Vom modernen Märchen zum modernisierten Remake - Preisträger der Kinderjury innerhalb des Film & Fernseh-Festivals Goldener Spatz - Eine Analyse von drei Preisträgerfilmen


Diplomarbeit, 2003

123 Seiten, Note: 1.3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Zusammenfassung

Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Einleitung

1 Das Kinderfilmfestival Goldener Spatz
1.1 Gesellschaftliche Hochachtung - Der Kinderfilm in der DDR
1.2 Für die Kinder und mit den Kindern - Die Geburt des „Spatzen“
1.3 Die Erziehung der Gefühle
1.4 Die Geschichte des Festivals bis
1.5 Land in Sicht - Nach der Deutschen Wiedervereinigung

2 Filmanalysen
2.1 Verfahrensweise der Filmanalysen
2.2 Ein Schneemann für Afrika (1977)
2.2.1 Filmrealität
2.2.1.1 Wechselnde Handlungsstränge - Inhalt und Stilelemente
2.2.1.2 Die Filmfiguren und ihre Beziehungen
2.2.1.3 Die Handlungsorte MS „Wismar“ und Coccatuttibana
2.2.2 Bedingungsrealität
2.2.2.1 Losanskys Herz für Kinder und Phantasie
2.2.2.2 Von der Arbeit mit Trickfiguren und jungen Darstellern
2.2.3 Bezugsrealität
2.2.3.1 Gedanken von Solidarität und Freundschaft
2.2.3.2 Phantasie schärft den Blick für die Realität
2.2.4 Wirkungsrealität
2.2.4.1 Kritik und Lob für den Film
2.2.4.2 Der Film im Wettbewerb um den Goldenen Spatz
2.3 Das Heimweh des Walerjan Wróbel (1991)
2.3.1 Filmrealität
2.3.1.1 Die fünf Stationen Walerjans
2.3.1.2 Die Kraft von Bild und Ton
2.3.2 Bedingungsrealität
2.3.2.1 Der erste Spielfilm des „düsteren“ Dokumentaristen
2.3.3 Bezugsrealität
2.3.3.1 Zwangsarbeit in Deutschland
2.3.3.2 Das Nazi-Unrecht am Beispiel eines konkreten Schicksals
2.3.4 Wirkungsrealität
2.3.4.1 Rezeption und Bewertung durch die Kinderjury
2.3.4.2 Kommerzieller Erfolg vs. anerkannte Qualität
2.4 Emil und die Detektive (2000)
2.4.1 Filmrealität
2.4.1.1 Inhaltliche Struktur und formaler Aufbau des Kinderkrimis
2.4.2 Bedingungsrealität
2.4.2.1 Die Entstehung des Remakes
2.4.2.2 Kästners Klassiker als Erfolgsgarant für das Remake
2.4.3 Bezugsrealität
2.4.3.1 Übertragung der klassischen Vorlage in die Moderne
2.4.3.2 Die Kraft von Kindern
2.4.4 Wirkungsrealität
2.4.4.1 Statements der Kinderjury
2.4.4.2 Erfolg nach Erwarten

2.5 Schlussfolgerung

3 Fazit und Ausblick - Ein gutes Klima für den deutschen Kinderfilm?

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Tabelle: Preisträger in der Kategorie „Spielfilm“ von 1979 -

Abb. 2: Quelle: Progress Film-Verleih

Abb. 3: Sequenzgraphik: Ein Schneemann für Afrika

Abb. 4: Quelle: Studio Hamburg

Abb. 5: Sequenzgraphik: Das Heimweh des Walerjan Wróbel

Abb. 6: Quelle: Bavaria Filmverleih- und Produktions GmbH

Abb. 7: Sequenzgraphik: Emil und die Detektive

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Zusammenfassung

Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht die Analyse von drei Spielfilmen, welche im Wettbewerb um den Kinderfilmpreis Goldener Spatz ausgezeichnet wurden. Die Veranstaltung wurde 1979 als Nationales Festival f ü r Kinderfilme der DDR in Kino und Fernsehen in Gera gegründet und bot erstmals dem jungen Publikum die Gelegenheit, auf nationaler Ebene ihre Favoriten zu wählen. Im Rhythmus von zwei Jahren werden seitdem einem Fach- und Kinderpublikum Beispiele aus verschiedenen Genres der Kinderfilmproduktion präsentiert. Die Besonderheit des heutigen Festivals ist, dass Kinder für die Vergabe der Hauptpreise zuständig sind. Die von der Fachjury unabhängige Kinderjury setzt sich aus 32 Mädchen und Jungen aus ganz Deutschland zusammen. Sie sichtet, diskutiert und bewertet eigenständig die deutschen und co-produzierten Wettbewerbsbeiträge und prämiert ihre Favoriten in derzeit sieben Kategorien. Diese Art der Selbstbe- stimmung leistet einen wichtigen Beitrag zur Medien- und Handlungskompetenz des jungen Publikums. Filmkunst für Kinder sollte gleichberechtigt neben der Filmkunst für Erwachsene stehen und daher auch von ihrer Zielgruppe kritisch bewertet werden. Bei der Analyse der drei Preisträgerfilme ließ sich feststellen, dass das Thema „Rechte der Kinder“ auch innerhalb ihrer Entscheidungsfindung von Bedeutung ist. In der Wahl des jungen Publikums spiegelt sich demnach die Besonderheit des Festivals wider: Kinder erhalten Entscheidungsfreiräume und einen Einfluss auf etwas, das sie selbst betrifft. Durch eine ausführlichere Thematisierung und Betrachtung von Kinderfilmen kann deren kultureller und gesellschaftlicher Aspekt hervorgehoben werden. Erst recht, da Filme für das junge Publikum seit den letzten Jahren zu den erfolgreichsten deutschen Filmproduktionen zählen.

Einleitung

„Ein renommiertes Festival wie dieses verleiht auch den Kindern eine Stimme und eröffnet dem Erwachsenen die Chance, neue Orientierungen zu suchen und ihren Anspruch an die Kultur für Kinder zu überprüfen“ (Zitat aus dem Grußwort des Kulturstaatsministers Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin zum Goldenen Spatz 2001).

Medienkompetenz ist der Schlüsselbegriff, wenn es um die heutige Erziehung von Kindern geht, denn „die Medienlandschaft stellt eine wichtige Bedingung für die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen dar“ (Tulodziecki 1998, S. 535). Daraus erwächst der Anspruch, Kinder zu einem selbständigen und verantwortungsbewussten Umgang mit den Medien zu befähigen. Das Kinder- Film & Fernsehfestival Goldener Spatz bietet eine Möglichkeit zu dem geforder- ten kompetenten Handeln, indem Kinder die für sie bestimmten Filmproduktionen eigenständig bewerten und prämieren können. Demnach liegt der Kern des Festivalgedanken in dem Vertrauen auf die Urteilsfähigkeit von Kindern.

Im ersten Kapitel werden zunächst die Entstehungshintergründe des Goldenen Spatzes und seine Geschichte dokumentiert. Dabei wird mein Interesse hauptsächlich auf die Arbeit der Kinderjury gerichtet sein, vor allem hinsichtlich ihrer Preisträger in der Kategorie „Spielfilm“ (heute: „Fiction lang“). Diese Kategorie war von Anfang an im Festival präsent. Sie spielt sowohl im Fernsehen als auch im Kino eine große Rolle und stellt meines Erachtens einen etablierten und gewichtigen Repräsentanten innerhalb der Bewertung dar. Die aufgeführten Fakten und Zahlen zum Festival stammen, soweit nicht anders angegeben, aus dem Archiv der Stiftung Goldener Spatz und sind daher nicht nochmals explizit mit einer Quellenangabe versehen.1

Während es eine Vielzahl von Filmanalysen im Bereich des Erwachsenenkinos gibt, werden ausführliche Betrachtungen zum Thema Kinderfilm nur selten vorgenommen. Im Laufe der Recherche habe ich festgestellt, dass zwar sehr oft über die Bedeutung des Kinderfilms geschrieben wurde, tiefergehende Werk- analysen jedoch kaum existieren. Der Kinderfilm sollte meines Erachtens in seiner Funktion als Kunstwerk und kulturelles Erlebnis dem Erwachsenenfilm in nichts nachstehen, sondern in seiner Bedeutung und gesellschaftlichen Beachtung gestärkt werden. Aus diesem Grund werde ich mich im zweiten und zentralen Teil der Arbeit der analytischen Betrachtung von drei Preisträgerfilmen widmen. Folgende Produktionen werden von mir aufgrund ihrer besonderen zeitlichen Stellung in der Festivalentwicklung beleuchtet: Ein Schneemann f ü r Afrika (Regie: Rolf Losansky, erster Preisträger im Jahr 1979), Das Heimweh des Walerjan Wr ó bel (Regie: Rolf Schübel, Preisträger der ersten bundesweiten Kinderjury 1993) und Emil und die Detektive (Regie: Franziska Buch, Preisträger von 2001). Die ausgewählten Filme werden auf Basis von Helmut Kortes’ Arbeitsbuch zur Einf ü hrung in die Systematische Filmanalyse (Erich Schmidt Verlag, Berlin 2001) untersucht. Damit ist es möglich, verschiedene Aspekte und Bedingungen der Filmentstehung sowie der Rezeption zu zeigen und infolge- dessen genauere Aufschlüsse über die vielfältigen Präferenzen der Kinder zu geben. Jede Analyse wird sich auf vier Bereiche der filmischen Interpretation stützen: Im ersten Teil wird die Filmrealität beleuchtet und Handlungsabläufe im Zusammenhang mit der filmischen Gestaltung untersucht. Der zweite Teil soll mit Hilfe der Bedingungsrealität den Bezug zu externen Kontextfaktoren herstellen. Im dritten Teil gibt die Bezugsrealität Aufschluss über die thematisierte Proble- matik des Films und ordnet sie in den zeitlichen Diskurs ein. Der vierte Teil umfasst die Wirkungsrealität des Films, also seine Rezeptionsgeschichte bezüglich des Festivals.

Im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses steht die Frage nach den thematischen und stilistischen Merkmalen bei den untersuchten Kinderfilmproduktionen. Geklärt werden soll dabei insbesondere die Frage, ob es über die inhaltlich und zeitlich bedingten Unterschiede hinweg Gemeinsamkeiten gibt, welche bezüglich der Kinderjuryentscheidung von Bedeutung gewesen sein könnten.

Den Abschluss der Arbeit bildet ein Ausblick auf den derzeitigen Stand der deutschen Kinderfilmproduktion und das Festival Goldener Spatz. Damit verbunden ist auch die Fragestellung, ob und inwieweit die durchaus kompetenten Einschätzungsfähigkeiten und die Wünsche der Zielgruppe stärker berücksichtig werden können.

1 Das KinderfilmfestivalGoldener Spatz

1.1 Gesellschaftliche Hochachtung - Der Kinderfilm in der DDR

Eingebettet in das Lenin’sche „Ensemble der Künste“ hatte der Kinderfilm in der Deutschen Demokratischen Republik eine systemstabilisierende und - bestätigende Aufgabe. Die Arbeit der Filmschaffenden bewegte sich ständig zwischen politischer Funktionszuweisung einerseits und künstlerischer Eigenstän- digkeit andererseits. Filmkunst und gesellschaftliches System waren eng miteinander verflochten, was sich sowohl fördernd als auch hemmend auf den Kinderfilm ausgewirkte. Fördernd durch seine gehobene gesellschaftliche Bedeu- tung und die gesicherte Existenz, hemmend durch mehrfachen staatlichen Einsatz von Filmen als pädagogisches Instrumentarium und „Beruhigungspille“ im realso- zialistischen Alltag (vgl. Giera 1993, S. 23).

Zwischen 1946 und 1991 wurden 160 bis 180 Kinospielfilme für Kinder von der DEFA2 in den Atelierstudios in Potsdam-Babelsberg produziert und dabei staatlich vollständig subventioniert. Diese unkonkrete Zahl resultiert aus dem schwankenden Alter der Zielgruppe und der ungenauen Definition des Genres „Kinderfilm“ (vgl. Wiedemann 1999, S. 1). Die jährliche Produktion umfasste so- mit vier bis fünf Filme, was im Durchschnitt etwa einem Viertel der Gesamt- Jahresproduktion entsprach. „Kinderfilme wurden in den DEFA-Studios nicht nur als notwendige Gesellenstücke auf dem Wege zum ‚Erwachsenenkino’ gesehen, ... sondern primär als Aufgabe für speziell interessierte und befähigte MacherInnen“ (Wiedemann 1999, S. 1). Regisseure wie Walter Beck und Rolf Losansky drehten daher fast ausschließlich Filme für das junge Publikum. Seinen tatsächlichen Anfang nahm der DDR-Kinderfilm aber erst im Dezember 1952. Die DEFA war inzwischen von der neugegründeten DDR als Staatsbetrieb über- nommen worden und richtete, als Reaktion auf die ein halbes Jahr vorher von der SED verabschiedeten Resolution „Für den Aufschwung der fortschrittlichen deutschen Filmkunst“, eine eigene Kinderfilmabteilung ein (vgl. Wiedemann 1999, S. 2). 1954 wurde dann eine weitestgehend selbständige Gruppe für Kinder- film gebildet, mit der Festlegung, „daß die Erweiterung der Kinderfilmproduktion nicht auf Kosten der Filme für Erwachsene gehen kann“ (ebenda). Der Kinderfilm erhielt nunmehr seine organisatorische Grundlage und wurde dem Erwachsenenfilm in materieller, finanzieller, technischer und personeller Hinsicht gleichge- stellt. Kurz darauf wurde die Zusammenarbeit mit der Zentralleitung der Pionier- organisation „Ernst Thälmann“ und dem Deutschen Fernsehfunk (DFF) ausge- baut, um den Kinderfilm stärker zum ideologischen und pädagogischen Einsatz zu führen. Ein Beispiel dafür ist der erste Kinderspielfilm Die St ö renfriede (Regie: Wolfgang Schleif), welcher 1953 in die Kinos kam. Der Film thematisiert die individualistischen Verfehlungen zweier Jungpioniere, welche durch eine muster- gültige Schülergemeinschaft sanft, aber konsequent korrigiert werden.

Schwerpunktmäßig waren die meisten Filme sehr alltagsorientiert und hatten die Erziehung durch das Kollektiv oder das einzelne Vorbild als Grundthema. Die positiven Helden wurden nur schematisch und undifferenziert dargestellt und der vielfach zitierte „erhobene Zeigefinger“ kam deutlich zum Einsatz. Idealisierte Sichtweisen und Zielvorgaben wirkten sich teilweise nachteilig auf die künst- lerische Wirkung der ersten Kinderfilme aus, denn „ ... mit der Didaktik kam die Langeweile“ (Benno Pludra, zit. aus Heidtmann 1992, S. 153). Der Umstand, dass die gezeigten filmischen Helden kaum etwas mit den realistischen Verhaltens- weisen von Kindern zu tun hatten, wurde mehr und mehr kritisiert. Zu simpel und oberflächlich erschien die dargestellte Welt, als dass sie der marxistisch-leninis- tischen Auffassung vom Kind gerecht werden konnte.

Neben den stark zeitverhafteten Themen Erschließung der Vergangenheit, Antifaschismus, Geschichte der Arbeiterbewegung, Auseinandersetzung mit der Gegenwart und sozialistischer Aufbau wurden seit den 1950ern auch Märchen- filme produziert. Diese sollten aber nach den Worten von Alexander Abusch, Staatssekretär im Ministerium für Kultur, „nicht der Verbreitung des Mystizismus dienen, sondern das Kind im Geiste sozialer Gerechtigkeit und zur Liebe für das arbeitende Volk erziehen“ (vgl. Heidtmann 1992, S. 152). Der Aufschwung des Märchens wurde weiterhin durch die Tatsache gefördert, dass Mitte der 1960er Jahre einige kritische Gegenwartsfilme für Erwachsene nicht in den Kinos gespielt wurden (ebenda, S. 153). Die vom Staat diktierten Vorgaben bremsten die filmästhetischen Ansprüche und der zusätzliche restriktive Einfluss des Ministeriums für Volksbildung führte zu thematisch belangloseren Produktionen oder gar Resignation der Autoren und Filmemacher.

Obwohl allein 1967 und 1968 acht Spielfilme mit einem Kostenaufwand von 9,6 Millionen Mark hergestellt wurden, sank die Bedeutung des Kinderfilms durch die Entwicklung und Ausbreitung des Fernsehens (vgl. Wiedemann 1999,

S. 3). Das allerdings verschaffte den Filmemachern nun endlich gewisse Frei- räume, da die kulturpolitische und agitatorische Priorität der SED-Führung nun beim Fernsehen lag. In den 1970er Jahren wurden vermehrt inhaltliche, thematische und stilistische Neuerungen sowie Tricktechniken eingesetzt, die sich bis dahin nicht mit dem „Aufklärungs-, Agitations- und Realitätsimpetus“ vereinen ließen (vgl. Wiedemann 1999, S. 5). Großer Beliebtheit erfreuten sich z.B. die Indianerfilme der DEFA, welche seit 1966 die bis dato bestehende Lücke im Bedürfnis nach Abenteuer und Exotik zu schließen vermochten (vgl. Heidtmann 1992, S. 154). Außerdem hielt die Phantasie Einzug in den Kinderfilm und schuf somit den Auftakt einer spezifischen und sehr erfolgreichen Tradition in der DDR: In Filmen wie Blumen f ü r den Mann im Mond (Regie: Rolf Losansky, 1975) und Konzert f ü r Bratpfanne und Orchester (Regie: Hannelore Unterberg, 1976) wurde der häufig triste Alltag durch Träume und Wunschvorstellungen neu gestaltet. Phantastische Elemente, die man bildhaft innerhalb eines realen Szenariums einsetzte, forderten den kindlichen Zuschauer auf, seine eigene Phantasie und Kreativität auszuleben und damit Lösungen und Wege aus Konflikten und Widersprüchen des Lebens zu finden. Der Kinderfilm wurde dadurch von dem strengen pädagogisch-ideologischen Auftrag befreit. „In einer regen Wechselbeziehung zwischen dem auf der Leinwand vorgeführten Geschehen und dem vom Publikum eingebrachten Erfahrungen und Interessen vermittelt der Kinderfilm ein Kunsterlebnis, bei dem die erzieherischen Absichten natürlich nicht hintenanstehen, jedoch ist es nicht vordergründig ‚aus seiner Einbettung in den Bereich der Pädagogik’ geprägt“ (Hellmuth Häntzsche, zit. aus Giera 1/82, S. 7). Verstärkt produzierte man nun Filme, die „auf den Wellenlängen eines gegenwärtigen Lebensgefühls“ (Pehnert 1981, S. 4) gestaltet wurden. Realistische und subjektive Sichtweisen, ohne künstliche Barrieren zwischen Kind- und Erwachsenenwelt, prägten immer mehr die Kinderfilm- produktion in der DDR. Die kindlichen Helden wurden identifizierbarer für ihr Publikum und „erreichbar durch ihre sich ausprägende Souveränität ..., mit der sie dem Leben begegnen, an ihm aktiv teilhaben“ (Giera 1/82, S. 7).

Der Mangel an Komödien, Musik- und Kriminalfilmen wurde Anfang der 1980er Jahre noch beklagt (vgl. Giera 1/82, S. 13ff.), dennoch entwickelte sich der Kinderfilm abwechslungsreich und die behandelten Themen wurden immer mannigfaltiger. Das Bild des kleinen Helden und sein selbstbewusstes Agieren formte sich weiter. Zum einen traten nun auch vermehrt Mädchen ins Zentrum der filmischen Handlung, beispielsweise in den Filmen Nicki (Regie: Gunther Scholz, 1980) und Sabine Kleist, 7 Jahre (Regie: Helmut Dziuba, 1982). Zum anderen wurden die Figuren rebellischer und lebten ihre Träume und manchmal auch Aggressionen aus, wie bei Moritz in der Litfasss ä ule (Regie: Rolf Losansky,1983). Dabei waren die Protagonisten keineswegs Anhäufungen von positiven Eigenschaften, sondern sie vereinten zwiespältige und problematische Dimensionen des Lebens in sich. Kinderfilme wurden nun ohnehin genauer in Bezug auf die soziale Realität und wirkten so besser als Spiegelbild der Gesellschaft: Alleinerziehende Elternteile werden z.B. zu zentralen Figuren, da die Filmproduktion von der immer höher werdenden Scheidungsrate und der zu- nehmenden Zahl unehelich geborener Kinder beeinflusst wurde (vgl. Wiedemann 1999, S. 6). Zu deutliche Missstände sollten jedoch nicht aufgezeigt werden; daher konnte Kritik nur ansatzweise in die filmische Handlung einfließen. Aufsehen erregte der Film Insel der Schw ä ne (Regie: Hermann Zschoche, 1983, nach dem gleichnamigen Buch von Benno Pludra) aufgrund des skeptischen Blicks auf die sozialistischen Arbeits- und Lebensbedingungen (ebenda, S. 8).

Neben der staatlich gesicherten Produktion, dem Vertrieb und den regelmäßigen Kinovorführungen wurde der Kinderfilm durch sehr niedrige Eintrittspreise (25 bis 50 Pfennig) und initiierten Veranstaltungen, wie z.B. regio- nalen Jugendfilmwochen, dem daraus entstandenen Goldenen Spatz, Kinder- sommerfilmtagen und zahlreichen Filmclubs der Organisation „Junge Pioniere“, in seiner Beliebtheit und Relevanz gefördert. Erfolgreiche Filmklassiker „wurden in mehrjährigen Abständen durch die Kinos geschickt und zwischendurch vom Fernsehfunk ausgestrahlt“ (Heidtmann 1992, S. 156). Viele Kinderfilme kamen somit auf Zuschauerzahlen von einer halben bis zu über einer Million (vgl. Giera, 1/82, S. 5). Doch der Aufstieg des Fernsehens bewirkte gleichwohl eine Verän- derung in den Kinobesuchsstatistiken. Kinder gingen Mitte der 1960er Jahre noch zehnmal häufiger ins Kino als 20 Jahre später (vgl. Heidtmann 1992, S. 156). Wie bereits erwähnt, hatte der Kinderfilm jedoch einen festen Platz im Fernsehprogramm der DDR und konnte das Publikum kontinuierlich erreichen.

Durch den Verkauf der Treuhand wurde der Name „DEFA“ im Jahre 1991 aus der Liste aktiver Filmproduktionsfirmen gelöscht. Der Betrieb in Babelsberg wurde aufgelöst und die bis dahin gesicherte Existenz der „Familie der Kinderfilmmacher“ verschwand. Der letzte DEFA-produzierte Kinderspielfilm war Zirri - das Wolkenschaf (Regie: Rolf Losansky) und kam 1992 in die bundesdeutschen Kinos. Die neugegründete DEFA-Stiftung, das Berliner Video- Label „Icestorm“ und der weitergeführte Filmverleih „Progress“ sorgen dafür, dass der DEFA-Film im gesamtdeutschen Raum seine Verbreitung finden kann.

1.2 Für die Kinder und mit den Kindern - Die Geburt des „Spatzen“

Vom 2. bis 9. Februar 1979 fand das Nationale Festival für Kinderfilme der DDR in Kino und Fernsehen Goldener Spatz zum ersten Mal statt. Es entstand als Fortführung der seit 1965 im Rhythmus von zwei Jahren durchgeführten Kinderfilmwochen auf nunmehr höherer Ebene und war nicht zuletzt auch ein Beitrag der DDR zum von der UNO proklamierten „Jahr des Kindes“. Die gesellschaftliche Wertschätzung des Genres „Kinderfilm“ wurde dadurch untermauert und das Festival stand unter dem Leitgedanken der Filmschaffenden, das Publikum wichtiger als sich selbst zu nehmen. Entsprechend seinem Reglement sollte dieses 1. Nationale Festival für Kinderfilme den Charakter eines Arbeitsfestivals haben. Aufgeführt wurden Filme, die sowohl das Profil der nationalen Kinderfilmproduktion bestimmten, als auch neue inhaltliche und gestalterische Aspekte verdeutlichten und Auskunft über Entwicklungstendenzen gaben. Gleichzeitig trafen sich Filmemacher, ihr junges Publikum und Pädagogen zum schöpferischen Meinungsaustausch, bei dem Anregungen und Erfahrungen besprochen wurden, um so Verbesserungen für den Kinderfilm zu erreichen (vgl. Stock 1979, S. 27). Das Festival beinhaltete neben dem Wettbewerbsprogramm eine Retrospektive des DDR-Kinderfilms sowie Foren und Diskussionsrunden mit Film- und Fernsehproduzenten, Kindern, Pädagogen, Eltern und internationalen Gästen. 22 Teilnehmer aus zwölf Ländern kamen nach Gera, unter anderem aus der Sowjetunion, Rumänien, Finnland, Kuba, Algerien, Österreich und der BRD.

Im Wettbewerb liefen 40 Filme, darunter 16 Spielfilme, elf Dokumentationen und 13 Trickfilme, die laut Reglement im Zeitraum „zwischen Januar 1977 bis 31.12.1978 fertig gestellt und staatlich zugelassen“ waren. In diesen drei Kategorien wurden die Preise der Fachjury vergeben. Darüber hinaus hatte die Jury die Möglichkeit, Ehrendiplome für besonders zu würdigende Einzel- leistungen zu verleihen. Veranstaltet wurde das Festival bis einschließlich 1989 im zweijährlichen Rhythmus vom Ministerium für Kultur, dem Staatlichen Komitee für Fernsehen beim Ministerrat, dem Verband der Film- und Fernsehschaffenden der DDR und dem Rat des Bezirkes Gera. Für die inhaltliche Gestaltung beriefen die Veranstalter ein Komitee, dem 1979 der Kinderfilmautor Günter Mehnert als Präsident vorstand. Der elfköpfigen Fachjury gehörten neben Jurypräsident und Filmpublizist Heinz Hofmann fünf Regisseure, ein Schriftsteller, eine Dramaturgin, ein Szenograf, der Stellvertretende Direktor des VEB „Progress Filmverleih“ sowie der Grafiker und Erfinder des Festivalmaskottchens Rolf F. Müller an. Daneben gab es eine selbständig arbeitende Kinderjury, die sich aus 13 filminteressierten Pionieren verschiedener Geraer Schulen und Filmklubs zusammensetzte. Die Neun- bis Vierzehnjährigen vergaben allerdings nur Ehrenpreise. Weitere Ehrenpreise und -diplome konnten von staatlichen Institutionen vergeben werden.

Die Filmemacher waren sehr darauf bedacht, eine Reaktion des Publikums zu bekommen und „die ungeschminkte, ganz eigene Meinung der Kinder“ zu erfahren (Spatzenfl ü ge 1997, S. 3). Bei der Bewertung der Filme einigte man sich auf eine Zensurenvergabe und verteilte Noten von Eins bis Fünf. Diese mussten allerdings von jedem einzelnen Kind möglichst exakt begründet und gegebenen- falls verteidigt werden. Dadurch waren die Jungen und Mädchen gezwungen, sich selbständig und intensiv mit den Filmen auseinander zusetzen: Warum hatte ihnen etwas ge- oder missfallen, weshalb fanden sie dieses oder jenes lustig bzw. traurig, spannend oder langweilig, sympathisch oder unglaubwürdig und so weiter. Circa 30 Stunden dauerte die Sichtung der Filme insgesamt und bei den anschließenden Diskussionen kamen noch einmal 20 Stunden dazu. „Also sie hat- ten neben all der Ehre, ... eine ungeheure körperliche und geistige Belastung zu verkraften“ (Zimmerling 1979, S. 10). Betreuerin Ingeborg Zimmerling schrieb weiterhin über die Arbeit der Kinderjury: „Ich habe die Beobachtung gemacht: Je jünger die Kinder, desto sensibler empfangen sie Filme und reagieren sie auf den Film, desto genauer sind ihre Urteilsbegründungen und ihre Beobachtungen, desto präziser sind sie auch im Feststellen von Ungenauigkeiten“ (ebenda). Tendenziell würdigten die Kinder vor allem, wenn ihnen etwas Wissenswertes auf spannende und humorvolle Weise mitgeteilt wurde, wobei man aber auch bemerkte, dass Kinder über die Späße der Erwachsenen nicht immer lachen konnten. Des weiteren honorierten Kinder, wenn sie sich mit der dargestellten Welt identi- fizieren konnten, was aber nicht bedeutete, dass sie eine heile, problemlose Welt sehen wollten, in der alles glatt und vorhersehbar läuft. Sie kritisierten Unehr- lichkeiten in der Schilderung der Gegenwartsgeschichte, z.B. wenn Erwachsene als zu vorbildlich und gut gezeigt wurden. Dagegen honorierten sie, wenn Kinder von Erwachsenen als gleichberechtigte Partner angesehen wurden. Bewusst eingesetzte phantasievolle Elemente und Figuren mochten die Mädchen und Jungen, aber unlogische oder gar ungelöste Fragestellungen führten zu schlechten Bewertungen. Auch war der positive Held der Geschichte nicht immer der Held der Kinder. „Ihr Held musste lustig, sympathisch und echt sein“ (ebenda, S. 12). Unnatürlich spielende Darsteller oder deren schlechte Aussprache wurden ebenso kritisiert, wie überflüssige Wiederholungen bzw. Erklärungen oder ein übertriebener Einsatz von Musik, Geräuschen und Bildern.

Die vorgestellten Filme in der Kategorie „Spielfilm“ setzten sich aus drei Märchenadaptionen der Gebrüder Grimm, drei phantasievoll-humoristischen Ge- schichten, drei historischen Filmen und sieben zumeist abenteuerlichen Gegen- wartsfilmen zusammen. Der eindeutige Favorit der Kinder war das moderne Märchen Ein Schneemann f ü r Afrika (Regie: Rolf Losansky), wohingegen sich die Fachjury für den Abenteuerfilm Das Raubtier (Regie: Walter Beck, 1978) entschied. Eine analytische Betrachtung des Films Ein Schneemann f ü r Afrika wird im Kapitel 2.2 vorgenommen.

Aufgrund der starken kritischen Auseinandersetzung mit den Filmen, die teilweise recht negativ war, gab es eine spontane Forderung der Kinder, auch die für sie schlechtesten Filme benennen zu dürfen. Einer davon war der Spielfilm Jozia - die Tochter der Delegierten (Regie: Wojciech Fiwek, 1977). Dieser Film basiert auf einer Erzählung von Anna Seghers, die im Polen der 1920er Jahren spielt. Darin muss sich das Mädchen Jozia für zehn Tage in der Wohnung verstecken, da ihre Mutter zu einem Kongress nach Moskau fährt. Niemand darf etwas von dieser Reise erfahren und diese geheime Isolation stellt für Jozia eine große Belastung dar. Während der Film von den jüngeren Jurymitgliedern noch positiv bewertet wurde, stieß er bei den Älteren auf Ablehnung. Zum einen weil das gleichnamige Buch bereits in der Schule zur Genüge behandelt wurde, zum anderen fand man die beschwerliche Reise der Mutter zu flüchtig dargestellt.

Der erste Goldene Spatz erwies sich als großer Erfolg. Über 100.000 Besucher, unter ihnen Filmschaffende aus der ganzen Republik und internationale Gäste, kamen zu den insgesamt 400 Veranstaltungen des ersten Festivals zum Schauen und Diskutieren.

1.3 Die Erziehung der Gefühle

„Wenn wir davon ausgehen, daß fast jeder junge Mensch, meist schon im Vorschulalter beginnend, täglich durchschnittlich zwei Stunden vor dem Fernsehgerät sitzt und weit öfter ins Kino geht als der Erwachsene, so ergibt sich daraus für die Film- und Fernsehschaffenden wie für ihre publizistischen Mitstreiter, und insbesondere für eine Jury, die besondere Verantwortung, hier beratend, helfend, leitend und fördernd einzugreifen“ (Hofmann 1979).

Der Verband der Film- und Fernsehschaffenden der DDR hatte auf seinem III. Kongress die „Errichtung und Durchführung leistungsfördernder nationaler Wettbewerbe“ beschlossen und somit die Grundlage für den Goldenen Spatz geschaffen (vgl. Hofmann 1979). Filmemacher wollten nun gemeinsam Bilanz aus der vergangen Arbeit ziehen und gleichzeitig über Erreichtes und Erstrebenswertes diskutieren. Viele Autoren und Regisseure hatten erkannt, dass bei ihnen eine große Verantwortung für die Erziehung der Gefühle, die Bildung des ästhetischen Anspruches und des politischen Bewusstseins lag. Vor dem Hintergrund, dass gute Kinderfilme einen Menschen oftmals durch das ganze Leben begleiten und sowohl ideelle als auch moralische Orientierung geben, zur Entscheidungsfindung beitragen und eine gewisse Vorbild und Leitfunktion besitzen, wollten die Film- und Fernsehschaffenden Begleiter der Kinder sein. „Was sozialistische Filme für Kinder ... an Erlebnis- und Denkfähigkeit bean- spruchen, wird meist zum Auslöser eines Entwicklungsprozesses fürs Leben. Dafür, daß dieser Prozeß nicht abbricht, braucht der junge Zuschauer ständig Partner“ (Hofmann 1979). Die Qualität dieser Partnerschaftsbeziehung zu fördern war eine der Hauptanliegen der Festivalveranstalter. Volksbildungsministerin Margot Honecker forderte auf dem VIII. Pädagogischen Kongress die Erziehung zur Erlebnisfähigkeit. Film und Fernsehen sollten dahingehend dienlich sein, gleichzeitig aber auch ästhetisch unterhalten, dem ausgeprägten Bedürfnis der jungen Zuschauer nach Erlebnissen entgegenkommen und sie „immun gegen alles Banale und Fortschrittsfeindliche“ machen (Stock 1979, S. 28).

Bei aller Erziehung zu Solidarität, Aufgeschlossenheit, Kreativität und Kollek- tivorientiertheit wurde jedoch auf die Altersspezifik bzw. das kindliche Bedürfnis nach Humor, Phantasie, Romantik, Unterhaltung und Spannung geachtet. Über die Wünsche und Interessen des Publikums als Grundlage des thematischen Schaffens und der gestalterischen Umsetzung herrschte schon immer ein reger Gedankenaustausch unter den Filmemachern. „Dieses mannigfaltige Nebeneinan- der erfolgte nicht blind füreinander, sondern in fortwährender schöpferischer Korrespondenz innerhalb der sehr groß gewordenen ‚Familie’ der Kinderfilmemacher ...“ (Odenwald 5/95, S. 26). Dafür bot Gera einen idealen Platz. Die damalige Bezirkshauptstadt, circa 250 Kilometer entfernt vom gestrengen politischen Treiben in Berlin-Ost, hatte sich bereits bei der Durchführung der Kinderfilmwoche 1975 beliebt gemacht. Hier konnten sich die Filmemacher in Ruhe zum Meinungsaustausch untereinander bzw. mit ihrem Publikum einfinden, ohne dass allzu viel staatliche Atmosphäre auf Gedanken und Gespräche niederdrückte. Der schöpferisch wirkende Geist von Gera war auch Ausdruck dafür, dass Kinderfilmkunst weiter gedeihen konnte, sowohl durch die stets guten Bedingungen ihrer Produktion, als auch durch ihre intensive, offene und öffentliche Betrachtung. Man inspirierte sich gegenseitig mit Lob aber auch mit Kritik. Das Stichwort „Kindertümelei“ war beispielsweise ein Streitpunkt vieler Diskussionen. Laut dem marxistisch-leninistischem Verständnis von einem gleichberechtigten und gegenseitigen Verhältnis von Kinder und Erwachsenen galt es, Verniedlichungen, Glättungen und Verharmlosungen kritisch zu sehen. Wohlwollendes Herabbeugen und die Betrachtung des Kindes als bloßes Erziehungsobjekt waren zunehmend unvereinbar mit dem sozialistischen Realismus. Stattdessen wurde versucht, dem Kinderfilm eine besondere künstlerische Sprache und dramaturgische Grammatik zu geben. Ihm stand dabei ebensoviel Differenziertheit und Qualität in Inhalt und Darstellung zu, wie dem Erwachsenenfilm. Wie im Kapitel 1.1 schon erwähnt, emanzipierte sich dabei das Künstlerische im Film gegenüber dem Pädagogischen. „Der Kraft des mora- lischen Potentials des Helden und seiner Dialektik mit Idealen im Alltag wird mehr Aufmerksamkeit in der künstlerischen Gestaltung geschenkt.“ (Giera 1982, S. 2). Der Kinderfilm sollte sich an der Erfahrungs- und Empfindungswelt von Kindern orientieren, mit Phantasie, Humor, Liebe und Leidenschaftlichkeit gestaltet sein. Man wollte dem jungen Zuschauer ein Kunsterlebnis vermitteln und eine intensivere Erfahrung des Lebens bewirken, indem die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit gefördert wurde. Es war mehr und mehr erklärtes Ziel der Filmschaffenden, alles was dem jungen Zuschauer an Lebenshilfe, an Orientierung und Wissen vermittelt wurde, auch unterhaltend und anschaulich darzustellen, ohne den Kindern die Anstrengungen des selbständigen Verstehens- prozesses abzunehmen. Des weiteren war es den Künstlern ein Bedürfnis, die schöpferische und kreative Kraft ihres jungen Publikums anzuregen. Dabei sollten den Kindern keineswegs fertige Lösungen präsentiert, sondern ihre gedankliche und produktive Auseinandersetzung mit dem Leben aktiviert werden. Der Gegenwartsfilm, mal mit realistischen und mal mit phantastischen Momenten, war für die Umsetzung dieser Ansprüche je nach Alter und Bedürfnis der Zielgruppe geeignet und bildete einen umfassenden und bedeutenden Bereich der Kinderfilmkunst der DDR.

1.4 Die Geschichte des Festivals bis 1989

Im Folgenden werden die einzelnen Festivalsjahrgänge in chronologischer Reihenfolge vorgestellt und dabei schwerpunktmäßig die Preisentscheidungen der jungen Rezipienten bezüglich der vorgestellten Spielfilmproduktionen beleuchtet.

1981: In seiner Struktur und Organisation blieb das Festival bis 1989 weitestge- hend gleich. Zwei Jahre nach dem Start wurden allerdings auch die elektronischen Produktionen des Fernsehens in das Festivalprogramm miteinbezogen. Somit er- weiterte sich die Palette der eingereichten Beiträge. „Spielfilm“ und „Fernseh- spiel“ wurden in einer Kategorie vereint, ebenso „Dokumentarfilm“ und „Fern- sehpublizistik“. Die Besucher und Festivalsteilnehmer schätzten ganz besonders, dass sie in Gera über alle Studiogrenzen und Genres hinweg zusammentreffen konnten. Es war im internationalen Vergleich nicht üblich, dass Film- und Fern- sehschaffende zusammen ein Festival veranstalten. Auch die im nationalen Rah- men tätige Kinderjury war eine Besonderheit ohne entsprechendes Pendant in der BRD. Ihre Entscheidungen wurden von den Filmschaffenden teilweise sogar mehr beachtet als die der Fachjury. Die Jungen und Mädchen erwiesen sich als sehr kompetente Kritiker der vorgestellten Filme und überraschten die Erwachsenen oftmals mit Übereinstimmungen in ihrer Favoritenwahl. Filme wie Max und sie- beneinhalb Jungen (Regie: Egon Schlegel, 1980), Unternehmen Geigenkasten (Regie: Gunter Friedrich, 1984), Das Heimweh des Walerjan Wr ó bel (Regie: Rolf Schübel, 1991) und Karakum (Regie: Arend Agthe, 1993) wurden sowohl von der Fach- als auch von der Kinderjury ausgezeichnet. Mit unterschiedlichen Begrün- dungen zwar, aber es zeigte doch, dass die Kinder in ihrer Entscheidungsfindung, einer Erwachsenensicht in nichts nachstehen, wenn sie sich intensiv mit Thema, Inhalt und Gestaltung eines künstlerischen Werkes auseinandersetzen. So gelang es auch gerade den Kindern über parteiliche und pädagogische Absichten hinweg einen Film für sich zu bewerten. Der Film Isabel auf der Treppe (Regie: Hannelo- re Unterberg, 1983) erhielt 1985 den Ehrenpreis der Kinderjury. Dieser Film war damals sehr umstritten und erschwerte die weitere Arbeit der bis dahin durch Kon- zert f ü r Bratpfanne und Orchester (1976) geschätzten Regisseurin. Isabel auf der Treppe handelt von der Einsamkeit eines zehnjährigen chilenischen Mädchens, das zusammen mit seiner Mutter in die DDR emigriert und dort sehr einsam war. Diese Thematik wurde staatlicherseits als kritisch eingeschätzt, da die sie nicht konform zur offiziellen Auffassung von Solidarität war. Unterbergs Film kam zwar 1984 doch noch als veränderte Fassung in die Kinos, aber ähnliche Projekte durften von ihr nicht mehr realisiert werden (vgl. Felsmann 1996, S. 15). Die

Kinderjury indes lobte den Film. In ihrer Begründung heißt es: „Der Film erzählt uns eine bewegende Geschichte über Chilenen, die in der DDR eine neue Heimat gefunden haben. Wir erfahren dabei von ihren Freuden, aber auch vom Kummer, vom Heimweh und vom Unverständnis, das ihnen oft entgegengebracht wird. Nachdenklich stimmte uns die Haltung von Philipps Mutter. Der Junge und sein Großvater haben dagegen begriffen, daß Frau Perez und ihre Tochter vor allem menschliche Wärme brauchen An Isabel und Philipp gefiel uns, daß sie so herzlich miteinander befreundet waren und sich aus unterschiedlichen Gründen um die beiden Mütter Sorgen machten. Auch das ist Solidarität.“

Durch die bereits erwähnte Einbeziehung von Fernsehproduktionen stieg das Wettbewerbsprogramm 1981 auf 58 Filme an, wobei der Animationsfilm mit 26 Beiträgen diesmal den größten Anteil hatte und die Kategorie „Spielfilm / Fern- sehspiel“ 14 Beiträge umfasste. Begrüßt wurde die gehobene Qualität der Filme hinsichtlich der Themenvielfalt und Umsetzung. Die Filme waren insgesamt reali- tätsnaher, poetischer und heiterer als 1979 und man lobte das Vertrauen der Film- und Fernsehschaffenden in die Fähigkeit der Kinder, Konflikte zu erfassen und die Fragen und Widersprüche des Lebens zu begreifen. In auffällig vielen Filmen wurde das Verhältnis zwischen Mensch und Tier bzw. Umwelt ausdrucksreich ge- schildert. Hervorgehoben wurde auch die differenziertere Psyche der Helden, die die Kinder zum Nachdenken und Einschätzen anregte. Dennoch forderten die Mit- glieder der Fachjury in ihrem Festival-Resümee mehr filmische Vielfalt um auf die Bedürfnisse und Erlebniserwartungen der Zuschauer noch genauer eingehen zu können, mehr Mut zu starken Gefühlen, zu Freundlichkeit, Gemeinschaftssinn und zum herzlichen Lachen sowie einen verbesserten Einsatz von Filmmusik. Einige Animationsfilme wurden hinsichtlich ihrer überflüssigen, umständlichen und unoriginellen Bildkommentare kritisiert, was den verantwortlichen Produzen- ten wenig Einfühlungsvermögen in die kindliche Phantasie und die Unter- schätzung ihrer Rezeptionsfähigkeit bescheinigte. Ein oft behandeltes Thema in- nerhalb der Kategorie „Spielfilm“ war das Zusammenleben und der Dialog zwi- schen den Generationen. Hier war eine wahrheitsgetreue, gleichwohl interessante Darstellung gefordert: „Kinder aller Alterstufen bevorzugen starke Geschichten, die sie durchgehend fesseln, die keinen Spannungsabfall kennen und voller Über- raschungen sind“ (Thiele 1981). Der Doppelpreisträger Max und siebeneinhalb Jungen ist ein gelungenes Beispiel dafür: Der ehemalige Widerstandskämpfer Max schickt ein Gruppe von Schülern der achten Klasse aus Luckenwalde zu sei- nem Freund nach Weimar. Mit nur fünf Mark in der Tasche nehmen die Kinder die ungewöhnliche Reise zum Ettersberg auf. Die abenteuerliche Entdeckung der Vergangenheit wird für die Kinder zu einer Bewährungsprobe. Sie stellt einen Weg zum Erwachsenwerden und zum Verständnis der Generationen füreinander dar. Die Kinder fanden den Film „spannend vom Anfang bis zum Ende“ und schätzten ebenfalls die heiteren Momente. Vor allem die Figur „Safte“ und seine pfiffigen Einfälle, die der Gruppe aus so manch misslicher Lage verhalfen, amü- sierten die Jury. In den Diskussionsrunden zeigte sich aber auch, dass Kinder weit über Spannungs- und Lachmomente hinaus bewerten und nicht nur aktionsreichen und witzigen Szenen ihre Beachtung schenken. Sie debattierten beispielsweise in- tensiv und anspruchsvoll über den Traum in seinen verschiedensten Formen (Alptraum, Wunschvision, Phantasiegebilde) als ein häufig wiederkehrendes Element im Film (vgl. Thiele 1981).

25.000 Kinder besuchten die Filmveranstaltungen und das Rahmenprogramm. 250 Besucher aus der Film- und Fernsehbranche sowie Presse wurden registriert. Darunter befanden sich 28 ausländische Gäste aus elf Ländern, unter anderem aus Vietnam, Belgien, Ungarn, Norwegen und BRD.

1983: So einig wie sich Fach- und Kinderjury 1981 noch waren, so sehr differier- ten ihre Einschätzungen der vorgeführten Beiträge beim dritten Festival. Während sich die Fachjury auf den Spielfilm Sabine Kleist, 7 Jahre (Regie: Helmut Dziuba, 1982) einigte, kam bei den jungen Kritikern keine rechte Übereinstimmung auf. Ernsthaftes und Heiteres hatte diesmal den selben Stellenwert in der Gunst der Kinderjury. Zum ersten Mal wurden gleich drei Ehrenpreise in der Kategorie „Spielfilm / Fernsehspiel“, die insgesamt 16 Beiträge umfasste, vergeben. Ausgezeichnet wurde eine Folge aus der komödiantischen Serie Spuk im Hochhaus (Nachfolgeserie von Spuk unterm Riesenrad, Regie: Günter Meyer, 1983), der Film Pianke (Regie: Gunter Friedrich, 1983) und Die Sch ü sse der Arche Noah (Regie: Egon Schlegel, 1982). Interessanterweise basieren die beiden letztgenannten auf literarischen Vorlagen des Autors Peter Abraham und beschrei- ben Kinderschicksale in der Zeit des Nationalsozialismus.

Der Goldene Spatz hatte sich zu seinem dritten Festival entgültig als Symbol eingeprägt und lockte 410 Fachleute und insgesamt 25.000 Zuschauer nach Gera. Außerdem kamen 28 ausländische Gäste zu Besuch, unter anderem aus Jugoslawien, den Niederlanden, CSSR und der BRD.

1985: Mehrere Spielfilm-Preisträger gab es auch 1985. Mit dem Kinderkrimi Un- ternehmen Geigenkasten (1984) wurde erneut ein Film des Regisseurs Gunter Friedrich ausgezeichnet. Begründet wurde diese Entscheidung einmal mehr durch Kriterien wie Spannung, Humor, phantasievolle und verrückte Einfälle. Des weiteren wurde der bereits erwähnte Film Isabel auf der Treppe geehrt. In den Fachdiskussionen stellte man bedauernd fest, dass die Darstellung der Vaterfiguren oftmals einseitig und negativ war und sie liebevoller, einfühlsamer und zugänglicher für die kindlichen Probleme gewünscht würden.

Der Goldene Spatz entwickelte sich zusehends zu einer international beachte- ten Veranstaltung. Seit Beginn des Festivals bestanden intensive Kontakte zu so- zialistischen Ländern, wurden aber auch Anregungen an das westliche kommer- zielle Kino und Fernsehen vermittelt. Viele von der DEFA produzierte Kinder- filme kamen in der Bundesrepublik in den Verleih oder wurden vom Fernsehen angekauft und ausgestrahlt. International spielte der DDR-Kinderfilm im Laufe der Zeit eine immer größere Rolle und fungierte als kultureller Botschafter der DDR. Persönlichkeiten aus vielen Ländern waren regelmäßige Besucher in Gera. Nicht nur, dass ausländische Beobachter die Zustände und Bedingungen der Film- produktion als „paradiesisch“ beschrieben, man würdigte auch die „besondere Pflege des Kinder- und Jugendfilms in der DDR ..., die Kunstwerke von hohem Rang hervorgebracht hat“ (Prof. Hilmar Hoffmann, zit. aus Odenwald 5/95, S. 25). Von der „Schule des Kinderfilms“, wie das Festival von sachkundigen Gäs- ten genannt wurde, gingen sogar Impulse für die Kinderfilmarbeit in der BRD aus: Dort fand 1984, unter anderem angeregt durch den Goldenen Spatz, die 1. Informationsschau des Kinderfilms der BRD statt (vgl. Ried 1992, S. 6). Fachleute aus verschiedenen Ländern diskutieren in Gera über internationale Tendenzen des Kinderfilms und lobten die offene und vertrauliche Atmosphäre dieser Stadt.

Nach diesem vierten Festival gab es indes ernsthafte Überlegungen, den Golde- nen Spatz in die Hauptstadt zu verlegen. Der Hauptgrund war ein prestigeträch- tiger: Berlin stand vor seiner 750-Jahrfeier. Die Filmemacher waren wohl diejeni- gen, welche den Umzug verhinderten. Man genoss Zeit, Vertraulichkeit und Ruhe in Gera und die abwesende Kulturbürokratie. Außerdem befürchtete man den Untergang des Festivals in der Vielzahl von kulturellen und hochoffiziellen Akti- vitäten in der Metropole Berlin.3 Für die Beschäftigung mit Filmen im Sinne von Kunst statt pädagogischer Aufklärung brauchte es keine Hauptstadtveranstaltung, sondern das vertrauensfördernde und vertrauensbildende Klima von Gera.

1987: Zum kleinen Jubiläum 1987, dem fünften „Spatzen“, umfasste der Wettbe- werb 54 Beiträge, darunter zwölf Spielfilme. Bei den 15 Geraer Schülern dominierten diesmal Humor und technische Professionalität und dementsprechend siegte in der Kategorie „Spielfilm/Fernsehspiel“ Rolf Losanskys trickreicher Film Das Schulgespenst (nach dem gleichnamigen Kinderbuch von Peter Abraham, 1986). Sie begründeten ihre Entscheidung aber auch mit der ernsthaften Überlegung, dass „auch Notwendiges, ja Unangenehmes getan werden muß und nicht nur was einem Spaß macht.“

Während man beim vierten Festival noch die Vaterfiguren kritisierte, so fielen nun die kühlen, überbeschäftigten und gedankenabwesenden Mütter auf. Offenbar hatten sich die Filmemacher die kritischen Bemerkungen so zu Herzen genommen, dass sie nun ins umgekehrte Extrem verfielen. Zumindest zeigt sich so, dass der Dialog zwischen den Jurys und den Filmemachern nicht ohne Spuren bleibt, sondern Auswirkung auf die Filmproduktion schlechthin hat. Kritiken kamen diesmal auch aus den Reihen der Presse, die das Übermaß an unverbindlichen Unterhaltungsfilmen, die klischeehaften Darstellungen der Eltern und vor allem die ständigen Wiederholungen von bereits bekannten Schemata bemängelte. Besonders dem Spielfilm wurden Austauschbarkeit und Konventio- nalität bescheinigt und mehr Hinwendung zu den unmittelbaren Gegenwarts- themen gewünscht. In ihren Anmerkungen zum fünften Festival schrieb die Journalistin Oksana Bulgakowa:

„Das Problem des Sich-Wiederholens im Kinderfilm ist zweischneidig. Bei Erwachsenen führt Übersättigung durch Gehabtes zu leeren Kinos. Kinder wachsen immer nach, ein neuer Jahrgang wird sich auch den zehnten ‚Film mit Hund’ angucken ... Heißt das der Kinderfilm bremst sich selbst?“ (Bulgakowa 1987) Insgesamt besuchten rund 47.000 Menschen das 1987er Festival. Die Zahl der Fachleute betrug 347. Darunter waren 40 ausländische Gäste aus 13 Ländern.

1989: Kai aus der Kiste (Regie: Günter Meyer, nach dem gleichnamigen Kinderbuch von Wolf Durian, 1988) war der letzte Siegerfilm der Kinderjury vor der Deutschen Wiedervereinigung. Die sechs Mädchen und fünf Jungen sichteten diesmal 50 Film- und Fernsehbeiträge. Davon waren 13 Produktionen in der Kategorie „Spielfilm/Fernsehspiel“. Der Preisträger handelt von dem 13-jährigen Kai, der sich im Berlin der 1920er Jahre zusammen mit seiner Hinterhofbande um einen Werbeauftrag für einen amerikanischen Kaugummihersteller bemüht. Der reiche Amerikaner stellt sich als armer Betrüger heraus und Kais Vorstellung vom großen Geld geht am Ende lediglich in einer Traumsequenz in Erfüllung. Vereinigt wurden Elemente der musikalischen Revue, der Komödie und des Krimis und diese Mischung überzeugte das junge Publikum. Besonders die raffinierten Ideen der Kinderbande, die Musik und die Einblicke in vergangene Zeiten wurden von den Kindern großer Zustimmung aufgenommen. Doch „der Schluß des Films stellte sie dann nicht ganz zufrieden Auch hier wird wieder der Wunsch ausgesprochen, daß ein Filmheld, mit dem sie mitfühlten, auch Erfolg haben sollte“ (Felsmann 1989, S. 7).

1.5 Land in Sicht - Nach der Deutschen

Wiedervereinigung 1991: Das 1991er Festival galt als eine Art Bewährungsveranstaltung und Brücke zum achten Festival. Wie seit Anbeginn sollte es Filmemacher untereinander bzw. mit ihrem jungen Publikum zusammenführen, doch darüber hinaus galt es auch die Menschen aus Ost und West zu verbinden. Dies musste nun erstmals ohne eine vom Staat ermöglichte finanzielle und organisatorische Sicherheit geschafft werden. Nur mit viel Engagement und Geldern der Stadt Gera, dem Land Thüringen, dem Bundeskulturministerium, den Öffentlich-Rechtlichen Fernsehanstalten und weiteren Sponsoren konnte das erste Nachwende-Festival veranstaltet werden. Das schwere Amt des Präsidenten übernahm diesmal Rolf Losansky: „...ich fühlte mich wie ein Rangierer, der den West- und Ostwaggon ‚zusammenkoppeln’ .. musste. Überall hatte ich davon blaue Flecke - aber es hat geklappt!“ (Spatzenfl ü ge 1997, S. 32)

Filmemacher aus dem gesamten Bundesgebiet waren gespannt auf ihre Kollegen und einen gemeinsamen Austausch über den nunmehr „deutschen“ Film. Neben der Neugier und Freude herrschte aber auch eine wehmütige Stimmung unter den Filmemachern des Deutschen Fernsehfunk und der DEFA. Über ihnen schwebte eine belastende Unsicherheit, wusste doch niemand, wie lange man noch eine feste Anstellung hatte und ob man in der Lage sein würde, unter den veränderten Bedingungen der Marktwirtschaft weiterdrehen zu können. Bewegte man sich bisher zwischen politischem Agitationen und künstlerischem Anliegen, so musste man von nun an auf dem schmalen Grat zwischen dem eigenen filmischen Anspruch und kommerzieller Wirklichkeit wandern. Diese kommer- zielle Wirklichkeit war Anfang der 1990er Jahre vor allem geprägt durch medien- politische Veränderung, wie der Novellierung des Rundfunkstaatsvertrages im

Jahr 1994, der Privatisierung von elektronischen Medien und der damit verbundenen Bedeutungszunahme von Einschaltquoten und Werbeeinnahmen.

Damit der Etat für die Produktion gesichert bleibt, muss der nationale Kinderfilm in seiner kulturellen und somit auch wirtschaftlichen Bedeutung gestärkt werden. Dafür wiederum braucht er neben einer engagierten Kinderfilm- szene einen Ort, an dem sich seine Befürworter regelmäßig treffen und gemeinsam bilanzieren können. Der Goldene Spatz sollte dieser zentrale Treffpunkt sein: Ein Festival zur Präsentation, Reflexion und Perspektivensuche. Dafür waren einige konzeptionelle Umgestaltungen notwendig. Das Genre „Unterhaltung“ bekam beispielsweise einen eigenen Platz in der Kategorienreihe. Eine weitere, bis dato einmalige und ganz besondere Veränderung gab es für die elfköpfige Kinderjury: Sie durfte nun für die Vergabe des Goldenen Spatzes zuständig sein und sichtete dafür insgesamt 45 Beiträge. Damit kam man dem Wunsch des jungen Publikums nach mehr Selbstbestimmung entgegen. Die Erfahrungen der vergangenen Jahre hatten bereits gezeigt, dass Kinder ihre ganz eigenen Qualitätskriterien formulierten und Filme ihrerseits unter teilweise anderen Gesichtspunkten beurteilten als Erwachsene dies tun. Für die Filme- macher gewannen die Entscheidungen der Kinder noch mehr an Bedeutung, denn ihre Meinung wurde nun offiziell zum Mittelpunkt des Wettbewerbs.

Der poetisch und gefühlvoll inszenierte Sieger in der Kategorie „Spielfilm“ trug einen passenden Titel zur geglückten Rettung des siebenten Festivals: Land in Sicht (Regie: Berno Kürten, 1990). Der Film handelt von Yvonne, einem Hamburger Mädchen, das Reiterferien auf dem Land macht. Dort wird sie von zwei Jungen umworben, die ihretwegen ihre Freundschaft aufs Spiel setzen. In der Begründung hieß es: „Der Film war dunkel, weil es Herbst war. Man lernt die Nordsee kennen, und ihre Gegend vermittelt Wissenswertes und Neues. Die psychische Bedrängnis des Mädchens Yvonne wird einem sehr nahe gebracht. Vor allem, weil die Probleme wie im richtigen Leben aus einer Art ‚Kette’ bestehen Die Geschichte war etwas lustig und sehr traurig, aber auch nachdenkenswert, wenn man solche Probleme wie das Alleinsein selbst hat.“

1993: Es folgten zwei weitere Jahre voll engagierter Bemühungen um die Zukunft des „Spatzen“. Um diese einmalige Veranstaltung weiterhin bundesweit und kontinuierlich zu erhalten, wurde im März 1993 eine Stiftung errichtet, deren Gründungsmitglieder die Stadt Gera als damaliger Veranstalter, ARD / MDR, das ZDF und RTL waren. Zur Gründungsbeauftragten wurde Elke Ried (unter anderem Präsidentin des Europäischen Kinderfilmverbandes und Leiterin des

Kinderfilmfestivals Frankfurt/Main) berufen, die dann auch die Leitung des Festivals und die Geschäftsführung der Stiftung übernahm. Die Neukonzeption des Goldenen Spatz beinhaltete alle wichtigen Punkte des alten traditionsreichen Festivals, bezog gleichzeitig aber auch die Erfahrungen aus den alten Bundesländern mit ein. Die Veranstaltung sollte ein nationales Publikums- und Arbeitsfestival bleiben und die Film- und Fernsehproduktion hinsichtlich ihrer Verbreitung, Popularität, Professionalität und Wettbewerbsfähigkeit stärken. Ein Rahmenprogramm, bestehend aus Foren zu verschiedenen filmrelevanten The- men, einem neueingerichteten internationalen Kinderfilm- und Fernsehmarkt für Einkäufer und Verleiher und einer Hommage-Filmreihe über Rolf Losansky, rundete das Festival ab. Mit 9.000 großen und kleinen Besuchern und rund 400 akkreditierten Fachleuten aus Film, Fernsehen und Presse wurden die Erwartungen der Festivalveranstalter erfüllt.

Erstmals bestimmte eine bundesdeutsche Kinderjury die Preisträger, die sich auf nunmehr sechs Kategorien verteilten: „Kino- und Fernsehfilm“, „Kurzspiel- film“, „Animation“, „Dokumentation / Magazin“, „Unterhaltung / Magazin“ so- wie „Serie / Reihe“. Die 29 Mädchen und Jungen wurden aus über 120 Bewerbern ausgewählt, wobei jeder Bewerber auf den in Kinos und Kinderfilmclubs erhältlichen „Mitmachbögen“ seine Film- und Fernsehgewohnheiten angeben sollte. Die Juryarbeit wurde folgendermaßen organisiert: Nach der Sichtung eines Films fand eine spontane Bewertung nach Punktvergabe im Bereich von null bis maximal sechs Punkte statt. Auf einem Bewertungsbogen waren die Beiträge der jeweiligen Kategorien aufgelistet und mit Bewertungskriterien wie glaubwürdig, wissenswert, phantasievoll, langweilig, nachdenkenswert, unverständlich, Musik, Kamera/Bilder usw. versehen. In einer täglichen Feedback-Runde wurde dann intensiv über die einzelnen Kriterien und die Punktevergabe diskutiert und jedes Jurymitglied hatte ein möglichst aussagekräftiges Statement abzugeben. Nach den Gesprächen und anhand einer weiteren detaillierteren Beurteilung wurden abermals Punkte vergeben. Bei den Beurteilungen konnten sich die Kindern an Fragen orientieren, wie z.B.: Konntest du dich gut in die Hauptfiguren versetzen? oder Würdest du den Film weiterempfehlen? Die Höhe der Punktezahl war zum Schluss entscheidend für den Erfolg eines Films. Wie schon die Jahre zuvor, mussten die Kinder eine kurze Gesamteinschätzung für ihren Favoriten erstellen. Die im Wettbewerb präsentierten Beiträge zeigten, dass der Kinderfilm trotz aller Probleme existierte und qualitätssicher war. Dabei waren die meisten Produktionen „thematisch stark der Gegenwart und der Realität verpflichtet - mit dem Bewußtsein: Kinder brauchen Märchen und Abenteuer“ (Radevagen 1993).

Im Bereich „Spielfilm“ gab es für die jungen Kritiker zwei Favoriten unter den insgesamt 45 Wettbewerbsbeiträgen. Zum einen die Abenteuergeschichte Die Lok (Regie: Gerd Haag, 1992), in der es um die Bemühungen einer Clique von fünf Kindern und einem ehemaligen Eisenbahner geht, mit einer alten Dampfloko- motive nach Sibirien zu fahren. Die Entdeckerfreude der Kinder wird dabei auf sehr humorvolle und spannende Weise geschildert und der Film bekam unter anderem Lob für seine „guten Schnitte, tollen Spezialeffekte, realen Dialoge und lustigen Einfälle.“ Gleichzeitig mit dem Film Die Lok, der vor allem von den jüngeren Jurymitgliedern gewählt wurde, erhielt Das Heimweh des Walerjan Wr ó bel (1991) von Rolf Schübel eine Auszeichnung. Auf die bereits mehrfach bei europäischen Festivals ausgezeichnete Erzählung über das wahre Schicksal eines 16-jährigen polnischen Zwangsarbeiters wird in der Filmanalyse (Kapitel 2.3) ausführlich eingegangen.

Bestimmt wurde die Festivalatmosphäre von den Fernsehproduktionen. Serien und Magazinsendungen wurden als die beiden zukunftsträchtigsten Schwerpunkte im Kinderbereich gesehen, da sie die Zuschauer längerfristig ans Programm binden und lange Einzelsendungen aufgrund der Programmfülle kaum noch wahrgenommen werden würden. Wie nahezu alle Spielfilme sind auch Die Lok (WDR) und Das Heimweh des Walerjan Wr ó bel (ZDF) in Co-Produktion mit Fernsehsendern und entstanden und scheinen Belege dafür zu sein, dass der Kinderfilm nur noch durch die Unterstützung der Öffentlich-Rechtlichen bestehen kann. Das angekündigte Werbeverbot im Kinderfilm brachte Zweifel beim Sender RTL, ob man „überhaupt noch einsteigen“ sollte und es herrschte die Ansicht, dass „nur per Umdefinierung von Kinderprogrammen in Familienprogramme“ eine Finanzierungsmöglichkeit bestehe (Grubitzsch 1993). Letztendlich zeigt auch die Liste der Stiftungsmitglieder und Organisatoren, dass das Fernsehen dominie- rend bei der Gestaltung des Goldenen Spatzes ist. Aufgrund des unzureichenden und komplizierten Fördersystems, wurde von Regisseuren, Schriftstellern, Drehbuchautoren und Produzenten im Anschluss an das Festival die Errichtung eines zentralen Fonds zur kontinuierlichen Produktion des Kinderfilms gefordert.

1995: Das Festival war gerettet und die Stiftung trat 1995 erstmals offiziell als Veranstalter auf. Für die Kinderjury wurden 32 Film- und Fernsehfans aus allen Bundesländern ausgesucht, ein weiteres Mitglied wurde später spontan dazugeholt. Unter den über 500 Bewerbungen waren sogar einige aus den Nieder- landen und Frankreich eingetroffen. Das Wettbewerbsprogramm umfasste 48 Beiträge, in denen oftmals die damals ganz besonders aktuellen Themen wie Gewalt, Ausländerfeindlichkeit und Verständigungsprobleme behandelt wurden. Der deutsch-turkmenische Film Karakum (1993) von Arend Aghte war gemein- samer Preisträger mit der Erich-Kästner-Adaption Charlie und Louise - Das doppelte Lottchen (Regie: Joseph Vilsmaier, 1993), wobei sich auffällig mehr weibliche Jurymitglieder für letzteren Film entschieden. Ihnen hatte besonders ge- fallen, dass Mädchen die Hauptrollen spielen und die witzig-unterhaltsame Geschichte in die moderne Zeit übertragen wurde. Außerdem fanden sie den Film lehrreich hinsichtlich seiner Familienproblematik Sie freuten sich nicht zuletzt über die erfolgreiche Elternzusammenführung durch Charlie und Louise. Die Jungs bevorzugten das realistisch und spannend gemachte Abenteuer zweier Jun- gen in der eindrucksvollen Karakum-Wüste. „Der Film drückte aus, daß man sich trotz unterschiedlicher Sprachen verstehen und Freunde werden kann Wir fan- den auch gut, daß gezeigt wurde, selbst helfen bringt einfach mehr als abwarten.“

15.000 Gäste und 350 Teilnehmer aus zehn Ländern besuchten die Veranstaltung und bewiesen, wie publikumswirksam Kinderfilme sind. Zum Thema Kinderfilmförderung gab es jedoch wieder heftige Debatten, die Festivalleiterin Elke Ried folgendermaßen zusammenfasste:

„Wir brauchen eine Bündelung von Mitteln und Kräften, weniger Bürokratie, dafür so etwas wie ein geistiges Zentrum, einen Nährboden für alle Stadien eines Projektes von der Idee bis zur Leinwand und wir brauchen mehr und bessere Sendeplätze für Kinderfernsehprogramme“ (Neues Gera 1995).

Diese Plätze aber werden immer mehr an Programme mit zuverlässiger Quote und nicht nach gesellschaftlichen, kulturellen und ästhetischen Qualitätskriterien vergeben. Auch an den zu erwartenden Schlangen vor der Kinokasse entscheidet sich die Förderung und Finanzierung eines filmischen Stoffes und dies ist im Bereich Kinderfilm umso bedenklicher, da hier die Eintrittspreise und infolgedessen die Einnahmen von Vorneherein weit niedriger ausfallen. Kein Wunder also, dass ein Großteil der gezeigten Spielfilme nicht mehr nur mit dem Fernsehen, sondern auch mit anderen Ländern co-produziert wurde.

1997: Mit einem großen Kinderfilmfest wurde der Goldene Spatz unter der neuen Leitung durch Margret Albers 1997 eröffnet. Die Mitglieder der Stiftung sandten die Stars ihrer jeweiligen Kinderprogramme nach Gera: Die ARD schickte bei- spielsweise das Sandmännchen und die Tigerente, vom ZDF wurde Rabe Rudi gesandt und von RTL kamen Marijke Amado (Mini Playback Show) sowie einige Darsteller der beliebten Soap Gute Zeiten, schlechte Zeiten. Das zehnte Festival zeigte außerdem in einer Retrospektive neun Filme, die in den vergangenen Jahren mit Preisen der Kinderjury ausgezeichnet wurden, darunter auch Ein Schneemann f ü r Afrika, Isabel auf der Treppe und Das Heimweh des Walerjan Wr ó bel. Eine Flut von Bewerbungen für die Kinderjury traf im Festivalbüro ein; insgesamt waren es über 700 Jungen und Mädchen von denen 32 anhand einer selbstverfassten Filmkritik oder der Fortsetzung einer Phantasiegeschichte ausgewählt wurden. Allerdings reisten nur 28 Kinder zum Festival an (vgl. Dokumentation Goldener Spatz 1997, S. 11). Von den 160 eingereichten Beiträ- gen, schafften es 57 in den Wettbewerb, darunter zehn Kino- und Fernsehfilmpro- duktionen. Internationalität spiegelte sich abermals in den Reihen der Preisträger wieder. Die deutsch-irisch-britische Koproduktion Mein Freund Joe (Regie: Chris Bould, 1995) machte das Rennen. Der Film basiert auf dem schwedischen Jugendbuch Jan, min v ä n von Peter Pohl und erzählt die ungewöhnliche Freundschaft zweier Kinder in den 1950er Jahren. Der Ire Bould verlegte die Ge- schichte von Chris und Joe, hinter dem sich in Wahrheit das Mädchen Joanne ver- birgt, in ein kleines Fischerdorf ins heutige Irland. Die teils witzige und span- nende, teils traurig-nachdenkliche Umsetzung der originellen Geschichte gefiel außerordentlich gut. Kontrovers diskutiert wurde lediglich die böse Darstellung des Onkels und das traurige Ende des Films (Joe verlässt ihren Freund Chris).

Neben den üblichen Spontanbewertungen und Diskussionen untereinander, gab es für die Kinderjury auch eine Gesprächsrunde mit der Fachjury und Vertretern des MDR-Rundfunkrates, in der das junge Publikum mit kritischer Einschätzungsfähigkeit und starkem Diskussionsvermögen beeindruckte. Dass sie wirklich kritisch sind, zeigte ihre Entscheidung, den Preis in der Kategorie „Serie / Reihe“ nicht zu vergeben, da keiner der Beiträge sie wirklich überzeugen konnte. Zwar wurde die RTL-Serie Titus, der Satansbraten lobend erwähnt, die übriggebliebene Trophäe aber erhielt der Grafiker Rolf F. Müller, der dem „Spatz“ seine Gestalt gab.

1999: Im Jahr 1999 wurde die Kategorie „Spielfilm“ in „Fiction lang“ umbenannt. Neun Filme konkurrierten in dieser Sparte miteinander. Nach der ersten spon- tanen Bewertung der Jury des jungen Publikum stand der spätere Preisträger Spuk aus der Gruft (Regie: Günter Meyer, 1997) lediglich an dritter Stelle hinter P ü nktchen und Anton (Regie: Caroline Link, 1998) und Der Hund aus der Elbe (Regie: Miko Zeuschner, 1998). In den anschließenden Diskussionsrunden konn- ten sich die Befürworter der sagenhaften Gruselgeschichte jedoch durchsetzen und den Großteil der Jury aus insgesamt 19 Mädchen und 13 Jungen davon überzeugen, dass der Film am besten die wesentlichen Qualitätskriterien vereinte: ausdrucksstarke Darsteller, spannende Atmosphäre, phantasievolle Effekte, ein- fallsreiche Szenarien, originalgetreue Ausstattung und stimmungsvolle Musik.

In den Bewerbungsbögen mussten die Kinder unter anderem Angaben zu ihren Lieblingssendungen und -filmen machen. Dabei wurde deutlich, dass sich die Mädchen und Jungen in ihrer alltäglichen Mediennutzung kaum mehr den expli- ziten Kinderproduktionen zuwenden, obwohl das Durchschnittsalter der Jury- kinder relativ niedrig war und bei zehneinhalb Jahren lag. Bevorzugt wurden statt- dessen TV-Serien wie AkteX (Pro7) und Gute Zeiten, schlechte Zeiten (RTL), Magazine wie Explosiv (RTL) und Welt der Wunder (Pro7) und Kinofilme wie Forrest Gump (Regie: Robert Zemeckis, 1994) oder Titanic (Regie: James Cameron, 1997) (vgl. Mayer 1999, S. 13ff.). Hinsichtlich ihrer Favoritenwahl lässt sich also sagen, dass sie „sich bei ihrer Juryarbeit mit Programmen und Filmen befassen, die sie nicht mehr oder nicht sehen“ (Albers 2000, S. 127).

Von den drei Filmen in der Kategorie „Animation“ genügte keiner den Ansprüchen der Kinderjury, weshalb der Preis hierfür nicht vergeben wurde.

2001: Eine siebente Kategorie wurde eingerichtet und bestehende waren inzwi- schen umgetauft, so dass sich das Wettbewerbsprogramm nun aufteilte in „Minis“ (Beiträge mit einer Lauflänge bis drei Minuten), „Fiction lang“, „Fiction kurz“, „Animation lang“, „Animation kurz“, „Information / Dokumentation“ und „Unter- haltung“. Außerdem wurde erstmals ein „Webspatz“ für die beste film- und fern- sehbezogene Internetseite von einer zusätzlichen fünfköpfigen Kinderjury verge- ben. Neu war auch die Mitgliedschaft der Mitteldeutschen Medienförderung (MDM) in der Stiftung, welche dem Festival zu einem weiteren Gewinn an Substanz verhalf.

Die Finanzierung und Förderung des Kinderfilms befindet sich seit dem Kino- erfolg P ü nktchen und Anton (ca. 1,7 Millionen Besucher) und der erstmaligen Auszeichnung eines Kinderfilms (K ä pt`n Blaub ä r - Der Film, Regie: Hayo Freitag, 1999) mit dem Deutschen Filmpreis im Jahr 2000, im Aufwind und liefer- te dem Festival einen qualitativ und quantitativ „guten Jahrgang“ (Ruge 2001). Die Zahl der eingereichten Beiträge stieg auf 193 an und lies auf eine noch größe- re Beachtung und Bedeutung des Festivals hoffen. Selbst der Ausschuss für Filmförderung des Bundes verlegte seine Tagung erstmals von Bonn nach Gera, um „ein Signal zu setzen in Richtung Festival und Kinderfilm“ (Kleber 2001).

Wieder gab es neun Spielfilme gegeneinander abzuwägen und diesmal stand die Entscheidung der Kinder relativ schnell fest. Die Erich-Kästner-Adaption Emil und die Detektive (Regie: Franziska Buch, 2000) eröffnete das Festival und lag bereits nach der Spontanbewertung auf dem ersten Platz. Auch dieser Film wird später noch in einer Analyse (Kapitel 2.4) genauer vorgestellt.

Nur 138 Kinder hatten sich diesmal um die Jurymitarbeit beworben, hoch indes war die Beachtung durch die verschiedenen Print- und Rundfunkmedien und mehr als 15.000 Besucher sowie rund 400 Fachleute wurden gezählt.

Die folgende Tabelle gibt abschließend einen chronologischen Überblick der Preisträger der Kinder- und Fachjury in der Kategorie „Spielfilm“ wieder. Dabei ist die Menge der eingereichten Beiträge und die Anzahl der Wettbewerbsbeiträge in der Kategorie „Spielfilm“ einbezogen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Tabelle: Preistr ä ger in der Kategorie „ Spielfilm “ von 1979 - 2003

2 Filmanalysen

2.1 Verfahrensweise der Filmanalysen

Kinderfilme sind wichtiger und faszinierender Bestandteil innerhalb der Kultur- angebote für Kinder. Deshalb bietet es sich an, dieses Kulturgut hinsichtlich sei- ner Bedeutung für das junge Publikum, dessen Bedürfnisse und Wahrnehmungen hin zu untersuchen. Es gibt zwar eine Vielzahl an Schriften, die sich mit der Ana- lyse von Spielfilmen beschäftigen, allerdings spielen Produktionen für Kinder da- bei kaum eine große Rolle. Dies lässt sich wohl hauptsächlich auf den eher gerin- gen gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Stellenwert zurückführen. Doch was ist ein Kinderfilm überhaupt? Wodurch zeichnet sich dieses Genre aus? Wie genau lässt sich die Zielgruppe einteilen? Sind damit Filme gemeint, die nur für Kinder gemacht wurden oder sind es Filme, die von Kindern handeln?

„Jeder für Kinder verständliche, ihrem Alter entsprechende, für ihre Entwick- lung förderliche und sie interessierende Film ist auch ein guter Kinderfilm“ (Strobel 2000, S. 19). Eine präzise Definition zu geben, ist schwierig, zumal der Begriff „Kinderfilm“ immer wieder dahingehend kritisiert wird, dass jede Produktion für die jungen Zuschauer auch Erwachsenen interessieren und anregen kann, wie eben auch Filme für Erwachsene von Kindern prinzipiell gesehen werden können. Ein weiteres Problem liegt darin, dass Kinder bekanntermaßen ein sehr heterogenes Publikum sind. Ein Neunjähriger erlebt einen Film ganz anders als ein Elfjähriger. Während sich das ältere Kind bei spannenden Passagen langweilt, kann sich das jüngere Kind dabei noch fürchten. Hinzu kommt, dass sich ab einem Alter von circa zwölf Jahren die Interessen gewaltig ändern und der junge Teenager in seiner Identitätssuche verstärkt zu Jugend- und Erwachsenen- filmen tendiert. Die spezielle Altersgerichtetheit grenzt den Film für Kinder vom Film für Erwachsene ab. Wie bereits festgestellt ist diese Abgrenzung allerdings mehr oder weniger formal und Jugendschutzrechtlich bedingt.

Filme für Kinder unterliegen bestimmten künstlerisch-ästhetischen Prinzipien. Ein qualitativ hochwertiger Kinder- bzw. Jugendfilm muss an das wahrnehmungsund erkenntnispsychologische Vermögen der angestrebten Zielgruppe angepasst, d.h. für sie geeignet und in gewisser Hinsicht auch nützlich sein, wenn er das Publikum erreichen will. Das filmische Erleben von Kindern wurde bereits mehrfach innerhalb der Wirkungsforschung untersucht und lässt sich je nach Alter in verschiedene Phasen einteilen (vgl. Barthelmes 2000, S. 23):

- Drei bis vier Jahre: Realität und Fiktion, Gefühlssphäre und Wahrnehmung, Denken und Handeln sind eins. Die Filmhandlung wird nicht wirklich aufgenommen oder verstanden.
- Fünf bis sieben Jahre: Phantasie und Realität sind immer noch schwer trennbar, aber filmische Handlungen werden mehr und mehr nachvollzogen.
- Sieben bis zwölf Jahre: Der Erwerb von praktischen Fähigkeiten, soziale Anpassung und eine stärkere Differenzierung des Wahrnehmungsvermögen bis hin zum Kritikvermögen prägen diese Entwicklungsphase. Die Filmwirkung nimmt zu und der möglichst aktionsreiche Handlungsverlauf steht im Vordergrund der Rezeption.
- Ab zwölf Jahre: Eine unsichere Phase beginnt, in der die Suche nach Identität, Verantwortung und Freiheit eine bedeutende Rolle spielt. Das starke Filmerlebnis nimmt ab, während die passive und reflektierte innere Verarbeitung zunimmt.

Die Filmrezeption hängt jedoch nicht nur von der Wahrnehmungsentwicklung des Kindes ab, sondern unterliegt einer Vielzahl von weiteren einflussnehmenden Faktoren, z.B. schicht-, kultur-, geschlechtspezifischen und sozialen Gegebenhei- ten sowie unterschiedlichen Alltagserfahrungen, Entwicklungsstufen und Intel- lektvoraussetzungen. Das alles verstärkt die Heterogenität der Zielgruppe.

Als sinnliches Kunstwerk vereinigt der Film sowohl emotionale Momente, die Gefühle auslösen und bewusst machen können, als auch rationale Momente, die zur Vermittlung von Kenntnissen und Erkenntnissen dienen. Filme sollten den jungen Zuschauer in seiner Fähigkeit bestärken, sich aktiv mit der Wirklichkeit auseinander zu setzen und das Erleben seiner subjektiven Realität durch das dargestellte Filmerlebnis zu vertiefen. Daneben ist Filmkunst generell geeignet, durch das Thematisieren von aktuellen Fragen dem Zuschauer ein Bild von der Welt, von den Menschen und ihren Werten zu vermitteln. Dementsprechend wählt die Kommission des Festivals Goldener Spatz für den Wettbewerb aus den eingereichten Beiträgen jene Filme aus, die:

- professionell hergestellt wurden und hohen ästhetischen Standards genügen;
- die eigenständige Persönlichkeit von Kindern anerkennen und stärken;
- die Phantasie anregen;

[...]


1 Stiftung Goldener Spatz, Heinrichstraße 47, 07545 Gera, Telefon: ++49/365/800 48 74, Fax: ++49/365/800 13 44, Mail: info@goldenerspatz.de

2 Die Deutsche Film AG (DEFA) wurde am 17. Mai 1946 gegründet.

3 Gespräch mit Horst Polter (Verantwortlicher für die Zusammenstellung der Kinderjury 1979 - 1983) im August 2002.

Ende der Leseprobe aus 123 Seiten

Details

Titel
Vom modernen Märchen zum modernisierten Remake - Preisträger der Kinderjury innerhalb des Film & Fernseh-Festivals Goldener Spatz - Eine Analyse von drei Preisträgerfilmen
Hochschule
Technische Universität Ilmenau  (Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft)
Note
1.3
Autor
Jahr
2003
Seiten
123
Katalognummer
V69304
ISBN (eBook)
9783638601238
Dateigröße
871 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Märchen, Remake, Preisträger, Kinderjury, Film, Fernseh-Festivals, Goldener, Spatz, Eine, Analyse, Preisträgerfilmen
Arbeit zitieren
Diplom-Medienwissenschaftlerin Simone Busch (Autor:in), 2003, Vom modernen Märchen zum modernisierten Remake - Preisträger der Kinderjury innerhalb des Film & Fernseh-Festivals Goldener Spatz - Eine Analyse von drei Preisträgerfilmen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/69304

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