Victor und sein Lehrer Jean Itard. Eine Geschichte der Erziehung als Medium pädagogischer Bildung


Vordiplomarbeit, 2000

55 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung: Anliegen der Untersuchung einer Geschichte der Erziehung

2. Vorstellung der beiden Figuren der Erziehungsgeschichte
2.1. Die Begegnung
2.2. Victor zwischen Idiotie und Wildheit: Disput zwischen Pinel und Itard
2.2.1. Der medizinische Blick Pinels
2.2.2. Der pädagogische Blick Itards
2.3. Das Menschenbild und Erziehungsverständnis des Lehrers und Erziehers

3. Beschreibung und Analyse des Erziehungsprozesses
3.1. Itards Gutachten als Quelle
3.2. Pädagogische Zielsetzungen als Konsequenz der Diagnose
3.2.1. Integration des Wilden in die Gemeinschaft
3.2.2. Erhöhung der Sensibilität
3.2.3. Erweiterung des gedanklichen Horizonts
3.2.4. Entwicklung der Sprache
3.2.5. Entwicklung geistiger Tätigkeit, die über die Bedürfnisse hinausgeht
3.3. Maßnahmen, Methoden und Ergebnisse des Lehr-Lern-Prozesses im Überblick
3.3.1. Integration in die Gesellschaft
3.3.2. Sinnesschulung
3.3.3. Schulung der intellektuellen Fähigkeiten
3.3.4. Schulung der affektiven Fähigkeiten
3.4. Didaktische Analyse der heilpädagogischen Urszene
3.4.1. Das Erziehungsfeld: Die pädagogische Provinz (Koch)
3.4.2. Das didaktische Modell
3.4.3. Der Unterricht als kommunikativer Prozess
3.4.4. Lernformen: Der Unterricht ohne Freude und Spiel
3.4.5. Medien und Methoden

4. Interpretation: Gegenwartsnahe Deutungen einer Geschichte der Geschichte der Erziehung

Literaturverzeichnis

1. Einleitung: Anliegen der Untersuchung einer Geschichte der Erziehung

Indem sie (die Geschichte der Pädagogik, C.B.) die geschichtliche Entwicklung des pädagogischen Bereichs darstellt, dient sie durchaus dem Verstehen und Bewältigen des gegenwärtigen pädagogischen Lebens. (Reble, zit. in: Knoop/Schwab, S.17)

Die historische Dimension des erzieherischen Handelns mit all seinen Maßnahmen, Insti-tutionen, Inhalten, Zielbildern und Fragestellungen ist nicht von der Hand zu weisen. In der Geschichte der Pädagogik hinterlassen in der Vergangenheit handelnde Personen ihrer Nach-welt Erfahrungen im Gelingen wie im Scheitern, aus denen nachfolgende Generationen ler-nen können. Dieses „Denken über den Tag hinaus“ möchte ich anhand einer ausgewählten Geschichte aus dem Repertoire der Geschichte der Erziehung nachvollziehen. Es handelt sich nicht um einen fiktionalen Text, sondern um ein Gutachten des Arztes Itard über den Erziehungsversuch des Wilden von Aveyron. Gegenstand meiner Betrachtung soll der in diesem Gutachten thematisierte Erziehungs- und Bildungsprozess sein. Durch die Vorstellung der beiden beteiligten Personen und der Begegnung zwischen Lehrer und Schüler versuche ich, mich dieser Geschichte der Erziehung zu nähern. Das Erziehungsverständnis und die daraus resultierenden pädagogischen Zielsetzungen des Lehrers sind dabei von Bedeutung für das Verständnis seiner gesamten Lehrtätigkeit. Nach der Beschreibung des Erziehungsprozesses im Ganzen wird dieser in Einzelteile zerlegt und analytisch betrachtet. Dabei gehe ich auf das Erziehungsfeld, die Lern- und Interaktionsformen sowie auf Methoden und Medien ein. Die Analyse erlaubt mir somit, meine gegenwärtige Sichtweise in die Vergangenheit zu projizieren und dadurch eine individuelle Auseinandersetzung zu erreichen. Unmittelbar an diese analytische Betrachtungsweise werden die Einzelteile wieder zusammengefügt und der Erziehungsprozess im Ganzen interpretiert. In der subjektiven Wertung und Auseinandersetzung geht es mir vor allem darum, die von mir ausgewählte historische Begebenheit gegenwartsnah zu deuten.

Dieser Herangehensweise liegt der eigene subjektive Bildungsprozess zugrunde. Über die einleitende Annäherung an die Thematik und

Die gesamte vorliegende Arbeit ist also ein Versuch, anhand der Interpretation einer Geschichte aus der Geschichte der Erziehung den eigenen Bildungsprozess zu erfahren und zu fragen: Was kann man aus der Geschichte lernen?

2. Vorstellung der beiden Figuren der Erziehungsgeschichte

2.1. Die Begegnung

An einem Sommertag des Jahres 1800 begegneten sich dort (in Paris, C.B.) zum ersten Mal zwei junge Franzosen aus der Provinz und verbündeten sich für ihr zukünftiges Leben (Lane 1985, S.9).

Wer waren diese beiden Figuren? Was führte sie zusammen?

Die Geschichte begann im Jahre 1797, als in der Gegend von Lacaune ein herumstreifender nackter Junge entdeckt wurde. Ein Jahr später wurde der Wilde erneut gesehen und diesmal von drei Holzfällern in das Dorf Lacaune gebracht. Die Sensationslust der Dorfbewohner führte dazu, dass man den armen Jungen auf öffentlichen Plätzen ausstellte. Mit der Zeit aber verschwand das Interesse, und die Bewachung wurde nachlässiger, so dass ihm daraufhin bald die Flucht in die Wildnis gelang. In den nächsten 15 Monaten wurde er immer wieder auf den Feldern am Rande des Waldes beobachtet. Man fing ihn abermals ein und schaffte ihn in das schon bekannte Dorf Lacaune. Dort kam er in die Obhut einer Witwe, die ihn einkleidete und mit Nahrung versorgte. Doch schon acht Tage später war der Ruf der Freiheit zu laut, und er flüchtete erneut. Es zog ihn dieses Mal nicht in die Wälder zurück, sondern er durchstreifte das Gebirge im Departement von Aveyron. Den Herbst und fast den gesamten Winter hatte er in der hochgelegenen und wenig bevölkerten Gegend verbracht. Im Januar 1800 tauchte der

Wilde in der Werkstatt eines Färbers im Dorf Saint-Sernin auf. Auf Befehl des Regierungskommissars wurde er einige Tage später in das Waisenhaus von Saint-Affrique gebracht. Die Nachricht von diesem außergewöhnlichen Jungen verbreitete sich bald im ganzen Land. Bonnaterre, der Professor für Naturkunde in Rodez, hegte großes Interesse an der ausführlichen Untersuchung dieses Kindes. Doch er war nicht der einzige. Sicard, Direktor der Taubstummenanstalt in Paris, bemühte sich ebenfalls um die Erlaubnis, den Jungen untersuchen zu dürfen. So kam es, dass das gerade erst in die Gesellschaft eingetretene Kind zuerst fünf Monate in Rodez bei Bonnaterre verbrachte und im Juli in die Hauptstadt zum Taubstummeninstitut „weitergereicht“ wurde (vgl. Lane, S.13ff.)

Itard, die zweite Hauptfigur unserer Geschichte, war zu diesem Zeitpunkt gerade 26 Jahre alt. Die Kindheit verbrachte er in der Provence. Seine Bankierlehre wurde durch die kriegerischen

Auseinandersetzungen in der Zeit der Französischen Revolution unterbrochen und durch die weiteren Umstände gänzlich aufgehoben. Es verschlug ihn ins Militärkrankenhaus von Soliers. Man vermutet dort die Quelle seiner Leidenschaft für Medizin. Itard besuchte die Kurse des bekannten Arztes Larrey. Dieser Anatomieprofessor holte seinen Schüler 1796 nach Paris, wo Itard die Stelle eines Chirurgen einnahm. In Paris entstand auch die Freundschaft zwischen dem jungen Arzt Itard und dem Erzieher und Sprachwissenschaftler Sicard. Ende Dezember des Jahres 1800 vergab der Direktor den Posten eines Chefarztes der Taubstummenanstalt an den jungen Mediziner Itard (vgl. Malson/mannoni/itard 1972, S.107ff., Lane 1985, S.61ff.).

Und hier begegneten sich die beiden Hauptfiguren unserer Geschichte. Die Erziehung des „Wilden von Aveyron“ wurde in die Hände des neuen Anstaltsarztes gelegt. Es standen sich also Lehrer und Schüler gegenüber.

Welche Gründe aber gab es für das anfängliche Konkurrenzgerangel um den Wilden? Und warum wurde dieses Kind dann einem jungen Arzt übergeben, der noch am Anfang seiner Karriere stand? Warum interessierte sich die Öffentlichkeit so sehr für das Phänomen der „wilden Kinder“? War es Sensationslust oder Mitleid oder steckte eine Frage der Erkenntnis dahinter? Es liegt nahe, dass anhand der Untersuchung, Beobachtung und Beschäftigung mit dem „wilden Kind“ die zentrale Frage der Aufklärung nach der Natur des Menschen beant-wortet werden könnte. War doch dieser Junge aufgrund seiner Isolation fern von Gesellschaft und Zivilisation aufgewachsen. Somit könnte man herausfinden, was der Mensch ist ohne den Einfluss der Kultur. Doch nach einer Phase der großen Hoffnungen, die man mit dem Wilden verband, folgte die Phase der Enttäuschung. Man erwartete einen hochmoralischen Wilden, der aber in Wahrheit ein schmutziges, unordentliches Wesen war. Statt einer unverdorbenen Moral zeigte er selbstbezogene, gierige und undankbare Züge. Bei den Gelehrten kam noch ein anderer Gesichtspunkt für die Enttäuschung hinzu: Man zweifelte daran, ob es sich bei dem Jungen um einen Menschen mit normalen geistigen Fähigkeiten handele (vgl. Lane 1985, S. 35ff.).

2.2. Victor zwischen Idiotie und Wildheit: Disput zwischen Pinel und Itard

2.2.1. Der medizinische Blick Pinels

Pinel galt und gilt auch heute noch als eine führende Autorität auf dem Gebiet der Geistesstörungen. In der Zeit, als sich das Erziehungsdrama abspielte, war er Direktor der Pariser Asyle für Geisteskranke. In der Gegenwart wird er als erster Psychiater gewürdigt (vgl. Lane 1985, S.67).

Pinel war ein Mitglied der Kommission, die eigens für den sogenannten Wilden von Aveyron einberufen wurde. Er legte einen Bericht über den Jungen vor, in dem er diesen beschrieb, ihn mit idiotischen Kindern verglich und dann seine Diagnose und Prognose aufstellte (vgl. ebd.).

Die Sinnesfunktionen schätzte er als so träge ein, dass er damit unter dem Stand einiger Haustiere lag. Mit seinen ausdruckslosen Augen fixierte er ausschließlich Nahrungsmittel oder Fluchtmöglichkeiten. Visuelle Unterscheidungen zwischen einem plastischen Gegenstand und einem Bild gelangen ihm nicht. Das Gehör war ebenfalls äußerst unempfindlich, sowohl gegenüber Lärm als auch gegenüber jeder Art von Musik. Er sprach nicht und gab nur monotone unartikulierte Laute von sich. Aufgrund seines wenig entwickelten Geruchsorgans schien er gleichgültig gegenüber angenehmen aber auch unangenehmen Düften. Der Tastsinn war ebenfalls enorm eingeschränkt (vgl. Pinel 1800, zit. in: Lane 1985, S.70ff.)

Im Bereich der Intelligenz maß Pinel dem Jungen keine Fähigkeiten zu. Die Aufmerksamkeit beschränkte sich nur auf Dinge, die seine Bedürfnisse befriedigen. Zu geistigen Arbeiten, Gedächtnisleistungen und Nachahmungen war er nicht imstande. Schon gar nicht verfügte er über Mittel der Verständigung (vgl. ebd., S.72f.).

Selbst seine affektiven Fähigkeiten beschränkten sich auf Freude und Zorn in bezug auf Nahrung (vgl. ebd., S.73f.).

Beim Vergleich des „Wilden von Aveyron“ mit Fällen von idiotischen Kindern stellte Pinel eine absolute Identität fest. Somit bestätigte sich für Pinel der Verdacht, dass der Wilde ein idiotisches Kind ist, weder zu Erziehung- noch Bildung fähig (vgl. ebd., S.74ff.).

Wird dadurch nicht bewiesen, daß der Junge jenen Kindern zugeordnet werden sollte, die an Idiotie oder Wahnsinn leiden, und daß es überhaupt keine Hoffnung gibt, durch systematische und kontinuierliche Unterweisung einen gewissen Erfolg zu erzielen. (ebd., S.85).

Zur Ätiologie meinte er, dass der Junge ausgesetzt wurde, weil er ein Idiot war. Die Wildheit vermutete der berühmte Arzt als eine Folge der Idiotie des Kindes.

... wir können vermuten, daß unmenschliche oder verarmte Eltern den Jungen im Alter von neun oder zehn Jahren in einiger Entfernung von ihrem Wohnort aussetzten, weil er untauglich war für jegliche Erziehung, ... (ebd.).

Da Idiotie als unheilbar galt, bezeichnete Pinel den Jungen als hoffnungslosen Fall, jeder Erziehungsversuch sei vergeblich.

2.2.2. Der pädagogische Blick Itards

Welch pessimistische Prognose stellte sich dem jungen Mediziner in den Weg seines Erziehungsexperimentes. Doch Itard ließ sich dadurch nicht entmutigen. Er hatte sich längst sein eigenes Urteil über das wilde Kind gebildet.

Ich teilte diese Ansicht keineswegs und schöpfte immer noch einige Hoffnung trotz der Wahrheit der Schilderung und der Richtigkeit der Vergleiche. Ich gründete meine Hoffnung auf die Betrachtung einerseits der Ursache und andererseits der Heilbarkeit dieser scheinbaren Idiotie (Itard 1801, zit. in Lutz 1965, S.25).

Anhand der Verhaltensweisen und der Gewohnheiten des Kindes argumentierte er gegen die Auffassung, dass dieser „nur ein armer Schwachsinniger gewesen, der von seinen Eltern verabscheut, erst kürzlich im Walde ausgesetzt worden sei.“ (ebd., S.26).

Seiner Meinung nach war das Kind „im Alter von vier bis fünf Jahren verlassen worden“. Er glaubte außerdem, dass der Junge alles, was er bis dahin erworben hatte, durch die „Folge seiner Isolierung aus seinem Gedächtnis ausgelöscht worden ist“ (ebd., S.28).

Itard glaubte an die Heilbarkeit des gegenwärtigen Zustandes des Jungen. Die psychischen Mangelerscheinungen, die ihn zu einem „Idioten“ stigmatisierten, sah er als Folge des Aufwachsens des Kindes ohne jegliche Erziehung und menschlichen Kontakt. Für ihn war der Wilde von Aveyron eher

...ein Kind von zehn oder zwölf Monaten, bei dem noch asoziale Gewohnheiten dazukamen, eine sture Unaufmerksamkeit, wenig angepaßte Organe und eine Sensibilität, welche durch die Ereignisse abgestumpft war (ebd.).

Aufgrund der Tatsache, dass Itard den äußerliche Schwachsinn des Wilden weniger als biologische sondern als eine kulturelle Mangelerscheinung interpretierte, glaubte er an die Heilbarkeit mit Hilfe von pädagogischen Mitteln. Er sprach dem Kind nicht wie Pinel jede Erziehungsfähigkeit ab, sondern hoffte, den Geist des Kindes zu erwecken. Obwohl Itard mit seiner zuversichtlichen Analyse des besonderen Verhaltens des Kindes fast allein dastand, wollte er das Erziehungsexperiment als Beweis für seine Theorie wagen.

In der Kontroverse um die Diagnose und die Heilbarkeit des jungen Wilden existierten also zwei völlig unterschiedliche Meinungen: Itard auf der einen Seite und Pinel mit einem großen Teil der Wissenschaftler auf der anderen Seite.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Pinel schaute mit medizinischem und defizitorientiertem Blick auf den jungen Wilden. Er war zentral am Menschen mit Behinderung orientiert. Das heißt, der Mediziner nahm nur das wahr, was das Kind nicht konnte. Diese Defizite sah er als feste, unabänderliche Tatsache an, weil aus medizinischer Sicht die verursachende „Krankheit“ der Idiotie nicht heilbar gewesen war. Dadurch verabsolutierte er den Wilden und seine Behinderungen und stigmatisierte ihn zum Idioten.

Itard sah die Behinderung des Jungen als Ausdruck und Ergebnis eines Verhältnisses zwischen dem Wilden und seiner Umwelt vor seinem Eintritt in die Gesellschaft gesehen. Damit kam er dem heutigen sonderpädagogischen systemischen Verständnis schon sehr nahe. Die Zentralorientierung auf den in diesem Sinne behinderten Menschen hob er auf und ging von unauflösbaren Zusammenhängen zwischen biologischen, körperlichen, psychischen und sozialen Bedingungen aus. Das bedeutet, die „Behinderung“ stand nicht als feste Größe, son-dern konnte durch Einwirkung von außen zumindest verringert werden. Die Orientierung an den Defiziten lässt sich aber auch bei ihm feststellen.

2.3. Das Menschenbild und Erziehungsverständnis des Lehrers und Erziehers

Das Handeln Itards war wie jedes pädagogisches Handeln an einem Menschenbild orientiert. Es ist sogar so, dass der Wilde von Aveyron ihm als Objekt dienen sollte für den Beweis seines bestimmten Bildes vom Menschen. Die Frage Was ist der Mensch ohne den Einfluss der Gesellschaft? stand auch für Itard.

Schwach an Körperkräften, ohne eigenes Denkvermögen und außerstande, selbständig den Gesetzen seines Wesens zu folgen, die ihn zur Krone der Schöpfung machen, betritt der Mensch die Erde. Nur im Rahmen der Gesellschaft kann der Mensch die große Aufgabe, die ihm von der Natur zugedacht wurde erfüllen, und ohne Zivilisation wäre er eines der schwächsten und unbegabtesten Lebewesen (Itard 1801, zit. in Lutz 1965, S.17).

Hier wird die Auffassung Itards vom Menschen sehr deutlich. Der Mensch ist außerhalb der gesellschaftlichen Umwelt kein Mensch. Verkürzt gesagt: Der Mensch ist nicht geboren, sondern gemacht. Damit steht er im Sinne Kants, der meinte: „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht.“ (Kant 1801, zit. in Koch 1997, S.22). Der Mensch als „Mängelwesen“ hat also die Möglichkeit, seine Schwäche aufgrund seiner Erziehungs- und Lernfähigkeit zu kompensieren.

Er genießt den schönsten Vorzug seiner Gattung, nämlich die Fähigkeit, seinen Verstand zu entwickeln durch die Kraft der Nachahmung und den Einfluß der Gesellschaft (Itard 1801, zit. in Lutz 1965, S.17).

Nur dieses Menschenbild ermöglichte es Itard, das besondere Verhalten des Wilden von Aveyron als Folge gesellschaftlicher Isolation zu interpretieren. Dieser Junge war der Mensch, der eigentlich kein Mensch war, da er ohne Zivilisation aufwuchs. Folglich konnte er aber noch Mensch werden durch Erziehung, indem seine Wildheit zivilisiert werden würde.

Hinter diesen Gedanken steckt das Grundverständnis der Erziehung als „herstellendes Machen“. In Analogie zur handwerklichen Produktion strebt der Erzieher als Handwerker ein bestimmtes Produkt an, das er mit Hilfe entsprechender Mittel und Methoden zu erreichen versucht. Unser „Bildhauer“ Itard wollte den jungen Wilden von seiner Naturhaftigkeit „be-freien“ und ihn zum Menschen machen (vgl. Gudjons 1993, S.171f.).

Sein Erziehungsplan wurde dabei vor allem von Locke und Condillac beeinflusst. Um die Auffassung Itards vom Menschen zu ergänzen, scheint es mir deshalb wichtig, die Ansichten der beiden Denker kurz zusammenzufassen.

Der Empirist Locke behauptete: „ Im Verstande ist nichts, was nicht vorher in den Sinnen war.“ Somit lautet seine Theorie, dass nichts angeboren ist. Vielmehr sei das Bewusstsein des Menschen eine Art „tabula rasa“, deren Inhalte durch zunehmende Erfahrungen, äußere Wahrnehmungen und der inneren Selbstbeobachtung entstehen können (vgl. Koch 1997, S.23). Condillac, Vertreter des Sensualismus, erweiterte die Gedanken Lockes. Auch er er-klärte auf empirisch-analytischer Grundlagedie Entstehung des Vorstellungslebens aus sinnlich erworbenen Ideen. Erziehung sei die Einwirkung von außen über die Sinnesorgane (vgl. ebd., S.23f.).

3. Beschreibung und Analyse des Erziehungsprozesses

3.1. Itards Gutachten als Quelle

Jeder historischen Betrachtung liegt eine Quelle zugrunde. Die von mir behandelten Fakten eines Erziehungsdramas in der Vergangenheit gehen auf Zeugnisse zurück, die vom Erzieher selbst verfasst worden sind. Itard schrieb zwei Gutachten über die Entwicklung des wilden Jungen, den er selbst später Victor nannte. In diesen Berichten stellte er sehr detailliert die theoretischen Grundlagen seiner Erziehung, den Ausgangszustand Victors, den Verlauf des Erziehungsprozesses und die Veränderungen in Victors Zustand dar. Er versuchte, die Erzie-hung als kontrollierten Prozess offen zu legen, der zeigt, welche Lehrhandlungen zu welchen Lernhandlungen führen (vgl. Andresen 1993, S.5f.).

Das „Gutachten über die ersten Entwicklungen des Victor von Aveyron“ von 1801 berichtet über die ersten neun Monate der Erziehung des wilden Kindes. Damit kam er der Einladung der Pinel-Kommission nach, sie über sämtliche Beobachtungen genau zu unterrichten. Die Kommission begrüßte die Bemühungen Itards und ermutigte ihn zur weiteren Behandlung dieses Jungen. Nach fast 5 Jahren weiterer Erziehung bat der französische Innenminister Champagny um einen detaillierten Bericht über die Entwicklung des Wilden. Itard kam dieser Aufforderung nach und legte eine Fortsetzung des ersten Gutachtens unter dem Titel „Bericht über die neuen Entwicklungen und den gegenwärtigen Zustand des Wilden von Aveyron“ vor.

Die mir zur Verfügung stehenden Texte sind also offizielle Rechenschaftsberichte, einmal an die Kommission der Menschenbeobachter und das andere Mal an die Regierung (vgl. Lane 1985, S.114, 154f.). Diese Tatsache verdeutlicht das Problem der Interpretation dieser Quelle: Es könnte sein, dass Itard sich zurückhielt in der Schilderung einiger Methoden und bestimmte Gesichtspunkte auswählte. Doch der Bericht weist auch viele negative, selbst-kritische Aspekte auf, die zumindest eine „verschönernde“ Darstellung zugunsten Itards ausschließen.

Die Quelle ist ein Text, genauer gesagt eine Reflexion im Sinne einer retrospektiven Betrachtung und Auseinandersetzung mit der Erziehung Victors, mit den Erfahrungen und den Erfolgen bzw. Misserfolgen hinsichtlich der Erwartungen Itards.

Aufgrund dieser Tatsachen wird der Bericht in der vergangenen und gegenwärtigen Gegenwart sehr geschätzt. Als „zwei Denkschriften, die zu klassischen Texten der Pädagogik geworden sind“ (Lane 1985, S.114) liefert diese Quelle reichhaltige Erkenntnisse. Aber was genau kann man lernen aus der Geschichte, die sie erzählt? Antworten darauf möchte ich bei der Beschäftigung mit diesem historischen Text finden.

3.2. Pädagogische Zielsetzungen als Konsequenz der Diagnose

Um den Aspekt der Intentionalität der Erziehung Itards zu betrachten, ist es notwendig, seine Lernziele vorzustellen. Unser Erzieher formulierte seine Be- oder Vorschreibung des gewünschten Zustandes für Victor gleich an den Beginn seines ersten Berichts von 1801. Diese Hauptziele, die ich im folgenden kurz vorstellen möchte, sind zugleich Grundlage für die pädagogischen Handlungen und Methoden.

3.2.1. Integration des Wilden in die Gemeinschaft

Ihm mit dem Leben in der Gemeinschaft vertraut machen, indem man ihm dieses schöner macht als in den bisherigen Monaten seit seiner Festnahme und vor allem ähnlicher dem Leben, das er früher hatte(Itard 1801, zit. in: Lutz 1965, S.28).

Die Ausgangssituation beschrieb Itard in eingehender Weise:

Seine ungestüme Aktivität entartete allmählich in eine stumpfe Apathie, die noch mehr zu den Gewohnheiten eines Einzelgängers führte. ... fand man ihn immer in einer Gartenecke kauernd, oder sich im zweiten Stockwerk hinter Bauabfällen versteckend (ebd., S.29).

Die Ursache für solches Verhalten sah er in den Erlebnissen Victors bei seinem Eintritt in die Gesellschaft: er wurde gejagt und eingefangen, eingesperrt, öffentlich vorgeführt und von anderen abgesondert. Itard beabsichtigte deshalb, dem Jungen eine Zeit der Gewöhnung zu gewähren, bevor er mit dem Unterricht beginnen wollte. Damit sollten Lernbehinderungen aufgrund zu starker Gefühlsreaktionen verhindert werden (vgl. ebd., S.29f.).

3.2.2. Erhöhung der Sensibilität

Die Sensibilität seiner Nerven durch die stärksten Stimulantien und hie und da durch lebhafte seelische Affekte wecken (ebd., S.29).

Hier lehnte sich Itard an die Theorien der zeitgenössischen Physiologen, die die Sensibilität im engen Verhältnis zur Zivilisiertheit betrachteten. Da die Sinne des Wilden schwach entwi-ckelt waren, fühlte Itard sich hinsichtlich dieser Annahme noch mehr bestätigt.

Sein Vorbild Condillac hob die Wahrnehmung als erste Tätigkeit des Geistes hervor. Bei wenig Übung der Sinnesorgane seien diese aber schlecht geeignet zur Vermittlung von Gedanken. Ausgehend von diesen theoretischen Grundlagen verfolgte Itard also das Ziel

...sie (die Sinnesorgane, C.B.) mit allen Mitteln zu fördern und den Geist zur Aufmerksamkeit vorzubereiten, indem ich seine Sinne den stärksten Eindrücken aussetzte (ebd., S.34).

3.2.3. Erweiterung des gedanklichen Horizonts

Seinen Ideenkreis erweitern, indem man ihm neue Bedürfnisse schafft und seine Beziehungen zu den ihm umgebenden Menschen vervielfacht (ebd., S.29).

3.2.4. Entwicklung der Sprache

Ihn zum Gebrauch der Sprache anleiten, wobei die Übung der Nachahmung durch das zwingende Gebot der Notwendigkeit bestimmt wird (ebd., S.29)

Die Sprache sah Itard wie Condillac als Vorbedingung für höhere Verstandesfunktionen. Nach der Wiederherstellung aller Sinne glaubte Itard, dass der Wilde dann durch die bessere Wahrnehmung die Sprache durch Nachahmung erlernen würde.

3.2.5. Entwicklung geistiger Tätigkeit, die über die Bedürfnisse hinausgeht

Eine Zeitlang die einfachsten geistigen Tätigkeiten auf die Gegenstände seiner körperlichen Bedürfnisse anwenden und dann deren Anwendung auf den Lehrstoff bestimmen (ebd.).

Itard sah eine enge Verbindung zwischen den intellektuellen Fähigkeiten und Möglichkeiten des Menschen in früher Kindheit und den körperlichen Bedürfnissen. Nach seinem Prinzip galt es, an diesen Bedürfnissen anzusetzen und diese dann zu erweitern. Das Ziel implizierte außerdem die Vorbereitung Victors auf die formale Ausbildung in den verschiedenen Unterrichtsfächern.

Diese fünf Gesichtspunkte prägten das gesamte Erziehungsprogramm Itards. Das Ziel der Integration in die Gesellschaft konnte bei dem weiteren Verlauf des Erziehungsprozesses ausgelassen werden. Die anderen Ziele behielt Itard jedoch auch noch in seinem zweiten Bericht im Auge. Hier fasste er die Ziele aber unter drei Schwerpunkten zusammen:

Entwicklung der Sinnesfunktionen: Gehör, Tastsinn, Geschmacksinn, Erweiterung des Gesichtssinns

Entwicklung der intellektuellen Fähigkeiten: Gedächtnistraining, Begriffslernen,

Schriftsprache, Lautsprache

Entwicklung der affektiven Fähigkeiten: Gerechtigkeit, Mitgefühl, Trauer

Alle Lernziele beschreiben Itards „Ideal“ für den zu Erziehenden: zu seiner Zivilisierung gehörte die Fähigkeit der Sinnesempfindungen, um für die intellektuellen Anforderungen und Fähigkeiten vorbereitet zu sein. Das Lernen der Sprache und anderer Kulturtechniken stand dabei im Vordergrund. Aber erst bestimmte Gefühle und affektiven Empfindungen, sowie Moralvorstellungen vervollständigten den zivilisierten Menschen des 19. Jahrhunderts.

Diese Ziele und Normvorstellungen implizieren Handlungsaufforderungen für den Erzieher - Handlungsaufforderungen im Sinne der Organisation der Lernbedingungen und der Metho-denanwendung, so dass der Educand sich seinem Soll-Zustand annähern kann.

Neben diesen pädagogischen Zielsetzungen hatte Itard natürlich auch ein wissenschaftliches Ziel im Blick:

Er wollte die naturgegebenen Eigenschaften des Menschen analysieren und feststellen, welche Eigenschaften gesellschaftlich vermittelt werden, also Itard glaubte, über dieses Erziehungsexperiment die Antwort auf die anthropologische Frage der Aufklärung zu finden. Aber dieser junge Mediziner hatte schon ein bestimmtes Bild vom Menschen und die Grundlagen seines Lernens. Es galt also, seine theoretischen Grundlagen zu beweisen.

3.3. Maßnahmen, Methoden und Ergebnisse des Lehr-Lern-Prozesses im Überblick

Hierbei möchte ich nur einige Methoden nennen und kurz beschreiben, da eine ausführliche Darstellung im Abschnitt „Didaktische Analyse“ folgen soll. Mir geht es hier um die Auflistung von medizinischen und pädagogischen Maßnahmen und die Ergebnisse, die Victor bzw. Itard erreicht hatten. Vor allem möchte ich an dieser Stelle den Ablauf des Lehr-Lern-Prozesses schildern, um einen Überblick von einem komplexen Erziehungsexperiment zu erstellen.

3.3.1. Integration in die Gesellschaft

Itard nahm den Jungen mit in seine Wohnung. Seiner Haushälterin Madame Guérin teilte er die Aufgabe der Pflege und Erziehung des Kindes außerhalb des Unterrichts zu. Somit bekam Victor etwas sehr wichtiges: eine feste Bezugsperson, die ihm „mit der ganzen Geduld einer Mutter und der Intelligenz einer aufgeklärten Lehrerin“ (Itard 1801, zit. in: Lutz 1965, S. 30) entgegentrat. Itard war es wichtig, diesen Jungen humaner zu behandeln als es die Gesellschaft bisher getan hatten. „Verständnis“ war die oberste Prämisse, um „den Knaben auf seine Art glücklich zu machen“ ( ebd.) . Der junge Erzieher gewährte ihm eine Zeit, in der Victor seinen Neigungen und Interessen, die sich auf Essen, Schlafen und dem Aufenthalt in der Natur beschränkten, nachgehen konnte. Diese Neigungen plante er, auch in den Unterricht miteinzubeziehen, damit dieser für Victor (und damit auch für Itard) so angenehm wie möglich werde. Die Zeit für Schlafen, Ausflüge und Essen wurde schrittweise immer mehr eingeschränkt und der Unterricht aufgenommen (vgl. ebd., S.30ff.).

... und erreichte schlußendlich stufenweise, seine Spaziergänge seltener, seine Mahlzeiten weniger üppig und weniger häufig, seine Ruhepausen weniger lang und seine Tage für seine Ausbildung nützlicher zu gestalten (ebd., S.32).

[...]

Ende der Leseprobe aus 55 Seiten

Details

Titel
Victor und sein Lehrer Jean Itard. Eine Geschichte der Erziehung als Medium pädagogischer Bildung
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Institut für Erziehungswissenschaften)
Note
1,0
Autor
Jahr
2000
Seiten
55
Katalognummer
V71201
ISBN (eBook)
9783638635134
ISBN (Buch)
9783638689182
Dateigröße
720 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Victor, Lehrer, Jean, Itard, Eine, Geschichte, Erziehung, Medium, Bildung
Arbeit zitieren
Cina Bugdoll (Autor:in), 2000, Victor und sein Lehrer Jean Itard. Eine Geschichte der Erziehung als Medium pädagogischer Bildung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/71201

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