie der Landeszentrale für politische Bildung Ba- den-Württemberg verlieren Jugendliche die Lust am Lesen. In der jüngsten Verbraucheranalyse von 2004 gaben nur noch 47 Prozent der 14- bis 19-Jährigen an, gern oder besonders gern Bücher zu lesen. 1995 hatten in dieser Altersgruppe noch 60 Prozent Lesen zu den liebsten Freizeitbeschäftigungen gezählt. Bis auf die Tageszeitung sind alle anderen Medien - Musik, Fernsehen, Zeitschriften, Videos, Kino und Internet - für Jugendliche wichtiger20. Der Rap hingegen erfreut sich trotz dieser Zahlen einer hohen Popularität unter den Jugendlichen, womit ihm als literarischer Gattung besonders für die Jugendlichen eine tragende Rolle zukommt.

2.5 Der hermeneutisch-kontextualistische Ansatz

Dieser Arbeit liegt ein hermeneutisch-kontextualistischer Ansatz zugrunde, der Hermeneutik als Interpretation im Sinne von Auslegung versteht, auf der letztlich jegliche Form von Wissen beruht. Definiert wird die Hermeneutik von SCHLEIERMACHER als „die Kunst, die Rede eines anderen richtig zu verstehen“ (Schleiermacher 1977, 75). Nach seinem Verständnis kann ein Interpret bzw. Hermeneutiker, der einen Text verstehen will, niemals vollständig alle möglichen Bedeu- tungen ausschöpfen. Er muss aber sprachlich möglichst kompetent sein, so dass er auch den synchronen und diachronen Differenzen in- nerhalb einer Sprache Rechnung tragen kann.

Diesen Bedingungen zu Folge muss ein hermeneutisches Verfahren zur Interpretation von deutschsprachigen Raptexten folgende fünf Kriterien berücksichtigen:

(1) Raptexte können verstanden werden.
(2) Raptexte können bzw. müssen einen Sinn bzw. mehrere Sinne enthalten.
(3) Der Sinn von Raptexten kann mittels Auslegung, d. h. mittels Interpretation ermittelt werden.
(4) Das Verständnis von Raptexten ist nicht nur eine rein subjektive Tätigkeit, sondern erlaubt insbesondere auch allgemeine Aussagen, die kommunizierbar und somit für andere Interpreten nachvollziehbar sind.
(5) Das Verstehen von Raptexten ist ein unabschließbarer Pro- zess.

Die Hermeneutik verlangt vom Interpreten aber nicht nur eine gramma- tische, sondern auch eine historische und kulturelle Kompetenz, um unter der Bedeutungsvielfalt eines Textes die entsprechende richtige Bedeutung zu entschlüsseln (vgl. Schleiermacher 1977). Diese muss umso größer sein, je mehr - wie gerade in Raptexten - Metaphern und Anspielungen auf Objekte und Bereiche jenseits des vorliegenden Tex- tes vorhanden sind, da diese stets auch einen zweiten Sinn bedingen. Um diese dekodieren zu können, muss der Hermeneutiker sich auf der objektiven und subjektiven Seite dem Urheber gleichstellen: objektiv durch die Kenntnis der Sprache des Urhebers und subjektiv durch die Kenntnis dessen äußeren und inneren Lebens. Für die hermeneutische Interpretation von Raptexten bedeutet dies, diese sowohl im Kontext der afroamerikanischen Sprachtraditionen und jugendsprachlicher Merkmale, als auch im Hinblick auf die soziale und persönliche Situa- tion der Rapper, also hermeneutisch-kontextualistisch zu betrachten. Der hermeneutische Zirkel, der zunächst nur das Verhältnis von Teil und Ganzem eines Textes bezeichnet, bezieht sich so in Erweiterung auch auf die psychologische Befindlichkeit der Rapper und auf den historisch-kulturellen Kontext, in dem ihre Texte entstanden sind.

Eine Erweiterung des hermeneutischen Verständnis findet sich bei ECO, der darüber hinaus drei Perspektiven unterscheidet, aus deren Sicht man einen Text interpretieren kann (vgl. Eco 1987, 37ff). Die erste ist die Suche nach der intentio auctoris (Autoren-Intention), die zweite die Suche nach der intentio operis (Werk-Intention) und die dritte das Einbringen der intentio lectoris (Leser-Intention). Erst die Verbindung aller drei Interpretationen, und die Erfassung der intentio operis und der intentio lectoris unabhängig von den Intentionen der Autoren, kann zu einer möglichst vollständigen und richtigen Interpre- tation führen.

In dieser Arbeit werden die Werks- und Leser-Intention aber ausge- klammert. Die Interpretation der Raptexte konzentriert sich allein auf die Autor-Intention, deren Verstehen sowohl über Kenntnisse der Wertvorstellungen und Praktiken der HipHop-Kultur und dem Rap zugrunde liegender afrikanischer Sprachpraktiken, als auch über Aus- züge aus Interviews und Gesprächen mit den entsprechenden Rappern und Kenntnisse um deren soziale und literarische Situation gewährleis- tet wird.

Zudem wird das richtige Verständnis der Autoren-Intentionen über deren Verweise auf „die Selbstreflexion der Bedingungen literarischer Kommunikation“ (Baasner 1996, 25) unterstützt, wie sie BAASNER als Strukturmerkmale literarischer Texte einfordert und wie sie in Raptexten durchaus zahlreich vorliegen.

3. Forschungsgegenstand Rap im Kontext

In dieser Arbeit wird die These aufgestellt, dass deutschsprachige Rap- texte eine Literaturform - wenn nicht sogar die einzige Literaturform und damit die Literatur schlechthin - einer nicht-literarischen Jugend- kultur darstellen. Damit ist gemeint, dass sich die migrantisch basierte und zahlenmäßig dominierte Jugendkultur des HipHops, deren Ange- hörige aufgrund des sozial schwachen Milieus, aus dem sie ursprüng- lich stammten und zumeist immer noch stammen, nur selten einen Be- zug zu Literatur im klassischen Sinne hatten, im Rap eine eigene Lite- raturform schuf und fand. In Deutschland dienen deutschsprachige Raptexte ihren Produzenten und Konsumenten innerhalb und außerhalb der HipHop-Kultur zur Entwicklung und Etablierung von Identität, zur öffentlichen Kritik an sozialen Missständen und zum spielerisch- zwanglosen Spiel mit der deutschen Sprache.

Da mit dieser Arbeit deutschsprachige Raptexte als Forschungs- gegenstand in die Literaturwissenschaft noch immer eingeführt werden, ist eine genaue Schilderung der Hintergründe des Raps an sich angebracht. Dazu werden Raptexte zunächst näher betrachtet, indem eine Beschreibung und Erklärung des Raps und seiner Zusammenhänge mit der HipHop-Kultur gegeben wird. Daran schließt sich eine soziohistorische Betrachtung der Entstehung und Entwicklung des Rap im Kontext dieser HipHop-Kultur an. Da diese ein hochgradig kodiertes und selbstreferentielles Kommunikationssystem ist, bedarf es verschiedener Kontextualisierungen, um ihre spezifischen Praktiken, Rituale und Werte nachvollziehbar darzustellen.

Die Betrachtung ist deshalb in vier Phasen gegliedert, die sich mit der Entstehung und der Entwicklung des Rap in den USA und der Entstehung des Rap nach afroamerikanischen formalen, stilistischen und inhaltlichen Vorgaben in Deutschland und seiner weiteren hiesigen Assimilierung und Akkomodation beschäftigen. Es wird aufgezeigt, wie Rap zuerst englischsprachig in einem afroamerikanischen Kulturkreis in den USA entstand und sich entwickelte, anschließend englischsprachig innerhalb eines deutschen Kulturkreis akkomodiert und letztlich deutschsprachig assimiliert wurde. Bemerkenswert ist dabei, dass sich sowohl für die Entstehung und Entwicklung des Rap in den USA, als auch für seine Akkomodation und Assimilation in Deutschland, primär eine in dem jeweiligen Kulturkreis lebende migrantische Mischkultur verantwortlich zeichnete.

Außerdem werden wesentliche dem Rap zugrundeliegende afrikanische Sprachpraktiken erklärt und eine Übersicht über die verschiedenen Rap-Genres gegeben, die sich in Deutschland als eigenständige Untergattungen entwickelt und etabliert haben.

3.1 Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Rap im Kontext der HipHop-Kultur

Die soziohistorische Betrachtung der Entstehung und Entwicklung des Rap im Kontext der HipHop-Kultur ist in vier Phasen gegliedert. Diese beschreiben die Entstehung und die Entwicklung des Rap in den USA selbst und die Entstehung des Rap nach afroamerikanischen formalen, stilistischen und inhaltlichen Vorgaben in Deutschland und seine weite- re hiesige Assimilierung und Akkomodation. Dabei werden sowohl die spezifischen sprachlichen Praktiken und Rituale als auch die Werte und Ideale der HipHop-Kultur nachvollziehbar dargestellt. Für die Betrach- tung dieser Prozesse ist wichtig festzuhalten, dass die Begriffe Rap und HipHop keine Synonyme sind, sondern vielmehr in einem hierarchi- schen Verhältnis zueinander stehen. HipHop ist der Oberbegriff für einen umfassenderen kulturellen Komplex, der ein gesamtes kulturelles Umfeld wie spezifische Mode, Stil, Einstellungen und Ideologien um- fasst: „HipHop ist nicht Rap. HipHop meint die Synthese aus Sprache, Bild, Musik und Tanz. Oder anders ausgedrückt: aus Rap, Graffiti, DJ- Techniken und Breakdance. Rap ist [lediglich] das bekannteste und kommerziell erfolgreichste Feld des HipHop“ (Menrath 2001, 30).

3.1.1 Entstehung des Rap im Kontext der HipHop-Kultur in den USA

HipHop entstand in den 1970er Jahren in den USA als Subkultur einer gettoisierten afroamerikanischen Bevölkerung. Seine Inhalte wurde maßgeblich von den sozioökonomischen Rahmenbedingen der damali- gen Zeit und lange vorherrschenden gesellschaftlichen Konflikten ge- prägt. Im Zuge der De-Industrialisierung in den USA in den 1960er Jahren stieg gleichzeitig die Arbeitslosigkeit erheblich an und wurden Bildungs- und Sozialetats gekürzt. Diese Veränderungen betrafen vor allem Jugendliche ethnischer Minderheiten aus den Gettos der ameri- kanischen Großstädte. Viele von ihnen waren dort an einem amerikani- schen Schulsystem gescheitert, dessen Inhalte nur wenig Berührungs- punkte mit ihren existentiellen Grundbedürfnissen aufwiesen. Da ihnen reale soziale Aufstiegschancen durch die wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Lage verwehrt blieben, nahmen in Folge Kriminalität und Bandenwesen in diesen Gettos vermehrt zu.

HipHop kann somit als selbstorganisierter Lösungsversuch afroameri- kanischer Jugendlicher einer für sie schwierigen sozialen Situation betrachtet werden (vgl. Klein und Friedrich 2003, 14ff). Da ihnen die finanziellen Mittel fehlten, um am gesellschaftlichen Leben teilzuha- ben, kamen sie auf den Straßen und in den Hinterhöfen der Wohn- blocks und in leerstehenden Fabrikhallen zusammen und feierten ihre sogenannten „blockpartys“ (vgl. Loh & Verlan 2002, 39ff u. 54f; Ver- lan 2003, 140). Als Begründer dieser Partys und damit der HipHop- Kultur gelten drei DJ-Veteranen Kool DJ Herc, Africa Bambaataa und Grandmaster Flash ( Krekow & Steiner 2002, 43).

[...]


1 Skills en Masse. „Eins auf Eins“. Auf Album: Wie wir. Kopfnicker Records, 2000. 4

2Die HipHop-Kultur setzt sich aus den kulturellen Praktiken des Sprayens, des DJings - also des Auflegens von Platten-, des Breakdancings - des akrobatischen Tanzens - und des Rappens zusammen.

3Stieber Twins. „Fenster zum Hof“. Auf Album: Fenster zum Hof. MZEE, 1997.

4Cora E. „Nur ein Teil der Kultur“. Auf Album: Nur ein Teil der Kultur. Buback, 1994.

5 Mit Jams werden öffentliche und private HipHop-Veranstaltungen bezeichnet. 11

6Gayring, Mischa. “Word Up. Rap-Texte als Arbeitsmaterialen für den Unterricht“. Literaturkritik 12 (12. 2001). Auf: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=4438&ausgabe=200112 [Zugriff erfolgt am: 10.10.2006]

7Zugaro-Merimi, Tiziana. „Die Hip Hop Nation“. Auf: http://www.freitag.de/2002/11/02111101.php. [Zugriff erfolgt am: 10.10.2006]

8Wikiquote. Auf: http://de.wikiquote.org/wiki/Literatur. [Zugriff erfolgt am: 10.10.2006]

9Vgl.: Kurscheidt, veröffentlicht im Internet (Abfrage 31.10.2006 um 13:05).

10Vgl. Rahir, Kim. „Monsieur G. und die bösen Rapper“. Der Spiegel (30. 11. 2005).

11Hahn, Dorothea. „Flirt mit dem Totschlag“. Die Tageszeitung (30.11.2005).

12Deutsche Presse-Agentur. „Krawalle bei Paris. Nein zur Gewalt, ja zum Dialog“. Frankfurter Allgemeine Zeitung (05. 11. 2005).

13Rahir, Kim. „Französische Rapper: Wutschreie aus dem Getto“. Der Spiegel (09.11.2005).

14Sprich: Psy quatre de la Rime, Anspielung auf frz. psychiatre, zu dt.: Psychiater des Reims.

15Rahir: Französische Rapper. 2005.

16Rahir: Monsieur G. und die bösen Rapper. 2005.

17Rahir: Monsieur G. und die bösen Rapper. 2005.

18Rahir: Monsieur G. und die bösen Rapper. 2005.

19Torch. „Als ich zur Schule ging“. Auf Album: Blauer Samt. 360 Grad Records, 2000.

20Landeszentrale für politische Bildung. Heilbronner Stimme (07.10.2003). Auf: http://www.lpb.bwue.de/aktuell/puu/3_04/b9-b15.htm. [Zugriff erfolgt am: 10.10.2006]

Ende der Leseprobe aus 103 Seiten

Details

Titel
Rappräsentation. Deutschsprachige Raptexte als Literatur einer nicht-literarischen Jugendkultur
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg  (Germanistisches Seminar)
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
103
Katalognummer
V68941
ISBN (eBook)
9783638600743
Dateigröße
801 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
In dieser Arbeit wird gezeigt, dass deutschsprachiger Rap eine literarische Gattung, und mehr noch, die Literatur einer nicht-literarischen Jugendkultur ist. Dazu werden zunächst der Literaturbegriff an sich untersucht, anschließend ein Exkurs über Rap im Kontext der HipHop-Kultur und seiner Entwicklung im afro-amerikanischen und migrantisch-deutschen Raum gegeben und abschließend diverse Raptexte über einen hermeneutisch-kontextualistischen Ansatz analysiert und interpretiert.
Schlagworte
Rappräsentation, Deutschsprachige, Raptexte, Literatur, Jugendkultur
Arbeit zitieren
1. Staatsexamen Christian Mahnke (Autor:in), 2006, Rappräsentation. Deutschsprachige Raptexte als Literatur einer nicht-literarischen Jugendkultur, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/68941

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