Lessing und die französische klassizistische Tragödie


Hausarbeit (Hauptseminar), 2007

23 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Lessing und seine Zeit

3. Lessings Theorie

4. Corneilles Theorie

5. Kritikpunkte Lessings an der französischen klassizistischen Tragödie im Allgemeinen und an Corneille im Besonderen
5.1 die Affekte
5.2 die Reinigung der Leidenschaften
5.3 der Held
5.4 die drei Einheiten

6. Schluss

7. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Meine nun folgende Arbeit hat das Verhältnis Lessings zur französisch klassizistischen Tragödie, im Besonderen zu Corneille, zum Thema. Vor allem mit Bezug auf Aristoteles übte Lessing scharfe Kritik an Corneille. Ich möchte zunächst den Kontext beider Autoren erläutern und die jeweilige Dramentheorie in groben Zügen umreißen. Mein Augenmerk liegt dabei auf Lessing, der im Mittelpunkt dieser Darstellung steht. Danach werde ich im Einzelnen auf die Kritikpunkte Lessings eingehen. Dabei beschäftigen mich auch die Fragen, inwieweit Lessing ‚Recht hat’ mit seinen Vorwürfen, beziehungsweise einen Schritt weiter gedacht, ob diese Frage überhaupt legitim oder zu beantworten ist. Oder auch ob es gar notwendig ist, eine Antwort zu finden, das heißt, ob es nicht vielmehr kritisch zu beurteilen ist, sich einem Vorbild so sehr zu verschreiben, das es als alleiniger ästhetischer Maßstab für die ‚wahre’ Tragödie gilt.

Letztlich noch eine wichtige Begriffsklärung, die ich der Hausarbeit voranstellen möchte, nämlich die Unterscheidung von ‚Klassik’ und ‚Klassizismus’. Literaturwissenschaftlich gesehen bezeichnet die Klassik die Epoche eines Landes, in der das literarische Schaffen als mustergültig und normbildend angesehen wird. Der Klassizismus hingegen ist „jeder antikisierende Kunststil[…], der durch Überwiegen der rezeptiven, mehr epigonalen Einstellung über die produktive von der Klassik selbst geschieden wird.“[1] Das Besondere ist, dass beide im Frankreich des 17.Jahrhunderts zusammenfallen. Es findet sowohl eine starke Orientierung an der Antike, vor allem an Aristoteles, statt, als auch das Herausbilden eines „solche[n] Maß[es] an Vollkommenheit und Eigenständigkeit […], daß […] selbst wiederum späteren Generationen als Modell dienen kann.“[2] Da es in meiner Arbeit vorwiegend um den Aspekt des Bezugs auf die antiken Vorbilder geht, werde ich von dem ‚französischen Klassizismus’ sprechen.

2. Lessing und seine Zeit

Gotthold Ephraim Lessing lebte von 1729 – 1781. Er entstammt einem protestantischen Pfarrhaus und so war auch seine Schulbildung auf das Amt des Pfarrers hin ausgerichtet. Dementsprechend beschäftigte er sich überwiegend mit den alten Sprachen (Latein, Griechisch, Hebräisch) und nur kaum mit zeitgenössischer Literatur. Dennoch begann er bereits während seiner Zeit an der Fürstenschule St. Afra in Meißen mit ersten schriftstellerischen Tätigkeiten, allen voran mit dem Rezensieren. Hierfür nutzt er die dialogische Form, in der der Leser direkt angesprochen und miteinbezogen wird, meist in polemischer Form. Dies wird für Lessing charakteristisch bleiben, was wir an den späteren Kritikpunkten am französischen Theater sehen werden.

Neben der Literaturkritik wird auch das Theater zu seiner Leidenschaft. Eines seiner größten Verdienste ist dabei die Entwicklung des so genannten Bürgerlichen Trauerspiels, als erstes „Miss Sara Sampson“, das 1755 uraufgeführt wurde. Damit hat er die bis dahin bestehenden Gattungsgrenzen aufgebrochen und Bürgerliche als Protagonisten der Tragödie gewählt. Auch damit zeichnet er sich als einer der wichtigsten Vertreter seiner Zeit, der Aufklärung, aus. Doch wovon war diese Zeit des Umbruchs geprägt?

Das ‚Deutschland’ (damals ein Konglomerat von Herzog-und Fürstentümern) seiner Zeit hatte vor allem mit der verheerenden Wirkung des Dreißigjährigen Krieges (1618-48) und der territorialen Zersplitterung zu kämpfen. So konnte von einer Einheit nicht gesprochen werden. Jedes Fürstentum hatte seine eigenen Gesetze und Verordnungen. „Einzige[r] hauchdünne[r] und schwache[r] Träger der Einheit [waren] Sprache und Literatur.“[3] Es gab jedoch den Ruf nach nationaler Einheit und der ging von der erstarkenden bürgerlichen Schicht aus, die zunehmend ein gemeinsames Bewusstsein entwickelte und ihre Emanzipation anstrebte:

Das deutsche Bürgertum erkannte, daß es als Klasse auch besondere, innere Probleme, besondere eigenen Klasseninteressen hatte, die jeder einzelne Angehörige dieser Klasse Tag für Tag verletzt fühlte, die nun durch die Öffentlichkeit der Bühne dem Publikum als die Interessen einer Klasse, einer Gemeinschaft erschienen.[4]

Aus diesem Klassenbewusstsein entsprang die Abgrenzung gegenüber der herrschenden Aristokratie und das sich daraus ergebende Spannungsverhältnis; die Stärken und Schwächen beider Klassen machte Lessing zu einem wichtigen Thema seiner Dramen.[5] Doch bis es zu diesem entscheidenden Schritt, einer Umfunktionierung der Literatur zu bürgerlich-aufklärerischen Modellen, kommen sollte, war es ein weiter Weg für Lessing, der ihn über die Ablehnung des bisherigen Vorbilds, der französischen klassizistischen Tragödie, führte.

Diese Sicht Lessings war Resultat eines Prozesses, den ich nun in einer Erläuterung der lessingschen Theorie kurz darstellen möchte.

3. Lessings Theorie

Lessing ist in eine Zeit hineingeboren, die stark geprägt war von dem Literaturkritiker und

Dichter Gottsched. Drei Jahre nach Lessings Geburt und gut 20 Jahre vor seinem ersten Bürgerlichen Trauerspiel konstatierte Gottsched über die Lage des Theaters in Deutschland:

[…] so war doch in meinem Vaterlande keine Gelegenheit, eine Komödie oder Tragödie spielen zu sehen […]. Ich mußte mir also diese Lust vergehen lassen, bis ich im Jahre 1724 nach Leipzig kam und daselbst Gelegenheit fand, die privilegierteren dresdnerischen Hofkomödianten spielen zu sehen […] allein ich ward auch die große Verwirrung bald gewahr, darin diese Schaubühne steckte. Lauter schwülstige und mit Harlekinlustbarkeiten untermengte Haupt- und Staatsaktionen, lauter unnatürliche Romanstreiche und Liebesverwirrungen, lauter pöbelhafte Fratzen und Zoten waren dasjenige, so man daselbst zu sehen bekam.[6]

Gottsched war nun der Meinung, dass es der Orientierung an ausländischen Vorbildern bedürfe, damit sich eine anständige deutsche Literatur entwickeln könne. Da im 18.Jahrhundert weitestgehend jedem Gebildeten in Deutschland das Französische geläufig war, zog er das französische Nationaltheater des ‚siècle classique’ heran. Auch Lessing erachtete dies anfangs als sinnvoll, im Laufe der Jahre kamen jedoch zunehmend Zweifel auf. Er beklagte die Einseitigkeit, dass eben nur das französische Theater herangezogen wurde, was wiederum zu einer Einförmigkeit des deutschen Theaters führe und überhaupt entspräche dem deutschen Naturell vielmehr das englische Drama.[7] Die Zäsur bei Lessing, die den Ausgangspunkt für eine eigenständige Literaturtheorie bildete, zeigt sich überaus deutlich im so genannten ‚17.Literaturbrief’, der 1759 in der von Nicolai herausgegebenen Zeitschrift ‚Briefe, die neueste Literatur betreffend’ erschien. Darin heißt es:

Niemand, sagen die Verfasser der Bibliothek, wird leugne, daß die deutsche Schaubühne einen großen Teil ihrer ersten Verbesserung dem Herrn Professor Gottsched zu danken habe.

Ich bin diese Niemand; ich leugne es gerade zu. Es wäre zu wünschen, dass sich Herr Gottsched niemals mit dem Theater vermengt hätte. Seine vermeinten Verbesserungen betreten entweder entbehrliche Kleinigkeiten, oder sind wahre Verschlimmerungen.[8]

Im weiteren Verlaufe des Briefes übt er auch bereits starke Kritik an Corneille und dem französischen Klassizismus, aber darauf werde ich später näher eingehen. Wichtig ist jetzt der theoretische Hintergrund für Lessings Schaffen. Das basale Werk, auf das er sich dabei stützt, ist zweifelsohne die Poetik des Aristoteles. Er ist dabei von der Überzeugung geleitet, die Poetik „in ihren eigenen Zusammenhängen erfasst zu haben“[9], was noch zu untersuchen sein wird. Zentrale Begriffe seiner Theorie sind Natur, Humanität und moralische Veredelung.[10] Bezüglich der Natur ist es notwendig, dass die dargestellte Handlung sich auch wirklich so zugetragen haben könnte, also realistisch und wahrscheinlich ist. Lessings Menschenbild lehnt ferner eine ganz boshafte Darstellung der menschlichen Natur ab, da dies nicht in ihr angelegt sei. Darin wird zugleich Lessings Humanität erkennbar. Obwohl, wie bereits beschrieben, die Zeit von Kriegen und Armut gekennzeichnet war, sah er die menschliche Natur doch optimistisch als unfähig zu wirklich bösen Tendenzen. Dennoch müsse der Mensch auch zu moralischer Integrität herangebildet werden. Dies sei Aufgabe der Tragödie: sie solle den Menschen moralisch veredeln. Dementsprechend sind Lessings Stücke immer mit einer didaktisch-moralischen Komponente versehen. Um diese zu gewährleisten, ist es zum einen nötig, dass die „Vorfälle, welche diese Charaktere in Handlung setzen, so notwendig einen aus dem anderen entspringen […]“[11], dass der Dichter mit Absicht dichtet und alle Aspekte seines Werkes auf Lehrhaftigkeit hin untersucht.

Aus der Unvereinbarkeit von moralischen Grundsätzen und der gesellschaftlich-sozialen Realität ergibt sich laut Lessing die Tragik eines Stückes.[12] Die Weltordnung lässt also das einzelne Individuum unberücksichtigt und gerade Lessing, der die Individualisierung des Subjektes vorantreibt, macht gleichzeitig die damit verbundenen Schwierigkeiten deutlich, vielleicht sogar die Unmöglichkeit einer Harmonie zwischen Individuum und der übergeordneten Ordnung.

In den soeben geschilderten Kontext bettet sich also Lessings Theorie ein. Corneille hingegen lebte und wirkte ein Jahrhundert früher und tat dies folglich auch unter vollkommen anderen Umständen.

4. Corneilles Theorie

Pierre Corneille lebte von 1606 bis 1684 und gilt neben Racine und Molière als wichtigster Vertreter der französischen Klassik. Die damalige Dichtungstheorie war von einer starken Regelhaftigkeit bestimmt und auch hier galt bereits die Poetik des Aristoteles als maßgebend. Corneille betont, dass er „tâche de suivre toujours le sentiment d’Aristote dans les matières qu’il a traitées[13], schränkt jedoch noch im gleichen Satz ein, dass auch er an die subjektive Sicht seiner Zeit gebunden ist und so “peut-être je l’entends à ma mode[…].“[14] Dieser Balanceakt zwischen einer möglichst genauen Übernahme der aristotelischen Regeln und dem Problem „quelque modération à la rigueur de ces règles du philosophe[…]“ zu finden „pour n’être pas obligés de condamner beaucoup de poèmes que nous avons vu réussir sur nos théâtres.”[15] Die Barocktragödie zum Beispiel, die sehr lasterhafte Menschen darstellte, war grundsätzlich schwer mit der Theorie von Aristoteles zu vereinbaren. Zunächst setzte er beim Ziel der Tragödie an, das Aristoteles darin sieht, dass das Stück dem Zuschauer gefallen soll. In Corneilles Auslegung beinhaltet dies keine didaktische Komponente beziehungsweise er sieht das Nützlich direkt daran gebunden[16]. Die Tragödie habe primär eine ästhetische Funktion, wodurch die Begriffe von vraisemblance und nécessaire für ihn an Bedeutung gewinnen. Sie werden zentral, wenn zu entscheiden ist, welche Handlungen in der Tragödie zulässig oder nötig sind, inwiefern Abweichungen von der Geschichte erlaubt oder sogar nötig sind usw. Deswegen möchte ich diese Begrifflichkeiten kurz erläutern:

[…] le vraisemblance, […] c’est une chose manifestement possible dans la bienséance et qui n’est ni manifestement vraie ni manifestement fausse. On en peut faire deux divisions, l’une en vraisemblable général et particulier, l’autre en ordinaire et extraordinaire.[17]

[...]


[1] Wilpert, Gero von: Sachwörterbuch der Literatur. 8., verbesserte und erweiterte Auflage. Stuttgart: Kröner 2001, S. 415.

[2] Französische Literaturgeschichte. Hrsg. von Jürgen Grimm. 3., um die frankophone Literatur außerhalb Frankreichs erweiterte Auflage. Stuttgart: Metzler 1994, S. 136.

[3] Almasi, Nikolaus: Lessings “Hamburgische Dramaturgie” (1.Teil). In: Weimarer Beiträge III (1957), S. 535.

[4] Ebenda, S. 542.

[5] vgl. Almasi, Nikolaus: Lessings „Hamburgische Dramaturgie“ (2.Teil). In: Weimarer Beiträge IV (1958), S.2.

[6] Meyer, Hans (Hrsg.): Meisterwerke deutscher Literaturkritik. Aufklärung, Klassik, Romantik. Stuttgart: Henry Goverts Verlag 1962, S.45.

[7] vgl. Lessing, Gotthold Ephraim: Werke. Frühe kritische Schriften (III:Band). Dramstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1972, S. 356-359.

[8] Nicolai, F., Lessing, G.E., Mendelssohn, M.: Briefe die neueste Literatur betreffend. 24 Theile in 4 Bänden. I. – VI. Theil. Hildesheim, New York: Georg Olms Verlag 1974, S. 97.

[9] Borchmeyer, Dieter: Corneille, Lessing und das Problem der “Auslegung” der aristotelischen Poetik. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 51 (1977), S. 434.

[10] vgl.. Hiller, Johannes-E.: Lessing und Corneille; Rokoko und Barock. In: Romanische Forschungen XLVII (1933), S. 166.

[11] Lessing, Gotthold Ephraim: Hamburgische Dramaturgie. Stuttgart: Reclam 1981. (UB. 7737.), S. 166.

[12] vgl. Doenhardt, Willibaldis: Lessing und Corneille. Dissertation zur Erlangung der philosophischen Doktorwürde der Philosophischen und Naturwissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster in Westfalen. 1932, S. 4.

[13] Corneille, Pierre: Œuvres complètes. Paris: Edition de Seuil 1966, S. 830.

[14] Ebenda.

[15] Ebenda, S. 833.

[16] vgl. Hiller, Johannes-E.: Lessing und Corneille; Rokoko und Barock. In: Romanische Forschungen XLVII (1933), S. 168.

[17] Corneille, Pierre: Œuvres complètes. Paris: Edition de Seuil 1966, S. 838.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Lessing und die französische klassizistische Tragödie
Hochschule
Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen
Note
1,3
Autor
Jahr
2007
Seiten
23
Katalognummer
V71975
ISBN (eBook)
9783638689854
Dateigröße
458 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Lessing, Tragödie, Corneille
Arbeit zitieren
Janine Kapol (Autor:in), 2007, Lessing und die französische klassizistische Tragödie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/71975

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