Egalitarismus zwischen Eigennutz und gesellschaftlicher Stabilität

Wirkt sich die Forderung von talentierten Personen innerhalb einer Gesellschaft nach einer höheren Vergütung bei gleichem Arbeitsaufwand auf die Stabilität der Gesellschaft aus?


Bachelorarbeit, 2020

50 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1 Einleitung

2 Begriffsbestimmungen und Definitionen
2.1 Gleichheit
2.2 Gerechtigkeit
2.3 Talent und Begabung
2.4 Gesellschaft

3 Theorie
3.1 Egalitarismus
3.2 Differenzprinzip
3.3 Rational Choice
3.4 Theoretische Grundlage und Begriffe der Spieltheorie
3.5 Handlungsketten

4 Analyse
4.1 Betrachtung der Erpressungssituation als spieltheoretische Situation
4.2 Ursprüngliche Erpressungssituation
4.3 Erweiterung der Erpressungssituation
4.4 Neue Spielsituation
4.5 Analyse der erweiterten Erpressungssituation

5 Fazit

Literaturverzeichnis

Anhang

Tabellenverzeichnis

Tabelle 2: Pr äferenzen der Nichttalentierten in der Ursprungssituation

Tabelle 3: Pr äferenz der Talentierten in der Ursprungssituation

Tabelle 1: Auszahlungsmatrix Ursprungssituation

Tabelle 4: Analysierte urspr üngliche Erpressungssituation

Tabelle 5: Erster Schritt der Erweiterung der Spielsituation

Tabelle 6: Zweiter Schritt der Erweiterung der Spielsituation

Tabelle 7: Erweiterung der Spielsituation – Talentierte erhalten Exit-Option

Tabelle 8: Neue spieltheoretische Situation

Tabelle 9: Zusammenfassung der Pr äferenzen der Nichttalentierten in der neuen Spielsituation

Tabelle 10: Zusammenfassung der Pr äferenzen der Talentierten in der neuen Spielsituation

Tabelle 11: Zusammengefasste Analyse der neuen Erpressungssituation

Tabelle 12: Handlungsketten in der neuen Erpressungssituation

“Ich möchte an dieser Stelle meinen Zweifel daran festhalten, dass das Differenzprinzip jede signifikante Ungleichheit in uneingeschränkter Weise rechtfertigt.“ (Cohen 2008a: 33)

1 Einf ührung

Das Ziel dieser Arbeit ist, den Einfluss der Verteilungsgerechtigkeit von Gütern innerhalb eine Gesellschaft und dessen Auswirkung auf die Stabilität der Gesellschaftsstruktur zu analysieren. Der Zusammenhang zwischen der Verteilungsgerechtigkeit und der Stabilität der Gesellschaft wird in der folgenden Arbeit mittels einer spieltheoretischen Analyse untersucht.

Die Frage, was Gerechtigkeit ist, bestimmt einen Großteil des philosophischen, politischen und gesellschaftlichen Diskurses. So ist der Begriff Gerechtigkeit seit den Anfängen der Philosophie, politischen Theorie und anderen geisteswissenschaftlichen Theorien ebenfalls ein zentrales Thema dieser Disziplinen.

Eine grundlegende Frage der unzähligen Debatten, spiegelt sich in der Diskussion, ob und wenn ja Ungleichheit gerecht bzw. gerechtfertigt ist. Ein Teilaspekt dieser Debatte beschäftigt sich mit der Rechtfertigung von Ungleichheiten, die auf Grund von biologischen Merkmalen entstanden sind. Dabei wird davon ausgegangen, dass Menschen weder für noch gegen diese Vor- oder Benachteiligungen etwas können (vergl. Nagel & Gebauer 1994: 44). Wie sollen Entlohnungen zwischen verschiedenen effektiven, begabten oder motivierten Menschen geregelt werden?

Die theoretische Grundlage dieser Arbeit baut auf einer von Gerald Allan Cohen entwickelten Kritik am Differenzprinzip auf.

Die in dieser Arbeit diskutierte Forschungsfrage lautet: „Wirkt sich die Forderung von talentierten Personen innerhalb einer Gesellschaft nach einer höheren Vergütung bei gleichem Arbeitsaufwand auf die Stabilität der Gesellschaft aus?“

Zur Beantwortung der Forschungsfrage werden im Folgenden vier Hypothesen aufgestellt und belegt:

1. Die Erpressungssituation zwischen den Talentierten und Nichttalentierten kann über eine spieltheoretische Situation abgebildet werden.
2. Die ursprünglich von Cohen skizzierte Erpressungssituation zeichnet ein ungerechtfertigtes Ungleichgewicht der Macht- und Handlungsstruktur der beiden Akteure.
3. In einer Erpressungssituation mit einer ausgeglichenen Macht- und Handlungsstruktur führt die alleinige Forderung der Talentierten nach einer höheren Entlohnung zu einer vollständigen Einstellung der Kooperation.
4. Wenn die in dieser Arbeit entwickelte Erpressungssituation unter dem Maximin-Prinzip von Rawls betrachtet wird, kann die Aussage getroffen werden, dass jeder Forderung von Talentierten nach Ungleichheit unterbunden werden sollte.

Die Arbeit ist in vier Abschnitte gegliedert. Im Kapitel der „Begriffsbestimmungen und Definitionen“ werden die Begriffe Gleichheit, Gerechtigkeit, Talent und Begabung sowie der Begriff Gesellschaft für die weitere Verwendung definiert und abgegrenzt. Im darauffolgenden Kapitel „Theorie“ werden der Egalitarismus, das Differenzprinzip und die Rational-Choice-Theorie eingeführt und erläutert. Dabei werden bei allen Konzepten die Grundidee und -struktur hergeleitet sowie die verschiedenen Kritiken aufgeführt. Im Analyseteil dieser Arbeit wird die von Cohen skizzierte Erpressungssituation spieltheoretisch modelliert und in mehreren Schritten erweitert. Darauffolgend wird die erweiterte spieltheoretische Erpressungssituation analysiert und im letzten Schritt, unter dem von Rawls entwickelten Maximin-Prinzip betrachtet.

2 Begriffsbestimmungen und DefinitionenGleichheit

Der Begriff Gleichheit wird bei einer Übereinstimmung einer Mehrzahl von Merkmalen bei Gegenständen, Personen oder Sachverhalten. Im Bezug dieser Arbeit und der allgemeinen Politologie wird Gleichheit als ein allgemeines Gerechtigkeitsideal betrachtet, das in seiner Entwicklung mehr als zweitausend Jahre zurückreicht. Der Begriff Gleichheit erlangte erfassungsrechtliche Bedeutung im Jahre 1776 mit der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika und ist neben Freiheit und Brüderlichkeit eines der drei Leitmotive der Französischen Revolution von 1789 (vergl. Segall 2016: I).

Diese Arbeit betrachtet Gleichheit als arithmetische Gleichheit pro Person.

2.2 Gerechtigkeit

Das Wort Gerechtigkeit ist eines der zentralen Begriffe der Sozial- und damit auch der Politikwissenschaften. Jedoch umfasst die Interpretation des Begriffes eine außerordentliche Bandbreite, was eine allgemeingültige Definition fast unmöglich macht. Selbst das Adjektiv „gerecht“ kann auf unterschiedlichste Weisen verstanden werden. Die folgende Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern soll nur einen Ein- und Überblick über die Bandbreite des Begriffes geben:

- „Gerecht“ liest sich als den „geltenden Normen, Regeln und Kriterien gerecht“ und bedeutet das Gleiche wie „ausgewogen“, also „ohne Extreme“ bedacht oder behandelt (Aristoteles).
- „Gerecht“ bedeutet so viel wie: „zu exakt gleichen Anteilen verteilt“ oder „je nach den erworbenen Verdiensten zugeteilt“ (Aristoteles, Hobbes u.v.a.).
- „Gerecht“ bedeutet so viel wie „fair“ (J. Rawls; B. Barry).
- „Gerecht“ sind Beziehungsmuster zwischen Personen und/oder gesellschaftlichen Verhältnissen, die aufgrund der Interessenslage der Akteure von beidseitigem Vorteil (Nutzen) sind und/oder das Glück einer größtmöglichen Zahl von Menschen garantieren (J. Bentham; V. Pareto).

(vergl. Ritsert 2012: 17-18)

Für diese Arbeit besonders relevant sind die Definitionen von Gerechtigkeit, die eine Verknüpfung mit dem Begriff Gleichheit ansetzen. So bezeichnet Aristoteles einen Menschen zum Beispiel dann als gerecht, wenn dieser erstens die Gesetze und zweitens die „bürgerliche Gleichheit“ achtet. Aristoteles betrachtet beim Begriff „Gleichheit“ vor allem die „gleichmäßige Verteilung der Güter“ (Aristoteles 2013: 104ff).

Alle hier aufgelisteten Definitionen können in zwei elementare Typen von Gerechtigkeit eingeordnet werden:

1. Die Regelgerechtigkeit und
2. die Verteilungsgerechtigkeit.
3. Die Aneignungsgerechtigkeit.

Im Folgenden werden die jeweiligen Typen der Gerechtigkeit einzeln aufgezeigt und definiert. Der Fokus dieser Arbeit liegt auf der Verteilungsgerechtigkeit.

2.2.1 Regelgerechtigkeit

Der Begriff Regelgerechtigkeit wurde grundlegend von Aristoteles geprägt und ist stark an den Begriff der Gesetzestreue angelehnt. So sind alle Personen als „gerecht“ zu bezeichnen, die sich an die allgemein geltenden Regeln und Gesetzesbestimmungen halten. Gerechtigkeit hat in diesem Falle die Bedeutung einer handlungsleitenden Haltung, Einstellung oder Gesinnung der Person.

Dieser Grundgedanke der Regelgerechtigkeit wirft ein Problem auf, das Aristoteles selbst auch aufgezeigt hat. So kann eine Person regelgerecht handeln und dennoch Unrecht begehen, wenn die Normen, Werte und Kriterien, woran er sich orientiert, ihrerseits ungerecht sind (vergl. Ritsert 2012: 11 ff).

2.2.2 Verteilungsgerechtigkeit

Bei der Verteilungsgerechtigkeit stehen Maßnahmen, Verfahren, Mechanismen oder Prozesse im Vordergrund, die die Distribution von Gütern und Leistungen sowie von Rechten und Pflichten organisieren. Dieser Typus der Gerechtigkeit wird im allgemeinen Kontext als Hauptbestandteil der Gerechtigkeit betrachtet. Ebenfalls bestehen oft direkte Verbindungen zur normativen Idee der Gleichheit.

Diesen Typ der Gerechtigkeit kann in weitere zwei Untergruppen geteilt werden.

Es kann die

(1) kommutative Gerechtigkeit von der
(2) distributiven Gerechtigkeit unterschieden werden.

(vergl. Ritsert 2012: 12 ff)

Kommutative Gerechtigkeit

Die kommutative Gerechtigkeit wird auch ausgleichende Gerechtigkeit genannt. Es wird ein Ausgleich gesucht, bei dem niemand mehr oder weniger von einem Gut erhält. Dabei wird versucht eine exakte Gleichverteilung anzustreben. Jede Person mit dem entsprechenden Anspruch soll mit genau den gleichen Anteilen an Vorteilen oder Lasten bedacht werden. Die kommutative Gerechtigkeit kann auch als Prinzip der arithmetischen Gleichheit bezeichnet werden.

Zum normativen Kern der kommutativen Gerechtigkeit wird die Idee der exakten oder einfachen Gleichheit gezählt. Die Anspruchsberechtigten erhalten im idealen Fall pro Kopf den exakt gleichen Anteil aller Güter und Faktoren (vergl. Ritsert 2012: 13 ff).

Aneignungsgerechtigkeit

Das Grundkonzept der Aneignungsgerechtigkeit wird dem römischen Rechtsgelehrten und Politiker Domitius Ulpianus (170-223) zugeschrieben. Eines der Gebote des Ulpian lautete:

Suum cuique tribue – „Lasse jedem das Seine zuteilwerden“ (Watson 1998).

Kant machte jedoch auf die logische Ungereimtheit aufmerksam, dass man jemandem nicht das zuteilen kann, was er als das Seine schon hat. Daraufhin hat Kant die Formel wie folgt erneut übersetzt:

„Tritt in einen Zustand, worin jedermann das (des) Seine(n) gegen jeden anderen gesichert sein kann.“ (Kant 1968: 344)

Dies kann als ausschließliche Bestandsgarantie für vorhandenes Eigentum werten. Jedoch hat der von Kant verwendete lateinische Begriff „tribuere“ auch die Bedeutung „zuteilen“. Somit kann der Satz auch wie folgt gedeutet werden:

Jeder soll sich das zu eigen machen können, was für sein Leben notwendig ist.

In diesem Falle geht es um Aneignungschancen, also um die Möglichkeiten von Individuen und Gruppen, durch Zwecktätigkeiten die für den Lebensunterhalt notwendigen Mittel überhaupt erst zu erwerben. Dies ist nicht zu verwechseln mit der Appropriation, also der Aneignung und dem Erwerb von Eigentum (vergl. Ritsert 2012: 15 ff).

Distributiven Gerechtigkeit

Der Begriff „Distributive Gerechtigkeit“ kann auch die Verteilungsgerechtigkeit im Allgemeinen meinen. Denn „distributio“ bedeutet im Lateinischen die Verteilung (oder Einteilung). So gelesen kann auch die kommutative Gerechtigkeit als ein Teil der distributiven Gerechtigkeit angesehen werden.

Im wissenschaftlichen Gebrauch (und in dieser Arbeit) wird der Begriff in einem engeren Kontext aufgefasst. Distributive Gerechtigkeit im engeren Sinn bedeutet die Verteilung von Gütern, Diensten und Rechten je nach den vorhandenen Meriten von Personen. Das „meritum“ versteht sich im Lateinischen als der Verdienst, den sich jemand erworben hat. „Meriten“ kann verschiedenartige Verteilungsdimensionen bedeuten, auf denen verschiedene Personen verschiedene Positionen einnehmen können (vergl. Ritsert 2012: 13 ff).

Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Verteilungsgerechtigkeit und im spezifischen mit der engen Auslegung der distributiven Gerechtigkeit.

2.2.3 Rawls Betrachtung der Gerechtigkeit

Der US-amerikanischer Philosoph John Rawls lehrte als Professor an der Harvard University und verfasste mit seinem Hauptwerk „A Theory of Justice“ (1971) eines der einflussreichsten Werke der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts.

Selbst libertärer Denker wie Robert Nozick (Nozick & Vetter 2011: 183) behaupteten, dass alle Theoretikerinnen und Theoretiker in der politischen Philosophie entweder innerhalb Rawls konzeptionellen Rahmen arbeiteten oder sich explizit von ihm abgrenzten. Rawls´ Theorie der Gerechtigkeit weist dabei weder göttliche noch naturrechtliche Fundierungen auf, sondern knüpft an die vertragstheoretischen Konzeptionen von Locke, Kant und Rousseau an, nimmt aber für sich in Anspruch, diese zu verallgemeinern und auf ein höheres Abstraktionsniveau zu heben (Rawls 2003: 11).

Rawls vertritt die Position des egalitären Liberalismus. Als Grundsatz seines Werkes setzt er die Gerechtigkeit als Leittugend des Handelns sozialer Institutionen, die aber die Freiheit des Einzelnen nicht verletzen darf.

„Die Gerechtigkeit ist die erste Tugend sozialer Institutionen, so wie die Wahrheit bei Gedankensystemen. Eine noch so elegante und mit sparsamen Mitteln arbeitende Theorie muss fallengelassen werden, wenn sie nicht wahr ist; ebenso müssen noch so gut funktionierende und wohlabgestimmte Gesetze und Institutionen abgeändert oder abgeschafft werden, wenn sie ungerecht sind. Jeder Mensch besitzt eine aus der Gerechtigkeit entspringende Unverletzlichkeit, die auch im Namen des Wohls der ganzen Gesellschaft nicht aufgehoben werden kann. Daher lässt es die Gerechtigkeit nicht zu, dass der Verlust der Freiheit bei einigen durch ein größeres Wohl für andere wettgemacht wird.“ (Rawls 2003: 1)

Die Aufgabe von Gerechtigkeitsgrundsätzen besteht nach Rawls in der Festlegung der Grundstruktur der Gesellschaft. Dies beinhaltet auch die institutionelle Zuweisung von Rechten und Pflichten und die Verteilung der Güter innerhalb der Gesellschaft und bildet somit den Grundstein jeder Gesellschaft. Rawls fordert keine formale Chancengleichheit (z.B. gleiches gesetzliches Recht auf vorteilhafte soziale Positionen), sondern eine faire Chancenverteilung für alle. Zum Beispiel sollten Menschen mit ähnlichen Fähigkeiten auch ähnliche Lebenschancen haben. Rawls postuliert als Voraussetzung dafür das Vorliegen einer gleichen Motivation. Faulheit verwirkt nach Rawls Chancen (Dethlefs 2013: 80 ff.).

Rawls bezeichnet Gerechtigkeit als erste Tugend sozialer Institutionen und vergleicht diesen Zusammenhang mit der Wahrheit bei Gedankensystemen. Jede Theorie muss fallengelassen werden, wenn sie nicht wahr ist. Nach dem gleichen Grundsatz müssen noch so gut funktionierende und wohlabgestimmte Gesetze und Institutionen geändert oder abgeschafft werden, wenn sie ungerecht sind.

„Jeder Mensch besitzt eine aus der Gerechtigkeit entspringende Unverletzlichkeit, die auch im Namen des Wohls der ganzen Gesellschaft nicht aufgehoben werden kann.“ (Rawls 2003: 1) So kann es nach Rawls nie gerecht sein, wenn der Verlust der Freiheit einiger durch ein größeres Wohl für andere wettgemacht wird (vergl. Rawls 2003).

2.3 Talent und Begabung

Betrachtet man die Gerechtigkeitsfrage als Frage nach der angemessenen Verteilung von Gütern, ist schnell ein Problem erkennbar: Gewisse Güter können auf den ersten Blick nicht verteilt werden. Menschen werden mit natürlichen Eigenschaften geboren, die an die jeweilige Person gebunden sind und durch keine politische legitime Maßnahme von ihr gelöst werden können. Dazu gehören, zumindest nach traditioneller Auffassung, auch gewisse Begabungen und Fähigkeiten (Giesinger 2019: 2).

Die folgende Arbeit stützt sich auf der Separation einer jeden Gesellschaft, die auf dem Merkmal des Talents begründet ist. Im folgenden Absatz wird der Begriff Talent eingeführt und für die weitere Verwendung definiert.

Die Begriffe des Talents und der Begabung werden im Allgemeinen dazu verwendet, um individuelle Lern- und Leistungsvoraussetzungen zu beschreiben (Giesinger 2019: 1). Beide Begriffe werden im Folgenden als Synonyme und als austauschbar füreinander betrachtet. Die grundlegende Frage bei den Begabungen ist, ob und wenn ja welche der Begabungen ausschließlich durch die Geburt, also durch den Genpool, bestimmt werden und welche Talente sich durch unsere Sozialisierung oder durch unsere eigenen Erfahrungen bilden.

2.3.1 Rawls Umgang mit nat ürlicher Begabung

Rawls unterteilt seine Grundgüter in zwei Gruppen: die natürlichen und die sozialen Grundgüter. Zu den natürlichen Grundgütern zählt Rawls unter anderem die Intelligenz. Den genauen Begriff der Begabung oder des Talents verwendet Rawls an dieser Stelle jedoch nicht. Zu den sozialen Grundgütern zählt er hauptsächlich Rechte und Freiheiten, sowie Einkommen und Vermögen.

Rawls hält fest, dass die natürlichen Eigenschaften zufällig verteilt und deshalb unverdient seien (Rawls 2003: 60 ff). Nach Rawls sollten soziale und natürliche Vorzüge als unverdient betrachtet werden, da sie nicht auf individuell verantworteten Entscheidungen beruhen (Giesinger 2019: 3).

Rawls formuliert in seinem späteren Werk „Political Liberalism“ (Rawls 1993) eine differenzierte Betrachtung bezüglich des Umgangs mit angeborenen Begabungen. Er lässt seine Erwägungen jedoch nicht in die Formulierung der von ihm entwickelten Gerechtigkeitsgrundsätze einfließen.

Der neu formulierte Grundgedanke ist, dass wesentliche Eigenschaften von Personen nicht naturgegeben sind, sondern diese durch die institutionelle Grundstruktur der Gesellschaft geformt werden. Dies gelte sowohl für den Charakter und die Wünsche von Personen, sagt Rawls, als auch für ihre Talente. So hält Rawls auch fest, dass einzelne Talente nicht als statische Güter betrachtet werden dürfen:

„Wir können die Talente und Fähigkeiten von Individuen nicht als feste natürliche Gaben betrachten.” (Rawls 1993: 269)1

Alle Fähigkeiten hätten zwar eine genetische Grundlage, könnten aber nur unter bestimmten sozialen Bedingungen aufblühen. Zudem könnten vorhandene Anlagen stets unterschiedlich realisiert werden und die vorhandenen Fähigkeiten des Menschen seien stets nur ein kleiner Teil dessen, was die Person hätte sein können. Rawls führt weiter aus, dass die Messbarkeit von Talenten wahrscheinlich immer hypothetisch bleiben wird, da eine Fähigkeit in einer Wechselwirkung mit den sozialen Umständen steht:

„Eine Fähigkeit ist z.B. kein Computer im Kopf mit einer definitiv messbaren Kapazität, die nicht von sozialen Umständen beeinflusst wird.“2 (Rawls 1993: 270)

Rawls fasst sein Argument mit der Aussage zusammen, dass niemals bewiesen werden kann, was aus einer Person geworden wäre, wenn die sozialen Umstände anders gewesen wären. (Giesinger 2019: 7)

2.3.2 Kritik an der Annahme der nat ürlichen Begabung

Wissenschaftlich belegt und im Großteil unumstritten ist der generelle Einfluss des Genpools auf die Begabungen in verschiedenen Wissens- und Könnensbereichen. Diese befinden sich zum Beispiel bei intellektuellen, künstlerischen oder sportlichen Fähigkeiten. Durch die genetische Forschung sind inzwischen (Stand 2012) wenigstens 52 verschiedene Gene (bzw. Genmutationen) identifiziert worden, die eine Auswirkung auf verschiedene Faktoren der sportlichen Leistungsfähigkeit haben. (Swan 2012).

Eine der radikalsten Haltungen vertritt der Musikpädagoge Shinichi Suzuki. Er bestreitet, dass Talent genetisch bestimmt sei. Suzuki ist der Auffassung, dass musikalische Begabung keine andere Ursache habe als früh einsetzende Gehörschulung und tägliches intensives Üben. Er führt an, dass die meisten Studien in dem Bereich nicht bei Neugeborenen durchgeführt werden, sondern bei Kindern, die schon den ersten Teil einer Früherziehung genossen haben. (vergl. Suzuki 1983)

Eine weitere Position bei der kritischer Auseinandersetzung mit der Idee natürlicher Begabung ist die radikal milieu- oder umwelttheoretische Auffassung. Diese oftmals behaviouristisch fundierte Auffassung, betont die soziale Formbarkeit des Menschen. Demnach sind individuelle Fähigkeiten nicht primär natürlich angelegt, sondern entstehen durch soziale Erfahrungen (Giesinger 2019: 4).

Verwendete Definition

Auch wenn grundsätzlich Menschen nicht in Nichttalentierte und Talentierte unterteilt werden können, baut die in dieser Arbeit verwendete Definition auf den Argumenten von Rawls auf, der eine grundlegend unterschiedliche Verteilung von sogenannten natürlichen Gütern anführt. Dabei ist es für diese Arbeit nicht relevant, von welcher Art oder Ausprägung diese Güter sind. Alleinig die Annahme ist hier aufzuführen, dass unterschiedliche biologische Merkmale zu unterschiedlichen Vorteilen in einzelnen Arbeitsbereichen führen, die ebenfalls einen Einfluss auf ihre Arbeits- und Erwerbsleistung haben. So wird Talent und Begabung in dieser Arbeit als ein biologischer, unverdienter Vorteil betrachtet bzw. als ein aktuell gesellschaftlich relevantes und gefragtes Gut besser zu produzieren als der Rest der Bevölkerung. Beachtenswert ist, dass der Wert der Begabung sich sowohl am Durchschnitt der Bevölkerung misst als auch an den jeweiligen Herausforderungen der Zeit und der Gesellschaft. Damit sind die Begriffe Begabung und Talent nicht statisch zu verwenden.

2.4 Gesellschaft

Der folgende Abschnitt definiert den in dieser Arbeit verwendeten Gesellschaftsbegriff. Für die Analyse dieser Arbeit ist es nicht notwendig tiefgreifendere grundlegende Einblicke in die soziologischen Studien über Gesellschaften zu erhalten, da Gesellschaft auf den Aspekt der Kommunikation beschränkt wird.

Um eine solide Arbeitsgrundlage und -umgebung für die diese Arbeit zu schaffen, reicht folgende Annahme: Ohne Kommunikation und oder Kooperation ist keine Gesellschaft langfristig möglich. Wenn also Teile der Gesellschaft langfristig die Kooperation und die Kommunikation einstellen, ist davon auszugehen, dass sich die Gesellschaft auflöst.

Die meisten bekannten Gesellschaftstheorien sehen in den Handlungen der Akteure die strukturellen Begebenheiten einer Gesellschaft. Wenn die jeweiligen Handlungen wegfallen ist somit auch die Grundlage der Gesellschaft nicht mehr gegeben.

Da sich diese Arbeit mit der Verteilung von Gütern und Arbeitsleistung beschäftigt, wird die vereinfachende Annahme getroffen, dass die gesamte Kommunikation und Kooperation einer Gesellschaften ausschließlich im Austausch von Entlohnung und Arbeitsleistung bewegt.

3 Theorie

Der folgende Abschnitt führt in die Grundlagen des Egalitarismus, des Differenzprinzip und der Rational-Choice Theorie ein, die in dieser Arbeit verwendet werden. Neben den grundlegenden Konzepten und Herleitungen der Theorien, wird auch Bezug auf die jeweiligen Kritiken der Theorien genommen. Im Besonderen wird hier die Kritik von Cohen am Differenzprinzip herausgestellt.

3.1 Egalitarismus

Der Grundsatz des reinen Egalitarismus lautet: Jedem das Gleiche, gleiches Recht für alle oder anders formuliert „Eine Personal zählt als eine Person und niemand zählt als mehr als eine Person sowie niemand als weniger als eine Person zählt.“3 (Herwig 1984: 37).

Dies bedeutet, dass die zur Verfügung stehenden Güter gleichmäßig auf alle Berechtigten verteilt werden sollen. Jeder soll einen numerisch gleich großen Anteil erhalten. Dies kann durch eine ausgleichende Verteilung der zur Verfügung stehenden Güter geschehen oder durch eine umfangreiche Staatstätigkeit im Bereich der sozialen Sicherung. Ferner müssen die Menschen in die Lage versetzt werden, die in ihnen schlummernden Fähigkeiten und Potentiale zu verwirklichen (Segall 2016: 24).

Das Wort „Egalitarismus“ stammt etymologisch aus dem Lateinischen und leitet sich von dem Begriff aequus ab. Wörtlich übersetzt bedeutet aequus „gleich“ (franz. Égalité: Gleichheit). Für die absolute Gleichheitsvorstellung des Egalitarismus werden teilweise auch andere Bezeichnungen verwendet. Häufige Synonyme sind: arithmetische, mathematische, numerische, quantitative oder schematische Gleichheit.

Der Egalitarismus basiert auf dem Gedanken der Gleichheit aller Menschen. Dabei werden diese nicht in Relation zu anderen gesehen, sondern als homogene Gattung betrachtet. Eine qualitative, wertende Beziehung zwischen den Menschen ist im Egalitarismus nicht gesetzt. Egalitaristen schreiben der Gleichheit einen intrinsischen Wert zu.

“Das heißt, Egalitäre schätzen die Gleichheit, weil sie Gleichheit an sich als gut ansehen. ” (Holtug & Lippert-Rasmussen 2010)4

Egalitarismus kann als ideologische Bestrebungen verstanden werden, die in staatlichen Gesellschaften, ganz oder teilweise egalitäre Verhältnisse etablieren möchte. Dabei unterscheiden sich die spezifischen Forderungen der einzelnen Richtungen des Egalitarismus stark voneinander. Ein zentraler Unterschied der jeweiligen Richtungen lässt sich an der Frage aufzeigen, welche Art von Ungleichheiten innerhalb einer Gesellschaft ausgeglichen werden sollten (vergl. Cohen 2008a: 34).

Prägende Vertreter des egalitären Liberalismus waren neben John Rawls, Ronald Dworkin, Ernst Tugendhat, Bruce Ackerman oder Philippe van Parijs.

3.1.1 Gl ücks-Egalitarismus

Glücks-Egalitarismus ist eine Ansicht über Verteilungsgerechtigkeit, die von einer Vielzahl von egalitären und anderen politischen Philosophen vertreten wird. Nach dieser Sichtweise verlangt die Gerechtigkeit, dass Unterschiede in der Lebensqualität der Menschen vollständig durch die eigenverantwortlichen Entscheidungen der Menschen bestimmt werden und nicht durch Unterschiede, auf die die Menschen keinen Einfluss hatten. Zur Grundlage liegt der Gedanke, dass teilweise schlechter Gestellte keine Verantwortung für ihre Situation tragen, sondern diese durch externe Faktoren (biologische Lotterie, etc.) verantwortet wird.

Vertreter des Glücks-Egalitarismus unterscheiden dabei zwischen Ereignistypen: die Ereignisse, die durch reines (Un-)Glück entstanden sind, und die, die durch bewusste Entscheidungen entstanden sind. Die Idee hat ihren Ursprung in John Rawls' Vorstellung, dass ausschüttende Aktien nicht durch willkürliche Faktoren beeinflusst werden sollten. Ungeklärte “That is, egalitarians value equality because they take it to be good in itself.” Orignal Zitat, frei übersetzt zentrale Fragen sind wie die Ursache eines Zustandes bestimmt werden kann und wie der Ausgleich der Unterschiede vonstattengehen soll. (Vergl. Knight 2009; Segall 2016)

3.1.2 Kritik am Egalitarismus

Die Kritiken an egalitären Ansätzen lassen sich auf drei Argumente zusammenfassen.

1. Es duldet eine Nivellierung.
2. Es umfasst einen zu großen Anwendungsbereich.
3. Es diagnostiziert die Situation der Nichttalentierten falsch, da ihre absolute und nicht ihre relative Position zählt. (Segall 2016: 24)

Leveling-Down-Objection (LDO)

Am prominentesten aller Kritikargumente ist die sogenannte „leveling-down-objection“ (auch LDO genannt). Dieser in Punkt 1 beschriebene Effekt besagt, dass egalitärische Maßnahmen alle Akteure nicht auf das angestrebte Mittel angleichen, sondern dass alle Akteure auf die schlechteste aller möglichen Optionen heruntergestuft werden (Cohen 2008a: 31; Segall 2016: 23).

3.2 Differenzprinzip

Das Differenzprinzip besagt grundlegend, dass nur dann günstigere Aussichten für Bevorzugte eingerichtet und gesichert werden dürfen, wenn diese den weniger Begünstigten zum Vorteil gereicht (Cohen & Haupt 2001: 182; Rawls 2003: 95).

Ungleichheit ist für Rawls (nicht nur gerechtfertigt, sondern auch) dann gerecht, wenn und weil sie notwendig ist, um die Situation der am schlechtesten Gestellten zu verbessern. Rawls argumentiert, dass diese Ungleichheit notwendig sei, da sie einen signifikanten Einfluss auf die Motivation zur Produktivität ausübe (Cohen & Haupt 2001: 177).

Im Grunde versucht Rawls ein Prinzip zu entwickeln, das die Vorteile einer Ungleichheit als Anreiz zu einer gerechten Verteilung betrachtet. Umformuliert bedeutet dies, dass Rawls versucht durch Ungleichheit Gerechtigkeit zu implementieren. Dass dieser Spagat beider Prinzipien Probleme verursacht, wird im Folgenden erläutert.

Dieser Abschnitt führt in die grundsätzlichen Annahmen und in die Lehre von John Rawls ein. Darauf aufbauend wird das Differenzprinzip detailliert erläutert.

[...]


1 “[W]e cannot view the talents and abilities of individuals as fixed natural gifts.” Original Zitat, frei übersetzt

2 “[A]n ability is not, for example, a computer in the head with a definite measurable capacity unaffectected by social circumstances” Original Zitat, frei übersetzt

3 “One man to count for one and no one for more than one.” Zitat frei übersetzt.

4 “One man to count for one and no one for more than one.” Zitat frei übersetzt.

Ende der Leseprobe aus 50 Seiten

Details

Titel
Egalitarismus zwischen Eigennutz und gesellschaftlicher Stabilität
Untertitel
Wirkt sich die Forderung von talentierten Personen innerhalb einer Gesellschaft nach einer höheren Vergütung bei gleichem Arbeitsaufwand auf die Stabilität der Gesellschaft aus?
Hochschule
Otto-Friedrich-Universität Bamberg
Note
1,3
Autor
Jahr
2020
Seiten
50
Katalognummer
V704245
ISBN (eBook)
9783346202857
ISBN (Buch)
9783346202864
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Rawls, Verteilungsgerechtigkeit, Gerechtigkeit, Vergütung von Talentierten Personen, Spieltheorie, Maximin-Prinzip, Differenzprinzip, Rational-Choice-Theorie, Cohen
Arbeit zitieren
Ben Kohz (Autor:in), 2020, Egalitarismus zwischen Eigennutz und gesellschaftlicher Stabilität, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/704245

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Egalitarismus zwischen Eigennutz und gesellschaftlicher Stabilität



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden