Schon während meiner Gymnasialzeit fand ich Gefallen an der großartig angelegten Geschichte des Nibelungenliedes über minne, êre, triuwe und Tod. Die Faszination, der ich damals erlegen bin, hat mich während meiner gesamten Studienzeit begleitet, so dass für mich klar war, dass ich mich auch in meiner Magisterarbeit mit dem Nibelungenlied auseinandersetzen wollte. Die Wahl des zweiten Werks fiel schnell auf den ´Laurin`, da einerseits das zweite zu untersuchende Werk in irgendeiner Weise mit dem Nibelungenlied in Verbindung stehen sollte und mit der Figur Dietrichs von Bern das Bindeglied zwischen den beiden Werken gegeben war. Andererseits reizte mich die Tatsache, zwei Werke zu untersuchen, die, was den Forschungsstand anbelangt, nicht unterschiedlicher sein könnten, denn während zum Nibelungenlied eine kaum mehr zu überblickende Fülle an Forschungsliteratur besteht, hält sich das Interesse am ´Laurin` deutlich in Grenzen. Sowohl im Nibelungenlied als auch im Zwerg Laurin stößt man auf Naturdarstellungen (unbewohnte Gebiete, dunkle Wälder), mythische Wesen (Zwerge, Drachen, Riesen) und sagenumwobene Gaben (Tarnkappe, Ring, Schwert, Hort), die alle eindeutig dem Bereich des Wilden, Unzivilisierten, Unhöfischen zuzuordnen sind. Beiden Werken ist ebenfalls gemein, dass sich Wildnis und Wildheit nicht nur in diesem außerhöfischen Bereich festmachen lassen, sondern auch Einlass in die höfischen Sphären finden: während sich wilde Gestalten wie der Zwerg Laurin in höfischer Vollendung präsentieren, legen höfisch anmutende Helden und Damen (z.B. Siegfried, Dietrich, Kriemhild) wildes, unhöfisches Verhalten an den Tag; während sich im wilden Wald Plätze verbergen (z.B. Rosengarten), die selbst am Hofe nicht gepflegter sein könnten, offenbaren sich höfische Feste, die als Inbegriff des höfischen Daseins gelten, lediglich als Kulisse für hinterlistige Intrigen und Mordanschläge oder verwandeln sich gar in allgemeine wilde, blutrünstige Schlachten. Wildnis bzw. Wildheit kennt also viele verschiedene Ausprägungen, die sich nicht alle eindeutig dem außerhöfischen Bereich zuordnen lassen. Aufgabe der vorliegenden Arbeit ist es, in den beiden oben genannten Werken die unterschiedlichen Wildnisbzw. Wildheitsdarstellungen aufzuzeigen. [...]
Inhaltsangabe
1. Einleitung
1.1. Das Wortfeld ´wilde`
2. Das Nibelungenlied
2.1. Überlieferung
2.2. Wildnis und Natur
2.2.1. Die reale Gefahrenquelle
2.2.2. Der Jagdwald
2.2.3. Die Wunderwildnis und ihre Bewohner
2.3. Wildnis und Hof
2.3.1. Das höfische Fest
2.4. Wildnis und Religion
2.5. Wildnis und Heldentum
2.5.1. Siegfried
2.5.2. Brünhild
2.5.3. Hagen
2.6. Wildnis und ihre Grenzen
2.6.1. Dietrich von Bern
3. Laurin
3.1. Überlieferung
3.2. Wildnis und Natur
3.2.1. Der reale Raum
3.2.2. Der Rosengarten
3.3. Wildnis und Religion
3.4. Wildnis, Fest und Kampf
3.5. Wildnis und Heldentum
3.5.1. Laurin
3.5.2. Dietrich von Bern
4. Resümee
5. Bibliographie
1. Einleitung
Schon während meiner Gymnasialzeit fand ich Gefallen an der großartig angelegten Geschichte des Nibelungenliedes über minne, êre, triuwe und Tod. Die Faszination, der ich damals erlegen bin, hat mich während meiner gesamten Studienzeit begleitet, so dass für mich klar war, dass ich mich auch in meiner Magisterarbeit mit dem Nibelungenlied auseinandersetzen wollte. Die Wahl des zweiten Werks fiel schnell auf den ´Laurin`, da einerseits das zweite zu untersuchende Werk in irgendeiner Weise mit dem Nibelungenlied in Verbindung stehen sollte und mit der Figur Dietrichs von Bern das Bindeglied zwischen den beiden Werken gegeben war. Andererseits reizte mich die Tatsache, zwei Werke zu untersuchen, die, was den Forschungsstand anbelangt, nicht unterschiedlicher sein könnten, denn während zum Nibelungenlied eine kaum mehr zu überblickende Fülle an Forschungsliteratur besteht, hält sich das Interesse am ´Laurin` deutlich in Grenzen.
Sowohl im Nibelungenlied als auch im Zwerg Laurin stößt man auf Naturdarstellungen (unbewohnte Gebiete, dunkle Wälder), mythische Wesen (Zwerge, Drachen, Riesen) und sagenumwobene Gaben (Tarnkappe, Ring, Schwert, Hort), die alle eindeutig dem Bereich des Wilden, Unzivilisierten, Unhöfischen zuzuordnen sind. Beiden Werken ist ebenfalls gemein, dass sich Wildnis und Wildheit nicht nur in diesem außerhöfischen Bereich festmachen lassen, sondern auch Einlass in die höfischen Sphären finden: während sich wilde Gestalten wie der Zwerg Laurin in höfischer Vollendung präsentieren, legen höfisch anmutende Helden und Damen (z.B. Siegfried, Dietrich, Kriemhild) wildes, unhöfisches Verhalten an den Tag; während sich im wilden Wald Plätze verbergen (z.B. Rosengarten), die selbst am Hofe nicht gepflegter sein könnten, offenbaren sich höfische Feste, die als Inbegriff des höfischen Daseins gelten, lediglich als Kulisse für hinterlistige Intrigen und Mordanschläge oder verwandeln sich gar in allgemeine wilde, blutrünstige Schlachten.
Wildnis bzw. Wildheit kennt also viele verschiedene Ausprägungen, die sich nicht alle eindeutig dem außerhöfischen Bereich zuordnen lassen. Aufgabe der vorliegenden Arbeit ist es, in den beiden oben genannten Werken die unterschiedlichen Wildnis- bzw. Wildheitsdarstellungen aufzuzeigen. Dazu wurde die Arbeit in zwei große Abschnitte unterteilt, die sich jeder mit einem der beiden Werke befassen. Da das Epos vom Burgundenuntergang bereits viel umfangreicher ist als das Dietrichabenteuer, steht das Nibelungenlied im Fokus meiner Untersuchungen. Den werkbezogenen Ausführungen zu den einzelnen Themengebieten gehen jeweils allgemeingültige Erläuterungen voraus, die entsprechend für den „Laurin“ Gültigkeit besitzen sollen.
1.1. Das Wortfeld wilde
Obwohl sein umfassende Bedeutungsspektrum sukzessiv im Lauf meiner Arbeit herausgearbeitet werden wird, soll an dieser Stelle ein kurzer Überblick über das Adjektiv ´wild`, das bereits seit dem 8. Jahrhundert belegt ist, gegeben werden.
´Wild` besitzt im Mittelhochdeutschen einen weitaus vielfältigeren und umfangreicherer Bedeutungsumfang als dies im Neuhochdeutschen der Fall ist. Es reicht von „unangebaut, nicht von menschen gepflegt und veredelt, wild wachsend unbewohnt, wüst, abgestorben, faul“ über „ungezähmt, wild, in der wilde wohnend, dämonisch; irre, unstät, untreu, unwahr, sittenlos“ bis hin zu „unbekannt, fremd, ungewohnt, fremdartig, entfremdet, wunderbar, seltsam, unheimlich, unerklärlich, entfernt“[1]. Wilde beschreibt demnach „alles außerhalb der sozialen Ordnung, der »costume« und der Norm Befindliche“[2] und klassifiziert „sowohl religiöse (wie heidnisch, dämonisch, teuflich) als auch ethisch (wie Sittenlosigkeit, Laster, Unmoral) und anthropologische (halbtierische Waldbewohner) Eigenschaften“[3]: wild ist, wer aufgrund „unkontrollierter, stark affektbetonter Verhaltensweisen“ allgemein gültige Sitten, Normen und Umgangsformen verletzt. „Das mhd. wilde/wilt bezeichnet das dem Zahmen Entgegengesetzte“[4] und fasst in der mhd. Formel wilde und zam „die universalen Begriffsinhalte „alles Lebendige“, alle Welt““[5] zusammen. Räumlich gesehen ist die wilde immer außerhalb der zivilisierten höfischen Welt und des kultivierten Landes zu suchen. Sie bezeichnet meist „in unscharfer Abgrenzung zu walt und wüeste, unbebautes, unbewohntes, meist bewaldetes Gebiet oder die Gegenwelt zu höfisch geordneten Welt“[6] und wandelt sich auf diese Weise „zum Kontrastbegriff für werlt. Wer die wilde aufsucht, verlässt nicht selten [...] die Welt“[7]. Geraten Repräsentanten der höfischen Kultur in diese Wildnis, die sowohl von mythischen Wesen und Ungeheuern - z.B. Riesen, Zwerge, Drachen, Einhörner und Wildleuten – aber auch von realen Lebewesen – z.B. Elefanten, Löwen, Bären, Wildschweinen und Räubern - bewohnt wird, befinden sie sich nicht selten in einem „Raum der Gefährdung, wo sich das Tugendsystem zu entfalten und zu bewähren hat“[8]. Damit vermittelt wilde „nicht mehr primär die Vorstellung des vegetativen Wildwuchses, sondern die Vorstellung existentieller Wildheit. Der reale Raum wird zum Raum erlebbarer wilder Existenzformen entkonkretisiert und damit umfassend verfügbar in seiner symbolischen Funktion“[9]: der Held – das Symbol der zivilisierten Welt – kann die Wildnis besiegen, indem er sich den in ihr lauernden Gefahren stellt, er kann aber auch selbst Teil dieser Wildnis werden, wenn er seine „vuoge verloren hat und deshalb aus der menschlichen Gemeinschaft gefallen ist“[10]. In seiner wichtigsten Funktion symbolisiert der Wald eine Raumschwelle „zwischen der alltäglichen Welt des Menschen und der Wunderwelt der jenseitigen Gestalten[11].
Abschließend bleibt nur noch festzuhalten, dass die Gleichsetzung von mhd. wilde in der Bedeutung von ´Wald, Wildnis` und mhd. natûre nicht erlaubt ist, denn im Gegensatz zu heute steht das mhd. natûre ausschließlich für „Wesen, Veranlagung, Art, Eigenschaft, Beschaffenheit“[12], es schließt die Natur im Sinne der ´natürlichen`Flora und Fauna aus.
2. Das Nibelungenlied
2.1 Überlieferung
Beim Nibelungenlied handelt es sich um ein „strophisches Heldenepos von unbekanntem Verfasser, entstanden um 1200 vermutlich im Donauraum zwischen Passau und Wien“[13]. Für Helmut de Boor gehört es einerseits aufgrund seiner Entstehungszeit und „der inneren Haltung des Dichters zu den großen Werken der Stauferzeit“, andererseits ist es aufgrund des thematisierten Stoffes „der germanischen Heldendichtung“[14] zuzuordnen. Heute sind elf mehr oder weniger vollständige Handschriften sowie 23 Fragmente aus dem 13. bis 16. Jahrhundert bekannt. Bei den drei wichtigsten Handschriften A (Hohenems-München), B (St. Gallen) und C (Donaueschingen), die alle aus dem 13. Jahrhundert stammen, handelt es sich nicht um bloße Abschriften, sondern um Bearbeitungen, „deren jede eigene Ausgaben verlangt und erhalten hat“[15]. Da sich die wissenschaftliche Meinung in dem Punkt „eines Dichters und eines Originals“[16] uneinig ist und da sich die Handschriften sowohl qualitativ als auch quantitativ sehr stark voneinander unterscheiden, habe ich mich entschlossen, mit der Ausgabe nach Karl Bartsch, herausgegeben von Helmut de Boor[17], zu arbeiten, da mir diese bereits aus meiner Studienzeit bekannt und vertraut ist.
2.2 Wildnis und Natur
Zur Funktion und Darstellungsweise des Waldes in der mittelalterlichen Literatur gibt es diverse Arbeiten, von denen mir die Arbeit Marianne Stauffers[18] am interessantesten und ergiebigsten scheint. Da die von ihr gemachten Beobachtungen ausschließlich auf Untersuchungen französischer Literatur bzw. Literatur, die dem Aventiureroman zuzuordnen ist, basieren, und die Heldenepik als Solche gänzlich ausgespart wurde, halte ich es für sinnvoll, in diesem Punkt nach möglichen Parallelen im Nibelungenlied zu suchen. Wird im Nibelungenlied Wildnis bzw. der wilde Wald als typischer Repräsentant der Wildnis thematisiert? Wenn ja, welche Art von Wildnis wird dargestellt? Erscheint Wildnis immer in demselben Licht oder sind Abweichungen in der Darstellung erkennbar? Dient die Wildnis ausschließlich der Beschreibung des Handlungsraumes oder übernimmt sie darüber hinaus noch eine andere Funktion?
2.2.1. Die reale Gefahrenquelle
Obwohl die Natur in den Werken des Mittelalters zumeist als realer Raum entkonkretisiert und in ihrer symbolischen Funktion verfügbar gemacht wird[19], gibt es und gab es auch zur damaligen Zeit Wildnis, deren einzige Funktion darin besteht, zwei Orte miteinander zu verbinden. Findet diese Art von Wildnis Einlass in das Nibelungenlied? Wenn ja, wie wird sie dargestellt?
Im Hochmittelalter noch wurde der Wald, der sich über weite Teile Europas erstreckte, als bedrohliche Wildnis gesehen. Da er unmittelbar an die von Menschenhand geschaffene Kulturlandschaft grenzte, die durch Städte, Burgen, Dörfer und urban gemachtes Land gekennzeichnet war, und die mittelalterlichen Menschen es noch nicht gelernt hatten, die Natur vollkommen zu beherrschen, standen sie „dem Wald eher feindlich als freundlich gegenüber; verbreitet waren Ängste vor seinen realen und irrealen Gefahren (Furcht, von wilden Tieren oder dämon. Wesen angegriffen zu werden, in die Irre zu gehen, von umstürzenden Bäumen erschlagen zu werden, im Winter zu erfrieren usw.). Bei Fahrten in benachbarte Siedlungen wurde daher eine Durchquerung des W.es nach Möglichkeiten vermieden und der Wasserweg bevorzugt. Der Wald war siedlungsfeindlich.“[20] Er markierte die Grenze im rechtlichen und im gesellschaftlichen Sinne, da seine Bewohner entweder aus der Gesellschaft ausgestoßene (z.B. Kranke, Aussätzige, Verbrecher), oder freiwillig aus der Welt flüchtende Menschen (z.B. Einsiedler) waren.
Jan Dirk Müller formuliert das Raumverständnis der mittelalterlichen Menschen treffend: „Raum wird von Punkten politischer Herrschaft aus gedacht. Die Welt zwischen ihnen ist leer. Es zählt allein, was an jenen Zentren sich abspielt. Die bekannte Feudalwelt verteilt sich auf eine Anzahl von „Inseln“ in einer bedrohlichen Wildnis.“[21] Im Nibelungenlied werden mehrere dieser „Inseln“ bzw. Zentren der höfischen Welt genannt. Der Dichter versucht diese zumeist nicht irgendwo im Nirgendwo, sondern in einen, den Zuhörern und Lesern wenigstens geographisch als bekannt vorausgesetzten Raum zu platzieren. So befindet sich Gunters Hof in B úrg ónden (2,1), genauer gesagt ze Wormez b î dem Rîne (6,1), der seines Schwagers Siegfried, der was ze Sántén genant (20,4) in Niderlanden (20,1) , nidene b î dem Rîne (20,4). Auch die Höfe des Passauer Bischofs und Rüdigers von Bechelaren lassen sich auf einer Landkarte wiederfinden. Die sehr entlegenen und z.T. unbekannten Länder[22] Sahsen lande (140,2), Tenemarke (140,3) und das Hunnenland, Ungern (1162,1), stecken die Grenzen der höfischen Welt noch weiter in den bedrohlichen Raum hinein, doch auch sie sind wenigstens vom Hörensagen bekannt, und gelten von daher ebenfalls nicht wirklich als fremd bzw. wild.
„Zwischen den „Inseln“ dagegen, [...] liegt ein gefährlicher Raum, den man schwer bewaffnet und mit größter Vorsicht durchmessen muß.“[23] Dass die Menschen im Mittelalter die Gefahren einer Reise durch unbesiedeltes und wildes Land als äußerst real und an der Tagesordnung einstuften, konnte der Dichter des Nibelungenliedes nicht außer Acht lassen. Daher musste er an mehreren Textstellen auf diese Gefahren hinweisen. Auffallend ist, dass die Beschreibung der Natur in Zusammenhang mit der Nennung der realen, in ihr lauernden Gefahren hinter die vorrangig zu erzählenden Ereignisse zurücktritt, bzw. dass gänzlich auf eine Naturbeschreibung verzichtet wird. Die Gefahren, die in den unbewohnten Gebieten lauern, werden nur nebenbei erwähnt. So werden mehrere Strophen den Vorbereitungen Rüdigers für die Fahrt nach Worms gewidmet, dass aber die für Krimhilds Brautwerbung benötigten und in Wien nach Maß gefertigten Kleider in der m âze (1164,4) durch das Beyer lant (1600,3) nach Bechelaren transportiert werden müssen, daz in wart wênic iht genomen (1164,4), erscheint hier nebensächlich. Erst 200 Strophen weiter erfährt man, dass róub ũf der strâzen (1302,3) bei den Bayern der Sitte - nâch ir gewohnheit (1302,3) - entspricht. Daher ist es selbst für größere Reisegesellschaften ratsam, das nur dünn besiedelte Bayern, dessen Straßen von Räubern und Mördern unsicher gemacht werden, rasch und in voller Waffenmontur zu durchqueren (vgl. 1174,4 u. 1303,2). Folgt man dem Brautzug Krimhilds in das Königreich Etzels, fällt außerdem auf, dass Rast niemals in der freien Natur, sondern immer nur in der Zivilisation gemacht wird[24]. Somit ist es nicht das Hunnenland bzw. der Etzelhof – an dem die selben Interaktionsregeln gelten wie zu Hause in Worms, und an dem sich die Burgundenhelden sicher wie auf heimischem Parkett bewegen[25] – die als Wildnis erfahren werden, sondern das Land der Bayern. Doch da der Wildnis in diesem Zusammenhang keine weitere Funktion zukommt, als zwei Höfe miteinander zu verbinden, bedarf es keiner expliziten Naturdarstellungen. Es ist ausreichend zu wissen, dass man in dem Raum (hier Bayern), der sich außerhalb des Einflussbereiches eines (mehr oder weniger bekannten) Hofes befindet, Gefahr läuft sich zu verirren (vgl. 1586,3), wenn man nicht die rehten wege (1586,3), vielmehr noch jede stîgẹ unde strâze (1594,3) kennt.
2.2.2. Der Jagdwald
Obwohl der Wald vor allem als gefährliches, fremdes Gebiet angesehen wurde, spielte er in einem Bereich des mittelalterlichen Lebens eine wichtige Rolle – bei der Jagd. Diese füllte – neben Waffendienst und Minne - das Leben des Ritters aus und bestimmte seinen Tagesablauf[26]., vielmehr noch stellte die Jagd „in Friedenszeiten die hauptsächlichste Beschäftigung der Vornehmen dar“[27]. Die Jagd wurde im Laufe der Jahrhunderte (vom Früh- bis zum Hochmittelalter) und im Zuge der Festigung der Feudalordnung immer mehr zu einem „Privileg des Adels“[28], und prägte dadurch das sich stetig ändernde Bild des idealen Ritters, zu dessen wichtigsten Attributen nunmehr die eines guten Jägers hinzukamen. Obwohl die Jagd Gelegenheit bot, „den Körper zu ertüchtigen und in ständiger Übung zu halten“[29], darf sie nicht nur als sportliche Betätigung der Adeligen angesehen werden, denn zum einen bildete Wildbrett einen der wesentlichen Bestandteile der täglichen Nahrung, zum anderen wurde sie von Herrschern auch schon mal als Mittel eingesetzt, „um Trägheit und Müßiggang fernzuhalten“[30]. Gleichzeitig war sie ein geeignetes Mittel, um den Mut des Einzelnen auf die Probe zu stellen, indem die eigene Geschicklichkeit und die eigenen Fertigkeiten mit denen wilder Tiere (z.B. Wölfe, Wildschweine und Bären) gemessen wurden, denn „[a]nders als bei der modernen Jagd besaß auch der mittelalterliche Jäger im Verhältnis zum jagbaren Tier noch nicht die Überlegenheit absolut tödlicher Waffenwirkung auf große Distanz, sondern er musste sich in den allermeisten Fällen des zu jagenden Wildes erst einmal lebendig bemächtigen, um es erst dann in einer sehr viel direkteren, unmittelbareren, vielfach auch gefährlichen Konfrontation zu töten“[31].
Nach diesem kurzen Überblick über die Jagd an sich sowie ihre kulturhistorische Bedeutung, soll nunmehr wieder der Wald als solcher sowie seine Bedeutung innerhalb des Jagdgeschehens in den Vordergrund treten.
Der Wald, in dem die Burgunden des Öfteren auf Bären- und Wildschweinjagd gehen, heißt Waskenwald (911,3) und liegt außerhalb des Hofbezirks, denn die Burgunden müssen über R în (927,1) um zu ihm zu gelangen. Der Wald wird mit den gängigen Adjektiven tief (vgl. 926,1) und grün (vgl. 928,1) beschrieben und befindet sich ûf einen wert vil breit (928,3). Dass die Jagdgesellschaft dem Wald trotz der anberaumten Jagd keine ausschließlich positiven Gefühle entgegenbringt, wird dadurch deutlich gemacht, dass sie ihr Lager nicht im Waldesinneren, sondern am Waldrand (vgl. 928,1-2; 946,1) aufschlägt. Nicht die Wildnis stellt den passenden Schauplatz für das festliches Treiben, in dem die Hofgesellschaft mit erlesenen Speisen und Weinen sich selbst feiert, sondern der sch œn[e] anger (963,3) am Saum des Waldes. In seiner Eigenschaft des nicht wild und zügellos wuchernden, sondern des langsam und für das Auge schön wachsenden Grüns spiegelt er die Kultur und Zivilisation der höfischen Menschen gegenüber den wilden Waldbewohnern wieder[32]. Das Waldesinnere hingegen ist denjenigen vorbehalten, die auf Abenteuer aus sind. Siegfried, der König aus Niederland, hebt sich unter diesen am meisten hervor: Er benötigt weder ein Gefolge noch eine Horde Jagdhunde, ihm genügen ein erfahrener Jäger und ein guter Spürhund (vgl.933,1). Obwohl er am tiefsten in das Waldesinnere hineingerät (vgl. 948,3), findet er mit seiner reichhaltigen Beute mühelos den Weg zurück zum Lager. Im Gegensatz zu den übrigen Jagdgesellen bewegt er sich frei und unbekümmert durch den Wald, denn dieser stellt für ihn, den mythischen Helden, keine wirkliche Gefahr dar; selbst gefährliche, wilde Tiere wie Löwen, Auerochsen, Hirsche, Eber und Bären (vgl. 936,3 – 938,1; 948,1 – 950,4) bezwingt er, ohne dass sie ihn kratzen noch b îzen (950,1) können. Der Jagdwald im Nibelungenlied – so kurz und schemenhaft seine Beschreibung auch sein mag – vereint somit zwei Aspekte des mittelalterlichen Naturverständnisses in sich.
„Der materielle Reichtum einer Umgebung ist aber zugleich maßgebend für deren ästhetische Bewertung. Die wildreichen Wälder sind die schönsten Wälder [...] die Schönheit eines Ortes ist keine rein landschaftliche Schönheit, sondern erscheint das Resultat der Nutzbarkeit und des Reichtums.“[33] Obwohl der Waskenwald in seiner Gesamtdarstellung an keiner Textstelle als schön[34] bezeichnet wird, entspricht er, folgt man Marianne Stauffer, einer Ideallandschaft, denn er weist alle dafür notwendigen Elemente auf: neben dem vorgeführten Wildreichtum wird auch eine nahe Quelle (Wasser als Lebensspender!) genannt, zudem verfügt der Wald über einen Ort, der seiner Beschreibung nach als locus amoenus[35] bezeichnet werden kann.
Dass die Natur im Wesentlichen funktionellen Charakter besitzt, und nicht als etwas Selbständiges, Autonomes betrachtet werden darf[36], tritt im Nibelungenlied gleich zweimal deutlich hervor. Das Jagdlager ist, wie bereits gesagt, auf einem s ch œnen anger (963,3) aufgeschlagen worden. Es gibt an dieser Stelle keine nähere Beschreibung des Lagerplatzes, denn die Aufzählung einzelner Elemente ist irrelevant. Durch die Nennung des allgemeingültigen Adjektivs schön (das Jedem die Möglichkeit liefert, sich den Lagerplatz seinen Vorstellungen entsprechend schön vorzustellen) wird alles Zufällige, alles Individuell ausgelassen, um das Wesentliche so klar wie möglich darzulegen: in dieser Szene befindet sich die Schönheit der Natur in absolutem Gegensatz zu der valsche (966,2) der Protagonisten, deren ausgelassene und freudige Stimmung nur Deckmantel ist für die grôz[e] untriuwe (915,4), die sie Siegfried gegenüber begehen wollen.
Ein paar Strophen weiter bietet sich ein anderes Bild. Der Ort, an dem Siegfried den Tod findet, scheint auf den ersten Blick detaillierter wiedergegeben: Aus dem Fuß eines Berges (vgl. 970,3), der sich auf einer Blumenwiese (vgl. 988,1) erhebt, entspringt eine Quelle, deren Wasser was küele, l ûter unde guot (979,1). Ein Lindenbaum befindet sich ebenfalls auf der Lichtung (vgl. 977,3). An ihn lehnt Siegfried seine Waffen um trinken zu können, unter seinen Ästen wird er kurze Zeit später hinterrücks von Hagen mit dem Speer durchbohrt. Die hier erwähnten Naturelemente dienen jedoch nicht nur als Kulisse des Handlungsschauplatzes, sie werden zu Zeichen, „deren Bedeutung außerhalb der reinen Erscheinung liegt“.[37] Das Quellwasser ist so rein und erfrischend wie Siegfried. Er tritt mit derselben Kraft und Stärke in das Leben der Wormser Könige wie sie das Wasser besitzt, das sich selbst durch härtestes Gestein seinen Weg zu bahnen weiß. Im Gegensatz zu den Wormsern handelt er aus sauberen und klaren Motiven, seine Gedanken sind frei von Hinterlist und Mordintrigen[38]. Auch die Nennung der Blumen an dieser Stelle ist nicht nur Zufall. Vielmehr unterstreichen sie durch ihr Vorhandensein noch einmal die Funktion, die Siegfried am Wormser Hof innehatte: gleich den die Wiese bereichernden Blumen war Siegfried Schmuck und Zierde, vielmehr noch „Stütze“[39] des Wormser Hofes. Die Linde, unter deren Zweigen er den Todesstoß empfängt und zusammenbricht, steht ebenfalls nicht zufällig auf der Wiese. Sie ist der Baum, unter dem von Alters her Recht gesprochen und verwirklicht wurde[40] und symbolisiert durch ihr Vorhandensein, dass in Sachen Siegfried gegen den Wormser Hof das letzte Wort bereits gesprochen bzw. die Entscheidung endgültig gefallen ist und auf ihre Erfüllung – den Tod Siegfrieds - wartet.
Der Jagdwald im Nibelungenlied ist somit nicht nur Kulisse für das Handlungsgeschehen – er dient nicht der bloßen Betrachtung, sondern versinnbildlicht auf eindrucksvolle Weise die Empfindungen und Eigenschaften, und zum Teil auch das Schicksal der Menschen, die sich in ihm bewegen.
2.2.3. Die Wunderwildnis und ihre Bewohner
Gerade weil die mittelalterlichen Menschen dem Wald aufgrund seiner sowohl positiven als auch negativen Inhalte indifferent gegenüberstanden, war es ihnen ein Leichtes, in ihm die „Welt des Wunderbaren“[41], den „Schauplatz des irrationalen Geschehens und Wohnort jenseitiger Zaubergestalten“[42] zu sehen. Obwohl Zaubergestalten und Monster der imaginären Welt entsprangen, waren sie für die Menschen im Mittelalter präsent, denn „ sie sind geglaubte Fiktion, die nicht an der Faktizität gemessen werden muss, um glaubwürdig zu sein. Als imaginäre Gestalten sind die Ungeheuer den Menschen historische Wirklichkeit. Es gibt sie nicht, aber das Mittelalter hält sie für existent [...]“[43]. Die Wunderwelt des Waldes und der Wildnis präsentierte sich als „in sich geschlossen; seine Bewohner, die eigentlichen Verkörperungen der aussermenschlichen Jenseitswelt, sind an ihn gebunden und können ihre Macht nur innerhalb dieses Bezirks ausüben“[44]. Dieser Bezirk war meist durch räumliche Ferne von der alltäglichen Welt getrennt bzw. er war örtlich nicht genau lokalisierbar, so das nur Helden ihn erreichen und die Grenze zwischen den Welten überschreiten konnten, um Abenteuer innerhalb dieses wunderbaren Raums zu bestehen und danach den Weg zurück in die eigene Welt zu finden.
Obwohl sich das Nibelungenlied im Gegensatz zur übrigen Heldendichtung[45] bemüht, die für diese Gattung typischen mythischen Elemente so gut es geht auszublenden, wird die Grenze zwischen der alltäglichen (die Orte, an denen höfisches Leben stattfindet) und der mythischen Welt (das Nibelungenland) an mehreren Stellen überschritten. Diese Überschreitungen in die Wunderwelt werden auffällig reduziert dargestellt und doch kann sie der Dichter nicht gänzlich außer Acht lassen. Warum nicht? Welche Bedeutung kommt der Wunderwildnis zu?
Der knappe Bericht Hagens bei Siegfrieds Ankunft in Worms in der dritten Aventiure verschafft der Wunderwildnis mit der Einführung des Nibelungenlandes zum ersten Mal Einlass in die höfische Welt: Bei einem seiner Ausritte verschlägt es Siegfried in das Land der Nibelungen, das nur mit gr œzlîcher maht (484,2) zu erreichen ist. Obwohl seine Position unbestimmbar bleibt, scheint es von Isenstein[46] am nächsten erreichbar; jedenfalls ist die Entfernung von dort aus messbar: wol hundert langer raste únd dannoch baz (484,3) liegt das Nibelungenland ûf einen wert vil breit (485,1). Über das Aussehen des Nibelungenlandes erfährt man nicht mehr, als dass ein Berg und eine Burg (vgl. 88,2; 485,5; 1121,1) das Landschaftsbild bestimmen. Wie es sich für die Wunderwildnis gehört, ist es nur einem einzelnen Helden möglich, sich Zutritt zum Nibelungenland zu verschaffen – und dieser Held ist Siegfried. Denn während sich die übrigen Recken vor jeder Reise die Frage suln wir iht recken füeren (339,3) stellen, traut sich Siegfried als Einziger zu, allen Gefahren aleine (485,1) und ânẹ alle helfe (88,1) zu begegnen. Und die Gefahren im Nibelungenland sind groß, denn das Land kennt nur eine Sprache, die Sprache der Gewalt[47]. Kampf auf Leben und Tod – das einzige Gesetz im Nibelungenland, das erste und einzige Mittel, das zur Konfliktlösung eingesetzt wird. Jeder, ob Bewohner der Wildnis (hier: des Nibelungenlandes), oder aus der Außenwelt kommender Eindringling, ist diesem Gesetz unterworfen, denn während im höfischen Bereich „Verabredungen über Verhalten, Sprechen, Ausstattung und anderes mehr“[48] gelten, erfolgt Problembewältigung und Weltaneignung im Nibelungenland ausschließlich aufgrund von ungebändigten Leidenschaften und Aggressionen. Das Aufeinandertreffen Siegfrieds auf die Bewohner des Nibelungenlandes - Drachen, Riesen und Zwerge – spiegelt dies deutlich wieder, denn jede Berührung Siegfrieds mit dem Nibelungenland fordert (mindestens) eine gewaltsame Auseinandersetzung der Beteiligten. Den Gegnern Siegfrieds kommen dabei jeweils unterschiedliche Funktionen zu.
Der Drache ist ein „mythisch dämonisches Wesen“[49], das der germanischen Sage nach dem Menschen feindlich gesinnt ist und ihm Schaden zufügen möchte. Somit gehört es zu den Aufgaben eines Helden, gegen diesen anzutreten, um entweder Menschen aus seiner Gewalt zu befreien oder aber den Goldhort, den dieser bewacht, zu erringen. Der Sieg über den Drachen kann jedoch auch andere Vorteile für den Helden bergen: „der Genuss des Drachenherzens bringt Kunde der Tiersprache zuwege und das Bestreichen mit dem Blut härtet die Haut gegen alle Verletzung“[50].
Im Nibelungenlied fehlt die unmittelbare Schilderung von Siegfrieds Kampf gegen den Drachen. Der Dichter überlässt es vielmehr Hagen, die Anderen von dem Kampf und seinem Ausgang zu unterrichten. Und obwohl er über das Aussehen und die Wesensart des Drachens Nichts zu berichten weiß, weiß Hagen sehr wohl um die dem Blut des Drachen anhaftenden, wunderbaren Eigenschaften und führt dementsprechend aus: er (sc. Siegfried) b ádete sich Ín dem bluote; sĩn hût wart húrnĩn. des snîdet in kein wâfen (100,3-4). Den Kampf gegen den Drachen, gegen das Böse, das der Drache symbolisiert, hat Siegfried siegreich bestanden. Doch dass das Bad in dem Drachenblut Siegfried nicht völlig unverwundbar gemacht hat, wird erst Aventiuren später von Krimhild preisgegeben:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Aus welchem Grund das Bad im Drachenbad keinen vollständigen Schutz für sein Leben liefert bzw. liefern kann, wird an einer anderen Stelle[51] erarbeitet werden.
Dass die Bedeutung der Wildnisbewohner nicht eindeutig auf „die Verkörperung des Bösen, des Hässlichen, des Unheimlichen oder Unerhörten“[52] festgelegt ist, wird an den Riesen im Nibelungenlied demonstriert. Obwohl sie als die ungefüegen (487,1) außerhalb der „Gefügigkeit des „ordo“, der göttlichen Weltordnung“[53] stehen, werden sie nicht als „vreissam, vreizlîch, ungehiure, griuwelîch, tiufelîch usw.“[54] beschrieben, bzw. ihr Äußeres tritt hinter ihren Mut und ihre Kraft zurück. Heldengleich gehen sie vil starke (489,2; 94,2) und küene (489,1) gegen ihre Feinde vor, mit ihren Waffen[55] teilen sie sô krefteclîche (491,3) aus, dass diese um ihr Leben fürchten müssen (vgl. 491,2). Entgegen der allgemeinen Auffassung dass die Riesen ihrer Aufgabe die Zwerge zu beschützen, untreu geworden sind, und demnach von Helden und Zwergen gemeinsam bekämpft werden müssen[56], bietet sich im Nibelungenland ein anderes Bild. Gemeinsam mit Alberich, dem stárké[n] getwerc (97,1), eilen 12 Riesen ihren Herren Schilbung und Nibelung gegen Siegfried zu Hilfe. Da Siegfried bereits im Voraus das wunderbare Schwert Balmung, „dessen besondere Kräfte er zu handhaben weiß“[57], als Lohn für seine Dienste bei der Hortteilung zwischen den Brüdern bekommen hat, können sie nichts gegen ihn ausrichten, sondern finden zusammen mit 700 weiteren Recken den Tod (vgl. 94,1-4). Trotzdem erweist sich der übriggebliebene Riese, nachdem Siegfried sich das Nibelungenland untertan gemacht hat, als ihm treu ergebener Hüter. Ohne wenn und aber riskiert er sogar sein Leben um das Land und den Nibelungenhort vor potenziellen Eindringlingen zu schützen (vgl. 486,1 – 502,4).
Sowohl die 12 Riesen als auch der portenære (488,4) treten nur innerhalb der für sie typischen Kampfhandlung[58] auf. Da sie diese nicht selbst veranlassen, sondern lediglich ihren Herren zu Hilfe eilen bzw. Land und Gut ihres Herren schützen wollen, erfahren sie eine positive Umgestaltung. Die Riesenkämpfe gelten in erster Linie der Demonstrierung von Siegfrieds Kraft und Überlegenheit und somit haben die Riesen diesem im Kampf zu unterliegen. Trotzdem stehen sie nicht für das eindeutig Böse, das vom Guten (d.h. Helden) bekämpft werden muss, sie sind nicht eindeutig „als dämonische Wesen gekennzeichnet“[59], sondern erscheinen aufgrund ihrer oben aufgezeigten Eigenschaften und Einstellungen viel mehr dem Helden (hier: Siegfried) „identisch oder von gleicher Art“[60].
Der einzige Zwergenvertreter ist der namentlich genannte Alberich. Über seine körperlichen Merkmale lässt der Dichter nichts weiter verlauten, außer dass es sich um einen altgr îsen man (497,2) mit einem langen Bart handelt[61]. Trotz seines Alters ist Alberich sehr wohl in der Lage sich im Zweikampf mit Siegfried zu messen[62] ; denn er steht ihm an Kraft und Kondition in nichts nach. Nachdem er sich mutig harte swinde (494,4) dem Kampf mit Siegfried stellt, kämpfen beide wie die lewen wilde (97,2). Zudem, dass er bereits als st árké (97,1), vil küene (493,2) und vil grimme (494,1) bezeichnet wird, wird er auch ein w íldés getwerc (493,2) genannt. Dieses wilt, das gleichzeitig „wild, fremd, unbekannt, fern, wunderbar, unbegreiflich, seltsam, sonderbar, unheimlich, ungestüm, [...]“[63] bedeuten kann, weist Alberich, ebenso wie die Riesen vor ihm, als eindeutig außerhalb des menschlichen Kulturbezirks Stehenden aus. Daher verwundert es auch nicht weiter, dass Albrich im Besitz einer Tarnkappe ist, die ihm die zauberische Kraft der zw élf m ánne sterke (337,3) verleiht, so dass er seiner Rolle als Hüter des Nibelungenhortes gerecht werden kann. Wie es sich für einen wahren Schatzhüter und Kämpfer gehört, tritt er nur in seiner Rüstung in Erscheinung. Bewaffnet ist er nach alter Manier mit einer schweren Goldgeißel[64] mit sieben schweren Knöpfen (vgl. 494,1 – 495,4). Obwohl Siegfried ihn bezwingen und ihm die Tarnkappe entwenden kann, lässt er ihn in seiner Funktion als Horthüter, da Alberich ihn als wahren Herrn des Nibelungenlandes anerkennt:
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Siegfried hat den Drachen und die sich ihm in den Weg stellenden Riesen getötet, Alberich und die übrigen Bewohner des Nibelungenlandes hat er sich untertan gemacht und ihre Zauberdinge an sich genommen, doch da er sich mit seinem Eintritt in das Nibelungenland dem Gesetz der Wunderwildnis unterworfen hat, bleibt diese von dem Machtwechsel unberührt und als Wunderwildnis weiter bestehen.
Erst mit Siegfrieds Tod wird die Macht der Wunderwildnis gebrochen und das Nibelungenland den Einflüssen und Angriffen der Außenwelt schutzlos ausgeliefert. Deutlich wird dies, als Krimhild in Begleitung ihrer Brüder Gernot und Giselher sowie einer Streitmacht von ahzec hundert mannen (1117,2) vor dem Schatzberg auftaucht, um das Nibelungengold von Alberich zu fordern. Obwohl er um die Rechtmäßigkeit ihrer Forderung weiß, würde er sich ihr widersetzen, wenn er die Macht dazu hätte – aber die ist mit dem Tod Siegfrieds und dem daraus resultierenden Verlust der Tarnkappe unwiederbringbar verloren:
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Durch die Herausgabe des Goldes macht der einstmals starke und zauberische Zwerg Alberich seine eigene Hilflosigkeit ebenso deutlich wie die Tatsache, dass das Nibelungenland seine primäre Eigenschaft als Wunderwildnis eingebüßt hat[65] und nunmehr für jedermann zugänglich geworden ist[66].
Neben den Bewohnern der Wunderwildnis, die, wie soeben aufgezeigt, über Eigenschaften und Fähigkeiten verfügen, die sie zwar als außerhalb des menschlichen Kulturbezirks Stehende, jedoch nicht als eindeutig dämonische Wesen charakterisieren, existieren im Nibelungenland auch Gegenstände, die aufgrund ihrer magischen Kräfte einzigartig sind und von den Menschen der Außenwelt begehrt werden. Nach seinem ersten Besuch des Nibelungenlandes nennt Siegfried vier dieser Gaben sein Eigen. Den ursprünglichen Besitzern dieser Gaben haftet „etwas Übermenschliches, was sie den Götter nähert“[67] an, denn sie besitzen Kräfte „dem Menschen zu schaden und zu helfen“[68]. Daher stellt sich die Frage, ob sich derartige ´wilde` Gaben in die gewöhnliche, höfische Welt integrieren lassen, oder ob sie aufgrund ihrer Herkunft Kräfte freisetzen, die sich destruktiv auf diese Welt auswirken.
Siegfrieds erste Gabe ist die durch das Bad im Drachenblut erworbene Unverwundbarkeit. In dem Bewusstsein seiner Unbesiegbarkeit und Unverletzlichkeit ist es Siegfried möglich, die tollkühnsten und waghalsigsten Abenteuer zu bestehen. So macht er sich trotz der elterlichen Warnungen mit nur zwelf recken (64,3) auf den Weg nach Worms, um um Krimhild zu werben. Auch als die Sachsen und Dänen das Land Gunthers bedrohen, lässt er sich nicht von der allgemeinen Niedergeschlagenheit anstecken (vgl. 151,3 und 153,1), sondern reitet im Bewusstsein seines persönlichen Vorteils und des daraus resultierenden Selbstbewusstseins (vgl.160,1-3) der Überzahl ihres Heeres mit einer viel geringeren Heerschar entgegen und leitet durch seine Einzelaktion – die Gefangennahme des König Liudegast (vgl. 189) – und durch sein Kampfgeschick den Sieg der Wormser ein. Ebenso selbstsicher und überlegen verhält er sich bei der Brautwerbung Brünhilds: sich als Gunthers Lehensmann auszugeben und dadurch seine eigene Stellung zu untergraben – für Siegfried, der sich im Bewusstsein seiner eigenen Stärke und Unbesiegbarkeit keine Gedanken über mögliche Konsequenzen macht, kein Problem. Das Wissen um seine eigene Unverwundbarkeit lässt ihn übermütig werden: die aus seiner verhängnisvollen Komplizenschaft mit Gunther stammenden Siegestrophäen, Brünhilds Ring und Gürtel, waren für Niemanden bestimmt und doch übergibt er sie Krimhild. Als diese sie im anschließend entbrennenden Königinnenstreit öffentlich vorzeigt, ist sein Todesurteil besiegelt. Obwohl die Hinterhältigkeit der Mordtat dadurch nicht gerechtfertigt werden kann, tragen Siegfrieds eigene Sicherheit in seine Unverletzlichkeit einerseits und sein Verdrängen des verwundbaren Schulterblattes andererseits zu einem nicht unmerklichen Teil Schuld an seinem Tod. Die Gabe der (fast vollkommenen) Unverwundbarkeit schlägt somit nach anfänglichem Segen in ihr Gegenteil um und bringt ihm schließlich den Tod.
Die zweite Gabe ist die bereits mehrmals erwähnte Tarnkappe, ursprünglich Besitz des Zwergen Alberich. Sie besitzt die Macht, demjenigen, der sie überstreift, die Stärke von 12 Männern zu verleihen (vgl. 337,3), zusätzlich verleiht sie ihrem Träger Unsichtbarkeit (vgl. 338,3) – eine Eigenschaft, die sonst nur Göttern, Dämonen und allen übernatürlichen Wesen vorbehalten ist[69]. Innerhalb der Wunderwildnis, der sie entstammt, richtet sie keinen Schaden an, da sie nur zum Schutz des Nibelungengoldes und der Bewohner des Nibelungenlandes eingesetzt wird. Aber in dem Moment, in dem es Siegfried gelingt, der Tarnkappe habhaft zu werden, weitet sich ihre Macht auf den Bereich der Außenwelt aus – mit unvorhersehbar verheerenden Folgen: Siegfried kann Alberich die Tarnkappe bei ihrem ersten Zweikampf entwenden und wird ihr neuer Besitzer. Dass er die Tarnkappe im Bedarfsfall auch außerhalb des Nibelungenlandes zum Einsatz bringt, erfährt der Leser zum ersten Mal, als sich Siegfried und Gunther aufmachen, um in Isenstein um Brünhild zu werben. Da Gunther den teuflischen Kräften Brünhilds[70] keine adäquaten Kräfte entgegensetzen kann, ist Siegfried gezwungen[71], auf die Eigenschaften der Tarnkappe zurückzugreifen: nur durch die ihm durch die Tarnkappe verliehene Unsichtbarkeit sowie die Potenzierung seiner eigenen Stärke ist er in der Lage, sowohl die Brautwerbung als Solche zu einem glücklichen Ausgang zu führen als auch das Leben aller beteiligten Helden zu retten (vgl. 431,1 – 465,4). Ihren zweiten Einsatz erfährt die Tarnkappe in der zweiten Brautnacht Gunthers und Brünhilds. Noch einmal erweisen sich die Siegfried durch die Tarnkappe verliehenen Eigenschaften den übermenschlichen Kräften Brünhilds als überlegen: nach einem anfänglich heftigen Kampf im königlichen Schlafgemach ist Siegfried letztendlich in der Lage, Brünhild soweit zu bändigen, dass Gunther die Ehe vollziehen kann (vgl. 663,1 – 682,4). Der Einsatz der Tarnkappe scheint in beiden Fällen gerechtfertigt, da sich Siegfried seines Erachtens nach für eine gute Sache einsetzt, jedoch überschreitet er mit seinem Eindringen in die Privatsphäre eines fremden Schlafgemachs und seiner (fragwürdigen) Involviertheit bei der Überwindung von Brünhilds Überkraft eine Grenze, die außerhalb jeglichen Minneverständnisses steht. Doch damit nicht genug - die Macht, die durch die Gabe der Unsichtbarkeit lockt, verleitet ihn zu zudem noch zu einer unbedachten Handlung: indem er Ring und Gürtel aus dem Schlafgemach Brünhilds entwendet, bringt er einen Stein ins Rollen, an dessen vorläufigem Ende[72] sein eigener Tod als auch der Untergang der mythischen Welt des Nibelungenlandes stehen. Die Tarnkappe in den Händen Siegfrieds erweist sich somit ebenfalls als tödliche und Verderben bringende Gabe (vgl. 1120,1-2).
Das Schwert Balmung, in dessen Besitz Siegfried in der Wunderwildnis des Nibelungenlandes kommt, ist kein einfaches Schwert, sondern eine besondere Waffe. Dies lässt sich durch mehrere Indizien belegen. So ist es z.B. wertvoll genug, um von Siegfried als Lohn für die Hortteilung akzeptiert zu werden (vgl. 93,1; 1783,1-3; 1784,2). Zudem wird die Überwindung der zwölf Riesen und die Unterwerfung des Nibelungenlandes nicht allein Siegfrieds Stärke zugesprochen, vielmehr wird die Bedeutung des Schwertes Balmung deutlich hervorgehoben (vgl. 95,1-4). Doch ebenso wie bei den bereits besprochenen Gaben können die Kräfte Balmungs nur innerhalb der Nibelungenwelt positiv genutzt werden – Siegfried als Besitzer Balmungs wird der neue Herr über das Nibelungenland und Besitzer des sagenhaften Nibelungenhortes. Nachdem Siegfried Balmung in die Außenwelt getragen hat, schlägt es, ebenso wie die anderen Gaben, in sein Gegenteil um. Als Hagen Siegfried an der Quelle hinterrücks angreift, lässt Balmung Siegfried gleich zweifach im Stich: nicht mehr an der Stelle, an der er es zu wissen glaubt, ist Siegfried weder in der Lage sein Leben zu verteidigen noch sich an seinem Mörder zu rächen:
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Er stirbt, aber der Kreis, den Siegfried durch das Heraustragen Balmungs aus der Wunderwildnis durchbrochen hat, lässt sich erst wieder schließen, nachdem alle, die auf irgendeine Weise mit ihm und Siegfried verbunden waren, den Tod gefunden haben. Auch diese Gabe der Wunderwildnis konnte in der Außenwelt nicht segensreich genutzt werden.
Der Nibelungenschatz ist ebenfalls Bestandteil der Wunderwildnis. Als solcher ist er unermesslich und kann sich nicht erschöpfen. Doch liegt seine Unermesslichkeit in dem Umstand, dass er sich im Nibelungenland, genauer noch in einem holen berge (89,2) befindet, verborgen. Siegfried, der sich den Schatz aneignet, ist sich ebenso wie die Bewohner der Wunderwildnis dieser Tatsache bewusst:
ebenso wie die Bewohner der Wunderwildnis dieser
Er kann sich freigebig und milde zeigen, er kann beim Ausgeben des Schatzes aus dem Vollen schöpfen, ohne ihn jemals wirklich verbrauchen zu können, denn er trägt der magischen Beschaffenheit des Hortes Rechnung: solange sich der Schatz an dem ihm angestammten Platz – dem Zauberberg – befindet, kann seine Unermesslichkeit nicht in Frage gestellt werden. Hagen, der ebenfalls um die magische Beschaffenheit des Schatzes weiß, fasst dies folgendermaßen in Worte:
ebenso wie die Bewohner der Wunderwildnis dieser
[...]
[1] Lexer, Mathias (Hrsg.): Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Leipzig.
[2] Habiger-Tuczay, Christa: Wilde Frau. In: U. Müller und W. Wunderlich (Hrsg.): Dämonen, Monster, Fabelwesen. St. Gallen 1999. S. 603 – 615. Hier: S. 603.
[3] ebd., S. 603.
[4] Nolte, Theodor: ' Wilde und zam '. Wildnis und Wildheit in der deutschen Literatur des Hochmittelalters. In: H.-P. Ecker (Hrsg.): Methodisch reflektiertes Interpretieren. Festschrift für Hartmut Laufhütte zum 60. Geburtstag. Passau 1997. S. 39 – 60. Hier: S. 41.
[5] Hufeland, Klaus: Das Motiv der Wildheit in mittelhochdeitscher Dichtung. In: Zeitschrift für deutsche Philologie (95) 1976. S. 1 – 19. Hier: S. 4.
[6] Schmid-Cadalbert,Christian: Der wilde Wald. Zur Darstellung und Funktion eines Raumes in der mittelhochdeutschen Literatur. In: R. Schnell (Hrsg.): Gotes und der werlde hulde. Literatur in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Heinz Rupp zum 70. Geburtstag. Berlin/Stuttgart 1989. S. 24 –47. Hier: S. 27.
[7] ebd., 28.
[8] Hufeland, S. 8.
[9] Schmid-Cadalbert, S.31.
[10] ebd., S. 43.
[11] Stauffer, Marianne: Der Wald. Zur Darstellung und Deutung der Natur im Mittelalter. Bern 1959. S. 14.
[12] Hennig Beate: Kleines mittelhochdeutsches Wörterbuch. Tübingen 1998. S. 233.
vgl. auch: Grubmüller, Klaus: Natûre ist ein ander got. Zur Bedeutung von natûre im Mittelalter. In: A. Robertshaw u. G. Wolf (Hrsg.): Natur und Kultur in der deutschen Literatur des Mittelalters. Tübingen 1999. S. 3 – 17.
[13] Jens, Walter(Hg.): Kindlers Neues Literaturlexikon. München 1998. 21 Bände. Hier: Bd. 19. S. 156.
[14] Helmut de Boor: Vorwort zum Nibelungenlied. S. VII. In: Das Nibelungenlied. Nach d. Ausg. von Karl Bartsch/ hrsg. von Helmut de Boor. Wiesbaden 1996.
[15] de Boor, S. IL.
[16] Während Wilhelm Braune einen klassischen Stammbaum für die Nibelungenhandschriften erstellt hat, als deren besten Repräsentanten er die Handschrift B ansah, und auch Helmut de Boor im Nibelungenlied das Werk eines großen Dichters sieht, gehen Ernst Brackerts Überlegungen dahingehend, dass mehrere Dichter an der Entstehung des Nibelungenliedes beteiligt waren, und dass man weder von einem „Urtext“ noch von einem einzigen Dichter ausgehen kann und darf.
[17] Das Nibelungenlied. Nach d. Ausg. von Karl Bartsch/ hrsg. von Helmut de Boor. Wiesbaden 1996. 22. Auflage. Alle Strophen- und Zeilenangaben hinter den Zitaten beziehen sich auf diese Ausgabe.
[18] Hier ist ihre Arbeit „Der Wald. Zur Darstellung und Deutung der Natur im Mittelalter.“, erschienen 1959 im Francke Verlag, Bern gemeint.
[19] vgl. Schmid-Cadalbert, S. 31.
[20] Bautier, Robert –Henri (Hrsg.): Lexikon des Mittelalters. München 1997. Hier: Bd. 8. Spalte 1944.
[21] Müller, Jan-Dirk: Spielregeln für den Untergang: Die Welt der Nibelungen. Tübingen 1998. S. 303.
[22] Die genannten Länder sind verre (139,2 und 1252,3) weg von Worms; die Könige Liudeger und Liudegast werden mit únkúnden recken (139,3) gleichgesetzt; Krimhild und das sie in das Hunnenland begleitende Gefolge werden als éllénde (1282,2) bezeichnet.
[23] Müller, S. 303.
[24] Nachdem die Brüder Krimhild das Geleit bis Vergen (1291,1) gegeben haben, werden die folgenden Zwischenaufenthalte wie folgt organisiert: Einkehr beim Bischof in Passau (1296 ff), in Everdingen schließt sich Rüdigers Frau Gotelind dem Zug an (1302 u. 1303), ein wirt, Ástolt zeigt ihnen den Weg weiter in das Ostland hinein (1329), Einkehr in der Burg Zeizenm ûre (1332) und der stat Tulne (1341), Hochzeit in Wien, Schiffsbesteigung zu Misenburc (1377).
[25] Obwohl sich die einzelnen Höfe sehr wohl durch Ihre Sitten und Bräuche unterscheiden (auf die Unterschiede wird in den Textstellen 1339,4; 1341,3 und 1389,3 explizit hingewiesen), gibt es bestimmte, universelle Regeln, die auch im Umgang mit fremden Höfen und Personen ihre Gültigkeit behalten und das Kommunizieren vereinfachen. So weiß man z.B. an allen Höfen um die Unterschiede beim Empfang höher oder niedriger gestellter Personen; Kriegserklärungen, oder Einladungen zu Hoffesten werden ebenfalls unter Beachtung bestimmter Regeln überbracht – es handelt sich somit um eine „exklusive, an allen Höfen vorgeführte Lebensform“ (Hansen, Hilde E.: „Das ist Hartnäckigkeit in einer verwerflichen Sache; sie selbst nennen es Treue“. Literatursoziologische Untersuchungen zum Nibelungenlied. Frankfurt/M.: Peter Lang Verlag GmbH, 1990. S. 119.). Nur unter Beachtung und Einhaltung dieser formalen, universell gültigen Regeln, und unter Ausschluss der (sichtbaren) Unterschiede bei Sitten und Bräuchen gilt die o.g. Behauptung, dass die Burgunden das Hunnenland bzw. eingeschränkt den Etzelhof nicht als Wildnis erfahren und von daher in der Lage sind, sich dort ebenso frei wie zu Hause zu bewegen.
[26] Vgl. Rösener, Werner: Jagd, Rittertum und Fürstenhof im Hochmittelalter. In: Rösener, Werner: Jagd und höfische Kultur im Mittelalter. Göttingen 1997. S.143.
[27] Stauffer, S. 164.
[28] Rösener, S. 129. Privileg des Adels meint in diesem Zusammenhang, dass es für die bäuerliche Bevölkerung immer schwerer wurde, die Jagd als (kostenlose) Nahrungsbeschaffung zu nutzen, da sie entweder ganz verboten wurde oder nur in niederer Form, z.B. als Hasenjagd, ausgeübt werden durfte.
[29] Stauffer, S. 164.
[30] Fenske, Lutz: Jagd und Jäger im frühen Mittelalter. Aspekte ihres Verhältnisses. In: W. Rösener: Jagd und höfische Kultur im Mittelalter. Göttingen 1997. S. 56.
[31] Fenske, S. 37.
[32] Vgl. Wenzel, Horst: Ze hove und ze holze – offentlîch und tougen. Zur Darstellung und Deutung des Unhöfischen in der höfischen Epik und im Nibelungenlied. In: G. Kaiser u. J. D. Müller (Hg): Höfische Literatur Hofgesellschaft Höfische Lebensformen um 1200. Düsseldorf 1986. S. 277 - 300. Hier: S. 283.
[33] Stauffer, S. 165 ff.
[34] das Adjektiv sch œn findet sich nur an einer Stelle, in Zusammenhang mit der Wiese, auf der das Lager aufgeschlagen wird (vgl. 963,3).
[35] Ungeachtet des Handlungsgeschehens handelt es sich bei der Wiese, auf der Siegfried von Hagen ermordet wird, um einen locus amoenus, „Sonnenschein, Schatten durch Bäume, Wiese mit Blumen, Quelle oder Bach“, die der Definition nach zu den gängigen Topoi des locus amoenus gehören, finden sich bei der Beschreibung wieder. Nachzulesen in: Dinzelbacher, P. (Hrsg.): Sachwörterbuch der Mediävistik. Stuttgart 1992. S. 378.
[36] Vgl. Stauffer, S. 8.
[37] Vgl. ebd. S. 9.
[38] Mir ist bewusst, dass es gegen die soeben gestellte Behauptung Einwände gibt. So bleibt z.B. Siegfrieds Absicht um Krimhild zu werben lange Zeit verborgen; auch die Hilfe, die er Gunter bei der Werbung um Brünhild anbietet, wird heimlich geleistet, nur Gunther weiß davon. Siegfried legt in diesen beiden Fällen nicht alle Karten offen auf den Tisch bzw. nicht der ganze Hof weiß Bescheid über Siegfrieds Absichten und Handlungen. In beiden Fällen hat Siegfried aber nicht die Absicht, dem Ansehen des Wormser Hofes zu schaden oder gar ein Mitglied der Königsfamilie auszulöschen, um einen persönlichen Vorteil für sich selbst herauszuschlagen – aufgrund seiner Königswürde ist er Krimhilds würdig und durch seinen Beistand gewinnt Gunther eine Braut, die höher gestellt ist als er, was der Ansehens- und Machtvergrößerung des Wormser Hofes dient. Und das unterscheidet Siegfried von den Wormsern. Während diese Siegfried aus dem Weg räumen wollen und dies auf hinterhältige Weise einfädeln, ist Siegfried derjenige, der die Wormser „auch sonst nicht im Stich ließ und zum Trug fähig war“ (Burger, Bernhard: Die Grundlegung des Untergangsgeschehens im Nibelungenlied. Freiburg 1985. S. 180.). Aus dieser Überlegung heraus ist es in dem obigen Zusammenhang gerechtfertigt, Siegfrieds Motive und Handlungen als klar und sauber zu definieren.
[39] Spiewok, Wolfgang: Siegfried – Held und Antiheld im Nibelungenepos – Vom Wert und Unwert einer Kunstfigur. In: Danielle Buschinger u. Wolfgang Spiewok (Hg.): La chanson des Nibelungen hier et aujourd`hui. Actes du colloque Amiens 12 et 13 janvier 1991. Amiens, 1991. S. 145-157. Hier: S. 151. ebenso: Müller, S. 412.
[40] Vgl. Bautier, Robert –Henri (Hrsg.): Lexikon des Mittelalters. München/Zürich 1991. Hier: Bd. 5. Spalte 1999.
[41] Vgl. Stauffer, S. 14.
[42] Vgl. ebd. S. 14.
[43] Giloy-Hirtz, Petra: Begegnung mit dem Ungeheuer. In Kaiser, Gert (Hrsg.): An den Grenzen höfischer Kultur. Anfechtungen der Lebensordnung in der deutschen Erzähldichtung des hohen Mittelalters. München 1991. S. 167 – 209. Hier: S. 168.
[44] Vgl. Stauffer, S. 15.
[45] Z.B. die nordische Sigurddichtung und die Dietrichsage.
[46] Isenstein ist dem Nibelungenland ´benachbart` (Müller, S. 304.). Daher kann es nur einen geben, der den Weg dorthin kennt – Siegfried (vgl. 382,4). Er ist ebenfalls der Einzige, der mit den dortigen Herrschaftsstrukturen und Begebenheiten vertraut ist (vgl. 331,1-4). Auch optisch erinnert Isenstein mit seiner Burg, die bereits von weitem wahrgenommen werden kann, an das Nibelungenland. Doch im Gegensatz zum Nibelungenland funktioniert Istenstein nach höfischem Muster: „Der Empfang auf Isenstein geschieht exakt nach höfischem Schema, die genaue Einhaltung der Spielregeln verweist auf höfischen êre -Begriff, ebenfalls das Akzeptieren der Niederlage und die anschließende Übergabe der Herrschaft an der Sieger Gunther.“ (Geier, Bettina: Täuschungshandlungen im Nibelungenlied. Ein Beitrag zur Differenzierung von List und Betrug. Göppingen 1999. S. 68) Der Hauch von „Fremdheit“ bzw. „Wildheit“, der in Isenstein spürbar ist, ist an die Person Brünhilds, die über mythisch-märchenhafte Kräfte aus archaisch-unhöfischer Vorzeit (vgl. Sagengeschichte) verfügt, gekoppelt: in dem Moment, in dem Brünhild von Gunther bzw. Siegfried besiegt worden ist, greifen die o.g. allgemein gültigen höfischen Herrschaftsstrukturen und so übergibt Brünhild ihrem Onkel mütterlicherseits Isenstein mit den Worten: „nu l ât iu sîn bevolhen mîne b ǘrgẹ unt ouch diu lant, únz daz híe ríhte des künec Guntheres hant.“ (523,3-4). „Zusammenfassend muß man folgern, dass die höfische Welt auf Isenstein, abgesehen von Brünhilds Kraft und deren Einsatz im Wettkampf, intakt ist.Mit viel Sorgfal breitet der Dichter in nicht gebundenem Erzählen eine hochhöfische Athmosphäre und intakte Staatlichkeit auf Isenstein aus.“ (Burger, S. 115) Eine Untermauerung von Burgers Folgerung sehe ich darin, dass Isenstein zu keinem Zeitpunkt als „wildes“ Land sondern nur als daz h êrlîche lant (383,4) wahrgenommen wird. Aus diesem Grund soll in dieser Arbeit Isenstein nicht weiter untersucht werden.
[47] Der Ausdruck Gewalt ist hier mit Stärke gleichzusetzen. Vgl. hierzu Müller, S.173.
[48] Giloy-Hirtz, S. 177.
[49] Grimm, Jacob: Deutsche Mythologie. Berlin 1876, 4. Auflage. S. 575.
[50] Grimm, Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Leipzig 1854. S. 1318.
[51] Siehe hierzu S. 18f meiner Arbeit.
[52] Giloy-Hirtz, S. 169.
[53] Neindorf, Wedis: Irrationale Kräfte im Nibelungenlied. Frankfurt/M. 1960 (Diss.). S. 27.
[54] Ahrendt, Ernst Herwig: Der Riese in der mittelhochdeutschen Epik. Güstrow 1923. S. 96.
[55] Auch die „typische Riesenwaffe“ - die Stahlstange - kommt im Nibelungenlied zum Einsatz (491,1). Vgl. hierzu: Ahrendt, S. 108.
[56] Vgl. hierzu: Fromm, Hans: Riesen und Recken. In: DVJ (60) 1986. S. 42 – 59. Hier: S. 44. sowie Ahrendt, S. 114.
[57] Neindorf, S. 28. Die besonderen Kräfte Balmungs, auf die Neindorf anspielt, entstammen wohl dem altdeutschen Schwertmärchen, demnach „der Riese [...] nur mit einer besonderen, in vielen Fällen seiner eigenen Waffe getötet werden“ kann. Vgl. hierzu auch: Ahrendt, S. 50.
[58] Vgl. hierzu: Ahrendt, S. 108.
[59] Neindorf, S. 27.
[60] Fromm, S. 45.
[61] Lütjens sieht in den Zwergen „eine Fülle der verschiedenartigsten und zum Teil mit den widersprechendsten Zügen ausgestatteten Einzelindividuen“ (S. 108), und unterteilt sie daher in drei Grundtypen. Zwergentypus I ist durch sein Alter und seinen langen Bart gekennzeichnet. Da Siegfried den Zwerg im Kampf b î dem barte (497,2) packen und daran zerren kann, ist Alberich wohl diesem Zwergentypus zuzuordnen. Vgl. Lütjens, August: Der Zwerg in der deutschen Heldendichtung des Mittelalters. Breslau 1911. S. 72.
[62] Vgl. Strophen 96 – 97 und 494 – 499.
[63] Hennig, S.465.
[64] Lütjens geht bei dieser Waffe von Entlehnung bei der französischen Vorlage aus, vgl. Lütjens, S. 21.
[65] Dass die Wunderwildnis mit all ihren Gaben und Mächten für immer verloren ist, wird noch durch die Nennung einer Wünschelrute verstärkt. Obwohl sie die Macht gehabt hätte, demjenigen, der sie zu nutzen weiß, die Weltherrschaft zu sichern, bleibt sie ungenutzt, denn niemand ist in der Lage, ihren wahren Wert zu erkennen (vgl. 1124,1-4).
[66] Aus dieser Sicht heraus wird die Tatsache, dass der Albrîches mâge kom vil mot Gêrnôte dan (1124,4) in ein anderes Licht gerückt: Nicht als Geleit ziehen sie nach Worms, sondern sie suchen einen neuen Herrn, der ihnen Schutz vor Feinden bieten kann, denn Alberich hat sichtbar gemacht, dass er dazu nicht mehr in der Lage ist.
[67] Grimm, Jacob: Deutsche Mythologie. Berlin 1876, 4. Auflage. S. 363.
[68] ebd., S. 363.
[69] Vgl. Bächtold-Stäubli: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Berlin 1932/1933. 9 Bände. Hier: Bd. 8. S.1453.
[70] So nennt Hagen Brünhild aufgrund ihrer sterke vil gr œzl îche (449,1) und ihrer Waffen, die als starc unt ungefüege (440,3) und als gr ôz unt ungefüege (449,3) bezeichnet werden, gerechtfertigter Weise des t íuvéles wíp (438,4). Gerechtfertigt in dem Sinne, dass sowohl das Adjektiv gr œzl îch wie auch das Adjektiv ungefüege den Bereich des Außermenschlichen, Dämonischen, das in Brünhilds Person lebt, kennzeichnen (vgl. hierzu Neindorf, S.27 ff.). Angesichts ihrer Stärke ist er fest davon überzeugt, dass verlíesen wir den lîp (438,3).
[71] Vgl. Sĩvrit der muose füeren die kappen mit im dan (336,1). Hervorhebung von muose durch Sarac-Petric M.
[72] Vorläufig in dem Sinne, dass mit dem Tod Siegfrieds die Ereignisse, die die Tarnkappe in der menschlichen Außenwelt hervorruft, nicht zum Stillstand kommen. Vielmehr löst Siegfrieds Tod die Rache Krimhilds aus, der letztendlich die gesamten Burgunden zum Opfer fallen. Erst mit dem Untergang aller Burgunden und Krimhilds kommt die todbringende Kettenreaktion, die durch den Einsatz der Tarnkappe ins Rollen gebracht wurde, zum Erliegen.
- Arbeit zitieren
- M.A. Mirjana Sarac-Petric (Autor:in), 2002, Wildnis in der Heldenepik um 1200 - Eine Untersuchung am Nibelungenlied und am Laurin, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/70248
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