Herausforderungen der Sozialstaatlichkeit in Europa


Bachelorarbeit, 2004

21 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Die EU als Mehrebenensystem
1. Der EuGH und die Europäische Kommission
2. Pfadabhängigkeit
3. spillovers
4. Nichtstaatliche Akteure
5. Sozialpolitische Integration
5.1. Die Einführung der Gliedstaaten als autonome Entscheidungsträger
5.2. Gemeinsame Entscheidungsprozesse, Politikverflechtungen und Dilemmata
5.3. Neue Strategien & Mittel

III. Der Sozialstaat in der Mehrebenenpolitik
1. Aktive Sozialpolitik
2. Negative Integration
2.1. Koordination und Freizügigkeit der Arbeitnehmer
3. Mittelbare Zwänge der Dienstleistungfreiheit

IV. Europäische Sozialstaatlichkeit unter globalem Druck

Literaturverzeichnis

I. Einleitung

Die Herausforderungen einer Sozialstaatlichkeit in Europa liegen einerseits in der mehrdimensionalen Vielfalt kultureller, sozialstaatlicher und gesellschaftlicher Systeme, die sich in einer Balance zueinander befinden, die im Zuge der europäischen Integration zur Europäischen Union ihr Gleichgewicht finden muss. Dabei haben wir eine aktuelle Situation, die durch immer tiefgreifendere und schnell aufeinander folgende strukturelle Veränderungen gekennzeichnet ist. Die zum ersten Mai 2004 offiziell gewordene Erweiterung der Europäischen Union um zehn Staaten stellt eine Herausforderung der Sozialstaatlichkeit in Europa dar, die Analysen und Theorien einer bisherigen Sozialpolitik (im Kontext der Europäischen Union) ebenso neu herausfordert wie die vollzogene Währungsunion, mit der die beteiligten Staaten die Steurerungsmöglichkeit einer Wechselkursanpassung verloren haben.[1] Man kann davon ausgehen, dass neue Mitgliedstaaten aus dem ehemaligen Ostblock nicht in dem Maße sozialwissenschaftlich untersucht sind wie Deutschland, Frankreich usw. und von daher auch einen entsprechenden Stellenwert in der wissenschaftlichen Diskussion einnehmen werden. Das bis dahin gültige Spektrum unterschiedlicher Löhne innerhalb der Europäischen Union ist nur ein strukturelles Element von denen, welche die Eckpunkte sozialwissenschaftlicher Diskussionen bilden, welches sich stark verändern hat. Es liegt an den tragenden Institutionen der EU selbst, mit ihrer neuen, mächtigeren Rolle durch die Erweiterung so zu wirken, dass Balancen weiter gefunden werden können. Schon vor der Erweiterung wurde bei bereits fortgeschrittener wirtschaftlicher Integration ein neues Gleichgewicht zwischen europäischer Integration und nationaler Differenzierung gefordert.[2] Mit dem Verfassungsentwurf für Europa des Europäischen Konvents vom 18. Juli 2003 ist ein erster Schritt in eine Richtung getan, der einer europäischen Ebene als wirklicher Macht eine Chance gibt.

Andererseits, und damit soll sich diese Arbeit in erster Linie beschäftigen, muss unterschieden werden zwischen Herausforderungen der Sozialstaatlichkeit in Europa auf nationaler Ebene und auf europäischer Ebene. So rücken Zusammenhänge zwischen europäischer Integration, innerstaatlichem und gesellschaftlichem Wandel in den Focus der Wissenschaften.[3] Das nach dem Vertrag von Maastricht wiedererwachte Interesse der sozialwissenschaftlichen Europa-forschung hat der Komplexität der Thematik entsprechend gerade unkonventionelle Perspektiven auf das „ objet politique non- identifie[4] hervorgebracht. So entwickelte sich eine Soziologie der europäischen Integration, die spezifische institutionelle Faktoren wie beispielsweise formale Entscheidungsregeln, rechtliche Strukturen oder kognitive Ordnungs-vorstellungen als unabhängige Variablen konstruiert und in dieser Annahme einer unab-hängigen Strukturierungswirkung von Institutionen auf soziales Verhalten Anschluss an die Traditionen der klassischen Soziologie hält.[5] Als einer der wichtigsten Beiträge aus dem Forschungsprogramm des soziologischen Institutionalismus auf dem Gebiet der Europa-forschung gilt zweifellos der von Pierson und Leibfried, der im ersten Teil der Arbeit vorgestellt wird. Daran anschliessend wird die Rolle der Mitgliedstaaten in der europäischen Mehrebenenpolitik dargestellt, bevor ein Blick auf Europa unter globalen Bedingungen den Schlusspunkt setzt.

II. DIE EU ALS MEHREBENENSYSTEM

Pierson und Leibfried analysieren die Europäische Union als ein Mehrebenen – System, in das europäische Sozialpolitik eingebettet ist.[6] Sie grenzen dieses Mehrebenen – Verständnis immer wieder zu einer intergouvernementalistischen Sichtweise ab, welche die EU eher noch als Bündnis von Staaten betrachtet, ohne eine eigenständige Ebene. Das sei mit dem beschleu-nigten Integrationsprozess seit der EEA 1987 nicht mehr der Fall, vielmehr trage die EU immer mehr Merkmale einer supranationalen Einrichtung mit einer zentralen, eigenständigen Ebene in einem Mehrebenensystem staatlichen Handelns. Diese Ebene sei noch schwach entwickelt, doch schon so weit, dass sie bei wissenschaftlichen Arbeiten zu nationalen Sozial-politiken inzwischen systematisch berücksichtigt werden müsse. Man gibt zu, dass die „Soziale Dimension“ noch in den Anfängen steckt und lenkt ein Verständnis von Sozialpolitik mit der Definition von T.H. Marshall in breitere Bahnen.[7] So sei zum Beispiel Umverteilungs-politik auf EU – Ebene ein Zeichen dafür, dass das soziale Europa bereits heute existiert. Die Autoren sehen Ähnlichkeiten der EU zu anderen Mehrebenensystemen wie den USA, Kanada oder der BRD. Interessant an dieser Stelle wäre darauf hinzuweisen, dass diese Systeme nicht nur ihrer institutionellen Struktur nach ähnlich sind, sondern sich auch in ihrer politischen und gesellschaftlichen Kultur ähneln. Das zu vertiefen dürfte jedoch in eine andere Diskussion führen, der Begriff „Ähnlichkeit“ ist hier vielleicht in zweierlei Hinsicht treffend. Die Auto-ren sehen jedenfalls einen Zusammenhang zwischen Entscheidungsprozessen in Mehr-ebenensystemen und den Folgen für Sozialpolitik. Es entstünden „eigentümliche Zwänge und Beschränkungen für die Herausbildung von Sozialpolitik“.[8] Das hätte mit der Bedeutung von politischen Institutionen bei Politikentwicklung zu tun, was auch das wieder gestiegene Inter-esse der Wissenschaften an selbigen beweise. Die EU wird dabei als „Ergebnis eines überaus bewussten und planvollen Aufbaus von Institutionen“[9] beschrieben, die in wachsender wech-selseitiger Abhängigkeit zueinander existieren. Europäisches Recht sei mittlerweile entschei-dend in den Bereichen Landwirtschaft, Umweltschutz und Industriepolitik. Die Rolle der Mit-gliedstaaten interpretieren PL dahingehend, dass ihr Einfluss zunehmend durch die Einbin-dung in ein „dichtes und komplexes Institutionennetz“[10] eingegrenzt wird und beschreiben, wie diese in der EU aus ihrer institutionellen Sicht positioniert sind. Demnach seien die Inte-ressen der Mitgliedstaaten zwar immernoch „der Schlüssel für eine Erklärung der politischen Ergebnisse der Europäischen Integration“[11], begründet durch ihren enormen Einfluss, den sie innerhalb der EU immernoch haben, sähen sich in ihrer Macht aber dennoch in zunehmendem Maße durch die EU auch eingeschränkt. Das Subsidiaritätsprinzip unterstütze zwar die Kom-petenzen der Mitgliedstaaten, lasse der EU aber hinreichend Spielraum, um eigene Kompe-tenzen zu entwickeln.[12] Diese habe weitreichende Interventionsbefugnisse, wenn es um die Verwirklichung des Binnenmarktes geht. PL zitieren an dieser Stelle Fritz W. Scharpf:“...es wird kaum irgendeinen Politikbereich geben, für den sich ein Bezug zur freien Mobilität von Gütern, Personen, Dienstleistungen und Kapital nicht plausibel machen ließe – und damit zu den grundlegenden Zielen der Europäischen Union.“[13] Die Macht der Mitgliedstaaten relati-viere sich weiterhin durch die EEA und das Sozialprotokoll, die in bestimmten Bereichen das bis dahin gültige Einstimmigkeitsverfahren durch qualifizierte Mehrheitsabstimmung erset-zen, was eine „Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners“[14] nicht mehr so leicht möglich macht. Dass die „konstituierenden Einheiten“[15], d.h. im Falle der EU die Mitgliedstaaten, bestimmte Kontrollgrenzen haben, erklären PL anhand von vier Argumenten, wonach die EU ein einflussreicher Akteur bei der Entwicklung von Sozialpolitik sei.

1. Der EuGH und die Europäische Kommission

Die meiste Bedeutung messen PL dabei augenscheinlich der Europäischen Kommission und dem Europäischen Gerichtshof bei, denen sie eine autonome politische Kompetenz beschei-nigen.[16] Die Kommission habe das Initiativrecht, könne Gesetzesvorschläge bei unerwünsch-tem Verhandlungsgang zurückziehen und erhielte zusätzlich Macht durch ihre Prozess-steuerungsfunktion. Ross schreibt, dass die Kommission aber auch gewisse unternehmerische Fähigkeiten in ihre Rolle miteinbringen sollte, um erfolgreich arbeiten zu können. Eben diese haben nämlich die Kommission unter Jaques Delors ausgezeichnet, die mit sogenannten „Russischen Puppen“ Erfolge erzielte.[17] Der EuGH habe eine aktive, vorwärtstreibende Rolle im Prozess der europäischen Integration, weil er Fälle entscheiden muss und nicht ausweichen könne. PL nennen das „rechtspolitischen Aktivismus“[18]. Die Abstimmung bleibe geheim, die Richter seien geschützt und durch eine „gemeinsame Rechtskultur und die Überzeugung, eine gemeinsame Aufgabe bewältigen zu wollen“[19] vereint. Ein Großteil europäischer Integration sei eine Integration durch Recht, so auch in der Sozialpolitik. Wolfgang Streeck hingegen kritisiert den EuGH, indem er ihm ideologische Vorstellungen über europäische Bürgerrechte für eine europäische Gesellschaft, die den Realitäten nicht entsprächen, vorwirft.[20]

2. Pfadabhängigkeit

Nationale Regierungen seien dahingehend eingeschränkt, daß sie dem acquis communautaire verpflichtet sind, d.h. der Gesamtheit aller Vertraglichkeiten auf europäischer Ebene. Einer-seits hätten sich gesellschaftliche Akteure an eingeführte Politiken angepasst, und andererseits würden Einstimmigkeits- bzw. Fast–Einstimmigkeitsverfahren Revisionen erschweren.

[...]


[1] Vgl. Habermas, S.7

[2] Vgl. Schäfers, S.146

[3] Vgl. Brusis, S.283

[4] Bezeichnung stammt von Jaques Delors, Vgl. Bach, S.53

[5] Vgl. Bach, S.57

[6] Vgl. Streeck, S.397

[7] T.H. Marshall: „...Funktionsweisen des ökonomischen Systems zu ergänzen, zu modifizieren oder abzulösen und so Ergebnisse zu bewirken, die das ökonomische System aus sich selbst heraus nicht erreichen würde.“ – bei: PL, S.13

[8] Pierson, Paul – Leibfried, Stephan: Mehrebenenpolitik und die Entwicklung des Sozialen Europa. – in: Leibfried, Stephan – Pierson, Paul(Hrsg): Standort Europa. Sozialpolitik zwischen Nationalstaat und Europäischer Integration, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main, 1998, S.15

[9] Pierson, Paul – Leibfried, Stephan: Mehrebenenpolitik und die Entwicklung des Sozialen Europa. – in: Leibfried, Stephan – Pierson, Paul(Hrsg): Standort Europa. Sozialpolitik zwischen Nationalstaat und Europäischer Integration, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main, 1998, S.16

[10] PL, S.16

[11] PL, S.17

[12] Der Vertragsentwurf des Europäischen Konvents für eine Verfassung für Europa enthält ein „Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit“, das regelt wie diese Grundsätze angewendet werden. Vgl. Läufer, Thomas(Hrsg.): Verfassung für Europa. Vertragsentwurf des Europäischen Konvents: Europa Union Verlag, Bonn: 2004, S.194-195

[13] PL, S.17

[14] PL, S.18

[15] PL, S.19

[16] Vgl. PL, S.20 ff.

[17] Vgl. Ross, S.328

[18] PL, S.21

[19] PL, S.22

[20] Vgl. Streeck, S.396

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Herausforderungen der Sozialstaatlichkeit in Europa
Hochschule
Universität Regensburg
Note
1,3
Autor
Jahr
2004
Seiten
21
Katalognummer
V71430
ISBN (eBook)
9783638631815
ISBN (Buch)
9783638754903
Dateigröße
461 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Herausforderungen, Sozialstaatlichkeit, Europa
Arbeit zitieren
Jan Fischer (Autor:in), 2004, Herausforderungen der Sozialstaatlichkeit in Europa, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/71430

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