Schreiben über den Krieg - Literarische Verfahrensweisen in Norbert Gstreins "Das Handwerk des Tötens"


Magisterarbeit, 2004

161 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Exposition

II. Dekonstruktion
II. 1. Die Erzählung
II. 1.1. Ordnung und Dauer
II. 1.2. Frequenz
II. 1.3. Aporien durch repetitives Erzählen
II.2. Poetik
II.2.1. Allegorien des Lesens
II.2.2. Norbert Gstreins Poetologie
II.2.3. Pauls Romankonzeption
II.2.3.1. Recherche
II.2.3.2. Genese eines nicht vorhandenen Romans
II.2.3.3. Konzeption hermeneutischer Sinnstiftung
II.2.3.4. Fiktionalisieren der Wirklichkeit
II.2.4. Die Dekonstruktion durch den Ich-Erzähler
II.2.4.1. Referentielle Bezüge
II.2.4.1.1. Geschichte und Plot
II.2.4.1.2. Tropen
II.2.4.1.3. Film
II.2.4.1.4. Journalismus
II.2.4.2. Dekonstruktion des Sprechakts
II.3. Resümee

III. Intertextualität
III.1. Widmung
III.1.1. Gabriel Grüner
III.1.2. Bezüge zu Gabriel Grüners Veröffentlichungen
III.1.3. Ich bin ein Mädchen aus Sarajevo
III.1.4. Peter Handke
III.1.5. Juli Zeh
III.2. Titel und Zwischentitel
III.2.1. Das Handwerk des Tötens
III.2.2. Stories & Shots
III.2.3. Traumstrassen in Jugoslawien
III.2.4. Miss Slavonski Brod
III.2.5. Eine schöne Geschichte
III.3. Resümee

IV. Resümee

V. Literaturverzeichnis

I. Exposition

DIE SCHALEK: Sie, Herr Oberleutnant, wissen Sie was, ich möcht bißl schießen. / [...] /

(Die Schalek schießt. Der Feind erwidert)

Der Offizier: Also da ham mrs!

DIE SCHALEK: Was wollen Sie haben? Das is doch interessant![1]

„Die Schalek“ in dem Drama Die letzten Tage der Menschhei t von Karl Kraus’ ist keine literarische Figur in dem Sinne, dass sie von dem Autor frei erfunden worden ist, sondern verweist auf die Photographin, Reisejournalistin, Literatin und Kriegsberichterstatterin Alice Schalek, die im 1. Weltkrieg für das k.u.k. Kriegspressequartier tätig gewesen ist und sich somit in von Männern dominierten Bereichen behaupten konnte. Zwar sind ihre Arbeiten heute nahezu vergessen, doch bleibt ihr ein zweifelhafter Ruhm als Satireopfer in der von Karl Kraus herausgegebenen Zeitschrift Die Fackel sowie als „Die Schalek“ in Die letzten Tage der Menschheit erhalten. Kraus macht sie zum Rollenmodell des sensationslüsternen Kriegsreporters, der nicht nur neutral vom Krieg berichtet, sondern – und das ist das Entscheidende – selbst zum Handelnden wird. Doch wie ist der oben zitierte Satz aus Kraus’ Drama zu verstehen? Geht es um das tatsächliche Kämpfen mit der Waffe oder sind es die Worte und Photographien, die zur Waffe werden können?

Ende der 70er Jahre hat der Direktor des Wiener Heeresgeschichtlichen Museums, Johann Allmayer-Beck, Photographien von der Emigrantin Alice Schaleck in New York entdeckt, welche bezüglich seiner Empfehlung von der Nationalbibliothek in Wien angekauft worden sind. Den Nachnamen Allmayer trägt auch die zentrale Figur in Norbert Gstreins Roman Das Handwerk des Tötens[2], die von einem sogenannten Warlord ermutigt wird, zu töten. Ob sie dem nachkommt, bleibt letzten Endes offen. Norbert Gstrein befasst sich in diesem 2003 veröffentlichten Roman, der Gegenstand dieser Arbeit ist, mit den Balkankriegen der 90er Jahre. Ausgezeichnet wurde Das Handwerk des Tötens noch im Erscheinungsjahr mit dem „Uwe Johnson-Preis“ und dem „Franz Nabl-Preis“.

Die Literatur hat sich bisher auf die unterschiedlichste Art und Weise dem Thema der Balkankriege angenommen. Der österreichische Autor Peter Handke hat mit seinen Büchern, die explizit den Krieg in den Teilrepubliken Jugoslawien zur Grundlage haben, die nachhaltigsten Debatten in den deutschsprachigen Feuilletons ausgelöst. Zu den während des Krieges bzw. kurz danach veröffentlichten Büchern gehören die Reiseberichte Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien (1996), Unter Tränen fragend. Nachträgliche Aufzeichnungen von zwei Jugoslawien-Durchquerungen im Krieg, März und April 1999 (2000) und das Theaterstück Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg (1999). Ebenfalls dem Stil einer Reisereportage hat sich die Schriftstellerin Juli Zeh mit ihrem Buch Die Stille ist ein Geräusch. Eine Fahrt durch Bosnien (2002) angenommen.

Die im holländischen Exil lebende kroatische Autorin Dubravka Ugrešić ist die im europäischen Ausland am meisten diskutierte Schriftstellerin ihres Heimatlandes. In ihrem 1995 in Deutschland veröffentlichten Essayband Die Kultur der Lüge geht es ihr nicht um das direkte Berichten vom Krieg, sondern, wie sie selbst sagt, „eher vom Leben an seinem Rand, einem Leben, in welchem den meisten Menschen nur wenig verblieben ist.“[3] Einen ebenfalls essayistischen Ansatz verfolgt die Kroatin Slavenka Drakulić mit ihrem Buch Wie wir den Kommunismus überlebten- und trotzdem lachten (1991). Ihr Thema ist hauptsächlich das problematische Alltagsleben der Frauen in der kommunistischen Zeit Jugoslawiens bis zum Ausbruch des Krieges. Die vielleicht bekannteste Verarbeitung des Krieges ist der 1994 in Deutschland erschienene Band Ich bin ein Mädchen aus Sarajevo. Zlata Filipović hat ihre Erfahrungen der Belagerung Sarajevos als Zwölfjährige in Tagebuchform niedergeschrieben und stellt sich selbst in eine Linie mit Anne Frank.[4] Die hier angeführten Bücher stellen nur eine kleine Auswahl dar, die weitere maßgebliche Publikationen nicht berücksichtigt. Sie könnten auch im Sinne einer Kanonisierung verstanden werden. Gleichzeitig ist sie insofern repräsentativ, da sie zeigt, wie mit unterschiedlichen Gattungen versucht wird, über diesen Krieg zu schreiben. Das Spektrum reicht bei den angeführten Beispielen von Essayistik, Theaterstücken, Reiseberichten, bis hin zu Tagebüchern und Prosa. Die Bücher von Handke, Zeh, Drakulić, Filipović sind direkt oder indirekt Bestandteil des Romans Das Handwerk des Tötens.

Die Beschäftigung mit den Balkankriegen kann in gewisser Weise als exemplarisch für die weltweiten gewaltsamen Auseinandersetzungen der letzten zwei Jahrzehnte gesehen werden. So ist für den Politikwissenschaftler Herfried Münkler der Balkankrieg nicht Bürgerkrieg sondern als ein sogenannter „neuer“, der aus einer „Gemengelage aus Werten und Interessen, staatlichen, parastaatlichen und privaten Akteuren“[5] besteht, zu bewerten. Diese „Staatszerfallkriege[...]“[6] sind von einer „Asymmetriesierung kriegerischer Gewalt“[7] gekennzeichnet, die keine Unterscheidung mehr „zwischen Kombattanten und Nonkombattanten“[8] kennen. Strategien sind unter anderem Massenvergewaltigungen von Frauen und Massenexekutionen von Männern. Das Gewaltmonopol unterlag im Balkankrieg nicht allein den Teilrepubliken der Bundesrepublik Jugoslawien, sondern verselbständigte sich. Exemplarisch hierfür steht der Name Arkan, ein unter serbischem Protektorat stehender Kriegsherr, der eng mit dem Euphemismus der „ethnischen Säuberungen“ verbunden ist. Kriege und Konflikte beispielsweise in Afghanistan, Algerien, Schwarzafrika, Tschetschenien und Palästina verlaufen nach ähnlichem Muster. Mit dem Krieg in Bosnien, den Anschlägen des 11. September 2001 in den Vereinigten Staaten von Amerika und denen des 11. März 2004 in Spanien sind die asymmetrischen Kriege, welche sich nicht unbedingt zwischen Staaten sondern zwischen Kulturen und Religionen sowie als Folge der Globalisierung ereignen, in unser Bewusstsein und unseren Kulturkreis vorgerückt.

Das Handwerk des Tötens lässt sich in seiner Problematik mit den Worten des Autors zusammenfassen:

Das gezielte Suchen nach der einen Wahrheit ist gerade das Problematische. Die Wahrheit ist nicht, wie immer gesagt wird, das erste Opfer des Krieges, im Gegenteil: Es sind eher konkurrierende, unvereinbare Wahrheiten, die am Anfang stehen. Da schadet es nicht, Distanz zu schaffen, und die Sprache bietet genug Möglichkeiten. Kriegsberichterstatter sind sehr nahe am Geschehen. Dabei können sich Schablonen wiederholen, die die Literatur hinterfragen kann.[9]

Die Suche nach Wahrheit bzw. Neukonstituierung unserer Wahrnehmung kann als grundlegend für die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Krieg gesehen werden. Dies gilt auch für die Neubewertung bereits vergangener Kriege, wie beispielsweise den Zweiten Weltkrieg. Während die Schuldfrage und die Greueltaten der Vergangenheit des eigenen Landes im Vordergrund der deutschen Literatur standen, geht es in zahlreichen neueren Veröffentlichungen, zu nennen sind unter anderem Günther Grass mit Im Krebsgang (2002), Tanja Dückers Himmelskörper (2003), Ulla Hahns Unscharfe Bilder (2003), um das Leiden der Zivilbevölkerung, vornehmlich durch Vertreibungen und Bombenkrieg.

Das Bedürfnis nach Wahrheit bezüglich der Wahrnehmung neuerer Kriege ist bedingt durch die Berichterstattung der Medien und die Frage, inwieweit der dort repräsentierte Krieg der Wirklichkeit entspricht. Kriegsberichterstattung findet, wenn sie von globalem Interesse ist, via Fernsehen statt. Der französische Philosoph Paul Virilio nannte den Golfkrieg von 1991 einen „Krieg[...] der Echtzeit“[10], durch den eine „Situation der absoluten Interaktivität[11] entsteht. Dabei gewinnt „[d]ie vierte Front“[12], gemeint ist die der Informationen, immer mehr an kriegsentscheidender Bedeutung, da in den Medien das Bild des Krieges live erzeugt und der Rezipient scheinbar ungefiltert mit Informationen versorgt wird. Der journalistische und somit nicht der propagandistische Informationswert ist dabei gering, denn, so stellt Virilio fest, „[o]b im Fernsehen ausgestrahlt oder geschrieben, direkt oder zeitversetzt, die Nachricht, die sich selbst ernst nimmt, benötigt immer eine gewisse Reflexionszeit, das heißt, einen minimalen Zeitaufschub, um ihre Quellen zu überprüfen, ein Aufschub, den die Live- Übertragung nicht mehr zuläßt.“[13] Der Golfkrieg im Jahr 2003 hat mit den „embedded journalists“ - Journalisten, die in den Militärkonvois selbst mitfahren und von dort berichten konnten - gezeigt, dass die zeitliche und räumliche Distanz zwischen Berichterstattung und eigentlichem Geschehen verschwunden ist. Wahrheit wird so durch die unmittelbare Repräsentation der Ereignisse erzeugt. Das Nichtgezeigte wird zum Nichtwahrgenommenen.

Gstrein versucht mit Das Handwerk des Tötens bewusst einen Gegenentwurf zu konstruieren, der darin besteht, sich dem Krieg durch Schrift zu nähern. Zwar thematisiert er vereinzelt das Zustandekommen von Photographien und der Berichterstattung im Fernsehen, doch steht das Schreiben über das von den Medien erzeugte Bild nicht im Vordergrund, sondern vielmehr die journalistische und literarische Auseinandersetzung als solche.

Die bereits oben beschriebenen Kennzeichen der neuen Kriege und somit auch der Balkankriege zeigen, dass es sich nicht mehr um an das Völkerrecht gebundene Kriege handelt, sondern sie eher dem Gesetz des Chaos unterliegen. Unter Umständen können noch die Ursachen der Balkankriege bestimmt werden, aber die Schuldfrage zu klären, fällt schwer, da jede der beteiligten Volksgruppen an völkerrechtswidrigen Handlungen teilgenommen hat. Ist es möglich, einem Krieg, der durch den Zustand des Chaos geprägt ist, durch die Homogenität eines Romans zu begegnen? Gstrein hat sich dem verweigert und eine bewusst offene Form gewählt, die inhaltlich durch zahlreiche Aporien gekennzeichnet ist. Kein einheitliches Bild dieser historischen Ereignisse wird konstruiert, sondern vielmehr dekonstruiert. Dieser Eindruck wird verstärkt durch die Konstellation der beteiligten Personen, die sich größtenteils in Gesprächssituationen befinden. Allmayer, ein Journalist, wird im Kosovo ermordet. Sein vermeintlicher Freund Paul fühlt sich dazu berufen, einen Roman über ihn zu schreiben. Dieses Vorhaben misslingt und er bringt sich in einem Zagreber Hotelzimmer um. Der Ich-Erzähler, mit dem Paul kurz vor Allmayers Tod Bekanntschaft geschlossen hat, ist es, der von dieser Romangenese berichtet. Von zentraler Bedeutung für die Handlung ist ein Interview Allmayers mit dem damaligen Kriegsherrn Slavko, den Paul für Allmayers Tod verantwortlich macht. Dieses wird zur Aporie, die das Romankonzept Pauls unmöglich erscheinen lässt. Bestandteil der Komplexität von Das Handwerk des Tötens ist eine weitere Ebene, die durch die zahlreichen Frauenfiguren – zu diesen gehören Helena, Lilly, Isabella und Pauls Ehefrau – etabliert wird, so dass die eigentliche Motivation der Beteiligten immer unklarer wird.

In den Rezensionen zu Norbert Gstreins Das Handwerk des Tötens wird die Erzählstruktur des Romans zentral hervorgehoben; so sieht Iris Radisch diesen beispielsweise in einer „altkakanische[n] Umständlichkeit“[14] geschrieben, in der ein „Erzähler X erzählt, was Erzähler Y vom Zeugen Z gehört haben will“[15], wobei diese Konstruktion zur „ästhetische[n] Kostümierung“[16] gedacht ist. Richard Kämmerlings sieht in der von Radisch postulierten „Umständlichkeit“[17] eher eine Tugend: „Man könnte dem Roman seine übermäßige Konstruiertheit vorwerfen, [...]. Doch diese Engführung von action und dem Nachdenken über die Möglichkeit ihrer Darstellung ist gerade die Leistung.“[18] Diese kurze Gegenüberstellung zweier Ausschnitte aus den Rezensionen zu „Das Handwerk des Tötens“ lässt bereits vermuten, dass die Konstruktion nicht nur als formgebende Instanz ihre Rolle erfüllt, sondern selbst mit in den Vordergrund rückt und somit thematisiert wird.

Ein Roman, der der Frage nachgeht, inwieweit es überhaupt möglich ist, über den Krieg zu schreiben, gibt eine mögliche Antwort durch seine Konstruktion; mit den Hilfsmitteln der Dekonstruktion und der Intertextualität wird in dieser Arbeit dem Kern der Frage nachgegangen. Die Analyse der Erzähltechniken kann nur in groben Zügen geschehen, da sie aufgrund ihrer Komplexität Teil einer eigenen Arbeit sein könnten. Sie sind Bestandteil des Kapitels über die Dekonstruktion und werden mit Paul de Mans[19] Aporiebegriff und Gérard Genettes Begriff der Frequenz näher untersucht.

Eine der entscheidenden Fragen ist, ob Literatur, die den Krieg zum Thema hat, unter rein ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet werden kann, oder ob diese nicht auch immer eine moralische Beurteilung impliziert. Der Begriff der Wahrheit kann dabei in den Vordergrund des Interesses treten, der als solcher aber nicht unbedingt weiterhelfen muss, da in Kriegen, die dem im Balkan ähneln, eine einzige Wahrheit nur eine interessensbedingte sein kann. Von einem Krieg zu erzählen, bedeutet unter Umständen, ihm einen Sinn zu geben, ihn zu ordnen, wenn es auch nur Anfang und Ende einer Geschichte sind. Ein literarisches Verfahren, mit dem eine solche Sinnstiftung in Das Handwerk des Tötens umgangen wird, ist das der Dekonstruktion. Der Begriff der Dekonstruktion ist von dem französischen Philosophen Jacques Derrida geprägt worden und hat seine literaturwissenschaftliche Bedeutung unter anderem bei den Wissenschaftlern der Universität von Yale, zu denen Paul de Man, Geoffrey H. Hartman und J. Hillis Miller gehören, entfalten können. Die Dekonstruktion kann als eine Methode[20] des Lesens aufgefasst werden, die zeigt, dass Texte sich einer festgelegten Bedeutung entziehen. Eine der Schriften, auf die sich die Dekonstruktivisten beziehen, ist Nietzsches Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, in der Fragen nachgegangen werden wie zum Beispiel,

wie steht es mit jenen Conventionen der Sprache? Sind sie vielleicht Erzeugnisse der Erkenntnis, des Wahrheitssinnes: decken sich die Bezeichnungen und die Dinge? Ist die Sprache der adäquate Ausdruck aller Realitäten?[21]

In dieser Arbeit wird von einem erweiterten Textbegriff ausgegangen. So heißt es beispielsweise bei Derrida:

‘Das, was ich also Text nenne, ist alles, ist praktisch alles. [...] Die Rede ist ein Text, die Geste ist ein Text, die Realität ist ein Text in diesem neuen Sinne. Es handelt sich also nicht darum, einen Graphozentrismus gegen einen Logozentrismus oder gegen einen Phonozentrismus wiederherzustellen, und auch keinen Textzentrismus. Der Text ist kein Zentrum. Der Text ist diese Offenheit ohne Grenzen der differentiellen Verweisung’[22]

Ein erweiterter Textbegriff hat zur Folge, dass die Literatur zum einen dekonstruiert werden kann, aber gleichzeitig der Gegenstand bzw. das Thema, das sie abbildet, in diesem Fall der Krieg, in seiner einheitlichen Darstellbarkeit angezweifelt wird. Denn der Begriff ist selbst eine sprachliche Konvention für bestimmte Ereignisse, die, hinterfragt man diesen, selbst wieder individualisiert werden. Die Sprachkritik der Dekonstruktivisten richtet sich, wie noch zu zeigen ist, gegen eine Ideologisierung von Sprache. Da Kriege nahezu immer ideologisch begründet werden, gilt es diesem Umstand durch die detaillierte Untersuchung der Sprache entgegenzuwirken. Die Methode der Dekonstruktion von Krieg und der Literatur über diesen ist in dem vorliegenden Roman eng mit der Erzählstruktur verbunden, womit jegliche Homogenisierung vermieden wird. Es kann eher von einem offenen Text gesprochen werden, der viele Geschichten enthält und auf viele verweist, wodurch eine geschlossene Struktur unmöglich gemacht wird. Im ersten Teil der Arbeit, der sich mit der Dekonstruktion auseinandersetzt, werden die dekonstruktivistischen Strategien herausgearbeitet, die eine Ästhetisierung des Krieges unmöglich machen.

Grundlegend für den Textbegriff der Dekonstruktion ist das, was sich hinter der von Julia Kristeva generierten Bezeichnung Intertextualität verbirgt, mit der sie sich gegen die werkimmanenten Betrachtungsweisen von Literatur wendet. Die Definition der Intertextualität als „Permutation von Texten“[23] beschränkt sich aber nicht allein auf literarische Texte, sondern schließt das ganze Corpus von Texten mit ein, denn die „transformationelle Methode führt uns dazu, die literarische Struktur ins soziale Ganze zu stellen, das als ein textuelles Ganzes verstanden wird.“[24] Kristeva bezieht sich auf die Dialogizitätstheorie des Strukturalisten Michail M. Bachtins, der in der Sprache des Romans „ein System von ‘Sprachen’“[25] erkennt, die sich aus „künstlerisch organisierte[r] Redevielfalt“, „Sprachvielfalt“, „Stimmenvielfalt“ und „soziale[r] Redevielfalt“[26] zusammensetzt. Die Sprache des Romans ist somit nicht eine Sprache für sich, sondern setzt sich aus unterschiedlichen Quellen zusammen; der Roman kann daher als eine Zusammenfassung dieses Dialogs verstanden werden. Alles, von dem Subjekt durch Sprache Ausgedrückte, sei es verbal geäußert oder schriftlich festgehalten, wird zum Text und muss nach Bachtin in einem Roman mitberücksichtigt werden.

In Das Handwerk des Tötens besteht die Schwierigkeit in den unterschiedlichen Konzeptionen von Intertextualität, wie zum Beispiel Allusionen, kenntlich gemachte Zitate, aber auch ständige innerthematische Hinweise auf die Genrehaftigkeit des Themas Krieg. Die Gesamtkonzeption und ihre Funktion in diesem Roman werden im letzten Teil dieser Arbeit untersucht, so dass es die Frage zu beantworten gilt, ob es Gstrein gelingt, einen Diskurs darüber zu eröffnen, welche Möglichkeiten bestehen, über Krieg zu schreiben. Intertextualität und Dekonstruktion betonen als literarische Verfahrensweisen beide die Offenheit des Textes. Die Folgen dieses Schreibens und Lesens im Hinblick auf eine ideologiekritische Haltung, die den Krieg nicht verständlich macht, aber insofern dem fragilen Konstrukt Wahrheit entspricht, in dem es sie letzten Endes negiert, sind Thema dieser Arbeit.

II. Dekonstruktion

Läsen wir die schreckliche Kriegswirklichkeit auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawien als literarischen Text, könnten wir ein ganzes Repertoire narrativer Strategien, ein ganzes Lexikon stilistischer Methoden, Tropen und Figuren zusammenstellen.[27]

Das ideologiekritische[28] Moment der Dekonstruktion liegt in seiner Grundlage in dem Verneinen des hegelschen Systems der Dialektik, ein Verfahren der Sinnkonstitution, in dem die Welt durch These, Antithese und deren Aufhebung in der Synthese erfasst wird. Nach Peter V. Zima hat die hegelsche Annahme zur Folge, „daß die gesamte Wirklichkeit mit Hilfe von eindeutig definierten Begriffen durchsichtig gemacht werden kann.“[29] Alles Ontologische und Metaphysische kann somit der Herrschaft des Begriffs untergeordnet werden. Dabei werden die Begriffe nicht bewusst gebildet, sondern schreiten in ihrer Genese dialektisch fort, indem einer aus dem anderen entsteht. Dieses absolute Eindeutigkeit erzeugende, hierarchische Verfahren wird von den Dekonstruktivisten negiert, die in dem Verhältnis zwischen Signifikant und Signifikat keineswegs eine eindeutige Beziehung gegeben sehen. Grundlegend für die dekonstruktivistischen Annahmen ist die Sprachphilosophie Friedrich Nietzsches; im besonderen Maße seine Schrift „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“[30], in der die Willkürlichkeit der Begriffsbildung betont wird:

Denken wir besonders noch an die Bildung der Begriffe: jedes Wort wird sofort dadurch Begriff, dass es eben nicht für das einmalige ganz und gar individualisirte Urerlebniss, dem es sein Entstehen verdankt, etwa als Erinnerung dienen soll, sondern zugleich für zahllose, mehr oder weniger ähnliche, d.h. streng genommen niemals gleiche, also auf lauter ungleiche Fälle passen muss. Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nicht--Gleichen.[31]

Wahrheit in der Sprache ist nach Nietzsche nicht möglich, so dass er diese als ein „bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen“[32] charakterisiert und somit den rhetorischen Aspekt in den Vordergrund stellt. Betont man die fehlende eindeutige Beziehung zwischen Signifikant und Signifkat, so erscheint jegliche Ideologie unmöglich zu sein, da diese ihrem Wesen nach auf Eindeutigkeit und Ausschließlichkeit beruht. Zwar ist die Ideologiekritik Bestandteil aller dekonstruktivistischen Strömungen, doch sind die einzelnen Herleitungen unterschiedlich; festzumachen ist dies vor allem in den verschiedenen Ansätzen von Jacques Derrida und Paul de Man.

Derridas Methode der Dekonstruktion baut auf der différance auf, eine Paranomasie, die Derrida allerdings weder als „ein Wort noch ein Begriff“[33] verstanden wissen möchte. Der Vokal a an Stelle des Vokals e weist zum einen auf eine minimale Verschiebung zweier Wörter hin. Zum anderen kann dieser Unterschied durch das Schreiben und Lesen wahrgenommen, aber keinesfalls gehört werden. Dies bedeutet, dass jeder Begriff nach Derrida „seinem Gesetz nach in eine Kette oder in ein System eingeschrieben“[34] ist, „worin er durch das „systematische Spiel von Differenzen auf den anderen, auf die anderen Begriffe verweist“[35]. Sie sind somit immer im Kontext auf das Verwiesene zu sehen, da eine Bedeutung aus sich selbst heraus nicht generiert werden kann. Derrida bezeichnet mit der différance daher „jene Bewegung, durch die sich die Sprache oder jeder Code, jedes Verweisungssystem im allgemeinen ‘historisch’ als Gewebe von Differenzen konstituert [sic!].“[36] Dabei ist „die Bewegung des Bedeutens nur möglich“[37], „wenn jedes sogenannte ‘gegenwärtige’ Element, das auf der Szene der Anwesenheit erscheint, sich auf etwas anderes als sich selbst bezieht“[38]. Das daraus entstehende Geflecht bezeichnet Derrida als Spur, die „sich weniger auf die sogenannte Gegenwart bezieht, als auf die sogenannte Vergangenheit, und eben diese Beziehung zu dem, was es nicht ist, die sogenannte Gegenwart konstituiert“[39]. Hervorzuheben an der Argumentationskette Derridas ist der zeitliche Aspekt, denn auf diese Weise ist das Zeichen in seiner gegenwärtigen Bedeutung Teil der Vergangenheit – von der es sich allerdings unterscheidet – bleibt aber nicht statisch, da der Inhalt in Zukunft ein anderer sein wird. Somit findet eine ständige Sinnverschiebung statt, die eine endgültige Fixierung unmöglich macht. Doch worin liegt das ideologiekritische, quasi subversive Element der Theorie? Die Antwort liegt in der absoluten Verneinung der hegelschen Dialektik. Die Sprache entzieht sich zunächst einer eindeutigen Begrifflichkeit. Eine Theorie auf das Schema These, Antithese und der anschließenden Synthese aufzubauen, verneint Derrida. Es geht darum, „alle Gegensatzpaare wieder auf[zu]greifen, auf denen die Philosophie aufbaut und von denen unser Diskurs lebt, um an ihnen nicht etwa das Erlöschen des Gegensatzes zu sehen, sondern eine Notwendigkeit, die sich so ankündigt, daß einer der Termini als différance des anderen erscheint“[40]. Eindeutigkeit oder ein Ideal wie „Wahrheit“ – sie erscheinen im dekonstruktivistischen Rückblick im gewissen Sinne als Gewalttaten – sind demzufolge nicht zu erzielen, bzw. nur, wenn die Bereitschaft besteht, diese auch in ihrer Zweideutigkeit und Veränderlichkeit zu akzeptieren. Wichtig ist, dass in der différance ein jegliches Ideologie zersetzendes Element gesehen wird und nicht ein Ersatz dieser. Derrida charakterisiert die différance folgendermaßen:

[...]


[1] Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit. München: Kösel-Verlag ²1957, S. 243-244.

[2] Norbert Gstrein: Das Handwerk des Tötens. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe im laufenden Text mit der Sigle HDT zitiert.

[3] Dubravka Ugrešić: Die Kultur der Lüge. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S.20.

[4] Vgl. Zlata Filipović: Ich bin ein Mädchen aus Sarajevo. Bergisch Gladbach: Gustav Lübbe 1994,

S. 30.

[5] Herfried Münkler: Die neuen Kriege. Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2002, S. 10.

[6] Ebd., S. 33.

[7] Ebd., S. 11.

[8] Ebd., S. 31.

[9] Norbert Gstrein und Christine Mach: „Vom Nachdenken über den Krieg.“ In: Tiroler Tageszeitung, 10. September 2003, S. 15. Im Folgenden wird bei Tageszeitungen das Erscheinungsdatum und bei Zeitschriften und Wochenzeitungen die Heftnummer angegeben.

[10] Paul Virilio: Krieg und Fernsehen. München, Wien: Carl Hanser 1993, S. 35.

[11] Ebd., S. 16.

[12] Ebd., S. 61.

[13] Ebd., S. 63.

[14] Iris Radisch: Tonlos und banal. In: Die Zeit 1, 2003, S. 46.

[15] Ebd., S. 46.

[16] Ebd., S. 46.

[17] Ebd., S. 46.

[18] Richard Kämmerlings: Jede Schrift bleibt immer nur ein Manöver. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02. August 2003, S. 42.

[19] Obwohl Paul de Man zu Beginn der 40er Jahre in belgischen Zeitungen Artikel veröffentlichte, die faschistische und antisemitische Tendenzen aufweisen, ist es kein hinreichender Grund, diesen Theoretiker in einer Arbeit, die sich u.a. mit ideologiekritischen Fragen auseinandersetzt, nicht zu berücksichtigen. Sein Leben steht nicht im Zentrum, sondern seine Theorien. Seine eigene Biographie ist nicht einheitlich und kann auch als aporetisch bezeichnet werden.

[20] Im Kapitel über die Dekonstruktion wird gezeigt, warum diese nach den Theoretikern der Dekonstruktion nicht als eine Methode, sondern eher als Denkbewegung zu verstehen ist. Da sie aber im Sinne einer Methode in dieser Arbeit Anwendung findet, wird sie auch als eine solche bezeichnet.

[21] Friedrich Nietzsche: „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne.“ In: In: Ders.: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I – IV. Nachgelassene Schriften 1870-1873. Kritische Studienausgabe. Herausgegeben von Giorio Colli und Mazzino Montinari. München u.a.: Deutscher Taschenbuch Verlag 1988, S. 878.

[22] Peter Engelmann: „Jacques Derridas Randgänge der Philosophie.“ In: Jeff Bernard (Hg.): Semiotica Austriaca. Angewandte Semiotik. Wien: Österreichische Gesellschaft für Semiotik 1987, S. 107-108.

[23] Julia Kristeva: „Probleme der Textstrukturation.“ In: Heinz Blumensath (Hg.): Strukturalismus in der Literaturwissenschaft. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1972, S. 245.

[24] Ebd., S. 255.

[25] Michail M. Bachtin: „Das Wort im Roman.“ In: Ders.: Die Ästhetik des Wortes. Herausgegeben und eingeleitet von Rainer Grübel. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, S. 157.

[26] Ebd., S. 157.

[27] Ugrešič (1995): Die Kultur der Lüge, S. 80.

[28] Historisch hat das Wort Ideologie in seiner Bedeutung unterschiedliche Wandlungen erfahren, wobei es in seiner modernen Auslegung, auf die Schriften von Karl Marx zurückzuführen ist. Der erstmals von A.-L.-C. Destutt de Tracy verwendete Begriff bezeichnete die „‘neue’ moderne Wissenschaft der Ideen“ (HW 158). Marx konstatiert der Ideologie „‘falsches Bewußtsein’“ (HW 164) und entlarvt sie als ein mögliches Machtinstrument. Denn „die Durchsetzung besonderer Interessen geriert sich als Vertretung des allgemeinen Interesses“ (HW 164), so wird sie zur Ideologie „der herrschenden Klasse oder von Gruppen“ (HW 164). G. Salomon lehnt sich an die marxsche Definition an und sieht in ihr, laut Verfasser des Lexikonartikels, die Möglichkeit, zur „Verdeckung und Rechtfertigung von Interessen“ (HW 174). In Bezug zur Wahrheit hat dies zur Folge, dass diese „nur noch instrumentalisiert gedacht wird“ (HW 175). In der Totalitarismuskritik wird der Anspruch von Ideologien in Frage gestellt, eine „totale und sichere Erklärung des Geschichtsprozesses“ (HW 176) bieten zu können und die „‘Wahrheit des Ganzen’“ (HW 176) zu erfassen. Der Roman kann in seiner Homogenität zu einer Ideologie werden, die eine Wahrheit als eine letzte darstellt, um so, für propagandistische Zwecke missbraucht zu werden. [Zitiert wurde unter der Verwendung der Sigle HW aus: A. Reckermann: „Ideologie.“ In: Joachim Ritter u. Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 4. Basel: Schwabe & Co 1976, Sp. 158-192.]

[29] Peter V. Zima: Die Dekonstruktion. Tübingen, Basel: A. Francke 1994, S. 12.

[30] Nietzsche (1988): Wahrheit und Lüge, S. 879-888.

[31] Ebd., S. 879-880.

[32] Ebd., S. 880.

[33] Jacques Derrida: „Die différance.“ In : Engelmann (Hg.) (1990): Postmoderne und Dekonstruktion, S. 82.

[34] Ebd., S. 88.

[35] Ebd., S. 88.

[36] Ebd., S. 90.

[37] Ebd., S. 91.

[38] Ebd., S. 91.

[39] Ebd., S. 91.

[40] Ebd., S. 98.

Ende der Leseprobe aus 161 Seiten

Details

Titel
Schreiben über den Krieg - Literarische Verfahrensweisen in Norbert Gstreins "Das Handwerk des Tötens"
Hochschule
Universität Paderborn  (Fakultät für Kulturwissenschaften)
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
161
Katalognummer
V70589
ISBN (eBook)
9783638616607
Dateigröße
1042 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Schreiben, Krieg, Literarische, Verfahrensweisen, Norbert, Gstreins, Handwerk, Tötens
Arbeit zitieren
Magister Artium Daniel Prüfer (Autor:in), 2004, Schreiben über den Krieg - Literarische Verfahrensweisen in Norbert Gstreins "Das Handwerk des Tötens", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/70589

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