Pädagogische und didaktische Möglichkeiten zur Förderung nachhaltigen Lernens


Examensarbeit, 2004

220 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Teil I - Neurophysiologische Grundlagen des kognitiven Lernens
1. Anatomische und physiologische Grundlagen des Nervensystems
1.1 Peripheres und zentrales Nervensystem
1.2 Das Gehirn
1.3 Für den kognitiven Lernprozess wichtige Hirnstrukturen
1.3.1 Cortex/Neocortex (Großhirnrinde)
1.3.1.1 Anatomie
1.3.1.2 Funktion
1.3.2 Hippocampus
1.3.3 Amygdala (Mandelkern)
1.3.4 Thalamus
1.3.5 Hypothalamus
1.3.6 Zusammenfassende Darstellung
1.4 Neuronen und ihre Verknüpfungen
1.4.1 Das Neuron
1.4.2 Die Synapse
2. Lernen im Kontext neuronaler Repräsentation und Neuroplastizität
2.1 Neuronale Repräsentation
2.1.1 Grundlagen
2.1.2 Repräsentation durch Synapsenstärken
2.1.3 Neuronenpopulationen
2.2 Neuroplastizität: Das biologische Prinzip des Lernens
2.2.1 Neuroplastizität durch Veränderung von Repräsentationen
2.2.1.1 Kortikale Karten
2.2.1.2 Stille Verbindungen (silent connections)
2.2.2 Neuroplastizität durch Langzeitpotenzierung (long-term potentiation)
2.2.2.1 Bildung assoziativer Netze
2.2.2.2 Hebbsche Regel
2.2.2.3 Molekulare und genetische Konsolidierung der synaptischen Verbindung durch LTP
2.3 Gehirnreifung und Kritische Phasen
2.3.1 Gehirnreifung
2.3.2 Kritische Phasen
Exkurs: Frühe kritische Phase bei der Entwicklung sozialer Kompetenz
2.4 Die Gedächtnisarten
2.4.1 Das Kurzzeitgedächtnis
2.4.2 Das Langzeitgedächtnis
3. Zum Einfluss von Emotionen auf die Konsolidierung von Lerninhalten
3.1 Emotion und Evolution
3.2 Emotionen, Wertstrukturen und Lernen
3.3 Zur Rolle von Amygdala, Suchsystem und Dopamin
3.3.1 Einfluss der Amygdala auf die emotionale Informationsverarbeitung
3.3.2 Einfluss des Suchsystems auf die emotionale Informationsverarbeitung
3.3.3 Einfluss von Dopamin auf die emotionale Informationsverarbeitung
3.4 Zusammenfassende Darstellung

Teil II - Aspekte nachhaltigen Lernens auf der Grundlage einer modernen Neurodidaktik
4. Begriffsklärung
4.1 Nachhaltiges Lernen
4.2 Neurodidaktik
5. Zwei Basis-Faktoren nachhaltigen Lernens, in Abhängigkeit von der Person des Lernenden 77
5.1 Zur Persönlichkeit des Lernenden
5.2 Die Bedeutsamkeit des Lerngegenstands für die eigenen Lebensziele
5.3 Das Einordnen-Können des Lerngegenstands in bereits vorhandene kognitive Strukturen
5.4 Zusammenfassende Darstellung
6. Aspekte einer Förderung nachhaltigen Lernens 86
6.1 Positiver sozialer Kontext
6.2 Anregende Lernumgebung
6.3 Angemessene zeitliche Rahmenbedingungen
6.4 Aufmerksamkeit auf den Lerninhalt richten
6.5 Intrinsische Motivation durch emotionale Beteiligung am Thema
6.6 Erfolgserlebnisse durch Eigenarbeit ermöglichen
6.7 Aufgreifen respektive Wecken von Interesse beim Schüler
6.8 Differenzierung
6.9 Lernen mit allen Sinnen
6.10 Inhalte in einen Sinnzusammenhang bringen
6.11 Bildhafte Darstellung von Informationen durch Mind-Mapping und Metaphern
6.12 Spiel: Kreativität, Vertiefung und Transfer
6.13 Verbindliche Regeln und unmittelbare Rückmeldung
6.14 Willensbildung (Volition)
und methodisch-strategisches Lernen
6.15 Vermeidung von Angst und negativem Stress
6.16 Genügend Schlaf und das Vermeiden einer Reizüberflutung
6.17 Abschließende Anmerkung

Teil III - Empirische Untersuchung der Unterrichtskonzepte Frontalunterricht und peer-teaching
auf den Aspekt der Nachhaltigkeit
7. Einführung
8. Aspekte des peer-teaching
8.1 Begriffsklärung und Geschichte
8.2 Entwicklungstheoretische Begründung
8.3 Neurodidaktische Begründung
8.4 Schüler als Hilfslehrer
9. Der Versuchsaufbau
9.1 Peer-teaching
9.2 Frontalunterricht
9.3 Zur Vorbereitung der Tutoren
9.4 Das eingesetzte Vorbereitungs-, Arbeits- und Testmaterial
9.4.1 Materialien zur Vorbereitung der Tutoren
9.4.2 Arbeitsmaterial für die Schüler
9.4.3 Test
9.5 Die Versuchsklassen
10. Reflexion der Unterrichtsstunden
10.1 Peer-teaching
10.2 Frontalunterricht
10.3 Unterschiede
11. Evaluation: Die Testergebnisse im Vergleich
11.1 Begriffsklärung
11.2 Aufgaben, bei denen nur durch Verwendung der genauen Begriffe Punkte zu erreichen waren (Nr. 2,4,5,12)
11.2.1 Aufgaben 2 und 12
11.2.2 Aufgaben 4 und 5
11.3 Aufgaben, bei denen auch durch sinngemäße Umschreibung
der Begriffe Punkte zu erreichen waren (1, 3, 6, 7, 8)
11.3.1 Aufgabe 1
11.3.2 Aufgabe 3
11.3.3 Aufgabe 6
11.3.4 Aufgabe 7
11.3.5 Aufgabe 8
11.3.6 Verwendung von Fachbegriffen in den Aufgaben 3, 6, 7, 8
11.4 Aufgaben, bei den durch sinngemäße Definition Punkte zu erreichen waren (9, 10, 11)
11.5 Zusammenfassung der Ergebnisse
12. Differenzierte Auswertung der Testergebnisse unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit
12.1 Zur Nachhaltigkeit in der Frontalklasse
12.1.1 Höhere erreichte Klassenpunktzahl durch sinngemäße Definition und Einbringen der Begriffe bzw. Aspekte „Winterruhe“, „Winterschlaf“ und „Winterstarre“ als Antwortelemente
12.1.2 Höhere erreichte Klassenpunktzahl und niedrigere Verlustrate durch die Verwendung von Fachbegriffen
12.2 Zur Nachhaltigkeit in der Peerklasse
12.2.1 Höhere erreichte Klassenpunktzahl und niedrigere Verlustrate durch Aspekte zeitlicher und räumlicher Aktivität im Tierreich
12.2.2 Niedrigere Verlustrate bei sinngemäßer Definition und Einbringen der Aspekte „Winterruhe“, „Winterschlaf“ und „Winterstarre“ als Antwortelemente
12.3 Zur Korrelation zwischen verwendetem Anschauungsmaterial und Nachhaltigkeit
12.4 Zusammenfassende Darstellung der Evaluationsergebnisse unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit
13. Zum Nutzen des peer-teaching-Konzepts
für die Schulpraxis

Ein Vorschlag

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Literaturverzeichnis

Anhang

Einleitung

Menschen können Dinge, die sie von Natur aus eigentlich überhaupt nicht können dürften: Zum Mond fliegen, in 10.000 m Tiefe tauchen, sich mit Bekannten unterhalten, die eigentlich 20.000 km von ihnen entfernt sind oder in 30 Stunden die Welt umrunden.

Ursprünglich waren wir nicht für solche Abenteuer gedacht, haben von der Natur jedoch eine Fähigkeit erhalten, die uns von allen anderen Lebewesen unterscheidet und die es uns ermöglicht, viele natürliche Grenzen zu überwinden: Eine enorme Lernfähigkeit!

Mit dieser wunderbaren Eigenschaft ausgestattet, haben wir hochkomplexe Gesellschaftsformen entwickelt und ein erstaunliches Weltwissen angehäuft. Beides, Gesellschaft und Weltwissen, sind im Laufe der Zeit so vielschichtig geworden, dass es irgendwann einer gezielten Vermittlung wichtiger Fähigkeiten und Fertigkeiten bedurfte. So ist es heute Aufgabe der Schule, junge Menschen auf die Anforderungen von Gesellschaft und Staat vorzubereiten und ihnen damit die Möglichkeit zu geben, ein selbst bestimmtes Leben in einer modernen Welt zu führen.

Trotz aller Anstrengungen von Seiten der Lehrer und Schüler stellt sich nach Beendigung der Schulzeit jedoch oft heraus, dass die Schüler nicht genügend Kenntnisse und Fertigkeiten (affektiver, kognitiver und motorischer Art sowie Kenntnisse über sich selbst – als Mensch) erworben haben, als dass die Gesellschaft und das Individuum damit zufrieden sein könnten. Gelerntes ist oft doch nicht richtig gelernt, wird wieder vergessen, hat keine Bedeutung für den Lernenden oder ist für diesen einfach nicht anwendbar oder transferierbar. Nicht selten wird den Kindern gar völlig die Lust am Lernen genommen.

Vor diesem Hintergrund habe ich mir mit dieser Arbeit zum Ziel gesetzt, herauszufinden, wie erfolgreiches, nachhaltiges Lernen erreicht werden kann und welche Faktoren dabei eine Rolle spielen. Ich bin von einem eher neuropsychologischen beziehungsweise neurodidaktischen Ansatz ausgegangen und habe die Arbeit wie folgt aufgebaut:

Teil I befasst sich mit den neurophysiologischen Grundlagen des kognitiven Lernens und stellt das Gehirn in Anatomie und Funktion dar. Diese Darstellung geschieht immer vor dem Hintergrund der neuronalen Abläufe im Lernprozess sowie der daran beteiligten Hirnstrukturen.

Teil II stellt, auf diesen lernphysiologischen Erkenntnissen aufbauend, Aspekte heraus, die nachhaltigem Lernen zu Grunde liegen und diesem förderlich sind. Dies geschieht im Rahmen eines neurodidaktischen Ansatzes und ist in starkem Maße an der Individualität des Kindes orientiert.

Teil III stellt schließlich das Unterrichtskonzept peer-teaching vor und unterzieht es, in Bezug auf die Nachhaltigkeit der Lernergebnisse, einem empirischen Vergleich mit dem traditionellen Frontalunterricht. Peer-teaching kann als eine Unterrichtsmethode angesehen werden, die aus neurodidaktischer Sicht nachhaltigem Lernen förderlich ist.

Zum Abschluss dieser einleitenden Gedanken möchte ich bereits hier auf kritische Stimmen in Bezug auf das Einfließen neurowissenschaftlicher Erkenntnisse in die Erziehungswissenschaften eingehen, die darin die Gefahr einer „herzlosen Technokratie“ erkennen, weil Kinder vom Neurodidaktiker als so etwas wie „Lernmaschinen“ gesehen würden. Neurodidaktik bedeutet in ihren Augen nur eine weitere Möglichkeit der optimalen Beeinflussung von Kindern nach den eigenen Vorstellungen, sodass deren eigentliche Individualität und Persönlichkeit, die sie eigentlich als Menschen ausmachen, in den Hintergrund tritt. Sie haben Angst, der Mensch würde auf seine Hirnfunktionen reduziert werden (Reduktionismus).

Im Zuge meiner Nachforschungen habe ich zweifelsfrei festgestellt, dass die beiden Begriffe „Herzlosigkeit“ und „Neurodidaktik“ völlig unvereinbar sind. Im Gegenteil – mir ist sogar erst richtig bewusst geworden, welch elementare Bedeutung ein positiver sozialer und emotionaler Kontext für die kindliche Entwicklung in allen Bereichen hat! So ist es unmöglich nachhaltiges Lernen zu fördern, wenn das Kind in seiner Individualität und Persönlichkeit sowie seinen bisher gesammelten Erfahrungen, all seinen Interessen und Lebenszielen übergangen wird. Es gibt keine „Stellschrauben“ oder „Trichter“, über welche man Wissen auf mechanische Weise dauerhaft vermitteln und speichern könnte. Vielmehr zeigen die Ergebnisse aus der Hirnforschung, dass Kognition, Emotion, Sozialisation und Individualität untrennbar miteinander verbunden sind. Vor diesem Hintergrund bitte ich, die folgenden Ausführungen zu verstehen.

Teil I Neurophysiologische Grundlagen
des kognitiven Lernens

1 Anatomische und physiologische Grundlagen des Nerven-systems

1.1 Peripheres und zentrales Nervensystem

Der Begriff Nervensystem bezeichnet die Gesamtheit der Nervengewebe des Menschen. Es dient der Erfassung, Weiterleitung, Auswertung und Speicherung von Informationen. Mit spezialisierten Messfühlern, den Rezeptoren, nimmt das Nervensystem Veränderungen im Bereich des Körpers oder der Außenwelt wahr. Daraus resultierende Reize werden über afferente Nervenfasern an übergeordnete Zentren übermittelt, in denen sie verarbeitet und gespeichert werden. Reaktionen bzw. Antworten vermittelt das Nervensystem über efferente, von den Zentren wegführende Nervenfasern und ermöglicht damit die Kommunikation innerhalb des Organismus sowie zwischen Organismus und Umgebung.

Anatomisch lässt sich das Nervensystem in zwei Teile gliedern (vgl. KANDEL, SCHWARTZ & JESSELL 1996, S. 74), die jedoch in ihrer Funktion eng aneinander gekoppelt sind und zusammenarbeiten. Das zentrale Nervensystem besteht aus Gehirn und Rückenmark, zum peripheren Nervensystem gehören alle Nervenzellen und Nervenbahnen außerhalb dieser beiden Zentren (siehe Anlage 1). Dazu zählen vor allem die zwölf Hirnnerven (entspringen dem Hirnstamm) sowie die aus dem Rückenmark hervorgehenden Spinalnerven mit ihren Nervengeflechten und Verzweigungen (vgl. PINEL 1997, S. 54).

Reize aus der Außenwelt werden durch Rezeptoren aufgenommen und erreichen über das periphere Nervensystem das Zentralnervensystem. Nach der Reizverarbeitung und dem Entwurf einer sinnvollen Reaktion im zentralen Nervensystem werden die notwendigen Muskeln für die Reizbeantwortung mithilfe des peripheren Nervensystems erregt.

In Hinblick auf die Reizaufnahme werden drei Arten von Rezeptoren unterschieden: Sinneszellen, Membranrezeptoren und intrazelluläre Rezeptoren. Sinneszellen sind verantwortlich für die Informationsaufnahme durch Sehen, Hören, Fühlen, Schmecken, Riechen sowie für das Gleichgewichtsorgan. Auf spezifische Reize hin erzeugen sie elektrische Impulse, die sogenannten Aktionspotentiale, welche an andere Nervenzellen und über diese an die verschiedenen Zentren des Nervensystems weitergegeben werden (vgl. KANDEL et al. 1996, S. 379).

Die beiden anderen Rezeptorarten spielen beim Lernen auf neurobiologischer Ebene eine wichtige Rolle. So wird durch Membranrezeptoren die Bildung bzw. Freisetzung sekundärer Botenstoffe angeregt bzw. gehemmt. Dies hat elementaren Einfluss auf die neuronale Vernetzung und Repräsentation des Lerngegenstands im Gehirn (vgl. LAROCHE 2003, S. 23). Intrazelluläre Rezeptoren befinden sich innerhalb von Zellen und können im Zellkern Gene aktivieren, welche dann die Synthese bestimmter Proteine anregen. Dieser Vorgang ist für die Bildung eines Langzeitgedächtnisses unerlässlich (vgl. LAROCHE 2003, S. 24). Die molekularbiologischen Abläufe im Lernprozess werden in Kapitel 2.2.2 ausführlich behandelt, weshalb dieses Thema hier, der Vollständigkeit wegen, nur kurz angeschnitten wurde.

Das periphere Nervensystem hat also den Charakter eines Botensystems, welches Informationen zwischen dem Zentralsystem und der Umwelt austauscht. Die Verarbeitung dieser Informationen findet in bestimmten Abschnitten des Gehirns statt.

In Abbildung 1 wird der Weg des Reizes zu den informationsverarbeitenden Gehirnarealen noch einmal im Zusammenhang dargestellt: Die Aufnahme des Reizes bzw. Lerngegenstandes geschieht durch Sehen, Hören, Fühlen, Riechen oder Schmecken, d.h. Sinneszellen nehmen den Reiz auf. Sie transformieren ihn in ein elektrisches Signal (Aktionspotential), welches dann über Nervenfasern des peripheren Nervensystems zum Rückenmark bzw. zum Hirnstamm weitergeleitet wird. Wandert der Reiz über die Spinalnerven, gelangt er zuerst zum Rückenmark und von dort aus zum Hirnstamm. Findet die Übertragung durch die Hirnnerven statt, wandert er direkt zum Hirnstamm. Von dort aus erreicht er schließlich die informationsverarbeitenden Abschnitte des Gehirns.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1.2 Das Gehirn

Die nachfolgenden Ausführungen stellen einen systematischen Umriss des Aufbaus und der Funktionen des menschlichen Gehirns dar. Um den Rahmen dieser Arbeit nicht zu sprengen, wurden nur die Hirnstrukturen besonders herausgestellt, die für Lernprozesse bedeutsam sind. Alle in diesem Kapitel dargestellten Strukturen existieren in doppelter Ausführung und sind spiegelbildlich in beiden Hemisphären angeordnet.

Nach anatomischen Kriterien lässt sich das menschliche Gehirn (Cerebrum, Encephalon) grob in drei Hauptabschnitte einteilen: Vorderhirn, Mittelhirn und Rautenhirn (siehe auch Anlage 2).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: Die Hauptabschnitte des adulten menschlichen Gehirns (PINEL 1997, S. 69).

Das Rautenhirn (Rhombencephalon) wird in Hinterhirn (Metencephalon) und Nachhirn (Myelencephalon) unterschieden.

Aufgabe des Nachhirns, auch verlängertes Rückenmark genannt, ist zum einen der Informationsaustausch zwischen dem Körper und dem übrigen Gehirn. Zum anderen spielt es eine Rolle bei einer Vielzahl unspezifischer, voneinander unabhängiger Funktionen wie z.B. „Schlaf, Aufmerksamkeit Bewegung, Erhaltung des Muskeltonus und verschiedener Herz-, Kreislauf- und Atemreflexe.“ (PINEL 1997, S. 69).

Wichtigster Bestandteil des Hinterhirns ist das Kleinhirn (Cerebellum), „das für die präzise Bewegungskontrolle zuständig ist und zum sensomotorischen System gehört.“ (ARNOLD 2002, S. 19).

Im Mittelhirn (Mesencephalon) befindet sich ein Teil des Seh- und Hörsystems.

Das Vorderhirn (Prosencephalon) kann in Endhirn (Telencephalon) und Zwischenhirn (Diencephalon) aufgeteilt werden.

Im Zwischenhirn sind Thalamus und Hypothalamus zu finden. Der Thalamus stellt vor allem eine sensorische Schaltstation zur Großhirnrinde dar. Der Hypothalamus spielt „eine bedeutende Rolle bei der Steuerung verschiedener motivationaler Zustände.“ (PINEL 1997, S. 70). Ebenfalls im Zwischenhirn liegt die Kreuzung der Sehnerven.

Aus Gründen der Begriffsklarheit ist an dieser Stelle anzumerken, dass Zwischenhirn, Mittelhirn, Hinterhirn und Nachhirn gemeinsam den Hirnstamm (vgl. Kap. 1.1) bilden, „der zusammen mit dem Hypothalamusgebiet lebens-wichtige Funktionen des Organismus, wie Atmung, Körpertemperatur, Stoffwechsel und Schlaf-Wach-Rhythmus, regelt.“ (ARNOLD 2002, S. 19).

Den größten Abschnitt des menschlichen Gehirns bildet das Endhirn, das auch für die komplexesten Hirnfunktionen zuständig ist. „Hier spielen sich vor allem Willkürbewegungen, die Analyse der sensorischen Information und komplexe kognitive Prozesse wie Lernen, Sprechen und Problemlösen ab.“ (ARNOLD 2002, S. 20). Die wichtigsten Bereiche des Endhirns sind die Großhirnrinde (Cortex), das limbische System sowie die Basalganglien, welche Zentren für die unbewusste Bewegungskoordination, Körperhaltung sowie Gestik und Mimik darstellen. Das limbische System spielt innerhalb von Lernprozessen „eine bedeutende Rolle, da es besonders für die emotionale und motivationale Steuerung, aber auch für Lern- und Gedächtnisfunktionen verantwortlich ist.“ (ARNOLD 2002, S. 20). Von herausragender Bedeutung ist hier der Mandelkern (Amygdala), welcher sowohl zum limbischen System als auch zu den Basalganglien gehört.

Das Großhirn ist der größte Abschnitt des Gehirns und „steuert komplexe Prozesse wie Lernen, Wahrnehmung und Motivation.“ (PINEL 1997, S. 50). Wichtig ist vor allem der Cortex, mit seinen Kleinstrukturen Neocortex und Hippocampus, welcher eine sehr bedeutende Rolle beim Lernen spielt (vgl. SPITZER 2003, S. 22) und auch Teil des limbischen Systems ist.

Zusammenfassend ist zu sagen, dass an kognitiven Lern- und Gedächtnis-prozessen vor allem das Vorderhirn mit seinen Gehirnstrukturen (Neo-)Cortex, Hippocampus, Amygdala, Thalamus und Hypothalamus beteiligt ist. Abbildung 3 zeigt diese Strukturen im anatomischen Zusammenhang:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 3: Anatomische Übersicht des Gehirns mit den, für das kognitive Lernen wichtigsten Hirnstrukturen (vgl. PINEL 1997, S. 69 & 78).

1.3 Für den kognitiven Lernprozess wichtige Hirnstrukturen

In einem solch komplexen System, wie es das menschliche Gehirn darstellt, gibt es unzählige, zum Teil noch völlig unerforschte Zusammenhänge und Bedingungsfaktoren. So involviert ein so anspruchsvoller Prozess wie das Lernen viele verschiedene Strukturen und Funktionsmechanismen des Gehirns, deren genaue Arbeitsweise noch nicht vollständig erforscht worden ist. Vor allem die neuere Hirnforschung auf diesem Gebiet entdeckte jedoch einige Areale, die im Lernprozess eine besondere Bedeutung haben.

Diese Strukturen wurden in Kapitel 1.2 bereits herausgestellt und werden nun näher erläutert. An dieser Stelle ist nochmals ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass sich die Ausführungen in dieser Arbeit immer auf das kognitive und nicht auf das psychomotorische Lernen beziehen.

1.3.1 Cortex/Neocortex (Großhirnrinde)

Der Neocortex ist der evolutionär jüngste Teil der Großhirnrinde (Cortex) und macht 90 Prozent des Großhirnvolumens aus . „Der Begriff Cortex (lateinisch für 'Rinde') bezieht sich eigentlich auf jede äußere Zellschicht; dennoch werden die Begriffe Cortex und Neocortex häufig austauschbar verwendet.“ (KOLB & WISHAW 1993, S. 10). So bezieht sich der Begriff Cortex, sofern nicht anders angegeben, auch in dieser Arbeit auf seinen neocorticalen Anteil.

1.3.1.1 Anatomie

Die Großhirnrinde liegt an der äußeren Oberfläche des Großhirns, hat eine Ausdehnung von etwa einem viertel Quadratmeter, misst im Durchschnitt fünf Millimeter und besteht aus etwa zwanzig Milliarden Nervenzellen (vgl. SPITZER 2003, S. 99). Zur Oberflächenvergrößerung ist sie in Windungen (Gyri) gelegt, zwischen denen Furchen bestehen. Diese nennt man Fissuren, wenn sie tief in das Gehirn hineinreichen bzw. Sulci, wenn sie eher flach sind. Durch die Windungen und Furchen wird eine enorme Vergrößerung der Cortexoberfläche erreicht, wodurch die Speicherkapazität stark erhöht wird. „Die tiefste Längsfurche trennt die beiden Gehirnhemisphären, die lediglich durch Faserbündel, von denen das wichtigste das Corpus callosum, der Balken ist, miteinander verbunden sind.“ (ARNOLD 2002, S. 21). Dabei übernimmt die linke Seite eher sprachliche Aufgaben, während die rechte Seite für die nonverbale, emotionale Informationsverarbeitung zuständig ist.

Durch die Zentralfurche (Sulcus centralis) und die Sylvische Furche (Fissura lateralis) lässt sich jede Hemisphäre in vier Hirnlappen aufteilen: den Stirn- oder Frontallappen, den Scheitel- oder Parietallappen, den Schläfen- oder Temporallappen und den Hinterhaupts- oder Occipitallappen (vgl. KANDEL et al. 1996, S. 83). Diese vier Lappen beinhalten jeweils unterschiedliche Funktionszentren, die meist durch eine Ansammlung von Nervenzellen gebildet und als Rindenfelder bezeichnet werden. Dabei dienen motorische Rindenfelder der Steuerung von Bewegungen der Skelettmuskulatur und sensorische Rindenfelder verarbeiten Sinneseindrücke, die zum Großhirn geleitet werden. Assoziationsfelder verknüpfen die Impulse verschiedener Rindenfelder miteinander.

Der Stirnlappen beherbergt das Broca-Sprachzentrum, Funktionszentren für das Kurzzeitgedächtnis, Handlungsplanung und Motivation sowie das primäre motorische Rindenfeld. Zum Scheitellappen zählen das primäre sensorische Rindenfeld, das Lesezentrum sowie ein Zentrum für Sprachverständnis (siehe auch Anlage 3), das Wernicke-Sprachzenrum. Der Schläfenlappen beherbergt das primäre Hörzentrum und andere Rindenfelder für akustische Reize, während sich im Hinterhauptslappen das Sehzentrum befindet.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 4: Die vier Hirnlappen des Cortex mit wichtigen Rindenfeldern (BROCKHAUS 1999, S. 484).

1.3.1.2 Funktion

In Bezug auf das Lernen spielt der Cortex eine Schlüsselrolle, weil in ihm Fakten und Ereignisse (vgl. JAFFARD 2003, S. 8), Regeln (vgl. SPITZER 2003, S. 90) sowie Kategorien (vgl. SPITZER 2003, S. 86) auf neuronaler Ebene repräsentiert bzw. gespeichert werden. Hier werden Langzeiterinnerungen „aufbewahrt“ (vgl. PINEL 1997, S. 391) und hier befindet sich ein Gedächtnis für Vokabeln, geographische, literarische oder mathematische Kenntnisse und Begegnungen – also all das, was wir bewusst wiedergeben können (das deklarative Gedächtnis; siehe Kap. 2.4.2).

Neben diesen Funktionen verfügt der Cortex noch über eine weitere wichtige Eigenschaft, welche vor allem von dem Neurochirurgen Wilder Penfield erforscht wurde und die als „Penfieldscher Homunkulus“ bekannt ist (siehe Anlage 4). In der Großhirnrinde finden sich neuronale Repräsentationen bestimmter Körperareale. So wurde z.B. bei Affen festgestellt, dass durch leichte Reizung bestimmter Punkte der Handfläche immer die gleichen Neuronen im Cortex aktiv wurden (vgl. KANDEL et al. 1996, S. 333) . Das heißt umgekehrt, dass durch Reizung dieser speziellen corticalen Areale auch Gefühle in der Handfläche erzeugt werden können. In diesem Abschnitt des Gehirns befindet sich also eine „Landkarte“ (oder „kortikale Karte“) des Körpers.

Die Hauptaufgabe des Cortex ist es, „die auf die Sinne einströmende Fülle an Informationen aus der Außenwelt mit schon vorhandenen Ideen zu Konzepten zu verbinden, die die Weltsicht eines Menschen ausmachen.“ (ARNOLD 2002, S. 24).

Hier wird Neues mit Bekanntem vermischt und es finden Bewertung und Hervorbringung von Verhaltensplänen statt. Der Neocortex hat Kontakte mit dem Thalamus, den Basalganglien und vielen anderen neuronalen Systemen, weshalb er innerhalb des Nervensystems eine zentrale Funktion einnimmt.

1.3.2 Hippocampus

Der Hippocampus liegt an der Innenseite des Schläfenlappens ( siehe Abb. 5) und ist ein wichtiger Teil des Cortex (er gehört nicht zum Neocortex). Er ist auch Teil des limbischen Systems. Dieser Gehirnabschnitt ist von hohem Wert für das Lernen: „Soll ein neuer Sachverhalt gelernt werden, so muss er erst einmal vom Hippokampus aufgenommen werden.“ (SPITZER 2003, S. 22). Hier wird dann entschieden, ob die Informationen an die Großhirnrinde weitergeleitet und dort gespeichert werden oder nicht. Ob dies geschieht, hängt davon ab wie neu diese Informationen sind.

Trifft eine Erfahrung bei ihm ein, beurteilt er rasch ob er mit ihr bereits vertraut ist oder nicht. Ist eine Sache bekannt, braucht er sich nicht weiter darum zu kümmern. Ist sie jedoch unbekannt, bewertet er sie und stützt sich dabei auf zusätzliche Strukturen, vor allem des limbischen Systems.

Hat der Hippocampus eine Erfahrung als neu bewertet, wird sie gespeichert, „d.h. er bildet eine neuronale Repräsentation von ihr aus.“ (SPITZER 2003, S. 34). Dieser Vorgang wird in Kapitel 2 ausführlich untersucht, weshalb hier nicht auf den genauen Ablauf dieses Prozesses eingegangen wird.

Ohne den Hippocampus könnten wir zwar Fertigkeiten und allgemeine Regeln
durch vielfaches Üben erlernen. An einzelne Ereignisse könnten wir uns im Nachhinein jedoch nicht mehr erinnern.

Abschließend ist noch hinzuzufügen, dass diese Hirnstruktur auch eine zentrale Rolle bei der räumlichen Orientierung spielt (vgl. PINEL 1997, S. 394).

1.3.3 Amygdala (Mandelkern)

Diese Hirnstruktur kann paradigmatisch für die Funktion von Emotionen im Lernprozess stehen und nimmt in diesem eine zentrale Rolle ein (vgl. ARNOLD 2002, S. 79).

Sie ist sowohl Teil des limbischen Systems als auch der Basalganglien. Das limbische System ist eine, kreisförmig um den Thalamus angelegte Struktur, die bei der Entstehung von Gefühlen eine wichtige Rolle spielt. Die Basalganglien sind entscheidend an der Ausführung von Willkürbewegungen beteiligt (vgl. PINEL 1997, S. 75f).

Die Amygdala selbst liegt im medialen Temporallappen direkt unterhalb des Hippocampus (siehe Abb. 5), ist etwa mandelgroß und „besteht aus zahlreichen Kernen, die mit dem Hypothalamus, der Hippocampusformation, dem Neocortex und dem Thalamus reziprok verschaltet sind.“ (KANDEL et al. 1996, S. 620). Sie ist im Zusammenhang mit Emotionen ein wichtiger Teil des limbischen Systems. So wirkt sie modulierend auf jegliche Art von Wahrnehmung unmittelbar bei der Aufnahme und wandelt subjektive Erfahrungen in emotional bedeutsame Ereignisse um. Da solche Ereignisse besser im Gehirn haften als neutrale Erfahrungen, hat sie durch diese Funktion starken Einfluss auf die dauerhafte Speicherung von Informationen. ARNOLD (2002, S. 93) sieht die Aufgabe der Amygdala „in der Vermittlung zwischen der Erfahrung und Bewertung eines emotionalen Ereignisses einerseits und in dessen Verarbeitung und Konsolidierung im Langzeitgedächtnis andererseits.“

Besonders wichtig ist hierbei, dass im Mandelkern entschieden wird ob aufgenommene Reize in einen positiven, negativen oder neutralen Kontext gestellt werden. Diese Funktion ist, wie in Kapitel 3.2 noch gezeigt wird, zentral für die Aufnahme, Verarbeitung und Speicherung jeglicher Information.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 5: Dreidimensionale Darstellung der Struktur des menschlichen Ge-hirns (NAUTA 1988, S. 94).

1.3.4 Thalamus

Der Thalamus ist die größte Kernansammlung des Zwischenhirns und sitzt auf dem Hirnstamm (siehe Abb. 5). Seine Hauptaufgabe ist das Sammeln und Filtern jeglicher Informationen aus der Umwelt oder der Innenwelt des Körpers. Diese Informationen leitet er zum Cortex weiter, womit sie dann ins Bewusstsein gelangen.

In KANDEL et al. (1996, S. 87) wird angemerkt: „Nahezu die gesamte sensorische Information, die die Großhirnrinde erreicht, wird zuvor im Thalamus verarbeitet.“ Aus diesem Grunde ist er auch für den Lernprozess wichtig, weil jeder aufgenommene Lerninhalt mit dieser Hirnstruktur in Verbindung kommt und er weiterhin auch eine Rolle bei der Gedächtnisbildung spielt (vgl. KANDEL et al., 1996, S.618).

1.3.5 Hypothalamus

Diese, neben dem Thalamus zweite Struktur des Zwischenhirns, bildet den untersten Abschnitt des Diencephalon (siehe Abb. 5). Sie fungiert als Bindeglied zwischen Nerven- und Hormonsystem und ist als oberstes Zentrum des Hormonsystems sowohl für die Steuerung als auch für die Regulierung der Funktionen der Körperperipherie verantwortlich. Das wichtigste Instrument des Hypothalamus ist die Hypophyse (Hirnanhangdrüse), die durch Hormonaus-schüttung eine zentrale Aufgabe in der Steuerung vieler Organfunktionen wahrnimmt.

Durch seine reziproke Verschaltung mit dem Cortex ist der Hypothalamus dafür verantwortlich, dass sich Emotion und Kognition gegenseitig beeinflussen (vgl. KANDEL et al., 1996, S. 618). Er kann als Transformator verstanden werden, der die emotionalen Zustände, welche in höheren Strukturen entworfen wurden, von der „Planung“ in die „Praxis“ umsetzt.

In den Lernprozess ist der Hypothalamus direkt involviert, weil er unter anderem die neuronale Interaktion der vier emotionalen Befehlssysteme (vgl. PANKSEPP 1998, S. 53) reguliert und steuert (siehe Anlage 5). Diese sind das Such-, Wut-, Angst- und Paniksystem. ARNOLD (2002, S. 47) schreibt ihnen im Einzelnen folgende Bedeutungen zu:

„Während das Suchsystem zielgerichtetes Suchverhalten auf ein bestimmtes Objekt hin auslöst, wird das Wutsystem bei misslungenen Plänen und Frustrationen aktiviert. Das Angstsystem ist dazu da, körperliche Verletzungen zu meiden. Unter Paniksystem versteht man neuronale Schaltkreise, die für solche sozialen Emotionen zuständig sind, die speziell mit dem Bindungsverhalten zu tun haben. Dazu kommen dann Systeme für soziale Emotionen, wie Fürsorge, (sexuelle) Lust und Spiel.“

In Lernprozesse sind vor allem das Angst- und das Suchsystem involviert. Ersteres, weil Angst Lernvorgänge blockiert (hier spielt auch die Amygdala eine sehr große Rolle). Das Suchsystem ist von besonderer Bedeutung, weil dieses für die Suche nach sinnvollen Zusammenhängen in der Umwelt wichtig ist; sprich: Neugierde, Interesse, erwartungsvolle Erregtheit, Vorfreude sowie das Empfinden einer prickelnden Spannung bei der Erkenntnissuche. Alle diese Eigenschaften sind in höchstem Maße lernfördernd und Voraussetzung für eine nachhaltige Speicherung von Informationen.

Diese Aussage wird auch durch die Ausführungen über die Funktionsweise des Hippocampus gestützt, der nur Inhalte als wichtig erachtet, die neugierig machen, weil sie neu und unbekannt sind (siehe Kap. 1.3.2). Diese Inhalte müssen zunächst „entdeckt“ werden.

Einer der wichtigsten Neurotransmitter in dieser Funktion ist das Dopamin, das zusammen mit Adrenalin und Noradrenalin wichtige Aufgaben im Erregungssystem des Gehirns erfüllt (siehe Tab. 1) und von herausragender Bedeutung ist: „Beim Menschen führt die Anregung des Dopaminsystems u.a. auch dazu, dass er intellektuelle Ziele engagiert und konzentriert verfolgt, um existentielle Erkenntnisse über diese Welt zu gewinnen.“ (ARNOLD 2002, S. 49).

1.3.6 Zusammenfassende Darstellung

Die unter Punkt 1.3.1 bis 1.3.5 aufgeführten Hirnstrukturen werden in Abbildung 6 noch einmal im Kontext schematisch dargestellt. Zu erkennen sind die drei Hauptachsen der Informationsverarbeitung im menschlichen Gehirn.

So ist die Achse Hypothalamus-limbisches System (2) verantwortlich für die vegetative (unwillkürliche) Informationsverarbeitung und steht damit paradigmatisch für den Emotionsfluss. Innerhalb des limbischen Systems spielt hier die Amygdala eine zentrale Rolle. Auf der Achse Thalamus-Neocortex (3) findet die somatische (körperliche; den Körper betreffende) Verarbeitung von Information statt, das heißt, hier befindet sich der Gedankenfluss.

Beide Achsen laufen im Reptiliengehirn zusammen. Dieser Abschnitt des Gehirns bezeichnet die stammesgeschichtlich älteste Schicht des Encephalons und besteht aus den Basalganglien (siehe Kap. 1.3.3) sowie dem extrapyramidalen moto-rischen System (vgl. ARNOLD 2002, S. 23). Das extrapyramidalische System (1) bezeichnet wiederum Teile des zentralen Nervensystems, die für die Steuerung unwillkürlicher Muskelbewegungen sowie des Muskelspannungszustandes verantwortlich sind.

Die beiden Achsen (2 und 3) kommen schließlich im Reptiliengehirn in Kontakt mit Informationen des peripheren Nervensystems, also mit Sinneswahr-nehmungen. Hier werden Gedanken, Emotionen und Sinneswahrnehmungen so miteinander verbunden, dass schließlich ein kohärentes Verhalten entsteht.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 6: Schematische Darstellung des menschlichen Gehirns mit seinen Hauptachsen der Informationsverarbeitung (PANKSEPP 1998, S. 62).

In den bisherigen Ausführungen wurde das Nervensystem des Menschen vor allem unter allgemeinen anatomischen und funktionellen Aspekten des Gehirns dargestellt. Dabei wurden die Hirnstrukturen herausgearbeitet und näher untersucht, die am Prozess des kognitiven Lernens in besonderem Maße beteiligt sind.

Es wurde jedoch nur allgemein von Lernen und Informationsverarbeitung bzw. Informationsspeicherung im Gehirn gesprochen, ohne zu erläutern, wie diese Prozesse im Detail ablaufen. In den nun folgenden Kapiteln wird das menschliche Gehirn auf neuronaler Ebene untersucht und herausgestellt, wie Informationsverarbeitung auf dieser Ebene stattfindet.

1.4 Neuronen und ihre Verknüpfungen

1.4.1 Das Neuron

Um die Funktionsweise der bis hierhin vorgestellten organischen Hirnstrukturen wirklich verstehen zu können, muss man sich deren kleinsten Bausteinen, den Neuronen (siehe auch Anlage 6) zuwenden. Von diesen gibt es im menschlichen Gehirn etwa dreißig Billionen Stück (vgl. EDELMAN, 1998, S. 38), die durch weitverzweigte Verästelungen über zehn Trillionen Verbindungsstellen untereinander aufweisen (vgl. DAMASIO 1999, S. 331). Zum Zeitpunkt der Geburt sind alle Neuronen bereits vorhanden (vgl. SPITZER 2003, S. 52), was bedeutet, dass ihre Anzahl nicht mehr zunimmt, sondern im Laufe der Jahre sogar abnimmt. Nervenzellen teilen sich nicht und abgestorbene Neuronen werden nicht mehr neu gebildet.

Ihre primäre Aufgabe ist die Weiterleitung von Aktionspotentialen, d.h. in elektrische Impulse umgewandelte Reize.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 7: Schematischer Aufbau einer Nervenzelle (BROCKHAUS 1999, S. 898).

Wie ist eine solche Nervenzelle nun im Detail aufgebaut (vgl. KANDEL et al. 1996, S 22ff) ?

Sie besteht aus dem Zellkörper (Soma), der den Zellkern beinhaltet und in welchem der überwiegende Teil des Zellstoffwechsels stattfindet, sowie den Dendriten und Axonen. Dendriten sind feine Verästelungen, die Aktionspotentiale von anderen Zellen aufnehmen und zum Zellkörper hinleiten, während Axone die Erregung vom Zellkörper weg zu anderen Zellen leiten.

Die Länge von Axonen variiert von wenigen hundert Mikrometern, z.B. bei Hirnnerven, bis zu über einem Meter, z.B. bei Nerven, die vom Rückenmark zum Fuß verlaufen. Beim Erwachsenen sind sie umgeben von einer Markscheide (Myelinscheide), welche eine elektrische Isolierung für das Axon darstellt. Die Markscheide wird in regelmäßigen Abständen unterbrochen (Ranvier-Schnürringe), was Auswirkungen auf die Erregungsfortleitung hat. An myelenisierten Axonen springt die Erregung schnell von Schnürring zu Schnürring (saltatorische Erregungsausbreitung), während sich der elektrische Impuls bei nicht myelenisierten Axonen langsamer ausbreitet (elektrotonische Erregungsausbreitung).

Als Faustregel gilt, dass die Leitungsgeschwindigkeit umso größer ist, je dicker die Markscheide ist. SPITZER (2003, S. 236) merkt an: „Erst im Schulalter werden die verbindenden Fasern vollständig myelenisiert und damit dieser Hirnteil in die zerebrale Informationsverarbeitung vollständig integriert.“

Wichtig zu erwähnen sind noch die Endknöpfe, welche sich am Ende des Axons befinden und die bei der Erregungsübertragung von Neuron zu Neuron bedeutend sind.

Zusammenfassend kann die Impulsweiterleitung zwischen Neuronen wie folgt beschrieben werden (siehe Anlage 7): Die Erregung wird über die Dendriten von der Zelle aufgenommen und über das Axon in Richtung nachgeschaltetes Neuron geleitet. Die Übertragung auf dieses geschieht an der Kontaktstelle (Synapse) zwischen den Endknöpfen des Sender-Neurons und den Dendriten des Empfänger-Neurons. Da sich die Zellen in einem Neuronen-Netzwerk befinden, übernimmt jede Nervenzelle ständig sowohl die Rolle des Empfängers als auch die des Senders. Dabei kann ein Sender-Neuron bis zu dreihundert Impulse pro Sekunde „feuern“ (vgl. SPITZER 2003, S. 53). Abschließend ist noch anzumerken, dass Nervenzellen Aktionspotentiale immer nur in eine Richtung (von den Dendriten in Richtung Endknöpfe des Axons) weiterleiten können.

1.4.2 Die Synapse

Betrachtet man das Nervensystem als ein Netzwerk zwischen mehreren Billionen Neuronen, sind die Synapsen die Schaltstellen innerhalb dieses imposanten Verbundes. Sie stellen den Übertragungsort der elektrischen Impulse von einer Nervenzelle auf die andere dar. Wie komplex dieses Netzwerk ist, zeigt die Tatsache, dass ein einziges Neuron mit bis zu zehntausend anderer Nervenzellen in Verbindung stehen kann (vgl. SPITZER 2003, S. 52). Im Durchschnitt weist jede Nervenzelle eintausend Synapsen auf (vgl. DAMASIO 1999, S. 331). Interessanterweise ist dabei nur eine von zehn Millionen Zellen mit Rezeptoren verbunden, die uns in Kontakt mit der Außenwelt bringen. Das bedeutet, dass wir uns eigentlich zum Großteil mit uns selber beschäftigen und nicht mit unserer Umgebung (vgl. SPITZER 2003, S. 52).

Aufbau und Funktionsweise der Synapsen lassen sich folgendermaßen erklären:

Eine Synapse besteht aus drei Teilen: Präsynaptische Membran, synaptischer Spalt und postsynaptische Membran (siehe Anlage 7).

Die präsynaptische Membran befindet sich am äußersten Punkt des Axons des Sender-Neurons und die postsynaptische Membran befindet sich am vordersten Punkt eines Dendrits des Empfänger-Neurons. Über diese beiden Membranen muss der elektrische Impuls also von einer Nervenzelle auf die nächste gelangen. Zwischen ihnen befindet sich ein kleiner Freiraum, der sogenannte synaptische Spalt. Erreicht nun ein elektrischer Impuls die präsynaptische Membran, bewirkt er die Freisetzung chemischer Überträgerstoffe (Neurotransmitter), die in den synaptischen Bläschen (Vesikel) in der Membran eingeschlossen sind.

Die Neurotransmitter (z.B. Glutamat, Dopamin, Adrenalin, Serotonin, Acetylcholin) strömen in den synaptischen Spalt aus und gelangen dann zur postsynaptischen Membran, an welcher sich Rezeptoren für diese Stoffe befinden. Werden die Überträgersubstanzen von diesen aufgenommen, führt das zu einer Reihe intrazellulärer Prozesse im Empfänger-Neuron (vgl. ARNOLD 2002, S.27), mit dem Ergebnis, dass an der postsynaptischen Membran wieder ein elektrischer Impuls entsteht, der über das Axon zur nächsten Zelle weitergeleitet wird. Die Botenstoffe können dabei sowohl erregend (exzitatorisch) als auch hemmend (inhibitorisch) wirken. „Bei den meisten [Neurotrasmittern] jedoch entscheidet die Art des Rezeptors, welche Reaktion sie auslösen.“ (ARNOLD 2002, 27).

Zusammenfassend ist anzumerken, dass jeder aufgenommene Reiz zunächst von den Sinneszellen in einen ganz bestimmten Code in Form elektrischer Wellen umgewandelt wird, der in Frequenz und Muster einzigartig und unverwechselbar ist. An den Synapsen wird dieser elektrische Code zunächst in einen chemischen transformiert (präsynaptische Membran), der dann wieder in einen elektrischen Code zurückverwandelt wird (postsynaptische Membran). Welche Art und wie viel Neurotransmitter (= chemischer Code) ausgeschüttet werden, hängt von Frequenz und Muster des ankommenden Aktionspotentials ab. ARNOLD (vgl. 2002, S. 27f) weist außerdem darauf hin, dass Neurotransmitter bei der Einwirkung von Emotionen auf Lernprozesse eine bedeutende Rolle spielen (siehe Kap. 3.3.3).

Tab. 1: Für Lern- und Gedächtnisfunktionen wichtige Neurotransmitter (vgl. ARNOLD 2002, S. 28-30).

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2 Lernen im Kontext neuronaler Repräsentation und Neuro-plastizität

2.1 Neuronale Repräsentation

In Kapitel 1.3.1 wurde bereits herausgestellt, dass im Cortex Fakten, Ereignisse, Regeln, Kategorien, Erinnerungen aber auch bestimmte Körperareale („Penfieldscher Homunkulus“) auf neuronaler Ebene repräsentiert sind. Es wurde allerdings nicht dargestellt, auf welche Weise dies funktioniert. Darum wird die Charakteristik von Repräsentationen Gegenstand der folgenden Ausführungen sein.

2.1.1 Grundlagen

Ganz allgemein bezeichnet eine Repräsentation „ein inneres 'Abbild' bestimmter äußerer, durch Reize vermittelter Charakteristika und Strukturen der Umwelt.“ (SPITZER 2003, S. 79). Rein subjektiv weiß jeder, was damit gemeint ist: Denkt man z.B. an einen Fußball, so muss sich nicht zwingend ein solcher im Blickfeld befinden, sondern es ist leicht möglich, sich den Ball auch mit geschlossenen Augen vorzustellen. Dies zeigt, dass der Fußball in uns – im Cortex – in Form, Aussehen und seinen Eigenschaften repräsentiert (vertreten/dargestellt) ist; und zwar seit dem Augenblick, in dem wir ihn zum ersten Mal gesehen haben. Analog dazu finden sich auch Repräsentationen für Regeln, Ereignisse, Fakten, Vokabeln, Erinnerungen oder Erfahrungen.

Woraus bestehen aber diese inneren Abbilder (Repräsentationen) neuro-biologisch?

SPITZER (2003, S. 79) schreibt dazu: „Eine Repräsentation ist ein Neuron mit ganz bestimmten Synapsenstärken der eingehenden Verbindungen. Diese sorgen dafür, dass das Neuron nur dann aktiv wird, wenn ein ganz bestimmtes Muster als Input vorliegt.“

Bevor die Funktionsweise neuronaler Repräsentation im Detail untersucht wird, werden die wichtigsten Aussagen der Kapitel 1.4.1 und 1.4.2 – zum Zwecke eines besseren Verständnisses - noch einmal zusammengefasst:

1. Neuronen leiten Aktionspotentiale (in elektrische Impulse umgewandelte Reize) immer nur in einer Richtung zum nachgeschalteten Neuron weiter.
2. Jedes Neuron ist in ein Neuronen-Netzwerk eingebettet und mit bis zu 10.000 anderer Nervenzellen verbunden, d.h. jedes Neuron hat viele nachgeschaltete bzw. vorgeschaltete Neuronen.
3. Die Impulsübertragung findet an den Verbindungsstellen der Neuronen (Synapsen) statt.
4. Jeder elektrische Impuls (Input) hat, abhängig von der Art des Reizes, ein ganz bestimmtes Muster und eine ganz bestimmte Frequenz.
5. Ein ankommender Impuls wird an der präsynaptischen Membran (am Endknopf des Axons des Sender-Neurons) in einen chemischen Code (Transmitterausschüttung) umgewandelt. An der postsynaptischen Membran (am Dendrit des Empfänger-Neurons) wird dieser Code wieder in einen elektrischen Impuls umgewandelt.
6. Gibt ein Sender-Neuron einen Impuls weiter, ist es „aktiv“ und man spricht davon, dass dieses Neuron „feuert“.

2.1.2 Repräsentation durch Synapsenstärken

Der folgenden Darstellung (Kap. 2.1.2) liegt eine Veröffentlichung von Manfred SPITZER (2003, S. 44ff) zugrunde. Verweise auf einzelne Kapitel beziehen sich jedoch auf diese wissenschaftliche Prüfungsarbeit.

Neuronale Repräsentation bedeutet: „Ein bestimmtes Neuron feuert immer genau dann, wenn ein ganz bestimmter Input ... vorliegt.“ (S. 44). Doch woher weiß dieses Neuron, dass es für diesen bestimmten Sachverhalt, z.B. den Fußball, zuständig ist? Hier sind die Synapsenstärken der entscheidende Faktor.

Würde tatsächlich jedes Aktionspotential, das von einer Sinneszelle erzeugt wird, über alle Synapsen dieser Zelle weitergegeben werden, würden durch jeden minimalen Reiz früher oder später alle dreißig Billionen Neuronen des menschlichen Gehirns aktiviert werden. Über Trilliarden (vgl. Kap 1.4.1) von Verbindungen würde sich jeder Impuls wie ein Lauffeuer im Gehirn ausbreiten, was eine völlige Reizüberflutung zur Folge hätte.

Um dies zu verhindern und die eintreffenden Aktionspotentiale zu ihrem Bestimmungsort zu bringen, sind die Synapsen mit verschiedenen „Stärken“ ausgestattet (vgl. S. 47). Die „Synapsenstärke“ ist eine bildliche Umschreibung dafür, dass nicht jede Synapse jeden elektrischen Impuls weiterleitet, sondern nur solche, die ein bestimmtes Muster aufweisen.

Ist das ankommende Aktionspotential zu schwach, z. B. weil der Reiz nur sehr gering war, kann es die Vesikel in der präsynaptischen Membran nicht dazu veranlassen, genügend Neurotransmitter auszuschütten. In der Folge kann kein Signal das nachgeschaltete Neuron erreichen, so dass dieses auch nicht feuern kann und der Impuls nicht weitergegeben wird. Aus Gründen einer einfachen Begrifflichkeit spricht man von „starken Synapsen“, wenn genügend Neurotransmitter ausgeschüttet werden um die nachgeschaltete Zelle zum Feuern zu bringen.

Die Impulsübertragung kann folgendermaßen verbildlicht werden: Der Weg eines Reizes durch das menschliche Nervensystem gleicht dem eines Autofahrers (Reiz), der an die Pforte (Sinneszelle) einer ihm unbekannten riesigen Stadt (Nervensystem) kommt. Die Stadt hat unzählige Straßen, verwinkelte Gassen und Kreuzungen. Nachdem er die Pforte passiert hat, bestehen er und sein Auto plötzlich nur noch aus elektrischer Energie (Aktionspotential/Impuls). Um seinen Bestimmungsort zu finden, erhält er an der Pforte eine Identifikations-Karte, die eine bestimmte Form (Muster des Impulses) hat. Diese muss er an jeder Kreuzung vorzeigen. Er darf nur in eine Straße einfahren (Impulsübertragung), wenn der Kreuzungswächter (präsynaptische Membran) ihn aufgrund seiner Karte passieren lässt. Hat die Karte die richtige Form, wirft der Kreuzungswächter zehn Steine (Neurotransmitter) in einen Behälter (synaptischer Spalt), was genügt, damit sich eine Absperrung (postsynaptische Membran) öffnet. Nun kann der Autofahrer (Impuls) seinen Weg fortsetzen (Zelle feuert/Impulsübertragung).

Auf neuronaler Ebene stellt sich dieser Prozess noch etwas komplexer dar, weil ein Empfänger-Neuron immer Impulse von allen Sender-Neuronen erhält, die ihm vorgeschaltet sind (siehe Abb. 8). Dies kann bedeuten, dass wenn der Impuls eines einzigen Sender-Neurons nicht genügend Transmitterausschüttung bewirkt, das Empfänger-Neuron dennoch feuert, weil an dessen Synapsen noch weitere Impulse ankommen. Diese bewirken ebenfalls die Ausschüttung von Neurotransmittern. Nun kommen an den Membranen des Empfänger-Neurons viele kleine Dosen Neurotransmitter an, welche in der Summe schließlich groß genug sind um ein Feuern der Zelle zu bewirken.

Übertragen auf das Beispiel mit dem Autofahrer, würde dies folgendes bedeuten: Aufgrund der Form seiner Karte beschließt der Pförtner, nur fünf Steine in den Behälter zu werfen. Damit sich die Absperrung öffnet, sind jedoch mindestens zehn Steine nötig. Nun kommen jedoch zwei weitere Autofahrer (Impulse von anderen Sender-Neuronen) an dieser Kreuzung an. Einer von beiden hat eine Karte, für die der Kreuzungswächter drei Steine in den Behälter wirft. Bei dem anderen reicht es sogar für sechs Steine. Insgesamt befinden sich also jetzt vierzehn Steine in dem Behälter und die Absperrung öffnet sich.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 8: Das Prinzip der neuronalen Repräsentation durch Synapsenstärken (SPITZER 2003, S. 48).

Auf der Abbildung ist zu erkennen, dass die Impulse der Sender-Neuronen zu jedem ihnen nachgeschalteten Empfänger-Neuron gelangen. Die übertragenden Synapsen sind jedoch unterschiedlich stark, weswegen die gleichen Impulse an den drei Empfänger-Zellen unterschiedliche Effekte haben. Oben führen die Impulse an starken Synapsen zur Aktivierung des Neurons, in der Mitte und unten nicht.

SPITZER (2003, S. 49) fasst das Prinzip der neuronalen Repräsentation folgendermaßen zusammen:

Neuronale Netzwerke sind informationsverarbeitende Systeme, die aus einer großen Zahl einfacher Schalteinheiten zusammengesetzt sind. In neuronalen Netzen wird Information durch Aktivierung (und durch Hemmung) von Neuronen verarbeitet. Abstrahiert man von biologischen Gegebenheiten wie Form, mikroskopischer Struktur, Zellphysiologie und Neurochemie, so lässt sich ein Neuron als Informationsverarbeitungselement verstehen. In dieser Hinsicht besteht die Funktion eines Neurons darin, Input zu erhalten und aktiviert zu werden oder nicht. Wird ein Neuron durch einen Input aktiviert, so repräsentiert es diesen Input. Damit hat die Rede von neuronaler Repräsentation eine ganz klare und einfache Bedeutung.“

Schlägt man den Bogen zurück zum Anfang dieses Kapitels (2.1.1), wird nun deutlich, auf welche Weise auch der Fußball in uns repräsentiert ist. Indem wir an den Ball denken, werden spezielle Neuronen aktiviert, die nur beim Gedanken an diesen Fußball zu feuern beginnen.

2.1.3 Neuronenpopulationen

Wären die im Cortex gespeicherten Regeln, Fakten und Ereignisse nur durch ein einziges Neuron vertreten, wären die Repräsentationen sehr anfällig und würden sofort verschwinden, sobald dieses Neuron Schaden nimmt. Aus diesem Grunde sind an der Repräsentation eines Faktums, eines Ereignisses, einer Regel oder einer Handlung immer viele Neuronen beteiligt. Man bezeichnet alle Nerven-zellen, die an der Repräsentation eines Sachverhaltes beteiligt sind, als Neuronenpopulation.

Wie Neuronen einer solchen Population zusammenarbeiten, erläutert SPITZER (1996, S. 86f) anhand eines Experimentes, das WILSON und MC NAUGHTON (1993) am Hippocampus von Ratten durchführten: Die Wissenschaftler „implantierten im Hippocampus von Ratten über hundert winzige Elektroden, mit denen die Aktivität einzelner Zellen abgeleitet werden konnte. Die Ratten ... wurden für jeweils 10 Tage in einer Hälfte eines 62 mal 124 cm großen Kastens gehalten, in dem sie Futter ... suchen sollten. An den Wänden des Kastens befanden sich zur räumlichen Orientierung der Tiere eine Reihe visueller und taktiler Reize.“

Der Hippocampus spielt eine wichtige Rolle bei der räumlichen Orientierung, weshalb das Augenmerk der Wissenschaftler vor allem auf den sogenannten „Ortszellen“ lag. Diese Zellen sind nur dann aktiv, wenn sich das Tier an einem bestimmten Ort befindet, d.h. sie repräsentieren diesen Ort. Während der Untersuchungen zeigte sich, dass im Hippocampus die Lokalisation des Tiers im Raum keineswegs nur durch ein einzelnes Neuron codiert wird, sondern „durch die gewichtete Aktivität aller Neuronen, die mit der Ortskodierung beschäftigt sind. Das für die hintere linke Ecke zuständige Neuron feuert also nicht nur dann, wenn das Tier sich in der linken hinteren Ecke befindet (dann feuert es allerdings maximal), sondern auch dann, wenn sich das Tier in der Nähe der linkern hinteren Ecke aufhält – je näher desto mehr.“ (SPITZER 1996, S. 86).

Diese Erkenntnis ist von grundlegender Bedeutung. Durch Messen der Aktivität in der Neuronenpopulation konnte also wie in einem Koordinatensystem abgelesen werden, wo sich die Ratte im Raum befindet. Dabei war ersichtlich, dass die Voraussagen über den Aufenthaltsort der Ratte umso treffender waren, je mehr Neuronen in die Berechnungen einbezogen wurden. SPITZER (1996, S. 87) schreibt: „Benutzte man 20 oder 30 Neuronen zur Voraussage, so betrug der Fehler der Voraussage des Aufenthaltsortes aus der neuronalen Aktivität des Hippocampus etwa fünf cm, hatte man hingegen ca. 40 Neuronen zur Verfügung, so betrug der Fehler nur zwei cm.“

Dieser Versuch zeigt sehr deutlich, wie Neuronen innerhalb einer Neuronenpopulation zusammenarbeiten und wie Sachverhalte durch neuronale Aktivität repräsentiert werden. Unterschiedliche Synapsenstärken regulieren die Aktivität von Neuronen, indem sie Aktionspotentiale weiterleiten oder hemmen.

Das führt dazu, dass die Neuronen einer Population unterschiedlich stark aktiv sind, wodurch wiederum bestimmte Muster neuronaler Aktivität entstehen, die zur Repräsentation von Sachverhalten beitragen. Im Falle der Ortszellen im Hippocampus der Ratten bedeutete dies, dass ein Neuron umso heftiger feuerte, je näher die Ratte dem Ort kam, den dieses Neuron repräsentiert.

Zusammenfassend lässt sich die neuronale Repräsentation auf zwei Ebenen aufspalten:

1. Die Ebene des einzelnen Neurons: Feuert ein Neuron, weil es aufgrund des Aktionspotentials und der passenden Synapsenstärke aktiviert wurde, repräsentiert es den Sachverhalt (z.B. einen Fußball), der das Aktionspotential ausgelöst hat.
2. Die Ebene der Neuronenpopulation: Ein Sachverhalt wird durch die unterschiedlich starke Aktivität vieler Neuronen repräsentiert, welche ihn alle auf der „Ebene des einzelnen Neurons“ bereits repräsentieren. „Durch gewichtete Mittelwertbildung der Aktivität aller Neuronen wird auf diese Weise gleich Mehrfaches erreicht: Zum einen ist ein solcher Kode genauer, viel genauer als ein einzelnes Neuron je sein kann; und zum zweiten ist es nicht weiter schlimm, wenn ein Neuron ausfällt.“ (SPITZER 2003, S. 97).

2.2 Neuroplastizität: Das biologische Prinzip des Lernens

Der vorangehende Abschnitt beschäftigte sich damit, auf welche Weise Fakten, Vorstellungen, Erfahrungen, Erinnerungen und Lerngegenstände im Gehirn repräsentiert sind. Um noch einmal auf den Fußball zurückzukommen: Es wurde dargelegt, wie er durch Neuronen im Cortex codiert und dargestellt ist.

Wären diese Repräsentationen jedoch statisch und unveränderbar, könnten wir nichts Neues über Fußbälle dazulernen. Angenommen, ein Kind sieht zum ersten Mal einen Fußball und seine komplette Vorstellung besteht nun daraus, dass er eine Kugel mit schwarz-weißen Punkten ist. Es weiß noch nichts über die Eigenschaften dieses Objektes. Irgendwann spielt es aber mit einem Ball und stellt fest, dass er wegrollt, wenn es mit dem Fuß gegen ihn tritt. Von nun an wird es dem Fußball immer die Eigenschaft zuschreiben, dass er auch rollen kann, d.h. das Kind hat etwas über den Ball gelernt. Bezogen auf die Repräsentation des Balles im Cortex bedeutet dies, dass sie sich aufgrund der neuen Erfahrung verändert und angepasst haben muss.

SPITZER (2003, S. 94) bemerkt dazu: „Man bezeichnet die Anpassungsvorgänge im Zentralnervensystem an die Lebenserfahrung eines Organismus ganz allgemein als Neuroplastizität.“

Vergleicht man diese Aussage mit der Definition von KANDEL et al. (1996, S. 668), die besagt , dass Lernen der Prozess ist, „mit dessen Hilfe Organismen sich Kenntnisse über die Welt aneignen“, werden Korrelationen zwischen den Eigenschaften von „Neuroplastizität“ und „Lernen“ deutlich: Beide kennzeichnen eine Verhaltensänderung eines Organismus, die dann eintritt, wenn dieser bestimmte Erfahrungen gemacht hat. Anders ausgedrückt: Neuroplastizität ermöglicht Lernen auf neurophysiologischer Ebene.

Dabei werden drei Ebenen von Neuroplastizität unterschieden, die in Tabelle 2 dargestellt sind:

Tab. 2: Ebenen der Neuroplastizität (vgl. SPITZER 2003, S. 95).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Zur Tabelle: Der molekularbiologisch beschreibbare Prozess der Langzeitpoten-zierung (siehe Kap. 2.2.2) dient zur Markierung von Synapsen, an denen dann strukturelle Veränderungen stattfinden, welche einer zusätzlichen und länger dauernden Verbesserung der neuronalen Verbindung dienen.

Die Zeit für das Wachstum von Neuronen wird benötigt, damit die Zelle von der Stätte ihrer Produktion an ihren „Einsatzort“ gelangen kann.

Die Neuroplastizität der kortikalen Karte ermöglicht eine Veränderung von Repräsentationen im Cortex (vgl. Beispiel mit dem Fußball). Der Begriff „kortikale Karte“ bezeichnet dabei eine Neuronenpopulation, die einen bestimmten Sachverhalt repräsentiert.

In den Kapiteln 2.2.1 und 2.2.2 werden die Ebenen der „kortikalen Karte“ sowie der „Synapse“ näher untersucht, weil diese für den Lernprozess von elementarer Bedeutung sind.

2.2.1 Neuroplastizität durch Veränderung von Repräsentationen
2.2.1.1 Kortikale Karten

Der Begriff „kortikale Karte“ wurde bereits in den Ausführungen über Anatomie und Funktion des Cortex (siehe Kap. 1.3.1) eingeführt und bezeichnete dort die Repräsentation bestimmter Körperareale in der Großhirnrinde. Im gleichen Kapitel wurde dargestellt, dass sich in diesem Abschnitt des Gehirns auch Fakten, Ereignisse, Regeln, Kategorien und Erinnerungen befinden. In Kapitel 2.1.3 wurde schließlich gezeigt, dass all diese Sachverhalte durch Neuronenpopulationen repräsentiert werden. Eine „kortikale Karte“ bezeichnet daher nichts weiter als die räumliche Anordnung einer Neuronenpopulation, die einen bestimmten Sachverhalt repräsentiert.

Kortikale Karten entstehen erfahrungsabhängig und werden auch erfahrungsabhängig umorganisiert (vgl. SPITZER 2003, S. 105). Dies bedeutet, dass im Cortex die Repräsentation eines Sachverhaltes genau dann entsteht, wenn der Organismus Erfahrungen mit diesem macht (Bsp.: Fußball ist eine schwarz-weiße Kugel). Ebenso werden diese Repräsentationen modifiziert, wenn weitere Erfahrungen gemacht werden (Bsp.: Fußball rollt, wenn man gegen ihn tritt).

Trifft also ein Reiz aufgrund einer Erfahrung auf den Organismus, wird dieser zunächst durch Sinneszellen in einen elektrischen Code transformiert. Gelangt dieser Code in den kortikalen Bereich, verarbeitet der Cortex diese Inputmuster, wodurch kortikale Karten entstehen oder bereits vorhandene umorganisiert werden.

Im Folgenden werden vier Beispiele für Neuroplastizität durch Veränderung von Repräsentationen aufgezeigt. Die zugrunde liegenden Experimente wurden von SPITZER (vgl. 2003, S. 105ff) zusammengetragen:

1. Durch das Erlernen von Blindenschrift (Braille) vergrößert sich bei Rechtshändern das kortikale Areal, das für die Fingerkuppe des rechten Zeigefingers zuständig ist. Der Grund hierfür liegt darin, dass dieser Finger beim Lesen Millionen von kleinen Erhebungen ertasten muss und der Abschnitt des Cortex, welcher diesen Finger repräsentiert, viel mehr Input verarbeiten muss als vorher. In der Folge wird dieser kortikale Bereich (kortikale Karte) vergrößert (vgl. PASCUAL-LEONE & TORRES 1993).
2. Das kortikale Areal der linken Hand wird um 1,5 bis 3,5 Zentimeter länger, wenn das Gitarren- oder Geigenspiel erlernt wird und mit der linken Hand die Akkorde gegriffen werden (vgl. ELBERT et al. 1995).
3. Es wurde nachgewiesen, dass kortikale Karten für Töne bei Musikern um etwa 25 Prozent größer sind als bei Nichtmusikern (vgl. PANTEV et al. 2001). Dabei haben Trompeter mehr Platz für Trompetentöne und Geiger mehr Platz für Geigentöne (vgl. PANTEV et al. 1988).
4. Nach der Amputation einer Hand wird infolge fehlender Eingangssignale von der Hand das kortikale Areal, das für die Hand zuständig ist, kleiner. Wird eine fremde Hand transplantiert, so konnte man zeigen, dass sich im Verlauf von vier Monaten die Bereiche im sensorischen Cortex wieder vergrößern (vgl. GIRAUX et al. 2001).

2.2.1.2 Stille Verbindungen (silent connections)

Welches Funktionsprinzip liegt nun aber der Neuroplastizität kortikaler Areale zugrunde?

Folgendes Beispiel soll dies verdeutlichen (vgl. SPITZER 2003, S. 106f):

Berührt man mit einer Bleistiftspitze den rechten Zeigefinger, wird dieser Reiz zunächst über wenige Nervenbahnen weitergeleitet, die sich dann in der Großhirnrinde bis zu 10.000fach verzweigen. Dadurch kommt der Reiz in Kontakt mit sehr vielen Zellen des Cortex. In diesem sind jedoch nicht alle Zellen, zu denen eine Verbindung von dem kleinen Fleck auf der Fingerspitze besteht, auch auf diesen Fleck spezialisiert, sondern nur eine Teilmenge. Zu dieser bestehen jedoch starke synaptische Verbindungen vom Finger aus, so dass diese Zellen aktiviert werden. Die Stärke der Verbindungen vom Finger zu den übrigen Zellen, die in neuronalem Kontakt mit diesem stehen, ist gering oder gar nicht nachweisbar. Diese Verbindungen nennt man auch stille Verbindungen (silent connections). Sie sind der Grund, weshalb sich kortikale Karten plastisch ausbreiten können.

Gelangt nun besonders viel Input vom rechten Zeigefinger in den Cortex (z.B. durch Erlernen von Braille), werden die stillen Verbindungen aktiviert. Durch diese Aktivierung erhöhen sich die Synapsenstärken der „silent connections“ und sie werden künftig durch Impulse des rechten Zeigefingers erregt, welche vorher keine Reaktion bei ihnen ausgelöst hätten.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

2.2.2 Neuroplastizität durch Langzeitpotenzierung (long-term potentiation)

Der Prozess, der für eine Erhöhung der Synapsenstärken verantwortlich ist, wird als Langzeitpotenzierung (long-term potentiation; LTP) bezeichnet. KANDEL et al. (1996, S. 729) definieren LTP kurz als eine „anhaltende Zunahme der Größe des postsynaptischen Potentials, ausgelöst durch eine Vielzahl von Mechanismen und in vielen Regionen des Nervensystems möglich.“ Dies bedeutet, dass das Empfänger-Neuron auf einen Impuls des Sender-Neurons hin nach der Langzeitpotenzierung leichter zu feuern beginnt als vorher.

Die Charakteristik dieses komplexen Prozesses wird im Folgenden dargestellt.

2.2.2.1 Bildung assoziativer Netze

„Der Grund, warum Langzeitpotenzierung eines der am häufigsten untersuchten neurobiologischen Phänomene ist, geht bis ins Jahr 1949 auf D. O. Hebb [kanadischer Psychologe] zurück. Hebb stellte die These auf, daß die Bahnung der synaptischen Übertragung der fundamentale Mechanismus von Lernen und Gedächtnis ist. Er nahm an, daß jede Erfahrung ein unverwechselbares Muster neuronaler Aktivität induziert, das durch die cerebralen Schaltkreise zirkuliert (reverberiert). Weiterhin nahm er an, dass diese reverbierende Aktivität zu anhaltenden strukturellen Veränderungen in den Synapsen der aktivierten Schaltkreise führt und daß diese Veränderungen die folgende Übertragung über diese Synapsen erleichtern und die Information der ursprünglichen Erfahrung speichern.“ (PINEL 1997, S. 411f).

Auf diese Weise wäre eine dauerhafte Konsolidierung von Erfahrung möglich, indem zu jeder Erinnerung ein spezifisches neuronales Aktivitätsmuster (assoziatives Netz) ausgebildet wird. Durch die Wiederherstellung dieses spezifischen Musters, ist auch die dazugehörige Erinnerung später erneut abrufbar. Der Kernpunkt bei der Ausbildung neuronaler Aktivitätsmuster liegt dabei in der Stärke der synaptischen Verbindungen. Weil sie „entscheiden“, welche Verbindungen zugelassen werden und in welcher Intensität dies geschehen soll, wird durch sie das Aktivitätsmuster determiniert.

Folgende Abbildung, an die sich eine Erklärung von Joaquín FUSTER (2003, S. 13) anschließt, zeigt eine schematische Darstellung der Funktionsweise assozi-ativer Netze:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 9: Ein neuronales Modell assoziativer Netze (FUSTER 2003, S. 13).

„Erinnerungen werden durch assoziative Verknüpfungen gebildet, gespeichert und wiederbelebt. Anhand eines einfachen Gedächtnisnetzes aus elf Neuronen (Kreise mit Fortsätzen) sind hier alle bekannten Typen kortikaler Verbindungen dargestellt ... Die Signale pflanzen sich von unten nach oben fort, von den Sinneszellen zu den assoziativen Ebenen des Netzwerkes. Jeweils aktive Neuronen sind rot ausgefüllt.

Die obere Serie illustriert die Vorgänge bei Assoziationen zweier visueller Reize, die gleichzeitig eintreffen. Die simultane Stimulation zweier visueller Neuronen (1 und 2, rot) verstärkt den Kontakt an den Synapsen, ... die jeweils einen der beiden Reize repräsentieren (a). Die „Erinnerung“ an die beiden assoziierten Stimulationen bleibt in den verstärkten Synapsen langfristig gespeichert (b, rote Kästchen); von nun an genügt einer der beiden Reize, um das assoziative Gedächtnisnetz von beiden zu aktivieren (c).

Die untere Serie zeigt denselben Prozess für zwei unterschiedliche Sinnesmodalitäten: Sehen und Fühlen. Die beiden simultan wahrgenommen Reize – einer visuell, einer taktil – aktivieren jeweils ihr eigenes Netz (d), worauf die Verstärkung der verbindenden Synapsen wiederum eine langfristige Assoziation erzeugt (e). Der taktile Reiz alleine kann das gesamte Netz reaktivieren, was auch die visuelle Erinnerung wachruft (f).“

Die Langzeitpotenzierung wurde bislang vor allem in Hippocampus und Großhirnrinde (vgl. KANDEL et al. 1996, S. 704), d.h. Arealen, welche für die Speicherung von Gedächtnisinhalten verantwortlich sind, sowie in der Amygdala (vgl. LAROCHE 2003, S. 22) untersucht. Dabei wurde festgestellt, dass sich Prozesse zur Ausbildung assoziativer Netze nach der Aufnahme eines Reizes zunächst vor allem auf den Hippocampus erstrecken. Erst danach werden Strukturen der Großhirnrinde aktiv, wo die Erinnerung schließlich gespeichert wird (siehe Kap. 1.3.2).

Zusammenfassend ist zu sagen, dass jeder Gedächtnisinhalt einem einzigartigen räumlich-zeitlichen Aktivitätsmuster untereinander verbundener Neuronen entspricht. Durch „long-term potentiation“ werden diese Aktivitätsmuster strukturiert und die Gedächtnisinhalte konsolidiert.

2.2.2.2 Hebbsche Regel

Der Prozess der Langzeitpotenzierung weist zwei Schlüsselmerkmale auf, die PINEL (vgl. 1996, S. 412) herausgestellt hat:

1. Die LTP kann nach einer einzigen Reizung lange Zeit anhalten; nach mehrfacher Reizung sogar wochenlang.
2. Es kommt nur dann zu einer LTP, wenn auf das Feuern des präsynaptischen Neurons ein Feuern des postsynaptischen Neurons folgt.

Den entscheidenden Faktor zur Auslösung einer Langzeitpotenzierung stellt heute die simultane Erregung von präsynaptischer und postsynaptischer Zelle dar. Die These, nach der diese simultane Zellerregung eine physiologische Voraussetzung für Lernen ist, wird als Hebbsche Regel bezeichnet.

Den ersten experimentellen Beweis dieser Theorie erbrachten Timothy BLISS und Terje LØMØ (1973), indem sie eine Nervenbahn, die im Hippocampus endet, kurzzeitig mit hochfrequentem Schwachstrom reizten. Dabei beobachteten sie, dass die Signale an den beteiligten Synapsen immer effizienter übertragen wurden, so dass die Zellen bei späteren Reizungen empfindlicher reagierten. Genau dieser Prozess ist es, den man heute als Langzeitpotenzierung bezeichnet.

Neue Studien von Serge LAROCHE (2003, S. 22) und Valerie DOYÈRE haben gezeigt, dass auch eine sogenannte Langzeitdepression existiert. Dieses Phänomen ist der Langzeitpotenzierung entgegengesetzt, da sich die synaptischen Verbindungen langfristig abschwächen. „Alles deutet darauf hin, dass bei Lernvorgängen manche Neuronenverbindungen gestärkt, andere hingegen geschwächt werden. Dank dieser zweigleisigen Veränderung steigt die Anzahl möglicher Konfigurationen erheblich – und damit die Speicherkapazitäten der neuronalen Netze.“

[...]

Ende der Leseprobe aus 220 Seiten

Details

Titel
Pädagogische und didaktische Möglichkeiten zur Förderung nachhaltigen Lernens
Hochschule
Universität Koblenz-Landau
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
220
Katalognummer
V71359
ISBN (eBook)
9783638618380
ISBN (Buch)
9783656620488
Dateigröße
3831 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Wurde als einzige Arbeit des Durchgangs mit Bestnote 1,0 bewertet. Habe daraufhin Promotionsangebot bekommen. Mit 49 Abbildungen, 6 Tabellen, 201 Seiten (ohne Anhang)
Schlagworte
Pädagogische, Möglichkeiten, Förderung, Lernens, Neurodidaktik, neurophysiologie des Lernens, Neurowissenschaften, Hirnforschung
Arbeit zitieren
Frank Notar (Autor:in), 2004, Pädagogische und didaktische Möglichkeiten zur Förderung nachhaltigen Lernens, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/71359

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