Biografische Erfahrung und gesellschaftliche Transformation - Eine qualitative Studie zum Bedeutungswandel von Erwerbsarbeit (Theorie und Auswertung)


Magisterarbeit, 2006

128 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1. Ansatzpunkte
1.1. ‚Arbeit’ in den Systemen
1.2. ‚Arbeit’ in Narrationen
1.3. Fragen und Interessen

2. Forschungsstand

3. ‚Arbeit’ und ‚Biografie’ – Begriffliche Orientierungen
3.1. Bedeutungsgehalt von Arbeit
3.1.1. Arbeit als wesentliches Moment der Daseinserfüllung
3.1.2. Vergesellschaftungsfunktionen der Arbeit
3.2. Eingrenzung des Begriffs ‚Beruf’
3.3. ‚Biografie' im Wandel

4. Die Arbeitsgesellschaft DDR
4.1. Die Arbeitswelt der DDR
4.1.1. Das DDR-Erwerbssystem
4.1.2. Institutionelle Vorrausetzungen des Erwerbslebens
4.1.3. Der Betrieb als Zentrum der Arbeitsgesellschaft
4.2. „Das spezifische Zeit- und Sozialregime“
4.2.1. Verhaltene Freizeit
4.2.2. „Einheit“ Familie
4.3. Vorherbestimmte Bahnen?

5. „Der beschleunigte Wandel“
5.1. Ein historisches Ereignis und seine Auswirkungen
5.2. Transformation
5.3. Der Wandel unter der Lupe
5.3.1. Der Wandel am Arbeitsplatz
5.3.2. Der Wechsel des Berufs
5.3.3. Der Ausschluss aus dem Erwerbsleben
5.3.4. Ein Überblick zum Arbeitsmarkt 1989 bis 1994
5.4. Die Familie als Lückenbüßer?

6. Die Ostdeutschen im vereinigten Deutschland
6.1. Der Wandel geht weiter
6.2. Der Arbeitsmarkt nach 1994
6.2.1. Problemgruppen des Arbeitsmarktes
6.2.2. Der Untersuchungsort Potsdam
6.3. Die Sozialstruktur
6.4. Auf der Suche nach neuen Formen der sozialen Einbindung
6.4.1. „Ostdeutsche Identität“?
6.4.2. Die Situation am Arbeitsplatz und in der Freizeit
6.4.3. Familie als Netzwerk
6.5. Jugend in Ostdeutschland
6.6. Bildung nach der Vereinigung

7. Das Themenfeld der Untersuchung
7.1. Das ‚Gepäck’ der DDR
7.1.1.Schweres Gepäck
7.1.2. Leichtes Gepäck
7.2. Ohne Gepäck
7.3. Subjektives Erfahren der Arbeitswelten

8. Methodische Überlegungen
8.1. Vorzüge der qualitativen Methode
8.2. Das Erhebungsinstrument: narratives Interview mit Leitfaden
8.3. Der Leitfaden
8.3.1. Der Aufbau des Leitfadens
8.3.2. Die Erprobung des Leitfadens
8.3.3. Der Einsatz des Leitfadens im Interview
8.4. Feldzugang
8.5. Die Gesprächssituation
8.6. Die Auswertung
8.7. Schwierigkeiten und Fazit

9. Regelmäßigkeiten und Besonderheiten
9.1. Eine erste Abstraktion
9.2. Erwerbslaufbahn und Arbeitslosigkeitserfahrung
9.2.1. Die Erwachsenen vor und nach der Wende
9.2.2. Die jungen Erwachsenen nach der Wende
9.3. Arbeitsmarktverhalten und Chancenbewertung auf dem Arbeitsmarkt
9.4. Soziale Einbindung und Alltagsgestaltung
9.4.1. Familie und Partnerschaft
9.4.2. Freunde und Kollegen
9.4.3. Thematisierung des Geschlecht
9.4.4. Freizeitverhalten
9.4.5. Bindung an die Heimat
9.5. Selbst- und Gesellschaftsbild
9.6. Das „Spiel“ zwischen den Erwachsenen und jungen Erwachsenen

10. Typisierung von ‚Arbeit’
10.1. Eine zweite Abstraktion: Typenbildung
10.2. Typ 1: Arbeiten mit Gemeinschaft
10.2.1. Die Funktion des Typs in der DDR-Gesellschaft
10.2.2. Das Arbeitsverhalten im Wandel
10.2.3. Das Leiden des Typs in der Moderne
10.2.4. Zusammenfassende Beschreibung des Typs
10.3. Typ 2: Arbeiten als Tätigsein
10.3.1. Die Funktion des Typs in der Moderne
10.3.2. Das Arbeitsverhalten
10.3.3. Das Leiden des Typs an der Arbeit
10.3.4. Zusammenfassende Darstellung und Aussichten
10.4. Typ 3: Arbeiten gegen Lohn
10.4.1. Die Beschreibung des Typs
10.4.2. Die Funktion von Arbeit
10.4.3. Das Arbeitsverhalten
10.4.4. Das Leiden an der Arbeit
10.4.5. Zusammenfassende Darstellung

11. Die Typen im Wandel
11.1. Typen von Arbeit und Gesellschaftssysteme
11.1.1. Typen und die Arbeitsgesellschaft
11.1.2. Die Typen und das „Ende der Arbeitsgesellschaft“
11.1.3. Wie „Avantgardistisch“ sind diese Typen?

12. ‚Arbeit’ in der Erwerbsbiografie neu denken

13. Ein vorläufiger Abschluss

14. Literaturverzeichnis

Tabellen:

Tabelle 1 „Merkmale der Interviewten“

Tabelle 2 „Typen des Arbeitens“

Abkürzungsverzeichnis:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Ansatzpunkte

1.1. ‚Arbeit’ in den Systemen

„... ein Job ist nicht nur dafür da, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, aber is halt auch der größte Teil des Lebens, also muss auch Spaß machen.“ Caro[1]

„...erst mal wollte ick arbeiten unbedingt. War ja nun nichts anderes gewöhnt, und det ist ja nun so ein bisschen meine Welt nicht, zu Hause zu sitzen“ Elena[2]

„Es geht keinem gut, keiner geht mehr gerne zur Arbeit (…) Also wer da Arbeit hat, der ist für den anderen gar nicht da. Katrin[3]

„Die Arbeit ist in allen Gesellschaftsformationen die entscheidende und verläßliche Existenzbedingung der Menschen, Grundbedingung ihres Lebens (…) Die Entwicklungsmöglichkeiten des gesellschaftlichen Lebens der Menschen (…) wurden durch die Arbeit, durch die Herstellung und den Gebrauch von Arbeitsmitteln, durch die Organisation der gesellschaftlichen Verhältnisse selbst festgelegt und realisiert. Die Art, wie die Menschen produzieren, ist zugleich eine bestimmte Art ihres Lebens, eine bestimmte Lebensweise der Menschen. Von der Arbeit, ihrem spezifischen Charakter in den verschiedenen Entwicklungsetappen der Gesellschaft hängen letztlich alle übrigen gesellschaftlichen Erscheinungen und zwischenmenschlichen Beziehungen ab.“ (Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Soziologie 1969: 21)

Die hohe Bedeutung von Arbeit kommt in diesen Sätzen zum Ausdruck: im marxistisch-leninistischen Wörterbuch aus der Systemperspektive, in den subjektiven Aussagen der ehemaligen DDR-Bürger und Ostdeutschen aus ihrer lebensweltlichen Erfahrung. Der hohe Wert von Arbeit stand auch jenseits der Beschwörungen von Arbeiterklasse, Arbeitskollektiv und Arbeitsmoral lange außer Frage. Die Vollbeschäftigung und deren dauerhafte Sicherung waren Hauptziel der Politik in den ‚kapitalistischen’ und den ‚sozialistischen’ Staaten. Wenn auch mit unterschiedlichen Mitteln wurden in allen ‚Industriegesellschaften’ Formen der Produktion und Arbeitsorganisation durchgesetzt. Allen gemeinsam war das Ziel, durch ständige Steigerung der Arbeitsproduktivität ein dauerhaftes Wachstum zu schaffen. Dieses sollte allgemeinen Wohlstand schaffen und soziale Sicherung ermöglichen. In den industriegesellschaftlichen Arbeits- und Lebensweisen schien sich eine ‚Konvergenz’ abzuzeichnen.

Das war eine Idee, die in der und durch die sozialwissenschaftliche Literatur Verbreitung fand. In der Realität verlor sie mit dem Ölpreisschock in den 70er Jahren an Gültigkeit. Höchst unterschiedliche Bedingungen zeichneten sich ab: Statt der Vollbeschäftigung wurde in vielen westlichen Staaten, so auch in der Bundesrepublik, strukturelle Arbeitslosigkeit zum Dauerzustand. Dahrendorf konstatierte das „Entschwinden der Arbeitsgesellschaft“, und die Deutsche Gesellschaft für Soziologie diagnostizierte 1982 die „Krise der Erwerbsgesellschaft“. Themen, die seitdem Dauerbrenner der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Literatur sind.

Die sozialistischen Gesellschaften gerieten darüber in Vergessenheit. Zwar herrschte dort weiterhin Vollbeschäftigung, von einer Systemkonkurrenz, die in den 60er Jahren noch in Aussicht gestellt wurde, konnte man aber nicht mehr sprechen: Große und wachsende Rückstände in der wirtschaftlichen Produktivität gingen einher mit einer abnehmenden Qualität der Konsumgüter und Versorgungsproblemen.

So begegneten sich, als sich 1989 die Grenzen öffneten, zwei Gesellschaften. Sie wussten nur noch wenig voneinander, und ihre Lebensweisen unterschieden sich dort beträchtlich wo man glaubte, sich nahe zu stehen: Im Alltag industriegesellschaftlicher Erwerbsarbeit. Missverständnisse häuften sich und die mit der ‚Wende’ geweckten Erwartungen wurden –vor allem auf dem Arbeitsmarkt – herbe enttäuscht.

So mein Eindruck, den ich als mit meinen Eltern von Niedersachsen nach Brandenburg übergesiedelte Schülerin in vielen Gesprächen mit Lehrern, Eltern, Verwandten und Bekannten meiner dort aufgewachsenen Mitschüler[4] gewonnen habe. Diese zunächst diffuse Wahrnehmung hat mich motiviert, der allgemeinen Frage nach der Bedeutung von Erwerbsarbeit für die tätigen und nicht-tätigen Personen unter einer spezifisch zeitgeschichtlich-soziologischen Perspektive nachzugehen. Lässt man die marxistisch-leninistische Dogmatik beiseite und versteht man die Marxsche These, die Art, wie die Menschen produzieren, sei zugleich eine bestimmte Art ihres Lebens, eine bestimmte Lebensweise, nicht anthropologisch, sondern historisch und soziologisch, so kann sie als Schlüssel zu dieser Frage dienen.

Auf dem historisch soziologischen Hintergrund frage ich nach dem subjektiven Bedeutungswandel von Arbeit in Biografien von Ostdeutschen, die in der DDR aufwuchsen und den Systemwandel erlebten, und solchen, die nach der Wende aufgewachsen sind.

1.2. ‚Arbeit’ in Narrationen

Dass dieser spezifische Strukturwandel in der Erwerbsarbeit alltagsrelevant ist, zeigt ein Blick in Roman und Film. Schilderungen, wie in dem Roman „Zimmerspringbrunnen. Ein Heimatroman“[5], der Lebensgeschichte eines Arbeitslosen, der sich in der ‚neuen Welt’ durchschlägt, sind musterhaft: Der Protagonist des Romans erhält die Chance, als Vertreter Zimmerspringbrunnen in Ost-Berlin zu verkaufen. Dabei entdeckt er, wie man aus der Vergangenheit Profit schlagen kann. Unter Rückgriff auf Symbole der DDR verwandelt er den ‚neutralen’ Zimmerspringbrunnen in ein DDR-Relikt – dieser wird zum Geschäft seines Lebens. Vom Leser aber verabschiedet er sich – vereinsamt und allein gelassen - indem er am Bahnhof in der Gemeinschaft der Obdachlosen verschwindet. Auch der Film „Netto“[6] berichtet über einen „Wendeverlierer“. Dieser versucht, seine Biografie mit der Gegenwart zu verknüpfen: ‚Sicherheit’ ist seine Zukunftsbranche. Sein Sohn steht ihm beim Verfassen von Bewerbungsschreiben zu Seite. Der Versuch seine Biografie mit der Gegenwart zu verknüpfen, scheitert, der Protagonist bleibt, leicht schizophren, in der Vergangenheit hängen. Solche erzählenden Darstellungen der gegenwärtigen Situation und der Schicksale sind zahlreich[7], sie geben uns einen Eindruck von dem Thema mit dem sich diese Arbeit beschäftigt. Menschen verschiedener Altersklassen, aufgewachsenen in unterschiedlichen Gesellschaftssystemen wie der Vater und sein Sohn, der in einer Gegenwart lebt, die dem Vater verschlossen bleibt und dem Sohn die Welt erst eröffnet.

Im Zentrum steht dabei die Bedeutung von Arbeit – Zwang oder Leidenschaft? Selbstverwirklichung oder Qual? Lohn oder Kommunikation? Es sollen Erklärungen gesucht werden, die ein Verständnis eröffnen für gegenwärtige und zukünftige Arbeitskonzepte. Zentrale Frage dieser Arbeit soll dabei sein:

Wie verändert sich die Bedeutung von Arbeit aus der Perspektive der Menschen und ihrer Biographien vor dem Hintergrund des historischen gesellschaftlichen Wandels?

Ich möchte daher zum einen den sozialen Wandel[8] bezüglich seiner Auswirkungen auf die Arbeitswelt untersuchen und zum anderen dessen Wirkungen aus der subjektiven Perspektive erfassen. Die Transformation des staatssozialistischen Systems erfolgte unter beschleunigten und radikalisierten Umständen. Mit der Wende waren alle bis dahin gültigen Verhältnisse in Frage gestellt, darunter das Verhältnis von Arbeit und Biografie, von Erwerbsarbeit und Nicht-Erwerbsarbeit, von Geschlechterordnungen und -arrangements. Auf einen radikalen Wandel war niemand vorbereitet. Angesichts der sich auch ohne ihr Zutun rasant verändernden Verhältnisse gerieten die Lebenserfahrungen der Menschen, ihr „biografisches Gepäck“, in eine Schieflage.

Die Erfahrungen der Transformation bilden auch eine Projektionsfläche für das, was die Menschen in der ‚Zweiten Moderne’ (Beck 1999) noch erwartet[9]. Denn diese müssen sich an „die Idee der Vielberuflichkeit und des lebenslangen Lernens“, an die „Erwartung einer wachsenden Unsicherheit in der Arbeitswelt bei gleichzeitig steigenden Flexibilitätsanforderungen und Konkurrenzen am Arbeitsmarkt gewöhnen“ (Bonß 2002: 16). Die Entwicklungen in Ostdeutschland erweitern den Blick auf die gegenwärtigen gesellschaftlichen Prozesse – auf das sozial Mögliche[10].

1.3. Fragen und Interessen

„Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht unter von ihnen selbst gewählten Umständen“ (Weihrich 1999: 216). Sozialer Wandel lässt sich deshalb nicht auf die Wandlungen in den „objektiven“ Strukturen oder Veränderungen in der „subjektiv“ erfahrenen und gedeuteten Lebenswelt reduzieren. Deshalb soll die folgende Untersuchung deren Wechselwirkung nachzeichnen. Sie gliedert sich in zwei Teile – die ‚Systemperspektive’ und die ‚Subjektperspektive’ des Bedeutungswandels von Arbeit. Dabei setze ich bei den DDR Erfahrungen an, denn diese habe die Menschen „mit tiefsitzenden Blockaden und subjektiven Modernitätsdefiziten“ ausgestattet, so dass sie

„im Unterschied zu ihren westdeutschen Schicksalsgenossen erhebliche Schwierigkeiten haben, als selbstverantwortliche und selbstständige Arbeitsmarktakteure aufzutreten, zu handeln und sich aus ihrer mißlichen Lage zu befreien“ (Vogel 2005: 109).

Hinter dieser Überlegung steht die Sozialisationsthese[11]. Sie begreift die Systembedingungen als ‚Altlasten’, die in Eigenarten von Einstellungen angesammelt sind. Doch kann man davon ausgehen, dass die DDR eine solch prägende Kraft in jeden Lebensbereich hinein hatte? Sind diese ‚ostdeutschen’ Eigenarten nicht auch in hohem Maße der Erfahrung des Systemzusammenbruchs geschuldet? Die Anomiethese[12], auf deren Grundlage ich mich im einem weiteren Kapital dem „beschleunigten Wandel“ widme, erklärt die „Ostdeutschen zu kollektiven Verlierern der Transformationskatastrophe“ und macht damit den Zusammenbruch zur Ursache aller Eigenarten (Beer u.a. 1997: 77). Die Transformation bewirkte einen Wandel in allen Lebensbereichen, insbesondere aber auf dem Arbeitsmarkt. Weiteren Erklärungsanspruch erhebt die Situationshypothese[13]: Das Erleben einer regionaler Marginalisierung gehe einher mit dem Gefühl des „Bürgers zweiter Klasse“ und sei ausschlaggebend für die Rückbesinnung auf die Handlungs- und Wertkonzepte der DDR. (Vgl. Mayer/Solga/Diewald 1997: 76) Die Lebenskonzepte der Bürger scheinen hochgradig abhängig vom System, – und jedes System transportiert bestimmte Annahmen in bezug auf die Bedeutung von Erwerbsarbeit. Die eindimensionale Erklärung des gewandelten Arbeitsbegriffs auf Grund nur einer These – der Situations-, Anomie- oder Sozialisationsthese – entspricht nicht den mehrdimensionalen Erfahrungen und Entwicklungen, die nur entlang der historischen Entwicklung erfassbar sind. So rechtfertigt sich die Konstruktion erster Annahmen bezüglich der gewandelten Bedeutung von Arbeit in Kapitel 7. Nicht nur, wenn

„die makrostrukturellen Verweisungszusammenhänge wie Modernisierung und wirtschaftlicher Strukturwandel fragwürdig werden, müssen unter anderem auch individuelle Schicksale nunmehr explizit und systematisch mit strukturellen Entwicklungen in Beziehung gesetzt werden“ (Lutz 1996: 9).

Auch in anderen Fällen ist die Wechselwirkung zwischen Struktur und individuellem Erleben und Erfahren aus beiden Blickwinkeln zu erfragen. Konnte die DDR ihren Anspruch der allumfassenden Alltagskontrolle durchsetzen? Waren die Menschen den Umwälzungen wirklich vollständig ausgeliefert? Hat die aktuelle Arbeitsmarktsituation Einfluss auf die Bedeutung, die Individuen der Arbeit zuschreiben?

Welche Leistungen Menschen vollbringen müssen, um mit einem Strukturwandel dieser Art umzugehen, ist nur aus ihren Lebensgeschichten zu erfahren. Ob nun wirklich die DDR, die Transformation oder/ und die Situation einen solch prägenden Einfluss auf die Werte, Handlungen und Verhaltensweisen der Menschen hat/ haben, lässt sich nur über die subjektive Vergleichsperspektive ermitteln. Deshalb greife ich im zweiten Teil der Arbeit zurück auf jene Konstellation, der sich auch der Film „Netto“ bedient: Für den sicherheitsbedürftigen Vater steht die Elterngeneration, die alle drei ‚Epochen’ er- und gelebt hat, für den helfenden Sohn stehen die jungen Erwachsenen der Nach-Wende-Zeit. Ist die Systemerfahrung dabei eine prägende Determinante für den Arbeitsbegriff? Den Strukturwandel und seine Auswirkungen zu explizieren, eröffnet ein kulturelles Verständnis für die Lebensläufe und Biografien der Ostdeutschen. Es ist davon auszugehen, dass wir nur im Zusammenspiel von Orientierung im Alltag, informell vermittelten Traditionen und institutionalisierter Erziehung die Rahmenbedingungen für die Darstellungen der Menschen finden. (Hormuth/Heller 1996: 157) Ich möchte die individuellen Erfahrungen im Strukturwandel der Arbeitswelt, von der DDR bis zur Gegenwart, betrachten. Aus diesem Grund wird der zweite Teil der Arbeit mit Erzählungen von Vertretern der genannten Gruppen[14] – Vater und Sohn - bestritten. Dabei möchte ich erst einmal, nahezu rein deskriptiv, die Besonderheiten und Regelmäßigkeiten ihres Arbeitslebens und ihrer Arbeitsverständnisse vorstellen. Welche Gestaltungsspielräume hatten die älteren, erwerbstätigen Erwachsenen im Systemwandel? Welche Auswirkungen hat die momentane Arbeitsmarktsituation im Osten Deutschlands auf den Arbeitsbegriff der jungen Erwachsenen? Die Analyse der Erzählungen greift zurück auf die Systembedingungen und schließt mit einer Typisierung der Arbeitsbedeutungen. Spätestens an diesem Punkt muss sich zeigen, ob überhaupt von einem Bedeutungswandel von ‚Arbeit’ gesprochen werden kann. Die Bürger der Transformationsstaaten mussten Enormes leisten: sich neue Fertigkeiten und Handlungsmustern aneignen. Sie haben damit eine Leistung vollbracht, die zahlreichen Prognosen zufolge in Zukunft jedem Arbeitnehmer abverlangt wird: Es ist von hohem Interesse, wie sie diesen Prozess durchschritten haben, welche Verluste sie erlitten haben und wie sie sich in der Gegenwart wiederfinden. Aus der Betrachtung des Transformationsprozesses kann sozialwissenschaftliche Erkenntnis gewonnen werden, die für den Umgang mit Wandel von höchstem Interesse sein sollte. (Vgl. Burkart 2003)

2. Forschungsstand

Der soziale Wandel im Osten Deutschlands ist in zahlreichen Publikationen analysiert worden. Offenkundig ist die Attraktivität der Themen Arbeitslosigkeit, Identitätsbildung und Wandel der Sozialstruktur. Bisher wurden die Haltungen, Handlungsstrategien und Deutungsmuster zumeist in Hinblick auf die Wiedervereinigung untersucht, weitgehend offen ist, wie diese sich im Arbeitsbegriff der Menschen weitertragen. (Mayer/Diewald 1996: 8; Wiesenthal 1996: 8)

Überblickt man die Forschung zum Thema Erwerbsarbeit in Ostdeutschland, so handelt es sich im überwiegenden Teil um Studien[15], die sich mit der Erwerbslosigkeit oder mit den Veränderungen der Werte, Meinungen und Einstellungen beschäftigen[16]. Ausgangspunkt der Erforschung des wirtschaftlichen Wandels sollte jedoch die Meso- und Mikrooebene sein (Pohlmann 1996: 192) Der Lebensbereich Arbeit ist zunächst einmal in der Mikroebene zu lokalisieren, die meine Untersuchung näher in den Blick nehmen wird. Dabei kann ich auf verschiedenste wissenschaftliche Publikationen zurückgreifen, aber auch auf Strukturdaten, Statistiken, Gesetzestexte einbeziehen; meine primären Quellen sind die subjektiven Erzählungen von Ostdeutschen.

Beschreibungen der Arbeitswelt in der DDR bieten mehrere Veröffentlichungen, u.a. Kaelble/Kocka/Zwahr mit der „Sozialgeschichte der DDR“ (1994). Zahlreiche, teilweise alltags- und gesellschaftsbezogene historische Studien erweitern den Zugang zur Geschichte der DDR. Von hohem, nicht nur historischem Interesse sind zudem Vor-Wende Publikationen: Wolfgang Schrimpff, der 1983 detailliert das Beschäftigungssystem der DDR untersucht hat, und der Sozialreport aus dem Jahre 1990 (Winkler), dessen Datenerhebung in der Umbruchszeit erfolgte.

Die Aufarbeitung des Transformationsprozesses ist breit angelegt mit zwei markanten Schwerpunkten: 1. Einzeluntersuchungen, die hier immer wieder eine Rolle spielen in Form der Berichte der KSPW, 2. große Bevölkerungsumfragen, häufig mit Panelcharakter, darunter: Wohlfahrtsurveys-Ost von 1990, 1993 und seit 1998 für Gesamtdeutschland[17] ; SOEP-Ost von 1991/92 und 1998/1999; BIBB-IAB-Ausbildungs- und Erwerbsverlaufsuntersuchung von 1991/92. Für den Wandel der Sozialstruktur ist auch im Osten Deutschlands Rainer Geißler einer der wichtigsten Referenzautoren. Das ostdeutsche Pendant, das sozialwissenschaftliche Forschungszentrum Berlin-Brandenburg e.V. (SFZ), veröffentlichte spezifische Studien zur Sozialstruktur (u.a. Winkler 1998a). Zum größten Teil vergleicht die Literatur transformationsbedingte Arbeitslosigkeit[18] mit ‚klassischer’ westdeutscher Arbeitslosigkeit. Einige Zeit bestimmte diese das Urteil, die DDR-Sozialisation sei wirkungslos geschuldet war dies einer kurzschlüssigen Übertragung westdeutscher Kategorien auf den ostdeutschen Kontext. (Burkart 2003: 295; Gensicke 1998: 172)

Beliebt ist der Umbruch als Untersuchungsfeld der Biografieforschung: Minx (1997) bezieht sich auf „Berufsbiographien“ und Pollack (2003) auf die „Ausgrenzungsprobleme“. Alheit untersucht die „zögernde Ankunft im Westen“ aus der Generationenperspektive (2004). Mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts stockt das Interesse am Transformationsprozess, Neuerscheinungen sind häufig Sammelwerke, die auf Erhebungen aus den frühen 90er Jahren rekurrieren. Stellvertretend sei auf zahlreiche Veröffentlichungen von Vogel/Kronauer, die eine qualitative Erhebung Anfang der 90er Jahre referieren, verwiesen. Seit Mitte der 90er Jahren ist zudem eine Fokussierung auf die Integrationsproblematik in Verbindung mit der Identitätsbildung zu beobachten. (Vgl. Gensicke 1998; Heitmeyer 2002; Pollack 2003) Dass die Thematik des Wandels in Ostdeutschland wieder von Interesse ist und weiterhin sein wird, zeigen neueste Forschungsvorhaben: An der TU Berlin wurde im November 2005 mit der Zeitschrift „Berliner Debatte Initial“ der Innovationsverbund Ostdeutschlandforschung begründet die DGS-Sektion „Biographieforschung“ lädt gemeinsam mit dem SFB „Gesellschaftliche Entwicklung nach dem Systemumbruch“ zur Tagung zum Thema „Die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen in Biografien und Gesellschaften“ ein. Soweit der kurze Überblick über das meine Interessen betreffende Forschungsfeld, es tangiert darüber hinaus weitgefasstere Themenbereiche wie Berufsforschung und Arbeitsmarktforschung.

3. ‚Arbeit’ und ‚Biografie’ – Begriffliche Orientierungen

3.1. Bedeutungsgehalt von Arbeit

Arbeit bezeichnet allgemein eine bewußte, zielgerichtete Handlung des Menschen zum Zweck der Existenzsicherung wie der Befriedigung von Einzelbedürfnissen. Die Konstruktion sozialer und personaler Identität ist oft auch an Arbeit gebunden. Die Bedeutung von Arbeit entspringt dem Wechselspiel zwischen System und Subjekt. Diese grenze ich zu Definitionszwecken rein analytisch voneinander ab. Die Diskussion, ob Arbeit ein anthropologisches Grundbedürfnis sui generis sei oder ob sich hinter diesem Bedürfnis nach Arbeit eine revidierbare kulturelle Entwicklung verbirgt, wird dabei außen vor stehen müssen. Kennzeichne ich fortan die Bedeutungsdimensionen von Arbeit[19], so bestimme ich diese in Hinblick auf die moderne Gesellschaft und greife nicht zurück auf kulturhistorische Kategorien.

3.1.1. Arbeit als wesentliches Moment der Daseinserfüllung

Arbeit aus der subjektiven Perspektive birgt primär:

a) eine Selbstzweckfunktion
b) eine instrumentelle Funktion

Zu a) In ihrer Selbstzweckfunktion wird Arbeit als wesentliches Moment der Daseinserfüllung begriffen und in engen Zusammenhang mit der Selbstachtung und Selbstverwicklung[20] gestellt. Es gibt Tätigkeiten, durch die Menschen den Sinn und Zweck in der Tätigkeit selbst erfahren, Arbeit besitzt dann einen befriedigenden Eigenwert. Diese Befriedigung entspringt der Erfahrung, dass der Mensch in seinen Fähigkeiten gut ist, genauer, in den Fähigkeiten, welche er als wichtig ansieht, er entdeckt seinen eigenen Wert und entwickelt Stolz.[21] Arbeit kann also Sinn konstruieren und somit auch nur um ihrer selbst willen vollzogen werden. Implizit verbindet sich diese Selbstzweckfunktion von Arbeit oft mit Leistung. (Schlothfeld 1995: 16-32) Schwierigkeiten in der Verwirklichung dieser Bedeutung von Arbeit könnten aus Zwang, Unter- und Überforderung, am Arbeitsplatz rühren.

Zu b) Die instrumentelle Funktion wird ebenso primär subjektiv erfahren – durch die Sicherung der Existenzbedürfnisse[22]. Arbeit kann damit Grundlage der Befriedigung verschiedenster materieller und kultureller-geistiger Bedürfnisse sein und Mittel zur ökonomischen Sicherung. Sie weist dem Individuum zudem einen Status zu. Die Entlohnung kann sich dabei zugleich mit der Erfahrung der Nützlichkeit und Produktivität verbinden. In diesem Moment ist sie gekoppelt an Leistung, und damit kann die instrumentelle Funktion dann über die Existenzsicherung hinausgehen und in der Profitmaximierung oder/ und der Konsumsteigerung liegen.

Diese ‚subjektiven’ Bedeutungen von Arbeit können auch dem Staat dienen, bzw. von diesem genutzt werden, so ist die Selbstzweckfunktion Grundidee des selbstbestimmten Bürgers einer Demokratie[23] und die Einkommenssicherung ist funktional für die Finanzierung des Staates über z.B. Steuereinnahmen. Im Wandel der Systeme, so die Annahme, wandelt sich auch die Gewichtung und Bedeutung dieser Dimensionen.

3.1.2. Vergesellschaftungsfunktionen der Arbeit

Arbeit aus der Vergesellschaftungsperspektive, darunter verstehe ich Arbeit im Feld der Wechselwirkung von Gesellschaft und Person, bedeutet primär:

c) Erlangung sozialer Geltung und damit die kommunikative Einbindung,
d) soziale Organisation der Zeit- und Sinnstruktur des Alltags.

Zu c) Arbeit bindet Menschen in die Gemeinschaft ein. Die Arbeitsteilung baut auf Beteiligung aller und deshalb werden Menschen erst über ‚anerkannte’ Arbeit zu vollwertigen Mitgliedern der Gesellschaft. Diese Erfahrung knüpft sich an rechtliche und institutionelle Rahmungen. Wer mit anderen und für andere arbeitet, erfährt soziale Anerkennung vom Staat und den Mitbürgern. Diese Einbindung kann konstitutiv für ein weiteres soziales Kontaktfeld und damit für Möglichkeiten des kommunikativen Handelns, sein. Zudem schreibt Arbeit soziale Positionen zu, die Menschen erringen ihre soziale Geltung durch Arbeit. Es ist vorstellbar, dass diese Funktion zugunsten des Konsums verdrängt wird.[24]

Zu d) Die Bedeutung der sozialen Organisation der Zeit- und Sinnstruktur des Alltags und des Lebenslaufs: Die Unterteilung des Tages sowie des Jahres in Arbeitszeit und Freizeit oder auch des Lebenslaufs in Phasen der Noch-Nicht-Erwerbstätigkeit, der Erwerbstätigkeit und des Nicht-Mehr-Erwerbstätigseins ist in einem hohen Maße gesellschaftlich normiert. Sie erfüllt eine Vergesellschaftungsfunktion, indem sie individuelle Zeit an gesellschaftliche bindet. Es ist allerdings vorstellbar, dass diese Funktion an Wertigkeit verliert und mit der Pluralisierung und Individualisierung von Lebensläufen schwindet.[25]

Diese Funktionen und Bedeutungen von Arbeit sind engstens mit dem Gesellschafts- und Wirtschaftssystem und den darin geltenden kulturellen Sinndeutungen und Wertvorstellungen verwoben. Deshalb frage ich, wie die Integration über Arbeit in den einzelnen Systemen definiert wird, welche Bedeutung der Staat Arbeit beimisst und welchen Wert die Individuen Arbeit zuschreiben. Die Klassikerin der Arbeitslosenforschung, Jahoda, führt die „latenten“ Vergesellschaftungsfunktionen noch einmal zusammen; Arbeit:

„gibt dem wach erlebten Tag eine Zeitstruktur; sie erweitert die Bandbreite der sozialen Beziehungen über die oft stark emotional besetzten Beziehungen zur Familie und zur unmittelbaren Nachbarschaft hinaus; mittels Arbeitsteilung demonstriert sie, daß die Ziele und Leistungen eines Kollektivs diejenigen des Individuums transzendieren; sie weist einen sozialen Status zu und klärt die persönliche Identität; sie verlangt eine regelmäßige Aktivität.“ (Jahoda 1983: 136)

Es ist deutlich geworden, dass der hier entwickelte Arbeitsbegriff sich nicht nur auf „Erwerbstätigkeit[26] “ beschränkt, er ist von vorneherein weit angelegt und macht es möglich, andere Arbeitsformen mit einzubeziehen. Grundlage sind die geschilderten Funktionen, die in einer Verknüpfung mit unterschiedlichen Gewichtungen der einen oder anderen Funktion auftreten können. Dabei sind Konflikte zwischen den Bedeutungen immer denkbar, so wie jener zwischen gesellschaftlicher Anerkennung und Selbstverwirklichung.

Zusammenfassend kann Arbeit als sinnstiftend bezeichnet werden: sie schafft Zugang zu Konsum, zu Freizeit, zu kulturellen und sozialen Tätigkeiten, sie kann schöpferisch, auch zerstörerisch sein.[27] Die verschiedensten Aspekte der Arbeit werden, gestützt auf vorangehende biografische Erfahrungen unterschiedlich gewichtet. Ihr zeitweiliges oder dauerhaftes Fehlen wird daher, auch in Abhängigkeit von der Gestaltung und den Bedingungen anderer Lebensbereiche, individuell mehr oder weniger stark als Verlust erlebt. Aber auch das Ausführen einer Tätigkeit kann als Zwang empfunden werden und spezifisches Leiden[28] provozieren. Die Frage, welche Bedeutung überwiegt und wie sich dies den Menschen darstellt, verlangt allerdings nach einer genaueren Betrachtung der wirtschaftlichen und politischen Systeme sowie der Lebenswelt der Menschen.

3.2. Eingrenzung des Begriffs ‚Beruf’

Ist eine Tätigkeit institutionalisiert erlernt, so verbinden wir mit ihr im Alltagsgebrauch den Begriff ‚Beruf’. Der Beruf ist historisch gebunden an die Idee der Selbstverwirklichung in der Arbeit[29]. Definiert ist dieser als jede wirtschaftlich sinnvolle, erlaubte Tätigkeit, die für den Grundrechtsträger (hier: deutsche Staatsbürger) Lebensaufgabe und Lebensgrundlage ist und durch die er zugleich seinen Beitrag zur gesellschaftlichen Gesamtleistung erbringt. Damit leistet der Beruf einen hohen Beitrag zur Sinnerfüllung, prägt die Identität, die Lebenslage und die Biografie. (Reinhold 1997: 26) Dass Beruf „Grundlage für eine kontinuierliche Versorgungs- und Erwerbschance ist“, wie Max Weber es noch sagte, trifft nicht mehr zu: Die berufliche Identität wird dynamisiert, man ist nicht mehr Bäcker, sondern man arbeitet (im Moment) als Bäcker. (Rosa 1999b: 404; Sennett 1998: 81f.) Damit verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeit und Beruf und es entwickeln sich für die Funktionsbereiche von Arbeitskraft neue Qualitäten:

„Zunehmend müssen Arbeitspersonen die konkret-nützlichen, die abstrakt-ökonomischen und schließlich auch die lebendig-existenziellen Momente und Bezüge ihrer Arbeitspotentiale und -tätigkeiten auf neuer Stufe aktiv selbst gestalten. In Anlehnung an die Beck`schen Ideen zur steigenden „Reflexivität“ in der „zweiten Moderne“ (…) kann man dies auch als eine sich mit dem derzeitigen Wandel der gesellschaftlichen Arbeit abzeichnende erweiterte strukturelle Selbstbezüglichkeit von Arbeitskraft ansehen. Der Arbeitskraftunternehmer ist dann eine sich im Zuge der zunehmenden Entgrenzung und Autonomisierung von Arbeits- und Beschäftigungsverhältnissen und einer fortschreitenden Vermarktlichung der wirtschaftlichen Basis von Gesellschaft ausbildende, in erweiterter Form „reflexiv“ basierte neue Grundform von Arbeitskraft.“ (Voß 2001: 298)

Deshalb büßt der Beruf nicht zwangläufig seine Sicherheits- und Schutzfunktionen ein, wie Beck es prognostizierte, eher wandelt sich die Qualität des Berufs und seiner Bedeutung für den Lebenslauf. Voß bezeichnet die entstehende Berufsform als „Individualberuf“ mit spezifischen Anforderungen:

„Daraus entsteht die Notwendigkeit einer Selbstvermarktung, eine sehr persönliche Kulturform der Arbeitsfähigkeit, ein individueller Beruf. Die Individualität bezieht sich auf die individuelle Aktivität, die wiederum gezielt an den Rahmenbedingungen orientiert [ist] und somit reflexiv die individuelle Gestaltung der eigenen Fähigkeiten und Anforderungen, eine individuelle Kultivierung und Stilisierung“ erfordert. (Voß 2001: 300)

Ein Blick zurück auf die letzten 20 Jahre zeigt, dass viele Tätigkeits- und Berufsfelder verschwinden, aber auch neue entstehen[30]. Somit ist es neben dem Bedeutungswandel der Arbeit auch zu einer „Entmythologisierung der Berufsarbeit“ (Vollmer 1986) gekommen. Wenn im Durchschnitt mehr Berufe ‚aussterben’ als neue geschaffen werden, kommt es unter anderem zu einer sich verfestigenden Arbeitslosigkeit, weil angebotene und nachgefragte Qualifikation nicht mehr über den Marktmechanismus zum Ausgleich gebracht werden können. Um eine solche Situation abzuschwächen oder gar zu verhindern, sind neue Strategien des Lernens erforderlich (lebenslanges Lernen, berufliche Weiterbildung, etc.) sowie ein deutlich höheres Maß an räumlicher Flexibilität, aber auch Flexibilität bezüglich der Beschäftigungsmöglichkeiten und ihren Entlohnungen. (Vgl. Vollmer 1986) Das Ende einer Berufsgesellschaft im traditionellen Sinne wird damit eingeläutet: Mit dem Erlernen einer spezialisierten Tätigkeit in einer Ausbildung sind kontinuierliche Beschäftigung und Erwerb nicht mehr gesichert.

3.3. ‚Biografie' im Wandel

Der Wandel von Arbeit und Beruf konfrontiert auch die Lebenswelt der Menschen mit neuen Anforderungen. Die Biografie ist ‚Lebensbeschreibung’, das heißt, sie vereinigt individuelle Lebenserfahrung und Reflexion in Form einer Selbstanalyse. Diese Analyse vollzieht das Subjekt auf dem Hintergrund der gesellschaftlichen Strukturen, wobei Erwerbsarbeit eine wichtige Bezugsgröße ist. In der Lebensbeschreibung stellt der Mensch Einstellungen, Meinungen und Verhaltensabläufe dar, dabei rekurriert er immer auf die Gesellschaft:

„Ausgangspunkt für die Rekonstruktion der Lebenswelt ist die biographische Situation. Diese ist ichzentrisch aufgebaut, mit den mehrdimensionalen Bezugssystemen des Hier und Dort, des Vertrauten und des Fremden, des Erinnerten, Gegenwärtigen und Erwarteten. Ich finde mich in diesen Koordinaten der Lebensgeschichte vor, unter Zeitgenossen und inmitten von Traditionen, die uns von Vorfahren überliefert sind und die wir an Nachfahren weitergeben. Als Kinder wachsen wir in diese Traditionen hinein, um aus ihnen unseren individuellen Lebensplan mit spezifischen Erwartungen, auf der Grundlage akkumulierter Erfahrungen und perspektivistisch aufgestockter und ausgelesener Erinnerungen, zu bestreiten. Das Alltagswissen, das uns die Tradition an die Hand gibt, stattet uns mit Interpretationen für Personen und Ereignisse aus (…). Das umgangssprachlich tradierte Vorwissen ist intersubjektiv: in ihm konstituiert sich die Welt, in der ich die Perspektive des anderen übernehmen kann.“ (Habermas 1967: 114f.)

Auch unter den Bedingungen des Wandels verleiht die Biografie dem Lebenslauf Sinn, gibt Orientierungen für Handlungen, erklärt Verhalten, begründet Ansprüche, hilft, sich selbst zu vergewissern und macht Handlungen planbar. (Kohli 1980: 505f.) Der soziale Beitrag an der Konstituierung der Biografie, den Habermas in Form von Traditionen benennt, wird zunehmend zur individuellen Gestaltungsleistung. Die Erwerbsbiografie ist in den seltensten Fällen eine ‚Normalbiografie’ sie wird zur gestaltbaren und damit riskanten ‚Wahlbiografie’. (Beck/Bonß/Lash 1996) Diese fortschreitende Entkopplung der Biografie von berufsgruppenspezifischen Lebensdynamiken macht die individuelle Gestaltung notwendig. (Voß 2001: 294) Im Hinblick auf den Arbeitsmarkt ist das Individuum aufgefordert seine Lebensbeschreibung, seine Biografie den Anforderungen der Individualität und Erfolgsorientierung anzupassen:

„Was Arbeitskraftunternehmer als Fähigkeitskombinationen brauchen und was Betriebe, wenn sie Arbeitskraftunternehmer einsetzen, als Qualifikationsmuster nachfragen, sind (…) hoch komplexe, möglichst entwicklungsoffene und vielfältig einsetzbare Qualifikationspotentiale stark individualisierter und ;flexibler’ (…) Arbeitspersonen, bei denen fachübergreifende Kompetenzen und allgemeine Persönlichkeitsmerkmale tendenziell wichtiger sind als fachliche Spezialfähigkeiten.“ (Voß 2001: 299)

Biografische Offenheit wird zum Ziel, eine feste, dauerhaft gültige Rahmung würde ein Hindernis darstellen. Damit wird die Biografie zu einer Leistung des Subjekts, Brüche müssen konstruiert oder kaschiert, Erfahrungen spezifiziert und am Gegenstand orientiert ausgelegt werden. (Vgl. Egbringhoff 2003: 34)

4. Die Arbeitsgesellschaft DDR

4.1. Die Arbeitswelt der DDR

In diesem Kapitel sollen die strukturellen Eigentümlichkeiten der Arbeitswelt des ‚realsozialistischen’ Systems und deren potentieller Einfluss auf die Individuen vorgestellt werden.[31] Der thematische Fokus dieser Untersuchung zwingt zu einer Beschränkung auf die Arbeitswelt. In Blick werden dabei die politisch-ökonomische Struktur der Gesellschaft, die Ideologie, aber auch die berufstrukturellen und damit biografischen Grundlagen für Berufsverläufe und das Funktionieren des Arbeitsmarktes genommen.

Vorausgesetzt wird, dass es sich bei der DDR um eine Diktatur kommunistischer Prägung gehandelt hat:

„Zu ihren Zielsetzungen gehörte es, eine neue, politisch gesteuerte Gesellschaft zu schaffen, in der herkömmliche Differenzierungen abgeschafft, Prinzipien einer neuen Gleichheit verwirklicht, Vorsorge und Sicherheit politisch gewährleistet und neuartige Strukturen – vor allem sozialistische Eigentumsordnung – etabliert sein würden: eine neue Gesellschaft mit neuen Menschen. Zum Zweck der politischen Konstituierung, Steuerung und Kontrolle von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur - wie auch zur Erhaltung der eigenen Macht – baute die Partei- und Staatsführung der DDR einen tief in alle Bereiche eingreifenden Herrschaftsapparat auf, der alle Merkmale moderner Diktaturen aufwies.“ (Kocka 1994: 547)

Unter diesem Anspruch der alleinigen Regelung und Kontrolle aller gesellschaftlichen Bereiche durch die Partei lebten circa 16,5 Millionen Menschen. Die Bevölkerungsentwicklung war gekennzeichnet von einem durchgängigen Rückgang. Hauptursache dafür waren die zeitweise stark rückläufigen Geburtenzahlen und eine negative Wanderungsbilanz. (Winkler 1990[32]: 11)

Die Gesellschaft war geprägt von einem hohen Organisationsgrad, der sich insbesondere im Wirtschaftsbereich zeigte: Die Staatsmacht plante die Wirtschaft, garantierte sichere, stabile Erwerbsverläufe und versuchte das Ausscheren aus vorgezeichneten Bahnen zu unterbinden. (Hormuth 1996: 291) Die DDR war „eine um industrielle Erwerbstätigkeit zentrierte Arbeitsgesellschaft“, begründet auf dem ideologischen Anspruch einer Diktatur des Proletariats, die den Auftrag hatte, in der Phase des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus die erforderlichen wirtschaftlich-organisatorischen und kulturell-erzieherischen Staatstätigkeiten zu entfalten und zu sichern. Sichtbar wird dies im Institutionengefüge, der Sozialstruktur[33] und insbesondere dem Erwerbssystem. (Vgl. Kohli 1994; Niethammer 1993; Vester 1995)

„Arbeit“, so definiert das politische Wörterbuch der DDR (Kleines Politisches Wörterbuch (KPW) 1988: 55), ist eine „zweckmäßige, bewußte Tätigkeit des Menschen, in der er mit Hilfe von Arbeitsmitteln Arbeitsgegenstände verändert und sie seinen Zwecken nutzbar macht. Die Arbeit ist in allen Gesellschaftsformationen unerläßliche Existenzbedingung des Menschen.“ Nur wer einer Arbeit nachging, war ein nützliches, produktives und damit vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft. (Vogel 1999: 117) Entscheidende Bedeutung wurde der Einstellung zur Arbeit beigemessen, die „gewissenhafte, ehrliche, gesellschaftlich nützliche Arbeit“ wurde zum „Herzstück der sozialistischen Lebensweise“ erklärt und galt als „entscheidende Quelle der Entwicklung und Betätigung der schöpferischen Kräfte der Menschen“. (KPW 1988: 582) So waren 82,8 % der erwerbsfähigen Bevölkerung der DDR im Jahre 1988 berufstätig. (Winkler 1990: 78) Teilzeitarbeit war kaum existent, höchst selten trat sie, wenn dann in den Gruppen der Alters- und Invalidenrentner und der jungen Mütter auf. Die häufigste Erwerbsform in der DDR war die Vollerwerbstätigkeit.

4.1.1. Das DDR-Erwerbssystem

Die Grundstrukturen des DDR-Erwerbssystems entstanden zwischen Ende der 40er Jahre und Mitte der 60er Jahre. Das relativ geschlossene System der staatlichen Regulierung von Arbeit und Beschäftigung war auf die maximale Ausschöpfung der Arbeitskräfteressourcen ausgerichtet. In den wirtschaftlich-technologischen Entwicklungszeiten der 50er und 60er Jahre funktionierte das auch recht erfolgreich. (Grünert/Bernien/Lutz 1997: 19) Die Verteilung der Arbeitenden nach Wirtschaftssektoren in der DDR 1987 veranschaulicht die verspätete Industrialisierung der Gesellschaft vor dem Zusammenbruch: So arbeiteten 10% der Werktätigen im primären Sektor (BRD 4%), 48% im sekundären (BRD 41%) und 44% im tertiären Sektor (BRD 55%). (Vgl. Geißler 1991, Gensicke 1998: 148)

Arbeitsinhalte und Arbeitstätigkeit waren dementsprechend von manuellen, oft einfachen und monotonen Tätigkeiten geprägt. (Winkler 1990: 84) Das Qualifikationspotential wurde häufig nicht ausgeschöpft, so fühlte sich „selbst ein relativ hoher Anteil von den ‚fachgerecht’ eingesetzten Werktätigen (...) durch den realen Inhalt und das Anspruchsniveau ihrer Arbeit unterfordert“. (Winkler 1990: 87) Die von solcher Realität weit entfernte poli-ökonomische Ideologie manifestierte sich im Arbeitsrecht. Dort finden sich neben dem vielzitierten ‚Recht auf Arbeit’ auch die ‚Pflicht zur Arbeit’[34]. Die „Verletzung der Arbeitspflicht“ unterlag in der DDR formell der strafrechtlichen Sanktionierung[35]. Die Garantie des Rechts auf Arbeit wurde nur durch die zentrale Verwaltung der Wirtschaft ermöglicht, denn der Staat gab Angebots- und Nachfragemengen und auch Arbeitskräftebedarf vor. Die staatliche Planung limitierte somit auch Ausbildungswege, dies betraf vor allem Fachkräfte. Die Pflicht zur Arbeit ist zurückzuführen auf den Arbeitskräftemangel der DDR vor allem in ihrer Aufbauphase vor dem Mauerbau. Arbeit wurde zur garantierten Konstante im Leben aller DDR-Bürger. (Vgl. Schrimpff 1983: 196-201)

Karl Marx “Theorie des Arbeitsrechts“ spiegelt sich in den Gesetzesbüchern der DDR, denn hier stößt man nie auf den Begriff des ‚Arbeitnehmers’, sondern stets auf den des ‚Werktätigen’. Die unselbständig Beschäftigten galten als gesellschaftliche Eigentümer der Produktionsmittel; sie als ‚Arbeit nehmende Personen’ zu begreifen, wäre widersprüchlich gewesen.

Die Löhne und Preise wurden in der DDR staatlich festgelegt, man war bemüht die Einkommensunterschiede zwischen Arbeitern und Angestellten, Genossenschaftsmitgliedern und den wenigen Selbstständigen[36] zu nivellieren. (Geißler 1992: 53f.) Erwünschter Nebeneffekt war die Stärkung der Arbeiter, denn die DDR definierte sich als ein Arbeiter- und Bauernstaat. (Geißler 1995: 295; Vogel 1999: 23) Die Nettoeinkommensunterschiede zwischen Berufsgruppen und Tätigkeitsbereichen waren gering. Hiervon zeugen Milieustudien nach 1989: 58% der Bevölkerung rechneten sich dem Arbeitermilieu zu, 45% der Mittelschicht und 6% dem herrschenden und führenden Milieu. (Vester 1995: 16) In der Konsequenz bildeten sich sozialstrukturelle und materielle Egalitätsvorstellungen heraus, die mit einem sehr ausgeprägten Sensorium für Verteilungsgerechtigkeit und -ungerechtigkeit einhergingen. Die eingehende Wirkung der Marxschen Ideologie bis auf die Ebene der Einstellung war nur möglich über die Institutionalisierung einer egalitären Einkommensverteilung.

4.1.2. Institutionelle Vorrausetzungen des Erwerbslebens

In den alltäglichen Erfahrungsräumen der Bürger der DDR spielten vor allem die sozialen Institutionen eine Rolle, die nachhaltigen Einfluss auf Gestaltung und Verlauf eines Erwerbslebens hatten. Am Anfang eines Lebenslaufs stand hier die schulische Sphäre. Die Bildungs- und Ausbildungspolitik unterlag der zentralen staatlichen Wirtschaftsplanung und -lenkung. Nach ihrer Einschulung mit 6 Jahren, spätestens mit 7 Jahren durchliefen die Kinder die Einheitsschule nach sowjetischem Vorbild, die Allgemeinbildenden Polytechnischen Oberschule (POS). Eine Trennung fand erst nach der 10. Klasse statt[37]: 85% der Schüler verließen die Schule mit dem Abschluss der POS. Das Abitur machten nur wenige – im Jahr 1989 19,85% einer Kohorte. (Winkler 1990: 32-60) Zwei Drittel besuchten dazu die Erweiterte Oberschule (EOS) und ein Drittel wählte den doppelt qualifizierenden Weg des Abiturs mit Berufsausbildung. (Lenz 1995: 196) In der POS fand in Form des Dualismus der Lernorte, Praktika in der ‚Produktion’ und Schulunterricht, die Vorbereitung auf die Berufstätigkeit statt. Die EOS qualifizierte für das Studium. Das Bildungssystem war gekennzeichnet durch ein hohes Maß an Standardisierung (einheitliche Lehrpläne, Zentralabitur) und ein geringes Maß an Stratifizierung. (Winkler 1990: 56-60) So war es häufig der Fall, dass erst eine Ausbildung beendet wurde, dann das Abitur absolviert und anschließend erst studiert wurde.[38] Neben der Institution Schule spielten schon früh parteistaatliche Organisationen eine große Rolle. Ab der 1. Klasse wurden die Schüler in der Regel in Klassenstärke Mitglieder bei den Pionieren, der Jugendorganisation der Freien Deutschen Jugend (FDJ). So wurden die Menschen schon in der primären Ausbildung bis in die Freizeit hinein vom System gelenkt und vielfältig eingebunden.

Die Mitgliedschaft in einer Organisation war nicht zuletzt von Interesse beim Eintritt in die gewünschte betriebliche Sphäre. Einen Ausbildungs- und Arbeitsplatz garantierte die sozialistische Planung von Wirtschaft und Gesellschaft für jeden Jugendlichen, die Verwirklichung der individuellen Berufswünsche aber war gebunden an die politische Haltung des näheren Umfeldes, wie die berufliche Position des Vaters[39], am Berufsbedarf der Wirtschaft und an die Förderung von Arbeiterkindern. Es handelte sich um eine unfreie Berufswahl durch soziale Selektierung, die zumeist schon ab der 7. Klasse in den Schulen vonstatten ging. (Huinink/Mayer/Trappe 1995: 91 u. 100) So haben nur die Hälfte der Männer und weniger als die Hälfte der Frauen nachträglich der Aussage zugestimmt, sie hätten ihren Wunsch verwirklichen können. (Huinink/Mayer 1993: 157) Im Beruf stehend unterlag man weiterhin dem staatlichen Einfluss über den Betrieb. Dieser war Schnitt- und Schüsselstelle von Arbeit und Leben. Als ‚Integrationsagentur’ der DDR-Gesellschaft band er die Menschen gemäß der gesetzlich festgelegten Wochenarbeitszeit 43,75 Stunden an sich. Das waren 8,75 Stunden am Tag, welche es mit Inhalt zu füllen galt, den der Arbeitsalltag häufig nicht bot. (Vogel 1999: 23) Der Alltag in der DDR zeichnete sich somit durch ein spezifisches Zeit- und Sozialregime aus, welches in charakteristischer Weise Erwerbsverläufe und Muster der Lebenshaltung und Lebensführung formte. So löste sich die junge Generation auch deshalb wesentlich früher von ihren Eltern, weil viele Jugendliche betriebsnah in Lehrlingswohnheimen untergebracht wurden. (Wahler 2000: 184)

4.1.3. Der Betrieb als Zentrum der Arbeitsgesellschaft

Der Betrieb hatte Aufgaben und Funktionen weit über die Gütererzeugung hinaus. Er bot Raum für soziale und kulturelle Leistungen. Kinderbetreuung, medizinische Versorgung, Zuweisung von Wohnungen, Urlaubsreisen und sportliche Aktivitäten waren einige von vielen Aufgaben, die dem Betrieb zufielen.[40] In der Organisation dieser Freizeitaktivitäten stand dem Betrieb der FDGB (Freier Deutscher Gewerkschaftsbund) zur Seite, die größte Organisation der DDR, in der bis zu 98% aller Arbeiter und Angestellten Mitglieder waren. Der Betrieb war zudem zentraler Ort bei der Selektion von Leistungsträgern, auch die Weiterbildung und die Vergabe von Studienplätzen wurden hier organisiert.[41] Damit war der Betrieb neben der Schule eine wichtige Instanz bei der Zuteilung von beruflichen Chancen, denn Weiterbildung wurde auch in der DDR als notwendig propagiert, da die Kenntnisse zur Steigerung der Produktivität ständig erweitert werden sollten. (Winkler 1990: 60f.) Bildung war zu DDR-Zeiten ein weitgehend freies, über die Einheitsschule hinaus, aber nicht frei zugängliches Gut. (Grünert 1996: 40) Der Betrieb steuerte zudem die Arbeitskräfteallokation. Kündigungen wurden, da sie kostenträchtige Fluktuation waren, gesellschaftlich negativ bewertet. Der seltene Fall der offiziellen Kündigung durch den Werktätigen ließ ein schlechtes Licht auf den Betrieb fallen. Und obwohl für den Betrieb die Pflicht der Stellenvermittlung und -lenkung bestand, erfolgte „nahezu ein Drittel aller Stellenallokationen auf informellem Wege“. (Sackmann/Wingens 1999: 14) Die Effizienz der Ausbildungsallokation ist im Laufe der Jahre, was sich insbesondere bei den nach 1950 Geborenen bemerkbar machte, deutlich zurückgegangen. (Huinink/Mayer/Trappe 1995: 134) Ein Wettbewerb zwischen den Betrieben um junge und qualifizierte Arbeitskräfte war kaum existent, es wird zurecht von einem ökonomisch irrationalen Arbeitsmarkt gesprochen. (Vgl. Grünert/Lutz 1994; Andretta/Baethge 1995)

„So wirkten einerseits eine extrem hohe (soziale) Betriebsbindung der Beschäftigten an die Betriebe und Kombinate, eine Dominanz betriebsspezifischer Qualifikationen sowie betriebspezifischer Weiterbildungs- und Qualifikationswege als starke Faktoren einer Internalisierung des Systems. Andererseits gab es angesichts des Rechts auf Arbeit auch keine Notwendigkeit zum Aufbau einer institutionellen Struktur zur Aneignung entsprechender (Mobilitäts-) Verhaltensweisen, die Voraussetzung für das Funktionieren externer Arbeitsmärkte sind.“ (Bultemeier/Neubert 1998: 297)

Vor Augen führen kann man sich dies anhand des erstgenannten Kriteriums zur Wahl eines Arbeitsplatzes. Das war in der DDR der Wohnort des Partners, bzw. der Familie.[42] Lohn und Selbstverwirklichung spielten kaum eine Rolle. Durch die hohe Kontinuität im Arbeitsleben, die ein Leben in einem Betrieb garantierte wurde die Arbeitsgesellschaft DDR auch zur Berufsgesellschaft. (Sackmann/Wingens 1999: 17-19)

Der gewünschte Bindungseffekt sollte in ‚Kollektiven’ durch Gratifikation[43] (z.B. Sonderurlaub) und besondere Leistung (z.B. Weiterbildung) geschaffen werden. In Arbeitskollektiven wurden alle Werktätigen eines Betriebes ab einer bestimmten Größe zusammengefasst, so waren 63% aller Beschäftigten eingebunden. (Roessler 1994: 145) Arbeitskollektive galten als „Grundzelle der sozialistischen Gemeinschaft“ (Eppelmann u.a. 1996: 342). Ihnen kam eine „überragende Bedeutung“ bei der Ausprägung der sozialistischen Lebensweise zu. (KPW 1988: 582) Sie sollten in kameradschaftlicher Zusammenarbeit und gegenseitiger Hilfe den Interessen der Gesellschaft dienen. Ideologisches Ziel war die Verwirklichung der vom sozialistischem Staat im Volkswirtschaftsplan vorgegebenen Aufgaben und Ziele der materiellen und geistigen Produktion. (Weil 2000: 107) Die Kollektive stifteten ein hohes Maß an Identität durch Sozialbeziehungen am Arbeitsplatz. Die Organisation hatte zugleich eine repressive und disziplinarische Funktion im Alltag. (Roessler 1994: 146f.) Die enge Bindung an die Werktätigen bot Spielraum für Kontrolle und Erziehung, insbesondere im Falle des ‚‚Arbeitsunwillens’, dem entscheidenden Grund für Arbeitslosigkeit. Der Begriff Arbeitslosigkeit wurde seit 1960 nicht mehr verwendet, auch wiesen die Statistiken seitdem keine Arbeitslosenzahlen[44] mehr aus. Offiziell befand sich der Bürger in „Arbeitsvermittlung“ (Maydell 1996: 23). Das man dort fast nur Problemgruppen wie Alkoholiker, „Asoziale“[45] und Haftentlassene fand führte zur negativen Konnotation der Institution in der Bevölkerung. Die letzten Arbeitsämter hatte man bereits im Jahre 1952 aufgelöst. (Grünert 1996: 27)

Die Doppelmoral trug sich auch in den Arbeitsalltag hinein, die ungenügende Ausstattung – so waren Dienstleistungen häufig von unzureichender Qualität - gab Anlass zu Konflikten, der Betrieb wurde zum Ort der individuellen bzw. kollektiven Abwehr von staatlicher Einflussnahme. Die Gemeinschaftsbildung im Betrieb erfolgte demnach von oben und von unten. (Diewald 1995: 258) Ungeachtet der ideologischen Bedeutung brach das System „Sozialistischer Arbeitskollektive“ mangels Beteiligung Mitte der 80er Jahre in weiten Teilen zusammen, beziehungsweise existierte nur mehr auf dem Papier weiter. Die Gleichmacherei, die Bevormundung und die zunehmenden Krisenerscheinungen förderten den Rückzug ins rein Private[46]. So mutierte die Arbeitsgesellschaft allmählich zu einer Nischengesellschaft.[47] (Bedszent 1999: 183)

Die Bedeutung des Betriebes reichte dennoch weiterhin über das Wirtschaftliche hinaus, er war der Kristallisationspunkt des gesellschaftlichen Lebens, wesentliches Merkmal dafür war die Verlängerung betrieblicher Sozialbeziehungen in den privaten Alltag hinein.[48] Somit verschwammen die institutionellen Grenzen zwischen öffentlich und privat. (Huinink/Mayer 1995: 30) Persönliche Netzwerke in Form von Kontakt zu Familienmitgliedern, Freunden, Nachbarn und Arbeitskollegen basierten häufig auch auf Grund der Mangelwirtschaft und dem Netzwerkhandel in Form von Tauschgeschäften.[49] Generell ist zu konstatieren, dass Sozialbeziehungen in der DDR primär über Institutionen gewonnen wurden, so spielten Schule[50] und Betrieb eine große Rolle[51].

Die Sozialbeziehungen am Arbeitsplatz werden in der Literatur unterschiedlich eingeordnet: Gensior spricht von einem Vertrauensraum mit viel menschlicher Wärme und hohem Verantwortungsgefühl (Gensior 1992: 273-276), Senghaas-Knobloch von einer „Notgemeinschaft“, die Systemmängel zu kompensieren versucht (Senghaas-Knobloch 1992: 300f.) und andere sehen die Sozialbeziehungen als ein Instrument zur Abwehr der Obrigkeit. (Dietmaier-Jebara 2005: 60) Außer Zweifel steht, dass die Arbeitsbeziehungen eine „wesentliche Säule im Kontakt-Unterstützungsnetzwerk“ waren. (Diewald 1995: 239) So waren in der DDR nicht Arbeitsinhalte identitätsstiftend, sondern die spezifischen Sozialbeziehungen am Arbeitsplatz.

4.2. „Das spezifische Zeit- und Sozialregime“

Es ergeben sich aus dem Vergleich von DDR und BRD entscheidende Unterschiede in der alltäglichen Lebensführung. Vogel verweißt auf das spezifische Zeit- und Sozialregime der DDR-Arbeitsgesellschaft, (Vogel 1999: 29) denn der Zeitrhythmus des Alltaglebens in der DDR war im Vergleich zur BRD durch langsamere Abläufe bestimmt. Am Arbeitsplatz gab es Phasen des Stillstandes, unter anderem auf Grund von Organisationsproblemen. Auch der Alltag war durch weniger Schnelligkeit und Hetze gekennzeichnet: Die staatlich reglementierten Preise unterlagen über Jahre hinweg keiner Veränderung, und der Einzelne musste seltener räumliche Distanzen zurücklegen, Arbeitsorte lagen meistens nah am Wohnort., was jedoch nicht bedeutet, dass es keine berufliche und soziale Mobilität oder körperliche und seelische Anstrengungen am Arbeitsplatz gab. Diese Idealisierung weisen zahlreiche Studien zurück.[52] Das Sozialregime der DDR ließ den Bürger in einer gesellschaftlichen Atmosphäre weitgehend frei von Abstiegs- und Deklassierungsängsten leben. Die umfassende soziale Absicherung innerhalb und außerhalb der Betriebe sorgte dafür, dass eine enge Verknüpfung zwischen Aufstieg und Anerkennung, Karriere und Lebenserfolg in der DDR fehlte. Konsequenz war eine hohe soziale Sicherheit im Leben, die aber auch eine stark repressive Seite hatte. So hatten jene, die sich diesem Leben entzogen, mit Diskriminierungen zu rechnen.

Einher mit der Langsamkeit ging eine hohe Unzufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen, die sich durch den wachsenden Verschleißgrad bei Maschinen und Anlagen, durch steigende mehrschichtige Auslastung exponierter Arbeitsplätze, durch unzureichende Nutzung moderner Technologien ständig verschlechterten. (Winkler 1990: 89) Zudem waren mehr als ein Viertel der Arbeitskräfte gemessen an den Anforderungen des Arbeitsplatzes überqualifiziert, dies resultierte aus dem technologischen Modernisierungsrückstand. (Schrimpff 1983: 212) Hinzu kamen Gesundheitsrisiken durch Arbeitsumweltrisiken, -erschwernisse und -unfälle. Winkler kommt zu folgendem Schluss:

„Allein wenn als Minimalkriterium angelegt wird, dass von mindestens einem Faktor am Arbeitsplatz ein arbeitshygienisches Gesundheitsrisiko für den dort Beschäftigten ausgeht, ist seit Jahren jeder fünfte Arbeitsplatz dringend umzugestalten“ (Winkler 1990: 91).

Diese Schwierigkeiten führten zu einer abnehmenden Identifikation mit dem Arbeitsplatz und zogen Produktionsverluste nach sich. Zudem sanken gerade bei den jüngeren Kohorten die Aufstiegschancen und damit verschlechterten sich die beruflichen Perspektiven. (Huinink/Mayer/Trappe 1995: 142)

4.2.1. Verhaltene Freizeit

Hauptorte kollektiver Freizeitgestaltung lagen an der Schnittstelle zwischen Privatleben und Arbeit. Die durchschnittliche Lebensarbeitszeit war mit 46,5% der Lebenszeit 5% höher als in anderen sozialistischen Ländern, doch nur 2,5% höher als in der BRD. Freizeit war nicht gleich Nicht-Arbeit-Zeit, sie war Zeit in der individuellen Wünschen nachgegangen werden konnte, dies konnte auch am Arbeitsplatz – Einkaufen und ausgedehnte Pause gehörten zum Arbeitsalltag – geschehen. Freie Zeit wurde zunehmend geschätzt, allerdings sahen 1989 nur 44% der Erwerbstätigen Freizeit als wichtig an, im Vergleich zur BRD war dies ein niedriger Prozentsatz. Auch schwand die Anziehungskraft öffentlicher Freizeitanlagen und Sportstätten, weil ihre Wartung vernachlässigt wurde. Freizeit war in der Regel Zeit, die mit Fernsehen, Unterhaltung, Gartenarbeit und Sport verbracht wurde. Über die Hälfte der Bevölkerung, 55%, hatten in den 80er Jahren einen Garten. Der Garten steht in der Literatur sinnbildlich für die Nischengesellschaft, er bot den Rückzugsraum unabhängig von staatlicher Organisationsmacht. (vgl. Winkler 1990: 103f.)

4.2.2. „Einheit“ Familie

Eine – nicht nur ideologisch – wichtige ‚Einheit’ des sozialistischen Systems war die Familie. Auch in den persönlichen Beurteilungen bleibt die Familie deutlich wichtiger in ihrer Wirksamkeit als die Arbeitsbeziehungen. (Diewald 1995: 238) Die Bevölkerung war zu 52 Prozent weiblich und jung, im Schnitt 37,52 Jahre alt. (Winkler 1990: 11-13) Der Staat war darauf angewiesen, günstige Rahmenbedingen für Frauen- und insbesondere Müttererwerbstätigkeit zu schaffen.[53] Familien wurden in der DDR zumeist früh gegründet – durchschnittlich mit 22,8 Jahren. Im Schnitt gebar eine Frau in ihrer fertilen Phase1,7 Kinder.[54] (Winkler 1990: 11-32) Die Erwerbstätigkeit von Frauen lag in beiderseitigem Interesse, für die Familien war der Doppelverdienst auf Grund der niedrigen Löhne unverzichtbar und der Staat verfügte über weitere notwendige Arbeitskräfte. So erklärt sich, dass die Erwerbstätigkeit bei Frauen zwischen 18 und 59 bei 86% lag. (Winkler 2004: 278) Teil der Familienpolitik war die Gleichberechtigung, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie wurde nachhaltig gefördert. Mit dieser Erwerbsquote war die traditionelle Männerrolle der Alleinverdiener und Haupternährer der Familie beseitigt. Gesicherte berufliche Einbindung, ausgebaute Kinderbetreuung und die gesetzlichen Regelungen wie das Babyjahr beförderten das frühe Heiratsalter. Einfluss hatte darauf sicherlich auch die Möglichkeit der relativ unkomplizierten Scheidung.[55] Ende der 80er Jahre zeichnete sich somit eine „Deinstitutionalisierung der Ehe“ ab. Im Alltag kompensierte die Familie gleichwohl zunehmend den Ausfall gesellschaftlicher Werte und den Verlust sinnvoller Betätigungsfelder, sie stellte ein „Gegengewicht zur Gesellschaft“ dar. (Gysi 1989: 34) Diese Abgrenzung förderte entspannt und positiv erlebte Eltern-Kind-Beziehungen. (Trommsdorff/Chakkarath 1996: 38)

4.3. Vorherbestimmte Bahnen?

Diese Beschreibungen sollen nicht der Eindruck vermitteln, der DDR-Bürger hätte sich stets in vorherbestimmten Bahnen bewegt. Der gelenkte Mensch existierte auch in dieser Diktatur nicht. Jeder Bürger hatte sein Leben selbst in der Hand, allerdings unter Bedingungen, in denen die staatliche Organisation des Arbeitsmarktes, der Arbeitsbedingungen und der Arbeitskräfte eine grundlegende Rolle spielen. So gelang es der DDR auch nur bedingt, durch das „Neue ökonomisches System der Planung und Leistung“ Ende der 60er analog zu den Mechanismen der westlichen Warenproduktion, Methoden zur Selbstregulierung der realsozialistischen Volkswirtschaft zu entwickeln. Die Idee der Implementierung des Wettbewerbs- und des Leistungsprinzips in den Sozialismus, wie sie schon auf dem V. Parteitag der SED 1958 verkündet wurde: „Du sollst stets nach Verbesserung Deiner Leistung streben, sparsam sein und die sozialistische Arbeitsdisziplin festigen“ setzte sich nie durch.

Die oben erläuterten Spezifika des DDR-Arbeitslebens prägten eine charakteristische Lebenshaltung, und diese erzwang teilweise, aber eben nur teilweise, eine typische Lebensführung.[56] Wie bereits aufgezeigt, war die DDR-Gesellschaft in vielen Bereichen durch Widersprüche gekennzeichnet Die paternalistische Politik und die charismatischen Potentiale des Antifaschismus und der sozialistischen Idee genügten nicht, um die Bürger vom Sozialismus zu überzeugen, deshalb eben war der Einsatz des Sicherheits- und Kontrollapparates notwendig. Der Bürger wusste zwischen informellen und formellen Regelungen zu unterscheiden, (Huinink, Mayer, Trappe 1995: 29) was die Funktionen des Systems massiv störte. Seit Anfang 70er Jahre wurde das benötigte Wirtschaftswachstum nicht mehr erreicht. Die Ausschöpfung des gesellschaftlichen Arbeitsvermögens stieß ebenso an Grenzen wie das gesamte ökonomische System. (Grünert/Bernien/Lutz 1997: 28) Die Beziehung zwischen Volk und Staat war durch zahlreiche Ambivalenzen gekennzeichnet, die den Bürgern das Verhalten des Trittbrettfahrens antrainierte. (Engler 1992) Dieses offenbarte sich in einem listig-instrumentellen Umgang mit dem System und vergrößerte die Distanz zwischen Machtapparat und Staatsvolk. (Grünert/Bernien/Lutz 1997: 43)

5. „Der beschleunigte Wandel“

5.1. Ein historisches Ereignis und seine Auswirkungen

Die Transformation der Jahre 1989 bis 1994[57] wird in diesem Kapitel unter folgender Fragestellung betrachtet: Welche Folgen hat „der beschleunigte Wandel“[58] in der Lebenswelt Arbeit? Zeitlich grenze ich die Phase des außergewöhnlichen Umbruchs auf die Jahre zwischen 1989 und 1994 ein.[59] Mit diesen fünf Jahren, in denen die Menschen besonders prägenden Umständen ausgeliefert waren, befasse ich mich auf den folgenden Seiten. Inwiefern es sich bei dieser Phase um einen nachwirkenden oder abgeschlossenen Transformationsprozess handelt, muss hier nicht abschließend erörtert werden.[60]

Auch wenn unklar ist wie lange der Transformationsprozess andauerte, begonnen hat er mit datierbaren politischen Ereignissen: Durch das Zusammenspiel verschiedener Kräfte, u.a. der einmaligen Kombination von „exit and voice“, kam es am 9. November 1989 zur „Sensation“, der Öffnung der deutsch-deutschen Grenze. Mit den ersten demokratischen Wahlen im März 1990, dem Inkrafttreten der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion am 1. Juli 1990 und der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 erfuhr auch der einfache Bürger das definitive Ende des Sozialismus und des Staates DDR. (Hettlage 1995: 11)

Gekennzeichnet werden die Ereignisse als „Vereinigung“, „Wiedervereinigung“ und/oder „Wende“. Letztere Bezeichnung wurde bereits in der DDR[61] genutzt und bezogen sich auf den sich „über mehrere Jahre erstreckenden Prozeß der Gesellschaftstransformation, der schon vor der offiziellen staatlichen Vereinigung begann und in verschiedenen Bereichen unterschiedlich lang dauerte, oder noch andauert“. (Sackmann/Wingens 1999: 17) Der ‚Modernisierungsprozess’ der DDR war politisch gesteuert und verlief zu langsam. Mit der „Inkorporation“[62] (Huinink/Mayer 1993: 151) durch den Westen kam es zu einer rasanten Beschleunigung der Modernisierung, die kritisch als „Kolonialisierung“ (Gensicke 1998: 18), „einseitige Aneignung“ (Bauer 1991: 441) oder „Verwestlichung“ (Hartmann 1991: 101) bezeichnet wird. Der anfänglich euphorische Jubel verlor sich, eine kritische Grundstimmung kehrte ein. Sie resultierte aus der unerwarteten Konfrontation mit den Veränderungen in allen Lebensbereichen, die sich in anomischen Zuständen niederschlug. Hatte man doch an das Scheinbild des nahen Wohlstandes auf beiden Seiten zu sehr glauben wollen: Nun waren das politische System, die Institutionen,[63] die wirtschaftlichen Grundlagen und die sozialen Rahmenbedingungen vom Zerfall betroffen. (Huinink/Diewald/Heckhausen 1999: 251)

Für das System waren diese Veränderungen steuerbar und tragbar. Im Regelfall wird der ‚ganze’ Transformationsprozess aus dem Blickwinkel einer Top-down-System­modernisierung gesehen, der qua „Beitritt“ seit Anfang, spätestens Mitte der 90er Jahre, und als beendet betrachtet wird. Der Institutionentransfer gilt als gelungen und abgeschlossen. (Dietmaier-Jebara 2005: 18) Folge der Modernisierung mit Zielrichtung Dienstleistungsgesellschaft war eine Aufholjagd im tertiären Sektor[64], die zu erheblichen Bewegungen auf dem Arbeitsmarkt führte. Ein rapider und schonungsloser Abbau der Arbeitsplätze Anfang der 90er Jahre ist zurückzuführen auf den durch die Wirtschafts- und Währungsunion ausgelösten internationalen Konkurrenzdruck. Er ist begründet in dem enormen Produktivitätsrückstand der DDR-Unternehmen. Da nun die Ostmärkte wegbrachen und Produktionsmethoden rationalisiert werden mussten, erfuhren. „viele Ostdeutsche (…) diesen Prozess als rasante Ausgrenzung aus der Arbeitsatmosphäre, die ganze Berufsgruppen und Regionen erfasste.“ (Samol 2003: 84) Aus ökonomischer Sicht gehörte dies zu den „unvermeidlichen Begleiterscheinungen des wirtschaftlichen Strukturwandels“ (Häußermann/Gerdes 2000: 164), führte aber zu einem Wohlstandsgewinn.

Da allerdings der Umbruch 1989 für viele verknüpft war mit der Hoffnung[65] auf einen politischen Neuanfang in Form der Idee des dritten Wegs, der Hoffnung auf Entfaltungsmöglichkeiten durch den Aufbruch in die Marktwirtschaft und der Hoffnung nach einem leistungsbezogenen Lohn war die Enttäuschung groß, als ‚nur’ eine Überführung des Bestehenden vollzogen wurde. Die idealisierte soziale Marktwirtschaft erwies sich als geschwächt und nicht in der Lage, die rückständige DDR-Wirtschaft zu sanieren. Um den Menschen erwünschte Entfaltungsmöglichkeiten zu bieten, hätte es politischer und wirtschaftlicher Neuerungen bedurft. Treffend beschreibt Bedszent dies für den Konsum[66]:

„Im Osten wiederum gierte man in all den Jahren, das westliche Werbefernsehen stets vor Augen, nach den Segnungen des trotz (mehr oder minder) saurer Arbeit keinesfalls erreichbaren Konsums – und war nach 1990 mit den verachteten Alu-Chips zum bassen Erstaunen zugleich die geachtete Arbeit los.“ (Bedszent 1999: 169).[67]

Im Prozess der Transformation sollten marktwirtschaftliche Mechanismen durch staatlichen Druck wirksam werden. Der freie Wettbewerb war als gleichberechtigtes, gleichrangiges und freies Spiel der Marktkräfte in allen westlichen Industrieländern immer an ein dichtes Geflecht von institutioneller Infrastruktur, Reglementierungen, Kontrollinstanzen und politischen Steuerungsmechanismen gebunden, die im Laufe der Jahrzehnte perfektioniert und dem einzelnen politischen System angepasst wurden und damit kaum übertragbar waren. (Bernien/Dahms/Schaefer 1996: 9) Zapf resümiert: „die Vergangenheit der DDR kann nicht einfach unter bundesrepublikanisches Recht gestellt werden. Die Gefahr ist eine ‚Subkulturierung’ Ostdeutschlands.“ (Zapf 1994b: 134) Er befürchtete die Verfestigung der Ost-West-Differenz, die Entstehung einer „entbürgerlichten“ Versorgungsklassengesellschaft im Osten, die nur durch Dauersubventionen ruhig gehalten werden kann. Diese Veränderungen in der Arbeitswelt sind ein Resultat des Transformationsprozesses – doch was verbirgt sich hinter diesem bereits vielgebrauchten Begriff?

5.2. Transformation

Transformation kommt von dem Gerät ‚Umspanner’, welches ein- oder mehrphasige Wechselspannungen in eine höhere oder niedrigere Spannung gleicher Frequenz umwandelt. Unter der Transformation der DDR ist demnach das ‚Umpolen’ eines Systems und damit einer Gesellschaft zu verstehen. Nach dem Klassiker der Transformationsforschung Polanyi[68] ist es heute u.a. Zapf, der sich diesem Prozess in modernen Gesellschaften widmet. Transformation bezeichnet er als Modernisierungsprozess, der sich

„von den offenen Modernisierungsprozessen evolutionärer Innovation dadurch auszeichnet, daß das Ziel bekannt ist: Die Übernahme, Errichtung, Inkorporation von modernen demokratischen, marktwirtschaftlichen, rechtsstaatlichen Institutionen“ (Zapf 1994b: 138).

Bedenkt man die enttäuschenden Konsequenzen der Vereinigung, offenbart sich die darin verborgene Ironie: Die Moderne kämpft selbst mit Problemen, ohne Lösungen dafür zu finden; die westlichen Gesellschaften kämpfen mit Überlastung, Wachstumsgrenzen, selbstzerstörerischen Rückkopplungen und „nicht-intendierten Nebenfolgen“ aber sie sollen nun als Vorbild und Ziel dienen:

„Daß das System der Warenproduktion auch im goldenen Westen schon längst seinen Zenit überschritten und man sich auf das Deck eines leckgeschlagenen Schiffes gerettet hatte, wollte von der einheitsbesoffenen Bevölkerung anno 1990 kaum jemand wahrhaben – die wenigen warnenden Stimmen wurden niedergebrüllt. Auf den Freudenrausch folgte der Katzenjammer.“ (Bedszent 1999: 188)

Da die Transformationsgesellschaften mit dem Vorteil der Rückständigkeit ausgestattet sind und auf gesammelte Erfahrungen zurückgreifen können, haben sie die Chance zur bedachten und eventuell überholenden Modernisierung. Es fehlt jedoch nach wie vor an Alternativen, weshalb die ‚nachholende Modernisierung’ im Sinne der westlich kapitalistischen Gesellschaft über die Motoren der Rationalisierung, Differenzierung, Individualisierung und Domestizierung nach wie vor als einziges Ziel dasteht. (Zapf 1994a: 305) Damit war der Kurs auf Freiheit, Wachstum und Wohlfahrt fixiert. Das schlug sich in den Neuen Bundesländern in sozialstrukturellen Angleichungen wie z.B. „Rückgang der Frühehe, eine erhebliche Bildungsexpansion, ein Wachstum der nicht-öffentlichen Dienstleistung, eine Vergrößerung der Ungleichheit, eine Differenzierung der Lebensformen und Lebensstile“ (Zapf 1994b: 120) nieder. Auf das Gebiet der ehemaligen DDR wurden die Rechtsordnung der Bundesrepublik übertragen und das Privateigentum wiederhergestellt, es wurden die markt-wirtschaftlichen Preismechanismen eingeführt, und das soziale Netz wurde ausgedehnt. (Vgl. Fürstenberg 1995: 95) Dieser Beitritt zu einem „ready-made-state“ mit institutionellen und finanziellen Transfers von westdeutscher Seite, macht die ostdeutsche Transformation zum Sonderfall unter den Transformationsprozessen, die ausnahmslos der Vorstellung von einem schnellen linearen und zeitlich befristeten Anpassungsprozess nicht gerecht wurden. (Spéder/Schultz/Habich 1997: 336) Die Neuen Bundesländer wurden inkorporiert in ein System, in dem die institutionalisierte Schul- und Berufsausbildung in hohem Maße über den Gang des Arbeitslebens und die soziale Stellung entschied, in dem soziale Sicherung in hohem Maße auf Ansprüche zielt und in dem sich der Wandel der Berufsstruktur durch neue Generationen und weniger durch berufliche Wechsel am Arbeitsplatz gestaltet.

„Für die Bürger der DDR bedeutete die Wende gerade in der Zeit um 1989/90 eine erhebliche Orientierungslosigkeit; die Einbindung in das bestehende System ging verloren, das neue System war weitgehend unbekannt. Viele – übersteigerten – Erwartungen und Hoffnungen wurden enttäuscht. Nicht zuletzt beruhte die Enttäuschung auf dem Zusammenbruch der Wirtschaft in den Neuen Bundesländern“ (Maydell 1996: 11).

Eine gewichtige Rolle spielt sicherlich die Enttäuschung über das Wirtschaftssystem der BRD, welches mehr versprach, als einzulösen war – auf beiden Seiten unterlag man Illusionen: Die BRD-Bürger dachten, ihre Wirtschaftsstärke vertrage die Inkorporation der fleißigen Ostdeutschen, die DDR-Bürger vertrauten fest auf das propagierte Scheinbild einer westdeutschen Wohlstandsgesellschaft. Zudem vollzog sich die „Transformation ohne Integration“[69], ohne Beteiligung der Akteure der Wende. (Weihrich 1999: 227) Der wie von unsichtbarer Hand gesteuerte Verlauf der Umwandlung erzeugt Ohnmachtsgefühle, Destabilisierungs- und Konfliktpotentiale, zudem überlagerten sich das Erleben der Wende und des Arbeitsplatzverlustes. (Kronauer/Vogel 1994: 88) Gegenwärtig scheint der wichtige Prozess der handelnden Aneignung[70] der institutionalisierten Makrostrukturen durch die Akteure zu stocken, scheinen sich Einstellungs- und Mentalitätswandel zu verlangsamen. (Dietmaier-Jebara 2005: 18) Die Integrationsforschung verweist auf eine erzeugte Regulations-, Kohäsions- und Strukturkrise.[71] (Kühnel 2004: 587) Schon der oberflächliche Blick auf den Wandel der Arbeitssektoren innerhalb der ersten fünf Jahre nach der deutschen Vereinigung zeigt das Ausmaß dieses Wandels und macht aufmerksam darauf, dass späte Nachwirkungen einzukalkulieren sind.

[...]


[1] Vgl. Band II Materialen; J21w, Zeile 51, S. 20.

[2] Vgl. Bd. II, E47w, Zeile 143, S. 117.

[3] Vgl. Bd. II, E46w, Zeile 148 und 178, S. 102.

[4] « Verbum hoc ‚si quis’ tam masculos quam feminas complectitur. » (Corpus Juris Civilis, Dig. H., 16, 1).

[5] Sparschuh, Jens (1995): Der Zimmerspringbrunnen. Ein Heimatroman. München.

[6] Drehbuchautor und Regisseur: Robert Thalheim. Deutschland 2005.

[7] Bekannt wird nur, was sich der ‚mystischen’ Vergangenheit widmet, wie die zahlreichen parodistischen Darstellungen: „Sonnenallee“, „Helden wie wir“, „Good bye Lenin“ und „NVA“. Die Nachvollziehbarkeit des realen Ost-Alltags scheint ‚Wessis’ unzugänglich zu sein und ‚Ossis’ laben sich lieber an der ironisierten Vergangenheit, als sich mit ihrer Alltagstristesse auseinander zu setzen. Die realistischen, zeitkritischen Darstellungen verschwinden in den Schubladen oder werden in Spartenkinos und Kleinkunstbühnen gezeigt.

[8] Wandel, als soziologische Kategorie, ist die Veränderung in einer Struktur unseres sozialen Systems auf den gesellschaftlichen Ebenen der Sozialstruktur und Kultur auf der Makroebene, der Institutionen, der korporativen Akte und Gemeinschaften auf der Mesoebene und der Personen und Lebensläufe auf der Mikroebene.

[9] In Ostdeutschland, so Lutz, wird eine Entwicklungsrichtung vorgezeichnet, die auch für andere westeuropäische Länder an Relevanz gewinnen könnte. (Vgl. Lutz 1994)

[10] Dabei wird Bezug genommen auf die soziale Beschleunigung in allen Lebensbereichen, von der insbesondere die Arbeitswelt betroffen ist: Die Auflösung klassischer Berufsbiografien und die Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse sind nur ein Indikator für den Wandel, der die modernen Gesellschaften betrifft. Die Bürger der Neuen Bundesländer haben diesen in extrem beschleunigter Form erlebt.

[11] Diese These ist eine neuere Entwicklung, denn lange hielt man an der Konvergenzidee fest – die DDR sei ein Industriestaat wie jeder andere auch, die Bürger der DDR, so prognostizierten gar einige kurz nach der Vereinigung seien die Fleißigeren und würden schnell an die Spitze der Wirtschaft gelangen.

[12] Anomie ist nach Durkheim als ein Zustand der Gesetzes- und Normlosigkeit zu verstehen. Phänomene eines anomischen Zustandes können zu einer ernsthaften Bedrohung der freiheitlich-demokratischen und funktional-differenzierten Gesellschaft werden. Dieser Ansatz wurde übertragen auf den Transformationsprozess (Hormuth u.a. 1996).

[13] Nach der i ndividualdifferenzierten Situationshypothese (Veen 1997) besitzen individuelle Unterschiede gewisse Normalität. Nach der ö konomischen Situationshypothese (Walz/Brunner 1997), ist die ökonomische Ungleichheit für die unterschiedlichen Einstellungen verantwortlich. Nach der m odifizierten Situationshypothese wirken sich subjektive Ungleichheiten als Konzentrat objektiver Ungleichheiten aus. (Pollack/Pickel/Jacobs 1998)

[14] Ich bezeichne meine Interviewten, die sich anhand ihres Lebensalters (einmal die Gruppe der Erwachsenen zwischen 1954 und 1963 geboren und die Gruppe der nach 1976 geborenen) unterscheiden, als zwei Gruppen.

[15] Seit 1993 liegt eine ganze Reihe detaillierter Studien zu den ostdeutschen Erwerbsverläufen, zu Stabilisierungs- und Destabilisierungstendenzen im Transformationsprozeß vor. Vgl. „Arbeitslosenreport“ des BIAB I/1994, II/1994, I/1995. Umfassend repräsentative Bevölkerungs- bzw. Erwerbspersonenbefragungen, wie das SOEP, der ALLBUS, der Wohlfahrtssurvey, die Mehrthemenumfrage der KSPW oder das DDR-Lebensverlaufsprojekt des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung bieten interessantes Datenmaterial, um Lagen, Einstellungen und Verhalten Arbeitsloser und Erwerbstätiger in Ost- und Westdeutschland miteinander zu vergleichen.

[16] Vgl. Meulemann 1998 und 2004; Pickel 1998; Pickel/Walz 1998; Pollack 1997 u.a.

[17] Für den Datensatz des Wohlfahrtssurveys, mit Filter nach ausgewählten Variablen, vgl. [http://exanda.zuma-mannheim.de/Study_Wohlfahrtssurvey/Form.html; Abruf: 23.06.2006].

[18] Vgl. Alheit 2004; Pickel/Pickel/Walz 1998; Diewald/Huinink 1998; Wagner/Sydow 1996 u.a.

[19] In Anlehnung an Hahn/Schön (1996: 13).

[20] Selbstverwirklichung ist gebunden an eine spezifische Lebenskonzeption: Selbstachtung ist im Sinne von Selbstschätzung und Selbstwertgefühl zu verstehen. Es ist das Gefühl, dass der eigene Lebensplan der Verwirklichung wert ist, zusammen mit dem Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, diesen Plan auch umzusetzen. Dies ist, kurz gefasst, auch die einzige Identifikationsmöglichkeit mit Arbeit, so Schlothfeldt. (1995: 19) Man kann, im Sinne Rawls, Selbstachtung auch als ein Grundgut betrachten.

[21] Dieser Stolz ist an Anerkennung gebunden (weiterführend: Honneth, Axel (1992): Kampf um Anerkennung: zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt a.M.). Und damit wird schon an dieser Stelle wird deutlich, dass die analytische Trennung der subjektiven und gesellschaftlichen Funktion nur konstruiert ist.

[22] Instrumentelle Funktion war lange gesichert über den Tausch von Waren, erst über die Entlohnung der Ware Arbeitskraft in der Industrialisierung hat sich diese Funktion vom Tausch erarbeiteter Güter gelöst. Hier setzt Marx mit der Theorie der Entfremdung an.

[23] Arbeit wird trotz Verknappung als Verpflichtung des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft begriffen, weitergehend bei: Marshall, Thomas (1992): Citizenship and social class. London 1992.

[24] So wird die Integration durch Arbeit nach wie vor verknüpft mit der Integration als Staatsbürger, auch dieser Mechanismus befindet sich im Wandel. (Nassehi/Schroer 1999: 112)

[25] Diese Funktion wurde in der BRD schon in den 80ern in Frage gestellt, so argumentierte Offe: „das zeitliche Gewicht der Arbeit im Leben der Menschen ist bereits so gering, daß sie keinen strukturierenden Einfluß auf das Sozialverhalten der Menschen mehr nehmen kann. Die eigentliche Sphäre von Sinnstiftung und Selbstbewusstsein liegt jenseits der Erwerbsarbeit in dem reichen und vielfältigen Feld kreativer kultureller und sozialer Tätigkeiten.“ (Offe, zitiert nach Baethge u.a. 1989: 16)

[26] Erwerbstätige im Sinne der ILO Definition: „Jede Person im erwerbsfähigen Alter, die im Berichtszeitraum gegen Entgelt oder im Rahmen einer selbstständigen Tätigkeit gearbeitet hat, gleich in welchem Umfang.“

[27] Vgl. Kronauer der von den drei Partizipationsinstanzen Markt, Nahbeziehungen und Staat spricht. (2002: 100)

[28] Diese Leiden begreift Marx als Resultat der Entfremdung von Produkt, von der Arbeit, von Natur und Gattungswesen und von den Menschen untereinander.

[29] Dies ist zurückzuführen auf den Einfluss der christlichen Lebensethik, vgl. weitergehend bei: Weber, Max (hrsg. Von Kaesler, Dirk) (2004): Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. München.

[30] Vgl. zur aktuellen Entwicklung in Deutschland Baethge/Baethge-Kinsky/Kupka (2000) und Mayer (2000).

[31] Für eine umfassende historische Einführung mit Bezug zum Alltag kann an dieser Stelle nur verwiesen werden auf: Wolle, Stefan (1999): Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971-1989, Berlin.

[32] Der Sozialreport 1990 ist von Winkler noch vor der Vereinung verfasst und veröffentlicht. Er stellt ein interessantes Zeitzeugnis der Umbruchsituation dar: Er möchte die DDR auf Problemlösungen hinweisen und greift dazu auf die Statistiken der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik der DDR zurück.

[33] Die Charakterisierungen der Sozialstruktur der DDR gehen weit auseinander: DDR als Ständegesellschaft Meier 1990, als „Ständegesellschaft ohne Stände“ (Alheit 2005); DDR als klassenlose Gesellschaft; DDR als Klassengesellschaft (Solga 1994).

[34] Im Verfassungstext von 1968 (Artikel 24 Abs. 1) wurde festgehalten: „Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht auf Arbeit. Er hat das Recht auf einen Arbeitsplatz und dessen freie Wahl entsprechend den gesellschaftlichen Erfordernissen und der persönlichen Qualifikation. Er hat das Recht auf Lohn nach Qualität und Quantität der Arbeit. Mann und Frau, Erwachsene und Jugendliche haben das Recht auf gleichen Lohn bei gleicher Arbeitsleistung.“ Was unter „gesellschaftlichen Erfordernissen“ gefasst wurde, richtete sich nach den Wirtschaftsplänen der DDR. (Vgl. Maydell, 1996: 30)

[35] Nach §249 Strafgesetzbuch der DDR von 1968, wurde dies geahndet mit „Verurteilung auf Bewährung oder mit Haftstrafe, Arbeiterziehung oder mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren“.

[36] Selbständige waren kaum existent, so sank auch der Anteil privater Betriebe am Nettoprodukt von (1950) 43,2% auf (1976) 3,4%. (Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik der DDR: 1989)

[37] Art. 25 DDR-Verf.: „In der Deutschen Demokratischen Republik besteht allgemeine zehnjährige Oberschulpflicht, die durch den Besuch der allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule zu erfüllen ist.“

[38] „Die Mehrheit der Absolventen der 10. Klasse der POS erwirbt in einer zweijährigen Ausbildung einen Facharbeiterberuf, damit zugleich die Fachschulreife. Jährlich werden etwa 11000 Schüler in die Berufsausbildung mit Abitur (drei Jahre) aufgenommen.“ Winkler 1990: 54 und Wahler 2000: 183.

[39] Die Ideologie der Gleichheit im Sinne des Arbeiter- und Bauernstaates führte dazu, dass der Zugang zu Berufen schon in der Ausbildung schichtspezifisch organisiert wurde.

[40] Vgl. Art 223 AGB-DDR, welcher den Betrieb verpflichtete, die „geistig-kulturelle und sportliche Betätigung der Werktätigen des Betriebes, ihre weltanschauliche, ökonomische und ästhetische Bildung und Erziehung sowie die Entwicklung des geistig-kulturellen Lebens in der Bewegung `Sozialistisch arbeiten, lernen und leben` zu fördern.“

[41] Die Rolle des Betriebes als Ressourcenverwalter und -verteiler schuf in der Organisation und Durchführung weitere Arbeitsplätze.

[42] Kohli macht darauf aufmerksam, dass die soziale Landkarte der DDR eher durch Betriebe als durch Wohnorte zusammengesetzt war. (Kohli 1994: 43)

[43] Es existierten zahlreiche staatliche Auszeichnungen: darunter z.B. „Aktivist der sozialistischen Arbeit“ oder die „Medaille für ausgezeichnete Leistungen in landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft“ (1988, KPW: 930-933).

[44] Schätzungen des Münchener Ifo-Instituts verweisen auf die verdeckte Arbeitslosenzahl von fast 3 Millionen (vgl. Pankoke 1997: 433). Weiterführend: Vollmer, Uwe: Arbeitslosigkeit in sozialistischen Planwirtschaften. Stuttgart/Jena/New York 1994.

[45] Der Begriff der „Asozialen“ entstammt dem Wortschatz der DDR, so ist im § 249 des Strafgesetzbuches die Rede von der „Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten“.

[46] Es wird davon ausgegangen, dass das Private keineswegs öffentlicher war, vielmehr wurden die Grenzen anders gezogen: Analytisch könnte man trennen zwischen einer ‚reinen’, abgeschotteten und einer öffentlichen Privatsphäre. Letztere wurde staatlich produziert durch die enge Vermischung von bspw. Beruf und Freizeit.

[47] Bereits 1983 von Günter Gaus in: „Wo Deutschland liegt. – Eine Ortsbestimmung.“ publizierte These.

[48] Laut einer Umfrage von Weil war für 62% der Beschäftigten der Betrieb in der DDR in erster Linie Platz für soziale Beziehungen und zu 66% Ort der Kommunikation. (Weil 2000: 158)

[49] Diese sind Thema verschiedenster Untersuchungen: Pollack 1994: 74; Diewald 1995: 227; Mayer 1989: 442.

[50] Trommsdorff/Chakkarath verweisen auf eine Studie von Oswald und Krappmann (1995) unter Berliner Schulkindern der 1. bis 4. Klasse welche ermittelt, dass ostdeutsche Kinder ihre Freunde eher in der Schule gewinnen, während die Westberliner mehr Beziehungen außerhalb der Schule unterhalten. (1996: 63)

[51] Auch in der westdeutschen Gesellschaft stand der Betrieb lange im Mittelpunkt, im Gegensatz zur DDR hat sich hier jedoch eine „schrittweise Bereinigung“ vollzogen. (Lutz 1995, S 135) Nach dieser Argumentation von Lutz hat die DDR diese Verschränkung forciert, während sie sich in Westdeutschland auflöste. Es handelt sich demnach nicht um eine genuine Erfindung des ‚real existierenden Sozialismus’.

[52] Zur Mobilität, vgl. Huinink/Mayer/Trappe 1995. Zur Arbeitsanstrengung, vgl. Kronauer/Vogel 1995.

[53] Der Schutz der Mutter war eine „soziale Errungenschaft“ der DDR. Gem. §246 Abs. 1 AGB a.F. waren Mütter nach dem Wochenurlaub bis zum Ende des ersten Lebensjahres des Kindes von der Arbeit freizustellen. Der Erziehungsurlaub konnte in der DDR bis zum Ende des dritten Lebensjahres des Kindes verlängert werden. Frauen hatten Anspruch auf einen Hausarbeitstag im Monat, auf einen Kinderbetreuungsurlaub und es bestand Beschäftigungsschutz für Schwangere und stillende Mütter, zudem gab es eine Freistellung zur Kinderkrankenpflege. (Maydell 1996: 35)

[54] Frauen im Alter von 15 bis 45 Jahren; Geschlechts- und Alterseffekte wurden ausgeschlossen.

[55] Die hohe Erstheiratsneigung war zugleich verbunden mit einer hohen Scheidungsrate. Bei den in den 70er Jahren geborenen ostdeutschen Jugendlichen erlebten in 18,3% bis zur Erreichung der Volljährigkeit eine Scheidung, während dies in Westdeutschland bei 13,2% der Gleichaltrigen der Fall war. 19,7% der ostdeutschen und 16,3% der westdeutschen Jugendlichen, die in 60er Jahren geboren wurden, erlebten bis zu ihrer Volljährigkeit die Wiederverheiratung der Eltern. (Wagner/Sydow 1996: 91)

[56] So wirken Chancendifferenzierung der ehemaligen DDR nach, die Erwerbsneigung von Frauen bleibt konstant, aber auch die arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitischen Maßnahmen nach der Vereinigung griffen nicht. (Grünert/Bernien/Lutz 1997: 17f.)

[57] Auch die Daten auf die ich im folgenden zurückgreife werden sich demnach auf diesen Zeitraum beziehen.

[58] Mit der Bezeichnung „beschleunigter Wandel“, die Diewald/Solga (1994: 13) schon verwendet haben, ist ein guter Anknüpfungspunkt an die ‚Theorie der sozialen Beschleunigung’ gegeben. (Vgl. Rosa 1999a)

[59] Eine ähnliche Phasenunterscheidung nimmt auch Winkler (1998: 5) vor: 1990: die Phase der hohen Erwartungen, ab 1992 eine Phase der relativen Stabilisierung und ab 1995 eine Phase der zunehmend kritischen Sicht. Auch bei Bultemeier/Neubert (1998: 288) eine „erste Phase des massiven Beschäftigungsabbaus, der 1992 im wesentlichen zum Stillstand kam, eine Phase langsamer Konsolidierung zwischen 1993 und 1995 und ein erneuter Beschäftigungseinbruch seit 1995.“ Vgl. auch Lutz (1996a: 4) der sich darauf bezieht, dass sich seit Sommer 1992 die Strukturdaten kaum mehr veränderten. Lutz/Grünert (1996) sprechen von der „abgeschlossenen Phase des Zerfalls“ 1989 bis 1993.

[60] Eine Frage, an der sich die Geister scheiden: Man habe es nur noch mit „Folgeproblemen der Enkulturation, der Anpassung an neue Institutionen und mit Problemen effektiver Ressourcenallokation zu tun“ (Kollmorgen 2003: 255) und „das ‚Tal der Tränen’ (...) sei zu nennenswerten Teilen durchschritten“ (Spéder/Schultz/Habich 1997: 357). Andere weisen wiederum darauf hin, dass der Transformationsprozess sich als „komplexer, langzeitiger (d.h. generationenübergreifender) und darin pfadbestimmender offener Entwicklungsprozess erwiesen“ hat (Brussig/Ettrich/Kollmorgen 2003: 9), der „Veränderungsprozess sei somit noch nicht abgeschlossen“. (Rehberg 2000: 16)

[61] Wahrscheinlich zum ersten Mal genutzt auf der 9. Tagung des ZK der SED am 18. Oktober 1989 von Generalsekretär Egon Krenz. Im Anschluss an die Ereignisse von November 1989 wurde der Begriff von fast allen politischen Gruppen in der DDR und der BRD übernommen.

[62] Diese Idee der Inkorporation gab Anlass für die Inkorporationsthese, bzw. die These des Institutionentransfers, sie beziehen nur strukturelle Veränderungen und nicht die Reaktionen und Haltungen der Akteure ein. (Beer u.a. 1997: 77)

[63] Die Konsequenzen führen weiter: Jugendliche bräuchten, gerade im Umbruch Räume fern der elterlichen Einflüsse, um nicht in ein „fatales entwicklungspsychologisches Junktim“ zu geraten. (Abbe 1995: 26)

[64] Die Tertiärisierung war hier nur Nebeneffekt der Verschiebung der Arbeitsmarktstruktur, zunächst wurden der primäre und sekundäre Sektor abgebaut, was natürlich eine Stärkung des Tertiären Sektors bewirkte. (Vgl. Bultemeier/Neubert 1998: 290ff.; Diewald/Solga 1994: 13; Kronauer/Vogel 1994: 79) Das zeigt auch ein Blick auf die Verschiebungen in den Sektoren 2002 sind in den Neuen Bundesländern 3,2% der Erwerbstätigen im primären Sektor tätig (1989: 8,9%), 29,1% im sekundären (1989: 49,7%), 67,6% im tertiären (1989: 46,5%) Eigene Rechnung: auf Grundlage des Statistischen Jahrbuchs (2004: 102).

[65] Die Hoffnung zeigte sich in einer hohen Zustimmung zur Demokratie, die Distanzierung zeichnete sich erst Ende 1991 ab – mit wachsender politischer und wirtschaftlicher Enttäuschung. Pickel/Walz machen dies an verschiedenen Indikatoren fest, wie dem sinkenden Vertrauen in die Politik und das Ende der Bereitschaft sich durch einen Politiker vertreten zu fühlen. (Pickel/Walz 1998: 77)

[66] Der Konsum spielte in der Wendezeit eine wichtige Rolle: Hörner spricht von einem „Konsumzwang“ auf Grund des Nachholbedarfs und dem Wegfall der organisierten Freizeit. (Hörner 1995: 191) Gutes Beispiel dafür ist die totale Abkehr von gewohnten Ostprodukten und die völlige Hinwendung zum ungebundenen Konsum. (Ebert 1997: 123- 178)

[67] Die Alu-Chip Produktion war das Prestigeprojekt der DDR an dem allerdings zugleich die Produktionsrückstände auch den Werktätigen offenbar wurden.

[68] Polanyi hat den Begriff für einen Prozess eingeführt. Vgl. Polanyi, Karl (1977): The Great Transformation: politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Wien.

[69] Gensicke, Thomas (1998): Die neuen Bundesbürger. Eine Transformation ohne Integration. Opladen.

[70] Ein Transformationsprozess kann nur gelingen, wenn die Akteure die gesellschaftlichen Strukturen in ihrem Handeln reproduzieren können, deshalb sind anschlussfähige Institutionen Grundlage. (Weihrich 1999: 227; Gensicke 1998: 25f.)

[71] Die Regulationskrise verweist auf den Zerfall der normativen Ordnung, die Defizite entstehen lässt. Die Kohäsionskrise resultiert aus der Pluralisierung sozialer Beziehungen bei gleichzeitigem Schwinden althergebrachter institutioneller und kollektiver Integrationsmöglichkeiten. Die Strukturkrise ist gekennzeichnet durch den anhaltenden Konflikt zwischen exogener Steuerung und den unzureichenden endogenen Entwicklungspotentialen. (Kühnel 2004: 619)

Ende der Leseprobe aus 128 Seiten

Details

Titel
Biografische Erfahrung und gesellschaftliche Transformation - Eine qualitative Studie zum Bedeutungswandel von Erwerbsarbeit (Theorie und Auswertung)
Hochschule
Universität Augsburg  (Lehrstuhl für Soziologie mit Berücksichtigung der Sozialkunde)
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
128
Katalognummer
V69226
ISBN (eBook)
9783638601153
Dateigröße
1035 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Biografische, Erfahrung, Transformation, Eine, Studie, Bedeutungswandel, Erwerbsarbeit, Auswertung)
Arbeit zitieren
M.A. Laura Behrmann (Autor:in), 2006, Biografische Erfahrung und gesellschaftliche Transformation - Eine qualitative Studie zum Bedeutungswandel von Erwerbsarbeit (Theorie und Auswertung), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/69226

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