Australien im Englischunterricht der Sekundarstufe II. Doris Pilkingtons "Rabbit-Proof Fence" und Philip Noyce' "Long Walk Home"


Examensarbeit, 2006

77 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Gliederung

1 Einleitung

2 Theoretische Grundlagen
2.1 Konzepte und Ansätze eines modernen Literatur- unterrichts in der Sekundarstufe II
2.1.1 Literaturtheorie und Literaturdidaktik
2.1.2 Kulturkonzepte und Kulturdidaktik
2.1.3 Postkoloniale Theorie und didaktische Umsetzung im Literaturunterricht
2.1.4 Filmtheorie und Filmdidaktik
2.2 Bedeutung der vorgestellten Konzepte eines modernen Literaturunterrichts für Long Walk Home und Rabbit-Proof Fence als Unterrichtsthemen

3 Unterrichtskonzeptionen
3.1 Lernziele einer Behandlung der ausgewählten Werke im Englischunterricht
3.1.1 Curriculare Vorgaben: Lernziele eines Literatur-
unterrichts im Fach Englisch der Sekundarstufe II an Gymnasien
3.1.2 Inhaltliche Lernziele einer Beschäftigung mit Australien
3.1.3 Methodische Lernziele der Roman- und Filmanalyse
3.2 Lerninhalte
3.2.1 Historische, kulturelle und literarische Hintergründe von Long Walk Home und Rabbit-Proof Fence
3.2.2 Der Roman im Unterricht: Analyse von Textgestalt und Textaussage
3.2.3 Film im Unterricht
3.2.3.1 Analyse und Rezeption
3.2.3.2 Long Walk Home als Literaturverfilmung

4 Schlussbetrachtung

5 Literaturverzeichnis

6 Anhang

Verzeichnis der Abbildungen

Abbildung 1: Verfahren des interkulturellen Lernens

Abbildung 2: Überblick über die Bereiche des Faches Englisch

Abbildung 3: Handlungslinie in Rabbit-Proof Fence

Abbildung 4: Handlungslinie in Long Walk Home

1 Einleitung

Der Englischunterricht der Sekundarstufe II an Gymnasien und Gesamtschulen wurde in jüngster Zeit durch eine Reihe von administrativen und regulativen Veränderungen beeinflusst, welche im Sinne des demokratischen Prinzips der Chancengleichheit auf gleiche Lernbedingungen für alle Schüler abzielen. Die Einführung des Zentralabiturs hat zu einer verbindlicheren Festlegung des Lehrkanons und damit zu einer genaueren Vorgabe der zu behandelnden Themen und Inhalte in den Lehrplänen geführt. Schulen haben im Rahmen des Schulprogramms schulinterne Curricula mit inhaltlichen und methodischen Zielen erstellt, denen die konkreten Unterrichtsinhalte entsprechen sollen. Dem Lehrer und auch den Schülern[1] bleibt weniger Freiraum für eigene Vorschläge der Unterrichtsgestaltung. Diese regulativen Verschärfungen erheben für den Unterricht den Anspruch, jeden Unterrichtsinhalt daraufhin zu überprüfen, ob er mit den allgemeinen Zielen von Lehrplan und Curriculum übereinstimmt.

Jedoch nicht nur die schulische Situation, sondern auch das Umfeld der Schüler unterliegt fortwährend Veränderungen: Wachsende Mobilität, aber auch Medien wie das Fernsehen und das Internet sind verantwortlich für eine zunehmend globalisierte Welt und haben die Lebenswelt komplizierter und unüberschaubarer gemacht. Schüler müssen ihre eigene Identität, welche sich aus kulturellen, historischen, politischen, sozialen und individuellen Elementen zusammensetzt, finden und immer weiter anpassen, um sich in der zusammenwachsenden Welt, in der sie mit unzähligen anderen Identitäten konfrontiert werden, zurechtfinden zu können. Neben diesem Identitätskonzept sind auch instrumentelle Fähigkeiten in Form von Sprache, Wissen, Informationsbeschaffung und -bewertung etc. auf allen Ebenen erforderlich, damit Orientierung in der Welt funktionieren kann. Es ist die Aufgabe der Schule, die Schüler zu Kompetenzen der Identitätsfindung, der Orientierung und der instrumentellen Fähigkeiten anzuleiten. Der bekannte Pädagoge Wolfgang Klafki betrachtet in seinem Werk Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik die Beschäftigung mit den sogenannten ‚epochaltypischen Schlüsselproblemen‘ als zentrales Element eines Bildungsbegriffs, welcher eine vielseitige Bildung mit den Zielen der Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität des Einzelnen vermitteln will. Unter epochaltypischen Schlüsselproblemen versteht Klafki aktuelle Probleme der globalen Gesellschaft (Klafki 1985).

In dieser Arbeit soll dargelegt werden, dass das Unterrichtsthema Australien im Rahmen des Englischunterrichts anhand des Romans Rabbit-Proof Fence von Doris Pilkington und seiner Verfilmung Long Walk Home von Regisseur Philip Noyce den genannten Anforderungen durch Curriculum und Lehrplan gerecht werden kann, aber auch Orientierung in der Lebenswelt der Schüler vermitteln und so dem definierten Bildungsbegriff entsprechen kann. Das Thema Australien kann sich, besonders im Fremdsprachenunterricht, Problemfeldern wie Postkolonialismus und Postmodernismus, aber auch spezifisch australischen Themen von globaler Bedeutung öffnen: So beschäftigt sich der stolen generations narrative, zu dem Long Walk Home und Rabbit-Proof Fence gerechnet werden, mit Themen wie Rassismus und Völkermord, Kulturkonflikten, Identitätskonzepten und indigenen Lebensweisen. Australische Literatur ist nach Raddatz in mehrerlei Hinsicht für den Englischunterricht geeignet, denn die Thematik kann schülerorientierten Unterricht fördern, der sich mit zentralen Problemen der Jugendlichen auseinandersetzt und interkulturell ausgerichtet ist (Raddatz 2000: 69ff.).

Zeitgenössische Literatur ist ein zentrales Element des Englischunterrichts. Heute stammen viele der besten zeitgenössischen Werke von Verfassern mit kolonialem oder postkolonialem Hintergrund (Lazarus 2004: 14). In jüngster Zeit stehen, hervorgerufen durch den 1996 veröffentlichten Report Bringing Them Home als Versöhnungsangebot an die Aborigines, aber auch die Olympischen Sommerspiele in Sydney im Jahre 2000, Aborigines als Schriftsteller im öffentlichen Interesse (van Toorn 2000: 44). Zwei Beispiele solcher Werke sind der Roman Rabbit-Proof Fence und seine Verfilmung, Long Walk Home. Diese basieren auf einer fiktionalisierten biographischen Erzählung und handeln von der Flucht dreier Mädchen, so genannter half-castes, d.h. Kinder mit einem schwarzen und einem weißen Elternteil, aus einem Erziehungslager im Südwesten Australiens. Diese half-castes wurden etwa von 1890 bis 1970 durch die australische Regierung von ihren Familien getrennt und in solche Erziehungslager gebracht (Beresford & Omaji 1998: 20), weil man der Auffassung war, dass diese Kinder durch erzwungene Assimilation in die weiße Kultur ihrer schwarzen Herkunft entledigt werden könnten. Pilkington und später Noyce thematisieren diese Problematik, indem sie die Reise dreier half-castes aus einem Lager in die mehr als 1000 Meilen entfernte Heimat schildern. Schon vorher gab es Romane und Berichte über die half-castes, doch Long Walk Home ist der erste Film über das Schicksal dieser Kinder, der weltweit Beachtung fand und von einem bekannten Regisseur produziert wurde (Hughes-D’Aeth 2002; Kennedy 2004: 48). Im Rahmen eines kleinen Projektes für die vorliegende Arbeit haben Schüler der Jahrgangsstufe 12 eines Gymnasiums diesen Film im Englisch-Leistungskurs angesehen und anschließend einen Fragebogen bezüglich der Inhalte und Strukturen des Films ausgefüllt. Die Fragebogenvorlage ist im Anhang zur Einsicht beigefügt (vgl. Anhang 1). Bemerkenswert ist, dass der Film mit Ausnahme eines einzigen Schülers allen 15 anderen sehr gut gefallen hat. Erkundigungen bezüglich des bisherigen Englischunterrichts haben gezeigt, dass Australien, wenn überhaupt, nur im Rahmen eines Mittelstufen-Lehrbuchs, und dort vornehmlich unter geographischen Aspekten, behandelt wurde. Sowohl inhaltlich als auch struk-turell - durch die Kameraaufnahmen, die beeindruckenden Bilder der Landschaft und die eindringliche Musik - hat der Film den meisten Schülern sehr gut gefallen: Fast alle haben sich tief betroffen von der Thematik der ‚gestohlenen Generationen‘ gezeigt, von denen mit Ausnahme einer Schülerin keiner zuvor gehört hatte. Die Schüler haben mit den Mädchen mitgelitten und können das Verhalten des damaligen Chief Protector of Aborigines, Mr. Neville, nicht nachvollziehen. Die meisten würden gerne mehr über die Thematik erfahren. Diese Angaben verdeutlichen eine wesentliche Voraussetzung für die Unterrichtsgestaltung, nämlich das Interesse der Schüler. Wenn dieses, wie hier, gegeben ist, kann der Unterricht produktiv und in angenehmer Atmosphäre verlaufen. Die Angaben der Schüler verdeutlichen gleichzeitig die Option, Australien zu einem sinnvollen Unterrichtsgegenstand zu machen, und zwar aufgrund der Brisanz der Problematik und geringen Kenntnissen seitens der Schüler über diesen Kulturraum. Die Inhalte und Methoden, die im Rahmen des Unterrichtsprojektes behandelt werden sind, so soll diese Arbeit zeigen, relevant im Sinne eines modernen problemorientierten fremdsprachlichen Unterrichts, der notwendige Fähigkeiten weiterentwickeln muss.

Ziel dieser Arbeit ist es zu zeigen, dass die Behandlung von Long Walk Home und Rabbit-Proof Fence einen sinnvollen Gegenstand modernen Literaturunterrichts darstellt. Es werden wesentliche Lernziele und Inhalte vorgestellt, die sich aus dieser Behandlung ergeben können. Die Arbeit ist in drei Teile gegliedert: In einem ersten, theoretischen Teil sollen wichtige theoretische und didaktische Konzepte vorgestellt werden, die im Hinblick auf einen zeitgemäßen Literaturunterricht in der Sekundarstufe II sowie die gewählten literarischen Werke, also Film und Roman, relevant sind (2). Dies sind die Literaturtheorie mit ihrer Bedeutung für eine Beschäftigung mit Literatur, die Kulturtheorie und die postkoloniale Theorie in Bezug auf die inhaltliche Thematik der Werke sowie die Filmtheorie als Grundlage der Beschäftigung mit Film, mit ihren jeweiligen didaktischen, also für den Unterricht relevanten, Konzepten. Auf der Grundlage dieser zentralen wissenschaftlichen Theorien werden im zweiten und dritten Teil, in welchen es um konkrete Unterrichtskonzeptionen geht, zunächst Lernziele für eine Beschäftigung mit Long Walk Home und Rabbit-Proof Fence abgeleitet (3.1). Neben rechtlichen Vorgaben durch Lehrplan und Curriculum sind dies sowohl inhaltliche als auch methodische Lernziele, an denen sich die Unterrichtsgestaltung orientieren soll. Anschließend beschäftigt sich der dritte Teil mit Unterrichtsinhalten, welche sowohl den entwickelten Lernzielen als auch den zu Grunde liegenden relevanten Konzepten in Bezug auf Literaturunterricht gerecht werden (3.2). Diese Lerninhalte befassen sich mit den Inhalten, Strukturen, Hintergründen und schließlich einem Vergleich der beiden Medien.

2 Theoretische Grundlagen

Bevor konkrete Überlegungen hinsichtlich der Umsetzung des Themas anhand der Werke Long Walk Home und Rabbit-Proof Fence getätigt werden können, müssen zunächst theoretische Grundlagen vorgestellt werden, welche für einen zeitgemäßen Literaturunterricht im Fach Englisch relevant sind. Diese hier vorgestellten Konzepte und Ansätze bilden die Basis der anschließend zu entwickelnden Lernziele und –inhalte für das gewählte Unterrichtsprojekt.

2.1 Konzepte und Ansätze eines modernen Literaturunterrichts in der Sekundarstufe II

Im Englischunterricht der Oberstufe spielt die Beschäftigung mit Literatur eine zentrale Rolle. Ein guter Literaturunterricht muss im Sinne der wissenschaftspropädeutischen Ausbildung bei den Schülern die Fähigkeiten des Lesens, Verstehens und Sprechens weiterentwickeln. In diesem Teil der Arbeit werden wesentliche Konzepte vorgestellt und auf den Unterricht übertragen, die als bedeutsam angesehen werden (2.1.1-2.1.4). Die sind im Einzelnen die Literaturtheorie, aus der sich die Literaturdidaktik entwickelt hat, die Kulturtheorie bzw. Kulturdidaktik, die postkoloniale Theorie bzw. Didaktik sowie die Filmtheorie und ihre Möglichkeiten der Umsetzung im Rahmen des Unterrichts. Diese allgemeinen Konzepte werden anschließend auf die konkrete Thematik übertragen (2.2).

2.1.1 Literaturtheorie und Literaturdidaktik

Seit Bestehen von Literatur gibt es auch eine Theorie der Literatur, welche sich mit dem Verhältnis zwischen Text, Autor und Leser und der Interpretation dieses Verhältnisses beschäftigt (Haß et all. 2006: 15). Es sollen nur solche Ansätze der Literaturtheorie vorgestellt werden, welche Einfluss auf Literaturunterricht haben oder hatten. Der New Criticism, welcher in der Mitte des 20. Jahrhunderts aufkam, sieht den Text als einziges Medium der Interpretation und schließt alle anderen Aspekte, die in anderen Ansätzen Beachtung finden, z.B. den geschichtlichen Kontext oder die Biographie des Verfassers, aus. Die Autonomie des sprachlichen Kunstwerks, das „close reading“, stehen im Mittelpunkt der sprachlichen Analyse (Weskamp 2001: 190). Gegen eine solche geschlossene Betrachtungsweise wenden sich die Rezeptionsästhetik und Hermeneutik, welche das dynamische Zusammenspiel von Text und Leser analysieren, um Verstehen zu erreichen (Weskamp 2001: 191). Auch heute spielt die Hermeneutik als interpretierendes Verstehen eines Textes eine große Rolle im Literaturunterricht. Andere Strömungen wenden sich gegen den Ansatz der Hermeneutik (Weskamp 2001: 194ff.): Die Lehre der Ästhetik sieht Literatur nicht als etwas, das gedeutet werden will, sondern sie sieht den Prozess des Erlebens als zentral an. Hermeneutik, so die Kritik, zerstört also den Genuss eines Textes. Poststrukturalisten hingegen sehen den in der Hermeneutik zentralen Zusammenhang zwischen Text und Leser überhaupt nicht, denn Texte haben in dieser Strömung gar keine Bedeutung ‚von Innen‘ mehr, sondern Sinn kann lediglich aufgrund konventioneller Regelungen in bestimmten historischen und sozialen Kontexten konstituiert werden (Förster 2002: 236ff.). Konstruktivisten schließlich glauben, dass neben der Hermeneutik die subjektiv-konstruktivistische Komponente betont werden muss. Konstruktivismus meint hier die Erkenntnistheorie, dass jedes (vermeintliche) Wissen eine Konstruktion eines Beobachters ist, und die Summe aller Konstruktionen, d.h. Bilder von der Wirklichkeit, stellen die Wirklichkeit der Gesellschaft dar (Müller-Michaels 2002: 47). Aktuell gibt es viele verschiedene, oft interdisziplinäre Strömungen, welche Einfluss auf die Literaturtheorie haben. Cultural studies (vgl. 2.1.2) sehen den Text als Brücke zum Kulturverständnis, denn Texte gelten als Ausdruck kultureller Bedingungen (Müller-Hartmann & Schocker-von Dithfurt 2004: 112f.). Postkoloniale Studien (vgl. 2.1.3) hingegen haben nur solche literarischen Texte zum Hintergrund, die eine Reaktion von ehemals kolonisierten Kulturen darstellen. Der New Historicism schließlich analysiert einen Text immer in Abhängigkeit von den historischen Bedingungen der Entstehungszeit und vergleicht ihn mit anderen in der selben Zeit entstandenen Texten. Dieser Ansatz ergänzt den hermeneutischen Ansatz (Müller-Hartmann & Schocker-von Dithfurt 2004: 124). In der Postmoderne ist dieser Ansatz zwar umstritten, weil Meinungen und Einstellungen immer als verzerrt angesehen werden, doch der New Historicism ermöglicht eine kritische und geschichtskontextuelle Analyse und ist deswegen, besonders in Kombination mit postkolonialen Studien, ein geeigneter Ansatz für den Schulunterricht (Hellwig 2000: 135).

Die Literaturdidaktik hat sich aus der Literaturtheorie entwickelt, deswegen sind Strömungen innerhalb der Literaturtheorie auf die Didaktik zu übertragen. Literaturdidaktik umfasst die Organisation der verschiedenen Handlungsformen und Erkenntnismöglichkeiten für Entscheidungen, Konzeptionen und Theorien über Literatur als Gegenstand von Lernprozessen (Dücker 2004: 320). Gegenstände der Literaturdidaktik sind alle Formen der Vermittlung literarischer Texte und der Aneignung literarischer Kompetenzen im Rahmen institutionell organisierter Lehr- und Lernprozesse, z. B. im schulischen Literaturunterricht, aber auch an Hochschulen und Volkshochschulen. Literaturunterricht soll Schüler zum Lesen, Denken, Analysieren und Schreiben trainieren. Generell können drei Ziele zur Begründung des Literaturunterrichts genannt werden, und zwar dient die literarische Diskussion erstens dazu, analytische Verfahren und Erkenntnisse weiterzugeben, zweitens fördert sie Spracherwerb, und drittens hat sie den Verstehensprozess als einen dialektischen Prozess zum zentralen Anliegen (Jarfe 1997: 17ff.). Beim fremdsprachlichen Text nämlich findet Verstehen nicht automatisch statt, sondern die sprachlichen Zeichen müssen dekodiert werden.

Im Zentrum literarischer Betrachtung steht der Text. Literarische Texte sind funktionale d.h. mit einer Bedeutung versehene, Sprachaufzeichnungen, welche im Klassenzimmer authentische Begegnungen der Lernenden mit der Fremdsprache schaffen (Brusch & Caspari 1998: 169; Müller-Hartmann & Schocker-von Dithfurt 2004: 120). Aufgrund der affektiven Wirkung von Texten entsteht ein sinnvoller Kontext für Lernen: Durch das Einfühlen/die Empathie der Schüler in den literarischen Text können Lernprozesse verbessert werden. Dabei kommt dem Text eine Doppelfunktion zu: In inhaltlicher Hinsicht kann er historisches oder kulturelles Wissen vermitteln, in sprachlicher Hinsicht kann die Lese- und Sprechkompetenz der Lernenden verbessert werden (Brusch & Caspari 1998: 169). Literatur umfasst nicht nur klassische, ‚hohe‘ Literatur, sondern alle Textgenres: Kinder- und kann Lernprozesse ebenso fördern wie Trivialliteratur. In dieser Arbeit wird von einem „erweiterten Textbegriff“ (Haß et all. 2006: 15) ausgegangen: Alle literarischen Produktionen, also auch Filme, werden in der Folge als Texte bezeichnet[2].

Bis ins 20. Jahrhundert hinein diente Literaturunterricht hauptsächlich der Vermittlung von Literatur „with a capital L“ (Müller-Hartmann & Schocker-von Dithfurt 2004: 121), mit dem Ziel der Bildung aller im Menschen angelegten Kräfte und der ästhetischen Erziehung des Menschen (Müller-Michaels 2002: 30). Es wurden klassische literarische Werke behandelt. Auch die Methoden der Vermittlung waren meist klassisch: So hatte der Lehrer die Funktion des Lenkers, der Unterrichtsprozesse steuerte und das Gesagte bewertete (Brusch & Caspari 1998: 171). Zwischen 1920 und 1960 kam dann auch in der Didaktik der New Criticism auf, welcher sich Verfahren des „close reading“ zu Nutze machte und den Text als einziges Medium zur Analyse heranzog. In den 70ern und 80ern dann wurde Literatur erstmals aus einer lerner-zentrierteren Perspektive heraus gelehrt: Die Wahrnehmungen der Schüler fanden Beachtung, der entwickelnde Unterricht gewann an Bedeutung. Das Lern- und Rezeptionsgespräch waren zentrale Unterrichtsformen. Bis in die 1980er Jahre hinein wurden der Literatur- und Sprachunterricht weitestgehend getrennt voneinander im Unterricht behandelt, d.h. ein literarischer Text als Unterrichtsgegenstand diente vornehmlich moralischen Zielen, während Sprache, in Form von grammatischen Übungen etc., immer der Verbesserung der Sprachkompetenz diente. Heute jedoch wird ein Fremdsprachenunterricht im Sinne einer ganzheitlichen fremdsprachlichen Text- und Sprachdidaktik verfolgt (Brusch & Caspari 1998: 170f.). Seit den 1990er Jahren hat die Schulpädagogik verstärkt das Potential der Literatur für interkulturelles Lernen entdeckt, so dass die Beschäftigung mit Literatur in den Fremdsprachen hauptsächlich auf dieses Ziel hinarbeitet (Müller-Hartmann & Schocker-von Dithfurt 2004: 123). Der pädagogische Dialog in Form eines offenen und minimal gelenkten Gesprächs, welches neben den inhaltlichen besonders die sprachlichen Kompetenzen der Lernenden fördert, ist interkulturellem Lernen besonders zuträglich (Brusch & Caspari 1998: 171).

Es werden in der Literaturdidaktik drei verschiedene Methoden des Textzugriffs unterschieden. Die Erste ist die hermeneutische bzw. kognitiv-analytische Methode, welche interpretatives Verstehen anstrebt. Sie tut dies durch eine Analyse von Textgestalt und Textaussage und durch Betrachtung von Gattungstraditionen, Entstehungsbedingungen, Entstehungsgeschichte, Autor sowie Wirkungspotenzial. Zweitens gibt es die rezeptionsorientierte Methode, welche den Rezipienten in den Vordergrund des Interesses stellt. Ein Text wird auf seine Wirkung auf diesen Rezipienten hin analysiert, wobei Leseinteresse, Lesersituation, Leserbiographie, Wirkungen auf den Leser etc. betrachtet werden können. Die produktionsorientierte Methode schließlich sieht den Text als Grundlage für eigene Prozesse der Produktion, z.B. Umschreiben einer Vorlage durch Perspektivenwechsel, Verfassen alternativer Varianten etc. Die Produktion eines eigenen Textes unterstützt hier das Verständnis des Originaltextes. Durch den kreativen Umgang mit dem Text setzt sich der Schüler subjektiv mit diesem auseinander. Deshalb fördert diese Methode eine Kopplung der affektiv-emotionalen und kognitiven Rezeptionsaktivitäten (Brusch & Caspari 1998: 172ff.). Optimal ist eine Kombination aus analytisch-interpretierenden und kreativ-produktorientierten Formen des Umgangs mit Texten (Ministerium für Schule, Jugend und Kinder 1999: 9). Ein so durchgeführter Unterricht ist schülerorientiert und fördert literarische Kompetenzen, weil er sowohl inhaltliche (Kultur, Geschichte, interkulturelle Auseinandersetzung) als auch methodische (Verfahren der Textanalyse, gestalterisch-produktive Arbeitstechniken) Ziele verfolgt (Hellwig 2000: 78; Weskamp 2001: 189).

2.1.2 Kulturkonzepte und Kulturdidaktik

Neben literaturtheoretischen Kompetenzen ist die Kulturtheorie wesentlich für das Verständnis eines Textes um den kulturellen Hintergrund des Textes zu verstehen. Um es mit den Worten Greenblatts zu sagen, „it is literary study that is the servant of cultural understanding“ (1995: 227). Kulturtheorien erklären den Wirkungszusammenhang von Kultur und Gesellschaft, beschäftigen sich aber auch mit dem viel diskutierten Kulturbegriff. Warum aber ist das Kulturkonzept im Rahmen des vorgestellten Unterrichtsprojektes von Bedeutung? Im Folgenden soll zunächst der Versuch gemacht werden, das Konzept der Kultur im Rahmen der Literaturwissenschaft zu definieren. Dann soll auf der Grundlage des gewonnenen Verständnisses von Kultur dieses auf die Didaktik des Englischunterrichts übertragen werden.

Seit vielen Jahrzehnten beschäftigt das Konzept der Kultur Wissenschaftler vieler verschiedener Sachbereiche und gehört heute zu einem der umstrittensten Begriffe unserer Zeit. Bis heute konnte kein Konsens über eine allgemein anerkannte Definition dieses Konzeptes erreicht werden. Der Kulturbegriff ist sehr schwer zu definieren, weil sich die wesentlichen Merkmale, die Kultur ausmachen, einerseits im Laufe der Zeit wandeln, andererseits aber auch abhängig sind von der jeweiligen Forschungsrichtung, die sich mit Kultur beschäftigt. 1873 wurde das Kulturkonzept von Edward Burnett Tylor eingeführt, um Unterschiede zwischen verschiedenen menschlichen Gesellschaften erklären zu können. Tylor definierte Kultur als ein „complex whole which includes knowledge, belief, art, law, morals, custom, and other capabilities and habits acquired by man as a member of society“ (zitiert nach Tylor in Nanda & Warms 2004: 72). Weil Tylor in diesem Konzept von einer einzigen wahren Kultur ausgeht, nämlich der weißen Kultur als Höchstform (Hejl 2004: 297), hat sich dieses Kulturverständnis im Laufe der Zeit immer stärker gewandelt. Anfangs wurde Kultur meist als Strategien der Anpassung des Menschen an seine Umwelt gedeutet, wodurch er sich vom Tier unterschied: Dieser Ansatz war recht biologisch-anthropologisch ausgerichtet. Heute geht man davon aus, dass alle menschlichen Gesellschaften eine eigene Kultur haben und nicht mehr eine Kultur höher oder besser gestellt sein kann als eine andere. Kultur gilt als Ausdruck bzw. Symbol menschlicher Erfahrung. Weil das Kulturkonzept heute so viele verschiedene Facetten hat und ein heterogenes und dynamisches Gebilde ist (Raddatz 2000: 72), reduzieren sich die meisten Definitionen des Konzeptes auf sehr allgemein gehaltene Aspekte: So kommen Nanda und Warms zu folgender Definition von Kultur, welche sozusagen den ‚kleinsten gemeinsamen Nenner‘ aller Forschungsrichtungen darstellt: Unter Kultur verstehen sie „the learned, symbolic, at least partially adaptive, and everchanging patterns of behavior shared by members of a group“ (2004: 72). Ein so verstandener Kulturbegriff sieht Kultur als ein System menschlicher Anpassung an die Welt, wie der Mensch diese Welt versteht, wie er die Realität wahrnimmt und wie er dem eigenen Leben Bedeutung geben kann (dies.: 73). Eine weitere, sehr allgemein gehaltene Definition versteht Kultur als „the widest context of human behavior“ (zitiert nach Otten in Einhoff 2005: 20). Greenblatt (1995: 225) definiert den Begriff in zweierlei Hinsicht: Einerseits kann Kultur als alles Erreichte einer Zivilisation definiert werden, also Kunst, Musik und jede Art materieller Gegenstände, d.h. im engeren Sinne als materielle Kultur. Auf der anderen Seite allerdings kann Kultur auch die Lebensstile und Muster von Gesellschaften umfassen, also Kultur im weiteren Sinn. Die postmoderne Kulturtheorie geht sogar so weit, den Kulturbegriff als überhaupt nicht fassbar darzustellen, weil das Verständnis von einer bestimmten Kultur immer abhängig vom Betrachter und deswegen nicht objektiv zu beschreiben ist (Nanda & Warms 2004: 73).[3]

Wegen der Fülle an Definitionen beschränkt sich diese Arbeit auf ein Verständnis von Kultur, welches sich in der Kulturdidaktik etabliert hat und kommunikativ orientiert ist. Die erste Definitionen eines solchen Verständnisses lautet folgendermaßen:

‚Kultur‘ ist kein geschlossenes System von Wissens- und Normvoraussetzungen, sondern ein Komplex von häufig einander widersprechenden Überzeugungen, die selbst innerhalb einer Sprechergemeinschaft Spannungen verursachen (zitiert nach Hüllen in Bach 1998: 193).

Die Aufgabe von Unterricht bei einem so verstandenen Kulturkonzept ist es, die verschiedenen Überzeugungen, die mittels des Mediums der Kommunikation dargestellt werden, zu entschlüsseln und mit Sinn zu versehen, um ein gewisses Verständnis einer Kultur oder interkultureller Beziehungen zu gewinnen. Sowohl Kultur als auch Lernen, welche in ihrem Zusammenspiel als interkulturelles Lernen bezeichnet werden, haben im Laufe der Zeit einen Paradigmenwechsel von statisch-normativ hin zu funktional-dynamisch erfahren. Dies bedeutet, dass nicht mehr von einem festen und konstituierten Kunstrukt ‚Kultur‘ ausgegangen wird, sondern dass Kultur sich ständig in gesellschaftlichem Wandel befindet.

In den Literaturwissenschaften hat sich innerhalb der Diskussion der verschiedenen Affassungen von Kultur in besonderem Maße jene der cultural studies durchgesetzt. Cultural studies stellen einen interdisziplinären Ansatz z.B. der Soziologie, Literaturwissenschaft, Medien- und Filmtheorie relativ jüngster Zeit dar, welcher Kultur als ein dynamisches Konzept begreift, das von multiplen Perspektiven aus betrachtet wird. Ein solcher Ansatz schafft eine kritische Auseinandersetzung mit verschiedenen Kulturen (Müller-Hartmann & Schocker-von Dithfurt 2004: 110f.). Entwickelt haben sich die cultural studies nach dem 2. Weltkrieg in den USA, doch auch in Europa und Australien entwickelten sich ähnliche Strömungen (Sardar & van Loon 1997: 25f.). Sie beschäftigen sich intensiv mit kulturellen Massengütern wie Kunst, Literatur und Kleidung, wobei besonders die Untersuchung der Darstellung von Kultur in der Literatur ein sehr produktiver Ansatz ist, mit dem sich natürlich in besonderem Maße die Literaturwissenschaft befasst. Weil auch die cultural studies von einem dynamischen Kulturkonzept ausgehen, welches nicht eindeutig definierbar ist, beschäftigen sie sich mit einer Vielzahl an Themen, z.B. mit otherness in Bezug auf das eigene Geschlecht, die eigene Gruppe, Klasse, Rasse oder Kultur, oder mit der historischen Bedingtheit von Klassenstrukturen (Sardar & van Loon 1997). Weil diese Merkmale auch in der postkolonialen Theorie eine entscheidende Rolle spielen, hängen diese Theorien eng miteinander zusammen.

Wo besteht nun aber der Zusammenhang zwischen dem Kulturkonzept und dem Literaturunterricht? Eine offensichtliche Antwort ist jene, dass durch und mit Literatur kulturelle Grenzen etabliert, aufgehoben oder verstärkt werden können. Gleichzeitig sind literarische Werke Zeugen der Zeit und Kultur, aus der sie stammen.[4] Selbst wenn sich eine Kultur grundlegend gewandelt hat, was sie es ja im Sinne eines dynamischen Konzeptes fortwährend tut, bleibt die Kultur, die zur Zeit des Erscheinens eines literarischen Werkes Bestand hatte, im geschriebenen Wort erhalten. Weiterhin wichtig, und noch von viel entscheidenderer Bedeutung ist, dass ein Text bzw. ein Film etc. nur dann völlig verstanden und mit Bedeutung versehen werden können, wenn der kulturelle Hintergrund dieses Textes/Films/... bekannt ist (Greenblatt 1995: 226f.). Bredella beschreibt den Zusammenhang zwischen Kultur und Literatur anhand eines Zitates von Ned Seelye:

Literature can best be seen in the present context as illustrating the cultural patterns of a society once the patterns have been identified by the methods of the social sciences: social science as source, literature as example. (1997: 163).

Kulturkonzepte sind bedeutsam für die Ziele und Inhalte des Englischunterrichts (Einhoff 2005: 20), denn ihre Bedeutung für den Fremdsprachenunterricht liegt darin, dass Kultur durch Sprache vermittelt wird: Die Sprache ist das Medium, durch das sich einzelne Kulturen weltweit ausdrücken können (Bach 1998: 194). Sie vermittelt immer kulturelle Einblicke, die im Unterricht analysiert werden müssen. Unterricht muss Brücken bilden zwischen der Eigenkultur und Fremdkulturen. Die Vermittlung von Kultur anhand von Lernmaterialien aus anderen Kulturkreisen kann es schaffen, bei den Schülern den Kulturbegriff zu erweitern, indem sie mit einer andersartigen Kultur konfrontiert werden (Gehring 2005: 16f.; Haß et all. 2006: 15). Diese Art von Lernen wird als interkulturelles Lernen bezeichnet. Abbildung 1 veranschaulicht das Prinzip des interkulturellen Lernens: Der Schüler verwendet heterogene Perspektiven der Betrachtung (eigene Werte, Stereotypen, Erfahrungen) auf eine Zielkultur, um diesen darstellen zu können. Wenn er dies schafft, verfügt er über interkulturelle Kommuniktionsfähigkeit.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Verfahren des interkulturelles Lernens (Quelle: Eigener Entwurf nach Müller-Hartmann & Schocker-von Dithfurt 2004: 109)

Die Fähigkeit zu interkultureller Kommunikation ist gegeben, wenn es möglich ist, einen Kommunikationspartner in einem bestimmten setting zu verstehen. Dieses Verstehen ist ein sozialer Prozess, der Empathie, Toleranz, kulturspezifisches Wissen, Lernstrategien und Sprachkompetenz umfasst, damit die Bedeutung der kommunikativen Aussage verstanden werden kann (Müller-Hartmann & Schocker-von Dithfurt 2004: 112). Interkulturelles Lernen ist als Prozess aufzufassen, weil interkulturelle Kommunikationsfähigkeit niemals abgeschlossen ist, sondern sich immer weiter entwickeln kann (Einhoff 2005: 23). Es entsteht aus Interaktionen, bei denen sich ein neues Verstehen aus der Eigen- und Fremdwelt, sowohl affektiv als auch kognitiv, entwickelt (Hellwig 2000: 160; Gutzmann 2005: 27). Zu diesem vertieften Verständnis kann die persönlich-literarische Erfahrung maßgeblich beitragen. Kulturkompetenz im Unterricht bedeutet, dass Schüler für ein Gespräch bzw. den Dialog über Kulturgrenzen hinaus neben Sprach- und Inhaltskompetenz auch interkulturelle Kompetenz haben müssen (Bach 1998: 195). Kulturdidaktik ist, nach Meyer,

die Fähigkeit, sich adäquat und flexibel gegenüber den Erwartungen der Kommunikationspartner aus anderen Kulturen zu verhalten, sich der kulturellen Differenzen und Inferenzen zwischen eigener und fremder Kultur und Lebensform bewusst zu werden und in der Vermittlung zwischen den Kulturen mit sich und seiner kulturellen Herkunft identisch zu bleiben (zitiert in Bach 1998: 196).

Im folgenden Abschnitt soll kurz die Entwicklung der Kulturdidaktik (nach Gehring 2005: 10ff.) skizziert werden. Im Laufe der Zeit hat sich Kulturunterricht stark gewandelt, und heute hat sich im Wesentlichen das Konzept des interkulturellen Lernens durchgesetzt (Müller-Hartmann & Schocker-von Dithfurt 2004: 109). Es werden 5 Ansätze unterschieden, nach denen Kulturunterricht stattfinden kann: Der landeskundliche Ansatz setzt thematische Schwerpunkte bei der Beschäftigung mit einer Zielkultur, z.B. im Hinblick auf Geschichte, geographische Aspekte etc. Dieser Ansatz ist heute umstritten, weil die Vermittlung reinen Faktenwissens unkritisch und oft oberflächlich ist (Müller-Hartmann & Schocker-von Dithfurt 2004: 110). Der landeskulturelle Ansatz konstruiert lernnahe Szenarien aus der Zielkultur, um den Lernenden ein der Zielkultur ähnliches Umfeld zu bieten, doch weil hauptsächlich relativ oberflächliche Themen der Alltagswelt behandelt werden, gilt der Ansatz heute als eher konservativ. Im pragmatischen Ansatz sind Lernprozesse und Kulturkunde direkt verbunden, indem die landeskundliche Information eingesetzt wird, um sprachliche Lernprozesse zu unterstützen. Der sachfachorientierte Ansatz nutzt Englisch nur als Vermittlungssprache und betont fachliche Inhalte (z.B. bilingualer Unterricht). Der kulturdidaktische bzw. interkulturelle Ansatz schließlich misst den kulturellen Inhalten große Bedeutung zu, um ein Verständnis der Zielkultur zu vermitteln. Es ist dieser letzte Ansatz, dem Konzept der cultural studies nahe verwandt, der einem modernen Fremdsprachenunterricht unter dem Leitziel interkultureller Handlungsfähigkeit entspricht, und deswegen soll auch dieser Ansatz den Hintergrund bilden, um das Thema der australischen Aborigines angemessen zu behandeln. Eine Kulturdidaktik für den Literaturunterricht sollte einen solchen interdisziplinären Ansatz haben, weil er in besonderem Maße geeignet erscheint, kulturelle Inhalte aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten.

2.1.3 Postkoloniale Theorie und didaktische Umsetzung im Literaturunterricht

Der Kolonialismus, also die weltweite Landnahme durch europäische Länder während der letzten Jahrhunderte, hat viele Staaten weltweit geprägt. Seit der Migration der weißen Europäer in alle Teile der Erde gab es nicht mehr nur die eine Kultur, sondern das kulturelle Zentrum wurde aufgelöst und verstreute sich in diffusem Muster (Smith 2004: 245). Doch im 20. Jahrhundert, in dem die ehemaligen Kolonien nach und nach mehr Selbständigkeit erlangten, änderten sich die Bedingungen in den Kolonien zu Gunsten wachsender Selbständigkeit und Autonomie. Auch in der Literaturwissenschaft wird seit dem 20. Jahrhundert dieser Trend übernommen, indem die Literaturen der ehemaligen Kolonien als eigene Entwicklungen anerkannt werden (Rehberger & Stilz 2004: 141f.). Postkoloniale Theorie hat sich aus interdisziplinärer Forschung entwickelt und beschäftigt sich mit geschichtlichen, politischen, philosophischen, sozialen, kulturellen und ästhetischen Strukturen kolonialer Herrschaft und kolonialen Widerstands (Sardar & van Loon 1997: 115; Antor 1999: 256; Ching-Liang Low 1999: 463). Die Literaturen wurden zunächst unter dem Begriff der „Commonwealth Literature“ zusammengefasst, welcher 1989 mit Erscheinen des Werkes The Empire Writes Back (Ashcroft et all. 1989), einem ersten Versuch einen Überblick über den postkolonialen Diskurs zu geben, durch „postkoloniale Literatur“ ersetzt wurde. Jedoch fällt es Literaturtheoretikern nach wie vor schwer den Begriff zu fassen, weil eine so große Vielzahl an Werken aus den unterschiedlichsten Kolonien durch diesen Begriff zusammengefasst wird (Rehberger & Stilz 2004: 142). Im Folgenden soll der Versuch gemacht werden, anhand von Definitionen und Charakteristika das Konzept dieses Ansatzes zu verdeutlichen.[5] Zunächst einmal kann das Konzept in chronologischer Hinsicht definiert werden, und zwar entweder als Klassifikation aller Werke, welche auf die Phase der Kolonisierung folgen, oder als alle Werke seit Beginn der Kolonisierung (Antor 1999: 246). Weiterhin kann Postkolonialismus aber auch als Ausdruck einer oppositionellen Haltung gegenüber imperialen und kolonialen Praktiken und Diskursen gedeutet werden. Dies würde dann jede Literatur meinen, die eine Reaktion auf Kolonialismus darstellt, und somit die Phase des Kolonialismus mit einschließen. Das Problem dieser Definition besteht darin, dass sich nicht alle postkolonialen Texte auf die Phase der Kolonisierung beziehen (Antor 1999: 246). In ihrem richtungsweisenden Werk definieren Ashcroft et all. Postkolonialismus sowohl in zeitlicher Hinsicht, indem sie einen Beginn, nämlich die Kolonisierung, festlegen, als auch in oppositioneller Hinsicht, indem sie alles als ‚postkolonial‘ bezeichnen, was eine kulturelle Reaktion auf den Kolonialismus darstellt:

We use the term ‚post-colonial‘ [...] to cover all the culture affected by the

imperial process from the moment of colonization to the present day. This is because there is a continuity of preoccupations throughout the historical process initiated by European imperial aggression (Ashcroft, Griffiths & Tiffin 1989: 2).

Der Konflikt zwischen Kolonisator und Kolonisiertem steht für Ashcroft u.a. im Zentrum postkolonialer Theorie. Diese Definition ist allerdings problematisch, weil ‚postkolonial‘ hier alle Entwicklungen seit Beginn der Kolonisation meint. Dann allerdings fehlt eine klare Abgrenzung zwischen Kolonialismus und Postkolonialismus (Rehberger & Stilz 2004: 144). Doch an anderer Stelle wird ein Unterschied zwischen beiden Literaturen gemacht, indem der kolonialen Einheit postkoloniale Vielfalt in der Literatur gegenübergestellt wird (Rehberger & Stilz 2004: 151). Ein weiteres Problem ist, dass die ehemaligen Kolonien und damit die in diesen Kolonien entstandenen Literaturen völlig verschieden voneinander sind, was auf die Form der Kolonisation zurückzuführen ist. Das Werk eines indigenen Afrikaners, welcher gezeichnet ist durch jahrhundertelange Unterdrückung und Sklaverei, wird eine ganz andere Form haben als das Werk eines Aborigines, welcher ganz andere Erfahrungen mit der Kolonisierung gemacht hat. In jüngerer Zeit jedoch verliert die zeitliche Dimension immer mehr an Bedeutung. 1994 hat Bhabha Postkolonialismus nicht als historische Kategorie definiert, sondern als ein Konzept der Moderne, welches die Rassen und Minderheiten der Welt zum Thema hat, sich mit kultureller Vielfalt, sozialer Autorität und politischer Diskriminierung befasst und nicht als eine holistische Strömung betrachtet werden darf (Lazarus 2004: 3). Ein so verstandener Postkolonialismus basiert auf einem pluralistischen, heterogenen, postmodernen und zeitlichem Wandel unterworfenen Weltbild.

Ein solches Konzept von Postkolonialismus stellt diesen in Relation zum Postmodernismus. Über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen diesen beiden zur Zeit aktuellen Konzepten herrscht in der Wissenschaft kein Konsens. Obwohl auch der Postmodernismus sehr schwer zu definieren ist, weil er in der Vielfalt der unter diesem Begriff zusammengefassten Erscheinungen der Literatur und anderer kultureller Güter (Kunst, Architektur etc.) so heterogen ist, haben Postkolonialismus und Postmodernismus einige Gemeinsamkeiten: Autoreflexivität, Diskontinuität (Zeit ist keine lineare Sequenz von Ereignissen, Raum keine lineare Aufeinanderfolge von Orten mehr) und polyperspektivische Erzählweisen treten in beiden Strömungen auf (Antor 1999: 253; Rehberger & Stilz 2004: 154). Der wesentliche Unterschied zwischen den Strömungen liegt weniger in der Art der Darstellung als vielmehr in der Sichtweise des Rezipienten auf diese Darstellung:

Während die postmoderne Lesart eines Textes die Verspieltheit und die fragmentarischen Aspekte betont, steht bei einer postkolonialen Lesart die subversive Befreiung von kolonialer Fremdbestimmung und die kreative Neuentdeckung ursprünglicher Ausdrucksformen sowie die kulturspezifische Relevanz, die der Text hervorruft, im Vordergrund (Rehberger & Stilz 2004: 154).

Ein literarischer Text kann also gleichzeitig sowohl der postmodernen als auch der postkolonialen Literatur zugerechnet werden. Obwohl diese Unterscheidung sehr umstritten ist bleibt festzuhalten, dass Postmodernismus und Postkolonialismus in einer komplexen Beziehung zueinander stehen (Palmer & den Hartog 2005: 286).

[...]


[1] Der Einfachheit halber wird im folgenden immer nur vom Lehrer und Schüler in der maskulinen Form die Rede sein, die weiblichen Formen jedoch selbstverständlich eingeschlossen.

[2] Deswegen werden Roman und Film in der Folge im Sinne dieses erweiterten Textbegriffs, aber auch einem erweiterten Medienbegriff, als Werke, Medien oder Texte bezeichnet.

[3] Dies entspricht der bereits angesprochenen literarischen Strömung des Konstruktivismus, vgl. 2.1.1.

[4] Dies entspricht dem Ansatz des New Historicism, vgl. 2.1.1.

[5] Wegen der Vielzahl an existierenden Richtungen innerhalb der postkolonialen Theorie können dies nur grundlegende, den meisten Richtungen gemeinsame Eigenschaften sein (für einen relativ detaillierten Überblick über die Entwicklung der postkolonialen Theorie vgl. Ching-Liang Low 1999: 464ff.).

Ende der Leseprobe aus 77 Seiten

Details

Titel
Australien im Englischunterricht der Sekundarstufe II. Doris Pilkingtons "Rabbit-Proof Fence" und Philip Noyce' "Long Walk Home"
Hochschule
Universität zu Köln  (Englisches Seminar)
Note
1,3
Autor
Jahr
2006
Seiten
77
Katalognummer
V69023
ISBN (eBook)
9783638595223
ISBN (Buch)
9783640238040
Dateigröße
762 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
Australien, Englischunterricht, Sekundarstufe, Doris, Pilkingtons, Rabbit-Proof, Fence, Philip, Noyce, Long, Walk, Home
Arbeit zitieren
Charlotte Beyer (Autor:in), 2006, Australien im Englischunterricht der Sekundarstufe II. Doris Pilkingtons "Rabbit-Proof Fence" und Philip Noyce' "Long Walk Home", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/69023

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