Die bipolare Figurenstruktur in Hermann Hesses Werken


Bachelorarbeit, 2006

44 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung: Bipolarität und Einheitsgedanke in Hesses Werken

2. Oppositionen und ihre Einheit hinter den Gegensätzen
2.1 Östlicher Einfluss auf das Werk
2.2 Stufen der Menschwerdung
2.3 Oppositionen im Werk

3. Die bipolare Figurenstruktur im frühen Prosawerk
3.1 Oppositionen in „Unterm Rad“
3.2 Hans und Hermann
3.3 Zwischen Kindheit und Mannsein

4. Die bipolare Figurenstruktur im mittleren und späten Prosawerk: Einfluss von Jung
4.1 Jungs Psychologie der Archetypen
4.2 Polarität als Grundprinzip am Beispiel von „Demian“
4.3 Jungs Archetypen in Hesses Werken am Beispiel von „Demian“

5. Werkgeschichtliche Entwicklung: Vergleich der Darstellung von Polarität im Früh-, Mittel- und Spätwerk

6. Schluss: Bipolarität als bedeutendes Strukturelement in Hesses Werken

7. Quellennachweis
7.1 Primärliteratur
7.2 Sekundärliteratur

1. Einleitung: Bipolarität und Einheitsgedanke in Hesses Werken

Das vollkommene Sein ist Gott. Alles andere, was ist, ist nur halb, ist teilweise, es ist werdend, ist gemischt [...]. Wir [...] sind [...] Möglichkeiten, es gibt für uns keine Vollkommenheit, kein völliges Sein. (Hesse 1993, 282)

Die bipolare Anlage der Welt beschäftigt Hermann Hesse seit jeher und somit ist es auch nicht verwunderlich, dass zum Grundprinzip innerhalb seines literarischen Schaffens wurde. Da der Autor selbst eine innere Zerrissenheit seines Selbst verspürte, ließ ihn diese Idee nicht mehr los und die Bipolarität wurde das Hauptthema seiner Schriften. In meiner nun folgenden Abhandlung werde ich mich mit verschiedenen Texten Hesses beschäftigen, die Variationen dieser Thematik aufzeigen. Um die Vielschichtigkeit dieser Modifikationen des Motivs zu verdeutlichen, werde ich zunächst den Einfluss östlicher Lehren und Weltbilder auf sein Werk beleuchten, sowie die Idee der Menschwerdung in der Stufentheorie Hesses erklären, um die Bedeutung der Polarität innerhalb der Werke zu veranschaulichen. Diese Vorstellung des Individuationsprozesses ist ausschlaggebend für die ständig wiederkehrende Materie der Polarität in Hesses Prosa, denn der Zerfall in Gegensatzpaare und deren Synthese zu einer Einheit spiegelt das für den Autor geltende Weltbild wieder.

Hesse, der wie gesagt nicht nur durch das Christentum, sondern auch durch andere Weltreligionen und Weltbilder geprägt wurde, stellt den Gedanken des Zerfalls der Welt in verschiedene Gegensatzpaare und deren Zusammengehörigkeit auf verschiedene Weise dar. Deshalb werde ich zunächst die unterschiedlichen Gegenpole innerhalb seiner Prosaschriften aufzeigen, um später anhand von Exempeln die Darstellung in den Früh-, Mittel- und Spätwerken Hesses darzulegen. Als ein Beispiel der frühen Werke Hesses werde ich mich eingehender mit „Unterm Rad“ auseinandersetzen und bei den späteren Werken wird „Demian“ als Veranschaulichung dienen, wobei ich, um der Vielfältigkeit der Erscheinungen der Polarität gerecht zu werden, weitere Werke Hesses heranziehen werde. Da die Beeinflussung durch die Psychoanalyse Jungs augenfällig ist, werde ich mich näher mit der Archetypenlehre des Psychologen beschäftigen. Natürlich war Jung nicht der Einzige, der Einfluss auf das Leben und Schaffen Hermann Hesses hatte, zumal er die Ideen des Zerfalls des Ichs und die Synthese des Ichs selbst aus älteren Quellen schöpfte und diese in seinem Sinn weiterentwickelte. Dennoch möchte ich mich besonders auf dessen Beeinflussung auf die Ideen der Darstellung der Bipolarität in Hesses Prosa stützen, da Jungs Archetypenlehre diese auf eine völlig andere Ebene hebt – nämlich die völlige Verlegung der Polarität in die menschliche Psyche.

Abschließend werde ich die verschiedenen Stufen der Darlegung der Bipolarität und Hesses Lösungsvorschläge in den unterschiedlichen Schaffensperioden miteinander vergleichen und versuchen die werkgeschichtlichen Unterschiede und Gemeinsamkeiten herauszufiltern.

Die Bipolarität ist ein bedeutendes Strukturelement im ganzen literarischen Wirken von Hermann Hesse und schlängelt sich als roter Faden durch seine ganze Schaffensperiode und sein Leben.

2. Oppositionen und ihre Einheit hinter den Gegensätzen

2.1 Östlicher Einfluss auf das Werk

Hermann Hesses gesamtes Prosawerk ist von der Idee der Bipolarität durchtränkt. Welten und Protagonisten werden gegenpolig aufgebaut mit dem Gedanken diese scheinbaren Widerstände zu vereinen. Hesse selbst genoss seine Erziehung in einem pietistischen, christlich-protestantischen Haushalt, dennoch wurde er stark durch östliche Lehren, indische und chinesische im Besonderen, beeinflusst. Dies liegt der Missionartätigkeit seiner Eltern in Indien zu Grunde, so dass er frühzeitig von der Vielschichtigkeit der Welt erfuhr. Trotzdem waren die moralischen und kulturellen Vorstellungen der christlichen Welt überaus prägend auf sein Leben. In seinen Werken versuchte Hesse nun sein individuelles Erleben, aber auch den zeitgeschichtlichen Hintergrund in Bezugnahme verschiedener Weltbilder zu kompensieren.

In der chinesischen Mythologie und Philosophie wird ein mittlerer Weg angestrebt, einer der zwischen den beiden Pole liegt. Dieser geht zurück auf den Gedanken des Lao-tse, der in seiner Lehre des Tao die Annahme vertritt, dass vor der Schöpfung des Alls das Tao, ein geistiges, absolut vollkommenes, unwiderstehlich wirkendes Wesen existiert hat. Durch Hingabe kann der Mensch mit dem Tao eins werden und seinen inneren Frieden finden. Diese Vorstellung der Einheit zerfällt in ein grundsätzliches Gegensatzpaar, in Yin und Yang. Wobei das Yin für das dunkle, weibliche, kalte, empfangende und gebärende Prinzip steht und das Yang stellt im Kontrast dazu das lichte, warme, männliche, zeugende und schaffende Prinzip dar. „Yang ist auch Himmel, Yin Erde. Aus der Yangkraft stammt ‚Schen’, der Himmelsanteil der Menschenseele, und aus der Yinkraft stammt ,Kwei’, der irdische Seeleanteil." (Clarke 1999, 111) Es ist also bereits eine originäre Idee, dass der Mensch die Zweigeteiltheit seiner Seele in sich vereinigt.

In der christlichen Religion hingegen wird diese Gegensatzpaarung in der Menschenseele nicht anerkannt, der Mensch soll allein das Gute anstreben und das Böse aus seiner Seele verbannen. Hesse der von Haus aus christlich geprägt ist, kommt durch die Beschäftigung mit anderen Religionen zu einer neuen Anschauung der Menschenseele und verarbeitet diese immer wieder in seiner Kunst.

In Indien wird ebenfalls die Befreiung von Gegensätzen und die Idee der Ganzheitlichkeit gelehrt. Durch Yoga, welches bestimmte Übungen der Körperhaltung, Atmung, Hypnose und der Sammlung enthält, soll die Seele von der Materie befreit werden, um so die Selbsterlösung zu erreichen. Der Mensch soll sich von den äußeren Einflüssen lösen, sei es das Elternhaus, die Schule oder auch die Gesellschaft, um eigenständige, selbstbestimmende, autonome Ideen und Gedanken zu entwickeln, um seiner eigenen Person gerecht zu werden. Nur wenn er sich von fremdbestimmten Vorstellungen seiner Selbst und der Welt löst, kann er zur Selbsterlösung gelangen und sich selbst in seiner inneren Ganzheit finden. Yoga gilt als Erlösungsübung, welche das Erreichen der höchsten Wonne, ähnlich dem geistigen Zustand eines Kindes, zu ihrem Ziel gesetzt hat. Dieser Zustand wird in Indien als Brahman bezeichnet und auch die Brahmanen nehmen den Gedanken der Gegensatzpaare wieder auf, wobei die Loslösung von diesem Problem als Erlösung empfunden wird. Auch dies wird zum Ziel des Weges der Protagonisten in Hesses Werken, denn nur Annahme und Integration beider Gegensätze in ihrer Seele öffnet ihnen den Weg sich selbst zu entdecken, zu finden und zu verwirklichen.

2.2 Stufen der Menschwerdung

Die Bahn sonderte das Eins;

Das Eins sonderte das Zwei;

Das Zwei sonderte das Drei;

Das Drei sonderte das Viel. (Ular 1921, 51)

Die Vielgestaltigkeit der Welt und der uralte Gedanke der Einheit liegen, wie schon erwähnt, den östlichen Lehren und Religionen zu Grunde. Auch für Hermann Hesse übt der Gedanke der Einheit zwischen den Gegensätzen eine starke Faszination aus. So schrieb er in seinem Aufsatz „Über die Einheit“: „Ich glaube an nichts in der Welt so tief, keine andere Vorstellung ist mir so heilig wie die der Einheit“ (Hesse 2002, 9). Die Mannigfaltigkeit der Welt wird auf das göttlich Eine zurückgeführt, wobei Innen und Außen, Ich und Welt, zu einer Einheit zusammenschmelzen. Beide Pole entspringen also einem Ursprung in den sie auch wieder zurückkehren und ineinander übergehen.

In „Ein Stückchen Theologie“ beschreibt Hesse, dass der Weg zur Einheit, zur Menschwerdung, in drei Stufen erreicht wird. Die erste Phase entspricht der Kindheit, dem Paradies, der Unschuld. Wenn der Mensch nun aus dem Paradies vertrieben wird und Wissen über Gut und Böse erlangt, hat er bereits die zweite Stufe erreicht. Ihn befällt ein Gefühl der Schuld, woraus letztendlich Verzweiflung resultiert. Diese kommt auf, da der Mensch zur Erkenntnis gelangt, dass das Erfüllen völliger Tugend und beständigen Gutsein unmöglich ist. Aus dieser Verzweiflung heraus gibt es zwei Wege, einerseits kann dieser im Untergang des Menschen enden, andererseits, was angestrebt wird, kann der Geist in ein „drittes Reich“ geführt werde, jenseits von Moral und Gesetz. Es wird die eigene Ewigkeit und Unzerstörbarkeit erkannt, der Gott im Menschen selbst. Es wird in der dritten Stufe auch von „Erwachtsein“ (Hesse 2002, 139) gesprochen. Da der Lebenskreis sich immer wieder durch Leben, Tod und Wiedergeburt schließt, kann dieser Moment des Erwachens nicht von Beständigkeit sein, da doch alles Jetzige, Vergangene und Zukünftige zurück in den Ursprung fließt und diesem wieder entspringt. Hesse beschreibt in seinen Werken immer wieder, dass dieses „Erwachtsein“ nicht von Dauer sein kann. Harry Haller begriff, dass er „das Spiel nochmals [...] beginnen, seine Qualen nochmals [...] beginnen, vor seinem Unsinn nochmals [...] schaudern, die Hölle [seines] Innern nochmals und noch oft [...] durchwandern“ (Hesse 2004, 278) müsse. Trotz dieser Erkenntnis, oder gerade deswegen, bemüht sich Hesse diesen Weg der Selbstfindung immer und immer wieder zu gehen, um der Erlösung näher zu kommen.

2.3 Oppositionen im Werk

Um die Erlösung, also die Einheit hinter den Gegensätzen zu finden, erfolgt zunächst in Hesses Werken ein Zerfall der Ganzheit in Gegenpole. Diese Polarität ein und desselben Charakters wird häufig im Aufeinandertreffen zweier Personen dargestellt. Die polare Spaltung ist in verschiedenen Prosawerken Hesses zu finden, wobei die Pole anziehend oder abstoßend wirken können. Anziehende Charaktere, wenn auch zugleich zutiefst gegensätzlich, finden wir zum Beispiel in den Freunden Hans Giebenrath und Hermann Heilner oder auch Narziß und Goldmund. Ein inneres Band scheint sie immer wieder gegenseitig anzuziehen. Während der eine in der Paarung als der Heilende gilt, der Führer des Anderen auf seinem Weg zu sich selbst, „lebt“ auch dieser von dem Anderen, sie komplettieren einander. Allerdings tritt auch das völlige Gegenteil in Hesses Werken auf, nämlich dass scheinbar zusammengehörige Personen sich völlig abstoßen. Hier wären die Vater-Sohn-Beziehungen in „Unterm Rad“ und „Kinderseele“ zu nennen. Zwar erscheinen sie zunächst zusammengehörig, dies jedoch allein auf Grund des familiären Bündnisses, innerlich stoßen sie einander völlig ab. Auch im „Demian“ wird dieses Verhältnis zu den Eltern deutlich, indem die Eltern Emil Sinclairs ihre Hilfe auf dem Weg seiner Selbstfindung verweigern, wenn nicht sogar diesem Pfad im Weg stehen. Neben dieser Darstellung der Gegenpole in einer zweiten Person kann die Polarität auch innerhalb einer Person verkörpert und wiedergegeben werden, so auch im „Steppenwolf“. Harry Hallers innere Zerrissenheit wird durch das Auftreten des Steppenwolfs gezeigt. Der Steppenwolf ist kein Tier dem Haller im äußeren Umfeld begegnet, sondern dieser kommt allein aus seinem Inneren. Hier wird verdeutlicht, dass die Gegensätze aus einem Selbst wachsen, wie auch Hans Giebenrath und Hermann Heilner eigentlich den inneren Konflikt einer Person austragen und somit „Eins“ sind.

In Hermann Hesses künstlerischem Schaffen prallen immer wieder zwei Welten aufeinander, so wird das erste Kapitel im „Demian“ mit dem Titel „Zwei Welten“ überschrieben. Hier trifft das Paradies auf die Hölle. Die heimische Welt wird als hell und gut beschrieben, während das Leben außerhalb dieses begrenzten Raumes als dunkel und böse wahrgenommen wird. Die Identität und Identifikation mit der Innen- und Außenwelt wird so konkretisiert. Eine ähnliche Situation ist auch im „Steppenwolf“ wieder zu finden, auf der einen Seite die heile bürgerliche Welt, auf der anderen Seite die zerstörerische Welt der Gassen und Wirtshäuser mit ihren düsteren und verdorbenen Gestalten. Hesse verarbeitet das Prinzip der Polarität häufig indem er Natur auf den Geist der modernen Zivilisation treffen lässt. Diese Stadt/ Land-Symbolik tritt unter anderem in den Werken „Peter Camenzind“ und „Unterm Rad“ auf. Hier wird das Land bzw. das Dorf idyllisiert, es gilt als Heimat, Paradies, Heil, Gut und Glück, während die Stadt die Fremde, die Hölle, das Unheil, das Böse und Unglück verkörpert. So präsentiert das Dorf Nimikon in „Peter Camenzind“ das Ursprüngliche, Natürliche, Einfache und Unverfälschte, aber auch das Sonderbare und Kuriose, eben das Individuelle. Während die Stadt für Dekadenz, Schmutz, Verfall und Übersättigung steht. Camenzind scheint sich in diesen beiden Wertesysteme als literarische Figur grenzübergreifend zu bewegen. In diesen Welten treffen immer wieder gegenpolige Personen aufeinander, so ist der Künstler ein oft auftretender Mensch, der zumeist wider dem Bürgertum steht. Diese scheinen sich völlig auszuschließen, da der Bürger für Anstand, Moral, Sitte und Spießbürgerlichkeit stehen, während der andere diesen Dingen doch absolut konträr gegenübersteht. Dem Künstlertypus hingegen wird Unmoral, Unanständigkeit und Anstößigkeit, sowie Arbeitsscheu nachgesagt. Dennoch ziehen sie sich wie magisch an, jeder möchte aus der Welt des anderen schöpfen. Zugleich verkörpert der Bürger die pietistische, unaufgeklärte Welt, dies negiert die so genannten positiven Eigenschaften des Philisters, während der Künstler für die aufgeklärte, liberale und humane Welt steht. Die Bürger dürsten nach einer Abwechslung im Leben, die ihre Sinne berührt und beneiden den Schöpfergeist darum, andersherum sehnt sich der Künstler, wie zum Beispiel Peter Camenzind, nach etwas Bürgerlichkeit, kann dies meist allerdings nicht mit seinem Künstlertum vereinen. Ähnlich geht es zu, wenn der Wanderer auf den sesshaften Bürger trifft, wie es in „Knulp“ der Fall ist. Der Philister lebt in seiner kleinbürgerlichen Welt und sieht einerseits mit Freuden auf den Wanderer, da ihm so die Genüsse des Abenteuers und der Ferne beschert werden, ohne das er sein geschütztes Heim verlassen muss. Andererseits grenzt er sich vom Wanderer ab, belächelt ihn oder stellt ihn gar als Taugenichts dar. Knulp sagt selbst: „Und dann ist irgendetwas in mir kaputt gegangen oder verpfuscht worden, und von da an habe ich eben nichts mehr getaugt.“ (Hesse 1990, 521) Zusätzlich stellt der Wanderer auch den Pfad der Menschwerdung bzw. Selbstfindung dar, da er ständig auf dem Weg zu sich selbst ist, so auch Goldmund. Ebendieser verkörpert ferner die Sinnlichkeit in Hesses Roman „Narziß und Goldmund“, während sein Gegenpol Narziß die Geistigkeit repräsentiert. Gleichfalls ist diese Opposition in „Siddhartha“ und „Steppenwolf“ zu finden. Siddhartha selbst schwankt auf dem Weg zu sich selbst zwischen Askese und Lüsternheit, während im „Steppenwolf“ Maria dem Protagonisten als Abbild der Sinnlichkeit gegenübersteht. Die Gegenpole Mann und Frau ziehen sich hier magisch an. Maria ergänzt in diesem Fall den fehlenden, nicht ausgelebten Teil Hallers. Allerdings vertritt die Frau in Hesses Werken nicht nur den lüsternen Gegenpart zur geistigen Männlichkeit, sondern auch die Mutter. So ist Goldmund stetig auf der Suche nach seiner Mutter, einer überpersönlichen Mutter, der All-Mutter. So erklärt er seinem sterbenden Freund Narziß: „Aber wie willst du denn einmal sterben, Narziß, wenn du doch keine Mutter hast? Ohne Mutter kann man nicht lieben. Ohne Mutter kann man nicht sterben.“ (Hesse 1993, 316)

Das führt mich zu einer weiteren Opposition die in den Werken Hermann Hesses oftmals Raum findet, nämlich die Pole Leben und Tod. Das Leben und der Tod bilden im Kreis des Lebens zweifellos eine untrennbare Einheit, kein Wunder also, dass diese Thematik auch in Hesses Werken eine gewichtige Rolle spielt. In den einzelnen Werken wird das Motiv des Todes oft mit anderen verwandten Problemen verknüpft, wie zum Beispiel Krankheit, Alter, Angst und Lebensuntüchtigkeit. Wobei der Tod nicht nur als Ende einer Lebensphase angesehen wird, sondern zugleich auch ein Neubeginn. Neben der Differenzierung mit Hilfe zugehöriger Motive des Todes wird ebenso in dem Typus des Todes unterschieden, wie Tod durch Altersschwäche oder Krankheit, aber ebenso durch Mord oder Selbstmord. Der Selbstmord Hans Giebenraths ist auf seine Lebensuntüchtigkeit zurückzuführen, die innerhalb der Erzählung durch seine ständige, sich steigernde Kränklichkeit vorbereitet wird und in nichts anderem als dem Tod enden kann. Hier bedeutet das Sterben ein Scheitern, ein Versagen die dritte Stufe der Menschwerdung, die Erlösung erreicht zu haben. In anderen Fällen bringt der Tod eine völlig konträre Bedeutung mit sich, wie beim Tod Joseph Knechts. Dieser hat letztendlich die Stufe der Erlösung erreicht und kann sich fallen lassen und mit einem bleibenden Eindruck auf seinen Schüler Tito sterben. Auch Klein lässt sich fallen, er gleitet ins Wasser und es wird deutlich, dass es indifferent ist, ob er stirbt oder lebt, denn er hat die höchste für ihn mögliche Stufe der Selbstfindung erreicht. Er hat die Grenzen von Raum und Zeit aufgehoben, das heißt Leben ist gleich Tod, Süden gleich Norden, Verbrecher gleich Bürger, alles bildet eine Einheit – im Leben wie im Tod. Im Gegensatz zu Klein, der zunächst Angst vor dem Tod verspürt, steht Siddhartha in einem höheren Verhältnis zum Tod. Bei ihm überwiegt das Abschiedsgefühl in der Erwartung einer kommenden Wandlung. Auch in „Knulp“ wird die Beziehung von Leben und Tod dargestellt. Knulp pflückt Blumen, obwohl er um ihr baldiges Vertrocknen weiß. Außerdem spricht er den Gedanken der Wiedergeburt an, als die Einheit von Leben und Tod.

Weil ich früh gestorben bin,

Drum singet mir, ihr Jüngferlein,

Ein Abschiedslied.

Wenn ich wiederkomm,

Wenn ich wiederkomm,

Bin ich ein schöner Knabe. (Hesse 1990, 476)

Besonders in Hermann Hesses Spätwerk tritt der Gegensatz von aktueller und idealer Welt auf. So baut er im Glasperlenspiel eine isolierte Welt des Geistes auf und zwar Kastalien. Diese geistige Welt wird der realen Welt als Fluchtpunkt aus dieser gegenübergestellt und offenbart vielmehr das innere als das äußere Geschehen. Auch in „Die Morgenlandfahrt“ erscheint die Welt eher märchenhaft als wirklich. Dies ist nicht unwillkürlich als Darstellungsform gewählt, da im Märchen der Widerspruch zwischen den so genannten Kontrasten, wie Künstlertum und Bürgertum, Leben und Tod, Heimat und Fremde, aufgehoben wird. Jedes Ereignis zieht eine Wandlung nach sich, so fließt alles ineinander und wird Eins.

3. Die bipolare Figurenstruktur im frühen Prosawerk

3.1 Oppositionen in „Unterm Rad“

Hermann Hesse bedient sich in seinen Werken immer wieder dem Motiv der Opposition, um das Weltbild der Einheit hinter den Gegensätzen zu erklären und so immer und immer wieder die Stufen der Menschwerdung zu vollziehen. Im nun Folgenden werde ich versuchen einzelne Gegensatzpaare die im Frühwerk Hesses vorkommen am Beispiel der Erzählung „Unterm Rad“ zu erläutern.

Zunächst ist zu sagen, dass zwar autobiographische Züge in dem 1906 veröffentlichtem Werk deutlich erkennbar sind, dennoch handelt es sich nicht um eine bloße Autobiographie. In der Entwicklung der Geschichte und in dem Entwurf der Figuren sind manche Umstellungen und manche dichterische Zugeständnisse zu erkennen, um subjektives in objektives Erleben zu verwandeln. So wird anfangs Hesses Calw zu Giebenraths „Schwarzwaldnest“ und der Leser wird in die pietistische Welt des alten Giebenrath eingeführt. Die idyllische Beschreibung der Gerbergasse in der Hans und sein Vater leben, steht im völligen Kontrast zum „Falken“, dem anderen Teil des Ortes, der nicht hell und sauber ist, sondern das totale Gegenteil. Allerdings wird die Welt des Lasters erst später und dann auch nur kurz eingeführt. Die Entgegensetzung der beiden Welten ist auch in anderen Werken Hesses zu finden, zum Beispiel in „Demian“.

„Herr Joseph Giebenrath, Zwischenhändler und Agent, zeichnete sich durch keinerlei Vorzüge oder Eigenheiten vor seinen Mitbürgern aus.“ (Hesse 1972, 7) Dieser Philister verliert durch diese einleitenden Worte völlig an Gewicht, er ist die Personifikation des Spießbürgers mit einem begrenzten Horizont, der in einem primitiven und geistlosen Umfeld lebt, in dem nur die Angepassten bestehen können. Durch diese satirische Umschreibung seiner Person durch den Erzähler versinkt Joseph Giebenrath in eine völlige Bedeutungslosigkeit. „Er hätte mit jedem beliebigen Nachbarn Namen und Wohnung vertauschen können, ohne daß irgendetwas anders geworden wäre.“ (Hesse 1972, 7) Hansens Vater ist also vertauschbar und steht sinnbildlich für das gesamte Kleinbürgertum und ihrem inneren Argwohn gegen alles was überlegen ist, wie das „Unalltägliche, Freiere, Feinere, Geistige“ (Hesse 1972, 8). Sein Sohn hingegen ist ein überaus gescheiter Junge und steht somit im völligen Kontrast zu seinem Vater, also dem Philistertum. Es wird von Anfang an deutlich, dass diese scheinbar zusammengehörigen Menschen, sind sie doch Vater und Sohn, sich gänzlich abstoßen. Ihre Polarität ist absolut unvereinbar und unproduktiv. Ihre Beziehung zueinander ist völlig fruchtlos, da Joseph Giebenrath seinem Sohn die Hilfe die er benötigt, um seinen Weg zur nächsten Stufen zu finden, nicht geben kann. Der Vater scheint zu den Menschen zu gehören, denen Hesse zuschreibt ewig im Urzustand oder auch auf der zweiten Stufe zu bleiben. Das heißt, dass sich diese Menschen dauernd in einem Zustand der Dämmerung befinden, aber ihnen ist jeder Zustand jenseits dessen unverständlich. Auch die Mutter von Hans, die bereits tot ist, hatte keinerlei besonderen Eigenheiten, die sie ihrem Sohn vererbt haben könnte. Durch Hans „war wirklich einmal der geheimnisvolle Funke von oben in das alte Nest gesprungen, das in seinen acht bis neun Jahrhunderten so viele tüchtige Bürger, aber noch nie ein Talent oder Genie hervorgebracht hatte.“ (Hesse 1972, 8) Folglich „war [Hansens] Zukunft bestimmt und festgelegt.“ (Hesse 1972, 9) Durch seine Begabung ist Hans von vorneherein ins Außenseitertum verbannt worden.

Die verschlafene Kleinstadt steht für intensive Frömmigkeit und Geschäftssinn, aber nicht für Genialität und Geistesgröße. Schon hier wird die Last die auf Hansens Schultern liegt deutlich, dies wird durch den Verlust der Mutter noch verstärkt, da ihm so der emotionale Schutz genommen wird, den er für seine Entwicklung benötigt hätte. Durch die Hinterwäldlichkeit des Ortes kommt der ausdrückliche Kontrast zur modernen Zivilisation hervor. Der Ort repräsentiert allerdings nicht nur die Abgewandtheit gegenüber technischem Fortschritt, sondern vor allen Dingen zeigt es in seiner Unverständigkeit den Gegensatz zur Geistigkeit. Es ist also nicht verwunderlich, dass der Junge mit der viel versprechenden Gabe sich zu einer lokalen Berühmtheit mausert. Von den Lehrern als zukünftiger Kandidat für das Landexamen entdeckt, wird ihm jedoch das kindliche Glück geraubt. Plötzlich ist es mit den Freuden der Verspieltheit vorbei, ihm werden sämtlichen Genüsse genommen, wie das Angeln. Er wird somit ein Opfer des pädagogischen Übereifers der Lehrer, des Rektors und des Stadtpfarrers, die ihm Nachhilfe geben, statt ihm die dringend benötigte Pause einzuräumen. Dies scheint zunächst aus menschlicher Freundlichkeit zu geschehen, beim genaueren Hinsehen wird jedoch klar, dass dies aus pädagogischem Fanatismus passiert.

[...]

Ende der Leseprobe aus 44 Seiten

Details

Titel
Die bipolare Figurenstruktur in Hermann Hesses Werken
Hochschule
Universität Rostock  (Germanistik)
Veranstaltung
Hermann Hesse
Note
2,3
Autor
Jahr
2006
Seiten
44
Katalognummer
V71390
ISBN (eBook)
9783638618632
ISBN (Buch)
9783638694858
Dateigröße
526 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Figurenstruktur, Hermann, Hesses, Werken, Hermann, Hesse
Arbeit zitieren
M.A. Virginie Vökler (Autor:in), 2006, Die bipolare Figurenstruktur in Hermann Hesses Werken, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/71390

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