Der Bildungsbegriff der Kritischen Theorie


Hausarbeit (Hauptseminar), 2006

23 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Dialektik der Aufklärung

III. Theorie der Halbbildung und Erziehung nach Auschwitz

IV. Der kritische Bildungsbegriff bei Horkheimer

V. Der kritische Bildungsbegriff als Bedingung für die Verunmöglichung einer Wiederholung von Auschwitz

VI. Fazit

VII. Literaturverzeichnis

I. Einleitung

In der vorliegenden Arbeit soll dargestellt werden, inwiefern nach Theodor W. Adorno ein kritischer Bildungsbegriff unhintergehbar mit der Forderung verbunden ist, dass sich ein Ereignis wie das von Auschwitz1 nicht wiederholt.

Dazu soll zunächst das Bildungsverständnis der Kritischen Theorie erschlossen werden, indem die Antworten der Kritischen Theorie zu Fragen der Erziehung und Bildung skizziert werden.

Um diese - teils divergierenden - Positionen systematisieren zu können, werden die für Bildungsfragen wichtigsten Werke der Kritischen Theorie chronologisch und damit kontextbezogen erörtert.

Den Ausgangspunkt wird dabei die im zweiten Abschnitt folgende Darstellung der zentralen Elemente der „Dialektik der Aufklärung“ bilden, die die immer wiederkehrenden Grundgedanken der Kritischen Theorie enthält.

Ähnlich wie die „Dialektik der Aufklärung“, rechtfertigt auch die „Theorie der Halbbil- dung“ noch nicht den emanzipatorischen Anspruch Adornos, den er mit seiner Forderung nach einer Verunmöglichung eines zukünftigen Auschwitz’ durch Bildung und Erziehung in seiner „Erziehung nach Auschwitz“ formuliert. Jedoch trägt die der „Theorie der Halbbildung“ zugrunde liegende „negative Seite“ der Bildung insofern zu einer Explika- tion des Bildungsverständnisses der Kritischen Theorie bei, als dass sie zeigt, wie Bildung in ihrem Sinne nicht sein sollte. Durch eine Schilderung des spezifischen Kontexts der „Erziehung nach Auschwitz“ soll der dritte Teil der Arbeit, „Theorie der Halbbildung und Erziehung nach Auschwitz“, aber ebenso dazu überleiten, die Begründung für die „posi- tive Seite“ des Bildungsverständnisses der Kritischen Theorie sichtbar machen zu können. In diesem Sinne wird sich die „Erziehung nach Auschwitz“ als pädagogische Antwort auf die „Theorie der Halbbildung“ herausstellen.

Welche Inhalte ein kritisches Bildungsverständnis mit sich bringen muss, zeigt der anschließende vierte Abschnitt: „Der kritische Bildungsbegriff bei Horkheimer“.

Mit diesem Fundament soll im fünften Abschnitt, dem Hauptteil der Arbeit, „Der Kritische Bildungsbegriff als Bedingung für die Verunmöglichung einer Wiederholung von Auschwitz“ dargestellt werden. Dabei wird Adornos „Erziehung nach Auschwitz“ unter Rückgriff auf den kritischen Bildungsbegriff bei Horkheimer analysiert.

Im sechsten und letzten Abschnitt wird in einem „Fazit“ zusammenfassend der Stellenwert des kritischen Bildungsbegriffs für Adornos Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, dargestellt.

II. Dialektik der Aufklärung

Theodor W. Adorno (1903-1969) gilt als einer der bedeutendsten Philosophen und Soziologen des 20. Jahrhunderts. Die Hauptwerke des führenden Vertreters der Kritischen Theorie, die mit Max Horkheimer (1895-1973) veröffentlichte „Dialektik der Aufklärung“ (1947) und seine „Negative Dialektik“ (1966), markieren eine fundamentale Kultur- und Vernunftkritik, die immer wieder als resignative und hoffnungslose Seite der Kritischen Theorie bezeichnet wird (vgl. MESETH 2000, S. 21).

Nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus sieht Adorno alle Erwartungen, die mit der Aufklärung einmal verknüpft gewesen waren, radikal in Frage gestellt. Auschwitz bezeugt für ihn das Scheitern der Aufklärung und jeglicher von ihr hervorgebrachten Kultur, weil die Katastrophe gezeigt habe, dass in allen kulturellen Hervorbringungen der Aufklärung, wie bspw. der Philosophie, Kunst oder Wissenschaft, die Barbarei selbst angelegt sei (vgl. ebd.).

Die vielleicht entscheidende Frage der Pädagogik seit der Aufklärung besteht darin, ob der Mensch zur Vernunft erziehbar ist. Ähnlich wird diese Fragestellung auch von der Kritischen Theorie aufgenommen, die Vernunft an ihren Geltungsbereichen des Wahren, des Richtigen und des Schönen untersucht. In der pädagogischen Theoriebildung existiert ein Begriff für die Fähigkeit des Menschen, das Wahre zu erkennen, das Richtige zu tun und das Schöne zu leben: der Begriff der Bildung (vgl. KELLE 1992, S. 39).

Horkheimer und Adorno rekonstruieren in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ die Geschichte der Menschheit als Geschichte der Aufklärung, also der Vernunft, die sich nicht - wie im Programm der Aufklärung angenommen - widerspruchsfrei entfaltet, sondern sich im Laufe der Geschichte destruktiv gegen sich und damit gegen die Menschheit richtet. Dabei verkannte die Aufklärung die Doppelsinnigkeit des Begriffs der Vernunft, da sie lediglich als die Fähigkeit des Menschen galt, sich von den Fesseln der Natur befreien und emanzipieren zu können. Gleichzeitig bildet die Vernunft aber auch die „[…] Instanz des kalkulierenden Denkens, das die Welt für die Zwecke der Selbsterhaltung zurichtet und keine anderen Funktionen kennt als die Präparierung des Gegenstandes aus bloßem Sinnmaterial zum Material der Unterjochung“ (ADORNO/HORKHEIMER 2004, S. 90). Die Vernunft wird eingesetzt zur Rationalisierung des Menschen und zur Verbesserung der menschlichen Verhältnisse. Dies gelingt ihr, indem sie Technik und Wissenschaft, welche sie entwickelt, in den Dienst der Befreiung des Menschen nimmt. Jedoch verselbständigt sich die Rationalisierung, deren Tendenz unaufhaltsam ist. Es entsteht die instrumentelle Vernunft, die sich selbst reduziert auf rationales und rein pragmatisches Denken, das keine sittlichen Wertsetzungen zulässt. Dieses verselbständigte Instrument wendet sich nun gegen seinen eigenen Schöpfer, den Menschen, und macht ihn selbst zu seinem Gegen- stand. Damit ist eine neue Unfreiheit entstanden, Wissenschaft und Technik sind zum Mythos geworden, dem sich die Menschheit unterwirft (vgl. NICOLIN 1974, S. 27f.).

Im Prozess der Selbsterhaltung wandelt sich also das Herrschaftsverhältnis über die Natur in ein Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen, wobei der Mensch als vernünftiges Wesen immer auch ein Teil der Natur bleibt. Damit ist er immer Herrscher und Beherrschter zugleich. Wenn er die Natur unmittelbar zum Zweck der Selbsterhaltung instrumentalisiert, herrscht er über sie. Beherrscht wird er, wenn der Mensch durch andere Menschen selbst zum Objekt von Herrschaft gemacht wird, also zum Mittel der Selbst- erhaltung anderer degradiert wird. Diese „Perversion der Vernunft zum Instrument von Herrschaft“ (PEUKERT 1996, S. 133) wird von Auschwitz bezeugt. So verfehlte Aufklä- rung ihr Ziel radikal und schlug um in ihr Gegenteil, die Barbarei (vgl. ADORNO/ HORKHEIMER 2004, S. 17).

Vor dem Hintergrund dieser radikalen Kritik am Programm der Aufklärung lässt sich offenbar keine Pädagogik begründen. Durch solch eine Perspektive der Aufklärung scheinen die Grundlagen der Pädagogik massiv gefährdet. Dieses Spannungsfeld zwischen der prinzipiell optimistischen Denkfigur neuzeitlicher Pädagogik und der resignativen kultur- und vernunftkritischen Perspektive der Kritischen Theorie stellt die zentrale Konfliktlinie im Rahmen der erziehungswissenschaftlichen Debatte über das Verhältnis von Kritischer Theorie und Pädagogik dar (vgl. MESETH 2000, S. 22), die auf breiter Basis erst nach 1965 begann (vgl. PÖGGELER 1987 , S. 55) und die Theorien Adornos sogar erst zu Beginn der 1980er Jahre rezipierte (vgl. KELLE 1992, S. 45).

III. Theorie der Halbbildung und Erziehung nach Auschwitz

Die wichtigsten Äußerungen Adornos zu Fragen der Erziehung, Bildung und Pädagogik finden sich in seiner „Theorie der Halbbildung“ (1959) und in seinen Rundfunkbeiträgen zur „Erziehung zur Mündigkeit“ (1959-1969), die den dieser Arbeit zugrunde liegenden Text „Erziehung nach Auschwitz“ (1966) einschließen.

Auch in der „Theorie der Halbbildung“ wird davon ausgegangen, dass sich die Gefahr einer weiteren Barbarisierung vergrößert hat - obwohl das Bewusstsein der Gefährdung unserer Lebenswelt gestiegen ist und sich viele Gegenbewegungen gebildet haben (vgl. GROOTHOFF 1987, S. 71). Mit dem Lebensstandard wachse der Bildungsanspruch als der Wunsch danach, zu einer Oberschicht zugehörig zu sein, von der man sich ohnehin subjektiv immer weniger unterscheide. Viele Schichten würden als Antwort hierauf ermutigt, Bildung für sich zu beanspruchen, die sie nicht hätten. Vor allem Angestellte zeichneten sich durch solche Prätentionen aus, doch sei tendenziell solche Halbbildung die herrschende Form gegenwärtigen Bewusstseins. Als wesentlichen Grund für die Ent- wicklung von Herrschaft und Halbbildung sieht Adorno den neuen Fetischcharakter der Ware, darunter auch die klassische Musik und die klassische Literatur. Dieser spiegele sich darin wider, dass ernste Musik für Radiohörer zu Unterhaltungsmusik und Bücher zu einer geschichtslosen und gegen geschichtliche Katastrophen unempfindlichen Welt würden (vgl. ebd., S. 72). Damit konstatiert Adorno eine Bildungskrise, „[…] die nicht bloß von einer pädagogischen Ebene aus verstanden werden kann, sondern aus gesellschaftlichen Bewegungsgesetzen“ (FRIESENHAHN 1985, S. 145).

Bei der Halbbildung, vor der niemand voll und ganz geschützt ist, handelt es sich also nicht etwa um eine halbe Form vollkommener Bildung. Halbbildung als neue Form der Barbarei ist nach Adorno der Todfeind der Bildung (vgl. ebd.), die Sphäre des Ressentiments schlechthin. Sie mache unansprechbar für Reflexion und Kritik des eigenen wie des gesellschaftlichen Lebens - für die Wahrheit überhaupt. Halbbildung korres- pondiere einer konformistischen oder gar kollektivistischen Massenkultur, die keinerlei Ansprüche an Selbstbildung und Mitverantwortung stelle (vgl. GROOTHOFF 1984, S. 72).

Adorno sieht dabei den Verfall der Bildung zur Halbbildung und das Umschlagen von Kultur in Massenkultur in der überlieferten Bildung und Kultur selbst begründet, denn Kultur sei lediglich eine für den Augenblick geglückte Balance, nicht aber eine Versöhnung des herrschenden Antagonismus der Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit gewesen. Adorno orientiert sich am humanistischem Bildungsideal: „Bildung ist nichts anderes als Kultur nach der Seite ihrer subjektiven Zueignung“ (ADORNO 1962, S. 169). Er diagnostiziert jedoch eine starke Diskrepanz zwischen Gesellschaft und Indivi- duum, da Kultur ein massenhaft produziertes Konsumgut geworden sei, das für jeden durch die technischen Medien greifbar werde. Im Verständnis der Kritischen Theorie ist die Kultur demnach bedroht (vgl. FRIESENHAHN 1985, S. 145). Die Bildung, wie sie zwischen 1790 und 1830 verstanden worden ist, sei zwar eine neue mit dem Gedanken der Autonomie verknüpfte Form menschlicher Verwirklichung gewesen, doch hatte sie keine neue politische Praxis zur Folge und ist „[…] zur sozialisierten Halbbildung geworden, der Allgegenwart des entfremdeten Geistes“ (ADORNO 1962, S. 168). Daher war sie widerspruchsvoll zum Verfall in Halbbildung prädestiniert. Zur Kritik der Halbbildung gebe es aber keine andere Form, als sich der überlieferten Bildung zu erinnern (vgl. GROOTHOFF 1984, S. 72f.).

Im Sinne eines dialektischen Verständnisses entwirft Adorno hier eine pädagogisch kaum operationalisierbare Begrifflichkeit von Bildung, deren Gestalt zwar formuliert (Kultur nach der Seite ihrer subjektiven Zueignung), ihr Erwerb durch stures Lernen und ihre Messung anhand fester Formen aber unmöglich ist: „Denn Bildung ist eben das, wofür es keine richtigen Bräuche gibt“ (ADORNO 1979, zit. n. FRIESENHAHN 1985, S. 146). Insofern zielt Adornos „Definition“ nicht auf Anstrengung, sondern auf die Aufge- schlossenheit und Fähigkeit, „[…] überhaupt etwas ins eigene Bewußtsein aufzunehmen, […]“ (ebd.).

Auch weil Adorno Bildung einer kleinen Gruppe vorbehält, stellt sich die Frage, ob in diesem Verständnis Bildung überhaupt noch einen emanzipatorischen Anspruch hat (vgl. FRIESENHAHN 1985, S. 149), der schließlich grundlegend ist für Horkheimers „Begriff der Bildung“ und Adornos „Erziehung zur Mündigkeit“, wie sich in den folgenden Abschnitten der Arbeit noch genauer zeigen wird. Aufgrund dieser pädagogischen Fragwürdigkeiten und der damit verbundenen pessimistischen Perspektive sind Adornos Äußerungen zur Bildung und Erziehung zwar nicht gleichzusetzen - auch weil mit seinen Schriften häufig sehr unterschiedliche Intentionen verfolgt werden -, doch ebenso sind seine Theorien auch nicht isoliert zu betrachten. Dort, wo sich zentrale Kennzeichen seiner Theorien auf die pädagogischen Fragestellungen der „Erziehung nach Auschwitz“ übertragen lassen2, wird auf diese zurückgegriffen, um das dem Vortrag zugrunde liegende kritische Bildungsverständnis systematisch erschließen zu können. Eine pädagogisch handhabbare Auseinandersetzung kann dort geschehen, weil Adornos „Erziehung nach Auschwitz“ pädagogisch motiviert ist und in einem anderen Kontext steht als seine übrigen Theorien.

In seinen Vorträgen zur „Erziehung zur Mündigkeit“ macht Adorno deutlich, wie man der Halbbildung entgegenwirken kann. Mit einem dieser Vorträge, der „Erziehung nach Auschwitz“, verfasste Adorno entgegen seiner Kultur- und Vernunftkritik einen pädago- gisch ausgerichteten Text, dessen Begründung sich durch die spezifische Entstehungs- geschichte des Aufsatzes erschließt. Gehalten wurde der Vortrag im Rahmen der Sendereihe „Bildungsfragen der Gegenwart“ des Hessischen Rundfunks, an der sich Adorno von 1959-1969 kontinuierlich beteiligte. Der Aufsatz entstand im Rahmen seiner Arbeit am Institut für Sozialforschung, das am Neuaufbau der politischen Bildung des Erziehungs- und Bildungswesens ebenso beteiligt war wie an den bildungspolitischen Reformanstrengungen der 1960er Jahre. So lässt sich der Vortrag als Produkt des Pädago- gisierungsdiskurses verstehen, in den Adorno im Rahmen seiner Tätigkeit involviert gewesen ist. Ein wichtiger Anlass für diese Bemühungen Adornos war sein Entsetzen darüber, dass so etwas wie Auschwitz möglich war und diese Vergangenheit kaum oder gar nicht aufgearbeitet wurde (vgl. GROOTHOFF 1987, S. 70).

Zum Zwecke der gesellschaftlichen Aufklärung richtete sich der Rundfunkvortrag sich an eine breite Öffentlichkeit. Daher schränkte sich Adorno inhaltlich und formal ein, um einen einfach lesbaren Text zu verfassen, der sich von seinen sonstigen Arbeiten zwangsläufig unterscheidet (vgl. MESETH 2000, S. 22f.).

[...]


1 In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff Auschwitz im Sinne Adornos als Synonym für den Massenmord an den Juden gebraucht. Eine differenzierte Darstellung der Begriffsproblematik findet sich bei HEYL, Matthias: Erziehung nach Auschwitz. Eine Bestandsaufnahme: Deutschland, Niederlande, Israel, USA. Hamburg: S. Krämer 1997.

2 Dies wird vor allem durch stellenweise Rückgriffe auf die „Theorie der Halbbildung“ und die „Dialektik der Aufklärung“ geschehen.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Der Bildungsbegriff der Kritischen Theorie
Hochschule
Technische Universität Dortmund
Veranstaltung
Erziehung nach Auschwitz
Note
1,3
Autor
Jahr
2006
Seiten
23
Katalognummer
V71795
ISBN (eBook)
9783638726450
ISBN (Buch)
9783638736060
Dateigröße
462 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bildungsbegriff, Kritischen, Theorie, Erziehung, Auschwitz
Arbeit zitieren
Robert Lachner (Autor:in), 2006, Der Bildungsbegriff der Kritischen Theorie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/71795

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