Über "Venus von Urbino" und "Olympia" von Manet. Profanität der Blicke

Ein Vergleich


Hausarbeit (Hauptseminar), 2015

33 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


1. Heranführungans Thema

2. Ä hnlichkeiten, Unterschiede und Referenzen zwischen der Venus von Urbino (1538) und der Olympia (1865)

3. Blick und Betrachter – Betrachter des Blicks 6
3.1 Der Blick als Kommunikationsmittel
3.2 Im Vergleich: Dresdner Venus und Venus von Urbino
3.3 Im Vergleich: Geburt der Venus und Olympia

4. Der Akt im Blick

5. Fazit

6. Abbildungsverzeichnis

7 . LITERATURVERZEICHNIS

1. Heranführung ans Thema

Und so ist jedes Kunstwerk ein Zwiegespr ä ch mit jedem, welcher davor steht.1

Als die Olympia (s. Abb.1a) des französischen Malers Edourard Manet 1865 im Sale des Refusés ausgestellt wurde, reagierte die Pariser Bevölkerung mit Empörung und Abneigung. »What is this Odalisque with a yellow belly, a degraded model picked up I know not where […]«, fragte der Journalist Jules Claretie und behauptete: »A courtesan no doubt.«2 Dabei basiert Manets Olympia weitestgehend auf der Venus von Urbino (s. Abb.2a), einem auch damals hochgeschätzten Gemälde des venezianischen Renaissancekünstlers Tiziano Vecellio. Doch die Frau auf diesem Bild wurde als Venus und nicht wie bei Manet als Kurtisane identifiziert. Daher zeigt sich, dass die Bilder trotz ihrer Ähnlichkeiten gänzlich unterschiedliche Wirkungen beim Betrachter erzeugen.

Die Struktur eines modernen Kunstwerks ist stets auch die Struktur seiner Rezeptionsbeziehung.3 Daher wird für eine Erschließung der unterschiedlichen Wirkungsweisen der Bilder nun der Blick als signifikantes Merkmal beider Gemälde aufgegriffen und entschlüsselt. Dabei werden Blickkonstellationen und -Situationen innerhalb und außerhalb der Bilder vergleichend untersucht. Besonderes Augenmerk wird auf den Kommunikationscharakter und auf das Verhältnis von Bild und Betrachter gelegt. Es soll auch auf die Bedeutung des Aktes innerhalb der Darstellungen eingegangen werden. Zunächst werden die Bilder – stets mit Fokus auf den Blick der Akte – beschrieben und Manets Referenz auf das Werk Tizians bewiesen. Nach einem analytischen Bildvergleich werden zeitgenössische Aktdarstellungen hinsichtlich Wahrnehmung und Kommunikation mit dem Betrachter untersucht. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse werden in einem weiteren, abschließenden Bildvergleich zwischen der Venus und der Olympia aufgegriffen.

Ziel der Arbeit ist es, die unterschiedlichen Blicke der Venus und der Olympia zu erfassen und mit dem durch sie angesprochenen Betrachter in Beziehung zu setzten. Dabei soll gezeigt werden, dass der profane Charakter von Manets Werk bereits im Blick der Olympia angelegt ist.

2. Ähnlichkeiten, Unterschiede und Referenzen zwischen der Venus von Urbino (1538) und der Olympia (1865)

Guidobaldo della Rovere, Herzog von Urbino, erhielt 1538 seine schon sehnsüchtig erwartete ›donna nuda‹, die unter dem Namen Venus von Urbino bekannt werden sollte.4 Es handelt sich dabei um ein 119 x 165 cm großes Ölgemälde auf Leinwand,5 das heute in den Uffizien in Florenz zu sehen ist. Tizian war zu dieser Zeit bereits ein bekannter Maler und schuf dieses Gemälde in einer Zeit, als er sich mit dem Manierismus auseinandersetzte.6 Aus diesem Grund ist das Bild im Vergleich zu anderen Werken eher statisch: Die Figuren sind in sich geschlossen und nicht in Bewegung dargestellt. Auf den ersten Blick wirkt das Bild harmonisch und erotisch zugleich.

Das Bild ist aufgeteilt in Vorder-, Mittel- und Hintergrund, deren Grenzen jeweils durch die bildunterteilenden Elemente des Vorhangs und Fensters markiert werden. Prominent im Vordergrund ist eine liegende, weibliche Aktdarstellung platziert, die neckisch aus dem Bild heraus den Betrachter anblickt. Sie liegt entspannt auf einem Bett und stützt sich auf den rechten Arm. Entgegen der Tradition von Venusdarstellungen malte Tizian eine Frau, die sich dem Betrachter offen präsentiert, statt ihre Blöße schamvoll zu bedecken.7 Ihre linke Hand verbirgt geradezu neckisch ihre intimste Stelle und die Frau macht sich selbst mit diesem Spiel des Verhüllens für den Betrachter noch aufreizender. Zu ihren Füßen schläft ein kleiner Hund auf dem Bett. Im Bildmittelgrund sind zwei Frauen in einem großen, prachtvollen Raum dargestellt, dessen Bodenfliesen stark perspektivisch angeordnet sind. Die eine Frau kniet über einer Truhe, die andere steht im Profil neben ihr und schaut auf sie hinab. Durch ein Fenster links neben den Frauen ist der Himmel im Dämmerlicht der Abend- oder frühen Morgenstunden zu erkennen. Der Raum ist Palastzimmer des 16. Jahrhunderts identifizierbar, wobei kein anderer Künstler vor Tizian es wagte, eine Nackte Frau in einem solchen Zimmer in Szene zu setzten.8 Er modellierte den Körper der Nackten durch ein Spiel aus Licht und Schatten und gab ihm somit ein besonders weiches Aussehen, sodass der Betrachter die zarte Haut beim Anblick der Frau beinahe spüren kann. Dieses sanfte Lichtverhältnis sowie die helle, aus warmen Tönen bestehende Farbpalette geben dem Bild seine harmonische Ausstrahlung. Dennoch grenzt er den Akt mit dunklen Linien an dessen Konturen klar von seiner Umgebung ab, wodurch die Frau noch mehr in den Vordergrund gerückt wird. Die erotische Wirkung des Bildes entfaltet sich im Blick der Frau, der selbstbewusst, auffordernd und elektrisierend ist.

Über dreihundert Jahre später fertigt Edouard Manet die Olympia an, ein 130 x 190 cm großes Ölgemälde auf Leinwand, das heute im Musée d’Orsay ausgestellt wird. Manet befand sich zu diesem Zeitpunkt am Beginn seiner Karriere. In seinem Bild bezieht er sich mehrfach auf die Venus von Urbino, doch im Gegensatz zu ihrem Vor-Bild9 wirkt die Olympia kühl und resigniert.

Auch Manet setzt den weiblichen Akt in den Vordergrund des Bildes, schließt allerdings hinter ihm den Raum mit mehreren Vorhängen und Wänden, sodass kein Bildmittelgrund entsteht. Die Frau liegt auf einem Bett, ihr Gesicht ist dem Betrachter zugewandt. Sie stützt sich auf ihren rechten Arm und ihr Körper scheint angespannt, so als würde sie sich gerade aufrichten. Ihre ausgebreitete linke Hand liegt auf ihrem Oberschenkel und verdeckt damit auch ihren Schoß. Der Körper der Frau ist in einem grellen Hautton gehalten, sodass er beinahe wie auf einem Foto überbelichtet wirkt. Brüste und Bauchnabel des Aktes sind nur durch punktuelle, stark kontrastierte Farbschattierungen erkennbar, die Brustwarzen gehen in der hellen Farbigkeit der Frau fast gänzlich unter. Das Gesicht hingegen ist dunkler dargestellt, was einerseits ein Hinweis darauf sein könnte, dass Manet für das Portrait mehr Farbe und Zeit gebraucht hat und die dunklere Färbung dem dickeren Farbauftrag geschuldet ist. Andererseits könnte das Modell auch schlichtweg im Gesicht gebräunter gewesen sein als am Rest ihres Körpers. Das Gesicht wirkt somit als einziges Körperteil nicht überbelichtet und wird dadurch lebendiger. Hinter dem Akt steht eine dunkelhäutige Frau, die ihr einen Blumenstrauß reicht. Sie schaut den Akt an, doch dieser blickt aus dem Bild heraus in Richtung Betrachter, genauso wie eine aufgeschreckte, schwarze Katze, die zu Füßen der Nackten dargestellt ist. Den Hintergrund bilden dunkle Vorhänge und Wände, die wie breite, vertikale Farbflächen aufgetragen sind. Seine düstere, in dunklen Grün- und Brautönen gehaltene Farbgebung bietet einen starken Kontrast zur grellen Frauengestalt im Vordergrund. Manets divergente Farbpalette schafft eine innerbildliche Spannung und führt zu der kühlen und angestrengten Ausstrahlung des Bildes. Die stechende Farbgebung und der intensive Blick der Frau aus dem Bild heraus brennen sich in das Gedächtnis des Betrachters.

Zwar bestehen markante Unterschiede zwischen der Venus und der Olympia, doch durch die zahlreichen Ähnlichkeiten und Referenzen lässt sich der Bezug Manets auf Tizians Gemälde eindeutig nachweisen.10 Beide Akte liegen in ähnlicher Pose auf einem dunkelroten Bett, das von einem weißen Laken bedeckt wird. Das Blumenbouquet, das Tizians Venus in der Hand hält, wird bei Manet zum Blumenstrauß, den die dunkelhäutige Dienerin ans Bett der Olympia trägt. Doch eine kleine Blume bleibt im Haar der Olympia zurück, ähnlich wie auch der Venus eine einzelne Blüte aus der Hand gefallen ist. Die weißen Ohrringe der Olympia und ihr Armreif mit dem dunklen Stein verweisen auf den ähnlichen Schmuck der Venus. Den kleinen Hund, der zu Füßen der Venus schlummert, verändert Manet zu einer aufgeschreckten Katze, was innerdiegetische Deutungsmöglichkeiten zulässt.11 Statt zwei Mägden stellt Manet seiner Dame nur eine Dienerin zur Seite, deren weißes Kleid wiederum auf die tizianischen Mägde verweist. Die floralen Muster auf Vorhängen, Tapeten und Bett der Olympia finden sich in den Wandteppichen, Truhen und der Matratze der Venus wieder. Besonders auffällig ist der Vorhang in der linken Ecke, den Manet fast identisch aus Tizians Gemälde kopiert. Den zweiten Vorhang ändert er zu einer braunen, tapezierten Wand, die genauso wie der Vorhang bei Tizian das Bild in zwei Hälften teilt. Während die dadurch entstandene Linie bei Tizian genau die Mittelsenkrechte markiert, ist sie bei Manet weiter nach links versetzt. Auch verweist sie nicht wie in Tizians Venus auf den Schoß des Aktes, sondern trifft nun auf den Oberschenkel der Olympia. Dadurch leitet Manet den Blick des Betrachters auf ein weiteres, verändertes Detail: die Hand der Olympia, die ihre Körpermitte von dem Betrachter verbirgt, während die Venus ihre mit der Hand umspielt. Die stärkste Gemeinsamkeit der Bilder ist jedoch der intensive, starke Blick der Frauen aus dem Bild heraus.

Erst 1912 wurde Tizians Gemälde überhaupt mit der Olympia in Verbindung gebracht.12 Viele Bilder Manets berufen sich auf ähnliche Art wie die Olympia auf ihre Vor-Bilder. Als anschauliches Beispiel soll hier Manets Gemälde La P ê che (1862-63, s. Abb. 9) dienen, das unter anderem auch auf Peter Paul Rubens Paysage à l ’ arc-en-ciel (1635, s. Abb. 10) aufbaut.13 In beiden Bildern findet sich ein Paar am Bildrand, sowie ein brauner Hund im Bildvordergrund. Dieser Hund ist von Manet exakt übernommen worden, während das Paar in seiner Haltung verändert wurde. Trotzdem hat der Mann noch immer den Arm um die Dame geschlungen und das rot-gelbe Gewand von Rubens Frau wird bei Manet zur Robe des Mannes. Der Hund ist folglich ein direktes Zitat Manets, während das Paar als indirekte Referenz zu sehen ist. Das Paar in La P ê che stellt nicht mehr Peter Paul Rubens und seine Ehefrau dar, sondern zugleich Manet und seine zukünftige Gemahlin Suzanne Lehnhoff.14 So sind auch die die Umsetzung des floralen Motivs der Venus in der Olympia und die Transformation des Hundes zu einer Katze strukturale und indirekte Referenzen des Künstlers auf das von ihm gewählte Vor-Bild. Hier zeigt sich der Umgang Manets mit den Bildern der Alten Meister, von denen er teilweise einzelne Bildmotive oder ganze Themen übernimmt und in seinen Bildern neu verhandelt. Durch diese Transformationen ordnet er ihnen neue Bedeutungsebenen zu, sodass schließlich auch aus der mystisch-schönen Frauengestalt Tizians eine durchschnittliche Pariserin aus Manets Zeiten wird.15

3. Blick und Betrachter – Betrachter des Blicks

Der Blick ist das Hauptmerkmal der Venus und der Olympia, das beide Bilder nah zusammenrücken lässt, obwohl die Blicke nicht unterschiedlicher sein könnten. Während der Blick der Venus auf den Betrachter einladend und auffordernd wirkt, ist der der Olympia abweisend und kühl. Das ist auch den unterschiedlichen Maltechniken der Künstler geschuldet. Tizian malt die Venus von Urbino mit sehr weichen, glatten Farbaufträgen und sanften Farbverläufen. Dies zeigt sich insbesondere auch in ihrem aus Licht und Schatten präzise modellierten Gesicht (s. Abb.2b). Feine Locken umrahmen es, die Augen sind groß und mandelförmig. Auffällig sind die feinen, akkuraten Augenbrauen, die die Bögen der Augenlider wiederaufnehmen und dem Blick dadurch einen offenen Ausdruck verleihen. Mit dunklem Strich unterscheidet Tizian die Augen von den Lidern, wobei die Wimpern der Frau nicht dargestellt werden. Somit sind die Augen von einer klaren Linie umrahmt, die den unverschleierten Blick aus dem Gesicht betont. Manet hingegen verwendet zwei Linien, um die Augen zu betonen: Einen hellen Strich unten und einen dunklen Lidstrich oben, der auch die Wimpern der Frau aufgreift. Die Pupille kann so nur noch schwer von den Augenlidern abgegrenzt werden. Der Blick von Manets Olympia wird unklarer und freier für Interpretationen, sodass der Betrachter eine Vielzahl von Emotionen in den Ausdruck der OIympia hineinlesen kann: Traurigkeit, Verachtung, Distanz, Arroganz, aber genauso auch eine teilnahmslose Leere, die auch auf den Atelierblick der Modelle verweist, die teilweise stundenlang vor dem Künstler posieren mussten. Tizian hingegen definiert den Blick klar als einladend und beinahe neckisch in der Art, wie die Venus den Kopf neigt und den Betrachter von unten anguckt. Dagegen liegt die Olympia erhöht auf dem Bett und hat den Kopf so erhoben, dass sie auf den Betrachter herunterblickt. Dadurch wirkt ihr Blick auf den Betrachter einschüchternd und konfrontierend. Indem die Venus ihren Oberkörper auf einem Kissen abstützt, entsteht im Bildvordergrund durch die Positionierung ihres Körpers eine abfallende Linie. Diese bringt den Betrachter dazu, den Blick entlang ihres Körpers weiterwandern zu lassen. Manet hingegen nimmt dem Betrachter die Möglichkeit des geführten Blickes, indem er die Beine in eine horizontale Stellung erhebt. Zusätzlich führen die verschiedenen übereinander geschichteten Wände und Vorhänge des Hintergrunds dazu, dass nur eine sehr geringe Bildtiefe entsteht. Die daraus entstandene Flächigkeit hat ebenfalls zur Folge, dass der Blick des Betrachters kaum von Olympia abschweifen kann. Gustave Courbet merkt sogar an, dass Manet seine Figuren selbst sehr flächig und mit wenigen Schattierungen modelliert.16 Er beraubt seine Modelle dadurch der Plastizität und schafft eine zusätzliche Diskrepanz zwischen Figur und Betrachter. All dies hat zur Folge, dass in der Olympia der Effekt der Konfrontation des Betrachters mit dem Bildmedium verstärkt und zu einem Hauptthema des Bildes wird. Zudem scheint das Licht in Olympia frontal aus dem Betrachterraum zu kommen, während Tizians Venus in eine sanfte, unsichtbare Lichtquelle von links oben gesetzt wurde. Daher kommt Lüthy zu dem Schluss, dass der Blick des Betrachters in Olympia metaphorisch mit dem Licht auf ihren Körper gleichgesetzt wird.17 Der Blick der Olympia scheint auch leicht am Betrachter vorbei ins Leere zu gehen, vielleicht gerade weil sie dem Licht – dem Blick des Betrachters – ausweicht. Stärker als die Venus thematisiert Manet den Blick des Betrachters auf die Bild fl ä che und den Körper der Olympia. Tizian hingegen eröffnet mit dem Kontrast eines weiblichen Akts vor einem dunklen Hintergrund mit wenig Bildtiefe auf der einen Seite und der stark perspektivischen Raumdarstellung auf der anderen zwei verschiedene Blickkonzepte: Rechts die Öffnung des Blicks in den Bild raum hinein und links der direkte, frontale Blick aus dem flächigen Bildfeld heraus. So wirkt die Venus von Urbino beinahe wie zwei zusammengesetzte Bilder.

Vermutlich war Manet von der durch den unverwandten Blick suggerierten Beziehung zwischen Betrachter und Venus angetan und entschied sich daher, die Venus von Urbino als Vor-Bild für seine Olympia heranzuziehen.18 Im Folgenden soll ebendiese Beziehung beider Bilder zu ihren Betrachtern vertiefend untersucht werden. Der Blick beider Frauen in den Betrachterraum wird dabei als Kommunikationsversuch und –Mittel verstanden.

3.1 Der Blick als Kommunikationsmittel

Die Aktdarstellung ist stets auf das Gesehen-werden durch den Betrachter ausgerichtet, da sie zeigt, was andernfalls von Blicken verborgen bleibt. Ebendies wird in den hier verglichenen Werken von Manet und Tizian durch den Blick der Dargestellten aus dem Bild heraus thematisiert. Die Venus von Urbino befand sich ursprünglich in der Bildersammlung von Guidobaldo della Rovere im Palazzo Ducale in Pesaro.19 Der Palast des Herzogs wird folglich in der rechten Raumdarstellung der Venus aufgegriffen. Das Bild hing vermutlich umgeben von Herrscher- und Papstportraits,20 bei denen der Blick aus dem Bild heraus nicht ungewöhnlich ist. Zudem war die Venus in einem Teil des Palastes platziert, der auch für repräsentative Zwecke genutzt wurde.21 Besucher der Bildersammlung waren demzufolge einer Vielzahl von Blicken ausgesetzt. Während die Herrscherportraits jedoch einen für den wissenden Betrachter historisch erschließbaren Kontext innehielten, war die Venus von Urbino vergleichsweise rätselhaft: Wer war die schöne Frau im Palast, die so selbstbewusst aus dem Bild herausblickte? Der intensive Blick aus dem Gemälde schafft folglich eine Leerstelle, die der Betrachter zu füllen versucht.22 Weil es sich um ein Auftragswerk des Herzogs von Urbino handelt, wird die Venus von Urbino häufig als Hochzeitsbild aufgefasst (vgl. Kapitel 4) und der Betrachter dem Bräutigam oder Liebhaber der jungen Frau gleichgesetzt.23 Folglich holt der Blick aus dem Bild die vermeidliche Liebesgöttin aus der antiken Vergangenheit in die Gegenwart des jeweiligen Betrachters,24 denn der Blick nach Außen schreibt den Betrachter immer ins Bildgefüge mit ein. Im Fall der Venus wird der Betrachter durch den auffordernden Blick zum Akteur, zum liebenden Gegenpart der nackten Frau. Daher ist die Blickführung Tizians im Bild auch eine Taktik, die Kommunikation zwischen Bild und Betrachter nicht abbrechen zu lassen: Der Blick wandert vom Gesicht der Frau die abfallende Linie, die ihr Körper bildet, entlang, bis er auf das stark perspektivische Bodenmuster fällt. Dessen Fluchtpunkt liegt wieder auf einer Linie mit dem Gesicht der Venus im Dunkel des Vorhangs (vgl. Abb.3). Von dort aus fängt den Betrachter wieder der Blick der Venus und der Kreislauf ist geschlossen.25 Sollte der Blick des Betrachters abschweifen zu den beiden Dienerinnen im Hintergrund, so wird er in der Verlängerung des Blickes der stehenden auf die kniende Dienerin wieder auf den Schoß der Venus und damit in den Kreislauf zurückgeführt.

Ein ähnliches Verfahren verwendet auch Manet in seiner Olympia: Der Blick der Dienerin fällt auf die Olympia. Diese jedoch erwidert den Blick nicht, sondern schaut den Betrachter an. Sobald sich jener der Dienerin zuwendet, ist der Kreislauf geschlossen: ein Kreislauf des gegenseitigen Beobachtens.26 Lüthy schließt daraus, dass sich der Betrachter innerhalb dieses Beobachtungskreislaufs und damit auch im Bildraum bewegen kann. »Er wechselt von einer passiven zu einer aktiven Rolle.«27 Zugleich ist es aber genau dies, auf das sich die Kommunikation zwischen Betrachter und Bild stets beschränkt: Das Beobachten, denn der Betrachter steht außerhalb der Bildwelt und kann daher nicht antworten.28 Der Blick aus dem Bild zeigt folglich beides zugleich: Kommunikation und fehlgeschlagene Kommunikation mit dem Betrachter. Bei Tizian wird das Motiv der Nicht-Kommunikation noch einmal im Bildmittelgrund mit der Szene der beiden Mägde aufgegriffen. Die stehende Magd beobachtet die kniende, doch diese erwidert ihren Blick nicht. Manet verstärkt diesen Aspekt, indem er die Dienerin in den Bildvordergrund rückt und die misslungene Kommunikation zwischen ihr und Olympia somit ganz offenkundig zeigt. Die Dienerin hält Olympia sogar einen Blumenstrauß entgegen, doch Olympia ignoriert sie und hat scheinbar nur Augen für den Betrachter. Es scheint so, als wäre die Dienerin für Olympia gar nicht wirklich da. Die Farbgebung von Haut und Kleidung der Dienerin unterstreicht diesen Aspekt zusätzlich: Sie verschmilzt regelrecht mit dem dunklen Hintergrund und dem weißen Bett und wird damit unscheinbar. Auffällig ist hierbei, dass Manet diese misslungene Kommunikation an derselben Position im Bild anbringt wie Tizian. Lauinger meint sogar, man könne beinahe den Umriss der beiden Mägde Tizians in der manetschen Dienerin wiederfinden.29 Tatsächlich befindet sich die Magd, die im weißen Gewand über der Truhe kniet, an exakt derselben Stelle, an der Manet die weiße Blume in der Mitte des Bouquets platziert. Die Transformation des Mädchens von Tizian zu einer Blume bei Manet ist ein weiterer Aspekt der Vermittlung, da auch Blumen (insbesondere unter Liebenden) als Bedeutungsträger gelten. Die stehende Magd wurde von Manet folglich zu der Dienerin verwandet, was sich noch an dem Kopftuch, das der Frisur der Magd ähnelt, erkennen lässt. Auch die halb geschlossenen Augen und der scheinbar leicht geöffnete Mund sind bei beiden Figuren gleich. Die abbrechende Kommunikation wird daher nicht nur an derselben Stelle, sondern auch von derselben Figur personifiziert.

Allerdings scheint Olympia bei genauerem Hinsehen am Betrachter vorbei zu schauen. In einer Zeichnung Manets für Olympia fällt auf, dass auch hier der Akt nicht den Betrachter anblickt, sondern zu der auf ihm sitzenden Katze oder aus dem rechten Bildraum heraus schaut (s. Abb.5). Auch die Detailaufnahme der Kopie von Olympia in Manets Bild Emile Zola (1868) zeigt, dass Olympia nicht den Betrachter anblickt (s. Abb.7). Vielmehr scheint sie hier auf Zola hinunter zu gucken.30 Genauso schaut schon Manets Ölskizze der Venus von Urbino nicht den Betrachter an, sondern richtet ihren Blick nach unten ins Leere (s. Abb.4). Daraus lässt sich schließen, dass Manet es bewusst vermieden hat, dass Olympia ihren Betrachter anblickt. Wenn überhaupt, so scheint sie mit leerem Blick durch den Betrachter hindurch zu schauen, aber dennoch nimmt sie ihn wahr, denn sie wendet sich ganz speziell ihm zu. Wenn Lüthy also schreibt, dass mit dem Sehen bei Manet stets auch ein Gesehen-Werden korreliert,31 so müsste es eigentlich ›Wahrgenommen-Werden‹ heißen. Dies würde auch bedeuten, dass Manet den Betrachter zum wahrgenommenen Objekt wandelt, statt ihn als sehendes Subjekt zu behandeln, da das Sehen im Bild durch den leeren Blick selbst bereits negiert wird.32 Der ansprechende Blick der Venus hingegen macht den Betrachter zu einem sehenden, agierenden Subjekt.

Es zeigt sich ein gespaltenes Verhältnis zwischen Betrachter und Bild im Fall der Olympia, das letztendlich zur fehlgeschlagenen Kommunikation führt. Dies hat wiederum zur Folge, dass dem Betrachter die Positionierung zur dargestellten Szene erschwert wird. Man möchte bei Olympia regelrecht einen Schritt nach links machen, um den Blick der Frau fangen zu können. »Nicht nur die beiden Figuren verfehlen sich; dasselbe gilt auch für das Verhältnis zwischen ihnen und dem Betrachter«,33 schreibt Lüthy über Manets Werk Dans la serre (1879), doch dasselbe lässt sich zweifelsohne auch über Olympia sagen. Die Venus und Olympia thematisieren demzufolge zwei unterschiedliche Betrachterpositionen: Während der Betrachter bei Tizian durch den fixierten Blick der Venus vor dem Bild fest verankert wird, lässt ihn der unbestimmte Blick der Olympia orientierungslos vor dem Bild zurück. Im Gegensatz zur Venus von Urbino schafft der Blick in Manets Bild kein Gefühl von Nähe, sondern markiert die Diskrepanz zwischen Betrachter und Werk zusätzlich. Eine solche im Blick angelegte Distanz zwischen Aktdarstellung und Betrachter ist durchaus ungewöhnlich, da die Darstellung intimer Nacktheit bereits Nähe zum Betrachter suggeriert. Selbst der Blick des Akts in Manets zweitem Skandalbild D é jeuner sur l ’ herbe (1862-63) wirkt auf den Betrachter durch die wacheren Augen zugänglicher als die Olympia (s. Abb.20), obwohl es sich dabei sogar um dasselbe Model handelt.

[...]


1 George Wilhelm Friedrich Hegel lt: Lüthy, Michael: Bild und Blick in Manets Malerei. Berlin, 2003. S. 24.

2 Reff, Theodor: The Meaning of Manet’s Olympia. 1964. S. 111.

3 Vgl: Umberto Eco in: Lüthy, Michael: Bild und Blick in Manets Malerei. Berlin, 2003. S. 64.

4 Vgl.: Himmel, Amelie: Die Venus von Urbino und Guidobaldo della Rovere. Frankfurt a. Main, 2000. S. 188.

5 Im Inventar von 1654/55 sind die Maße 119 x 180 cm angegeben; 1769 wurde es verkleinert und 1882 auf seine heutige Größe beschnitten. Vgl.: Ebd. S. 188.

6 Vgl.: Goffen, Rana: Titian’s Venus of Urbino. Cambridge, 1997. S. 1, 4.

7 Die Darstellungstradition der Venus Pudica ist das antike Motiv einer jungen Frau, die ihre Blöße an Brust und Schritt mit den Händen zu verdecken versucht. Vgl: Goffen, Rana: Titian’s Women. New Haven, 1997. S. 151; Dass Tizian diese Darstellungsform kannte, ist anzunehmen. Vgl.: Himmel, Amelie: Die Venus von Urbino und Guidobaldo della Rovere. Frankfurt a. Main, 2000. S. 83.

8 Vgl.: Goffen, Rana: Titian’s Venus of Urbino. Cambridge, 1997. S. 5.

9 Die Bezeichnung ›Vor-Bild‹ soll aufzeigen, dass die Venus von Urbino nicht nur als Vorbild für Manets Werk herangezogen wird, sondern sich aus verschiedenen Darstellungen eine Bildfolge ergibt gemäß dem Grundsatz der Interpikturalität, nach dem es keine Bilder außerhalb von Bildern gibt. Die Reihe der Olympia kann beispielsweise mit Picasso fortgesetzt werden (s. Abb. 8).

10 Der Kunsthistoriker Michael Fried behauptet in seiner These zur › Frenchness ‹ , dass Manet über die Alten Meister und Spanier auf französische Maler zurückverweist. Er behauptet, dass nicht Tizian, sondern Devéria die Hauptquelle der Olympia ist. Er untermauert dies mit der frühen Freundschaft von Manet und Eugène Devéria und am Werk Achille Devérias Sujet gracieux für eine mac é doine (s. Abb. 6). Er vergleicht dieses mit Manets Skizze für Olympia aus dem Jahr 1863 (s. Abb. 5). Vgl.: Fried, Michael: Manet’s Modernism. Chicago, 1996. S. 58ff.

11 Der Hund steht symbolisch für die Treue. Die Katze bekommt nach einem Gedicht Baudelaires eine obszöne Bedeutung. Vgl.: Arnholz, Wiebke: „Olympia? Was ist Olympia? Eine Kurtisane, kein Zweifel“. Würzburg, 2004. S. 64. Zudem steht die Katze für häufige Partnerwechsel. Vgl.: Lauinger, Katharina: Manets Olympia im Spiegel der Zeit. Hamburg, 2011. S. 74.

12 Vgl.: Reff, Theodor: The Meaning of Manet’s Olympia. 1964. S. 114.

13 Manet sah vermutlich einen Holzschnitt nach Rubens von Schelte à Bolswert aus dem Jahren 1640-1645.

14 Vgl.: Reff, Theodor: The Meaning of Manet’s Olympia. 1964. S. 116.

15 Vgl.: Arnholz, Wiebke: „Olympia? Was ist Olympia? Eine Kurtisane, kein Zweifel“. Würzburg, 2004. S. 64.

16 Vgl.: Courthion, Pierre: Ed. Manet. Köln, 1962. S. 12.

17 Vgl.: Lüthy, Michael: Bild und Blick in Manets Malerei. Berlin, 2003. S. 42.

18 Vgl.: Ebd. S. 112.

19 Vgl.: Himmel, Amelie: Die Venus von Urbino und Guidobaldo della Rovere. Frankfurt a. Main, 2000. S. 11f.

20 Vgl.: Ebd.

21 Vgl.: Ebd. S. 16, 18.

22 Vgl.: Lüthy, Michael: Bild und Blick in Manets Malerei. Berlin, 2003. S. 27.

23 Vgl.: Goffen, Rana: Titian’s Women. New Haven, 1997. S. 154.

24 Vgl.: Arnholz, Wiebke: „Olympia? Was ist Olympia? Eine Kurtisane, kein Zweifel“. Würzburg, 2004. S. 63.

25 Vgl.: Goffen, Rana: Titian’s Women. New Haven, 1997. S. 156.

26 Vgl.: Lüthy, Michael: Bild und Blick in Manets Malerei. Berlin, 2003. S. 108.

27 Ebd.

28 Vgl.: Arnholz, Wiebke: „Olympia? Was ist Olympia? Eine Kurtisane, kein Zweifel“. Würzburg, 2004. S. 68.

29 Vgl.: Lauinger, Katharina: Manets Olympia im Spiegel der Zeit. Hamburg, 2011. S. 73.

30 Vgl.: Reff, Theodor: The Meaning of Manet’s Olympia. 1964. S. 111.

31 Vgl.: Lüthy, Michael: Bild und Blick in Manets Malerei. Berlin, 2003. S. 47f.

32 Zum Motiv des Nicht-Sehens gehört auch der Aspekt des Unsichtbaren und Verborgenen in der Bildwelt. Für eine Vertiefung vgl.: Lüthy, Michael: Bild und Blick in Manets Malerei. Berlin, 2003. S. 117.

33 Lüthy, Michael: Bild und Blick in Manets Malerei. Berlin, 2003. S. 60.

Ende der Leseprobe aus 33 Seiten

Details

Titel
Über "Venus von Urbino" und "Olympia" von Manet. Profanität der Blicke
Untertitel
Ein Vergleich
Hochschule
Universität Konstanz  (Literaturwissenschaft)
Veranstaltung
Venezianische Malerei des 15.-18. Jahrhunderts
Note
1,7
Autor
Jahr
2015
Seiten
33
Katalognummer
V704093
ISBN (eBook)
9783346217400
ISBN (Buch)
9783346217417
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Tizian, Olympia, Manet, Venus von Urbino, Akt, Blickkonstellation der Aktmalerei, Dresdner Venus
Arbeit zitieren
Jennifer Münster (Autor:in), 2015, Über "Venus von Urbino" und "Olympia" von Manet. Profanität der Blicke, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/704093

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