How ideas matter in war matters - Sozialkonstruktivistische Analyse des außen- und sicherheitspolitischen Wandels der US-Regierung im Zuge der Anschläge vom 11. September 2001


Lizentiatsarbeit, 2006

113 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1 Einführung ins Thema

2 Aufbau der Arbeit

3 Theoretische Diskussion
3.1 Aussenpolitik und aussenpolitischer Wandel aus Sicht der neorealistischen Theorie: Darstellung und Kritik
3.2 Aussenpolitik und aussenpolitischer Wandel aus sozialkonstruktivistischer Perspektive
3.2.1 Mechanismen des Identitätswandels

4 Methodische Diskussion

5 Empirische Analyse
5.1 Auswertung des Textmaterials: Januar 2000 – 10. September 2001
5.1.1 Wahrgenommene Rahmenbedingungen der Aussen- und Sicherheitspolitik
5.1.2 Aussen- und sicherheitspolitische Handlungsorientierungen
5.1.3 Aussen- und sicherheitspolitische Strategien und Instrumente
5.1.3.1 Defensive Strategien und Instrumente
5.1.3.2 Offensive Strategien und Instrumente
5.2 Auswertung des Textmaterials: 11. September 2001 – 10. Juni 2004
5.2.1 Wahrgenommene Rahmenbedingungen der Aussen- und Sicherheitspolitik
5.2.1.1 Die Anschläge vom 11.09 aus der Perspektive der Bush-Regierung
5.2.1.2 Bedrohungswahrnehmung der Bush-Regierung nach den Anschlägen vom 11.09
5.2.2 Aussen- und sicherheitspolitische Handlungsorientierungen
5.2.2.1 «Den Sumpf trocken legen»
5.2.2.2 Die Idee der Transformation des Nahen und Mittleren Ostens
5.2.3 Aussen- und sicherheitspolitische Strategien und Instrumente
5.2.3.1 Militärische Strategien und Instrumente
5.2.3.2 Politische und ökonomische Strategien und Instrumente

6 Diskussion der Hypothesen vor dem Hintergrund der empirischen Ergebnisse
6.1 Diskussion der Hypothese 1
6.2 Diskussion der Hypothese 2

7 Schlussbetrachtungen

8 Bibliografie
8.1 Ausgewertete Reden und Stellungnahmen
8.2 Ausgewertete Dokumente
8.3 Sekundärliteratur
8.4 Datenarchive

Lebenslauf

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Einführung ins Thema

Fünf Jahre sind mittlerweile vergangen, als neunzehn mit Teppichmessern und Pfeffersprays bewaffnete Männer am Dienstagmorgen des 11. September 2001 zwischen 8 und 9 Uhr (Ostküstenzeit USA) vier Passagierflugzeuge in ihre Gewalt brachten. Zwei der vier mit Passagieren gefüllte und mit Kerosin voll getankte Flugzeuge steuerten wenig später die beiden Türme des World Trade Center in New York an, die anderen beiden Maschinen nahmen Kurs auf Washington, D.C. Um 10 Uhr hatten die Entführer ihren Gewaltakt vollzogen, indem sie die Flugzeuge in fliegende Bomben verwandelt hatten, mit denen sie das World Trade Center zum Einstürzen brachten, den Westflügel des Pentagons zerstörten und ein Flugzeug auf einem Acker in Pennsylvania Bruch landeten.[1]

Am Abend des gleichen Tages sprach der im Jahr 2000 ins Amt gewählte republikanische Präsident aus dem Weissen Haus zur amerikanischen Nation. In dieser Rede sicherte George W. Bush der Bevölkerung zu, dass seine Regierung jegliche Ressourcen mobilisieren werde, «to find those responsible and to bring them to justice». Zudem werde die US-Regierung keinen Unterschied machen «between the terrorists who committed these acts and those who harbor them». Die USA, ihre Verbündeten und all jene Staaten, die Sicherheit und Frieden in der Welt möchten, würden angesichts dieses tragischen Ereignisses zusammenstehen «to win the war against terrorism», denn «America has stood down enemies before, and we will do so this time. None of us will ever forget this day. Yet, we go forward to defend freedom and all that is good and just in our world».[2] Mit diesen Worten begann zumindest verbal der von der amerikanischen Regierung ausgerufene Krieg gegen den Terrorismus, der militärisch bis dato über die Länderstationen Afghanistan und den Irak führte.

Die Anschläge vom 11.09 demonstrierten nicht nur eine neue Gewaltdimension des internationalen Terrorismus, indem die gut geplanten, koordinierten und operativ präzis durchgeführten Anschläge mit zivilen Mitteln ca. 3000 Menschen das Leben kosteten, sondern sie lösten gleichzeitig auch einen tief greifenden Wandel der amerikanischen Aussen- und Sicherheitspolitik aus, den der Politikwissenschaftler Stephen Walt als «the most rapid and dramatic change in the history of U.S. foreign policy»[3] bezeichnet hat. Denn seiner Ansicht nach gab es vor den Attentaten «not the slightest hint that the United States was about to embark on an all-out campaign against “global terrorism.” Indeed, apart from an explicit disdain for certain multilateral agreements and a fixation on missile defense, the foreign policy priorities of George W. Bush and his administration were not radically different from those of their predecessors (…) This business-as-usual approach to foreign policy vanished on September 11.»[4]

Wie sehr sich die amerikanische Aussen- und Sicherheitspolitik im Zuge der Anschläge verändert hatte, wurde insbesondere im Kontext der im September 2002 veröffentlichten National Security Strategy of the United States (NSS) und im Vorfeld des Irak-Krieges offenbar und diskutiert. Denn in diesem Strategiepapier verkündete die Bush-Administration, dass sie sich im Kontext des Kriegs gegen den Terrorismus dafür einsetzen werde, «to use this moment of opportunity to extend the benefits of freedom across the globe», indem sie aktiv daran arbeite, «to bring the hope of democracy, development, free markets, and free trade to every corner of the world».[5] Fortschritte in Bereichen der staatlichen Demokratisierung und der marktwirtschaftlichen Entwicklung seien notwendig, «because these are the best foundations for domestic stability and international order».[6] Denn eines hätten die Anschläge vom 11. September, so in der NSS weiter, der amerikanischen Regierung deutlich vor Augen geführt: dass sowohl ökonomisch schwache als auch demokratisch rückständige Staaten wie Afghanistan, in denen sich extremistische Organisationen einnisten und Bevölkerungsschichten für ihre Anliegen mobilisieren können, als auchnicht-demokratisch regierte, als feindlich perzipierte«Schurkenstaaten» wie der Irak, Iran und Nordkorea, die konventionelle oder unkonventionelle Waffen an ihre «terrorist clients» weitergeben könnten, eine erhebliche Bedrohung für die Sicherheit der USA darstellen.[7] Aufgrund dieser nach den Anschlägen vom 11. September an die Oberfläche getretene neue Bedrohungslage könne nicht mehr zugewartet werden, bis diese Staaten oder die von diesen Staaten unterstützten Gruppierungen einen vernichtenden Erstschlag gegen die USA und/oder ihre regionalen Verbündeten ausführten, sondern es sei nun seitens der USA sowohl in politischer als auch militärischer Hinsicht Aktivismus zur Abschaffung solcher Sicherheitsbedrohungen und –risiken gefordert.[8]

Die Publikation der NSS und die parallel ablaufende Debatte über einen möglichen amerikanischen Militäreinsatz im Irak lösten sowohl in liberalen als auch gemässigt-konservativen Kreisen in Amerika und Europa z.T. heftige Kritik aus. Liberale Vertreter der Sozial- und Geisteswissenschaften kritisierten einerseits das in der NSS formulierte Recht auf präventive Militärinterventionen, andererseits die darin artikulierte Zielsetzung der aktiven und weltweiten Demokratie- und Freiheitsverbreitung.[9] Gemässigt-konservative Wissenschaftler, die der (neo)realistischen Schule der Internationalen Beziehungen zugeordnet werden können, wiesen indes darauf hin, dass ein militärischer Feldzug gegen Saddam Hussein nicht mit den nationalen Interessen der USA und dem Kampf gegen den Terrorismus in Einklang gebracht werden, ja sogar kontraproduktive Wirkungen auf die Sicherheit der USA entfalten könne, indem nämlich ein Krieg gegen den Irak dem Kampf gegen die Hauptbedrohung al Kaida ökonomische sowie militärische Ressourcen entziehen würde.[10] Denn für politische Realisten war Saddam Hussein zwar ein Tyrann, jedoch stellte er in ihren Augen keine unmittelbare Gefahr für die nationalen (Sicherheits-)Interessen der USA dar.[11] Zudem waren sie der Meinung, dass die USA Saddam Hussein auch mit «konventionellen» Abschreckungs- und Eindämmungsmethoden kontrollieren könnten, so dass ein militärischer Feldzug mit unvorhersehbaren politischen und ökonomischen Folgewirkungen unangebracht sei.[12] Aus diesem Grund plädierten diese Wissenschaftler für eine zurückhaltende Aussen- und Sicherheitspolitik, die sich an eng definierten nationalen Interessen zu orientieren und waghalsige aussenpolitische Experimente und risikoreiche Interventionen zu vermeiden hätte.

Paradoxerweise widerspiegelte diese Kritik am eingeschlagenen aussen- und sicherheitspolitischen Kurs der amerikanischen Regierung nach den Anschlägen vom 11.09 genau jene Kritik, die Vertreter der später ins Amt gewählten Bush-Regierung im Wahlkampf um die amerikanische Präsidentschaft gegen die Aussen- und Sicherheitspolitik der Clinton-Administration ausgeübt hatten.[13] So hatte Condoleezza Rice, die im Wahlkampf die aussen- und sicherheitspolitische Beraterin des republikanischen Präsidentschaftskandidaten George W. Bush war, in einem in der Januar-Ausgabe 2000 in der Zeitschrift Foreign Affairs veröffentlichten, programmatischen Aufsatz die Aussen- und Sicherheitspolitik der Clinton-Administration kritisiert, indem sie ihr vorwarf, dass sie eine allzu umfassende und ambitionierte Aussenpolitik betrieben hätte, die nicht an klar definierten nationalen Interessen ausgerichtet gewesen sei. Vielmehr habe die Clinton-Regierung eine an idealistischen Motiven und Zielen sich orientierende, internationalistische Aussenpolitik verfolgt, wobei Rice darunter in erster Linie die Entsendung amerikanischer Truppen für humanitäre Kriseninterventionen oder im Rahmen von Demokratisierungsaufgaben verstand.[14] Im Gegensatz und in Abgrenzung zu dieser idealistischen und internationalistischen aussen- und sicherheitspolitischen Handlungsorientierung Clintons werde der aussenpolitische Fokus einer republikanische Präsidentschaft auf klar definierten nationalen Interessen zu liegen kommen und aussenpolitische Engagements zurückhaltend betrieben werden.[15] Zwei Länder und eine Länderkategorie würden laut Rice bei einem Präsidentschaftssieg von George W. Bush auf der aussen- und sicherheitspolitischen Agenda der republikanischen Administration zu stehen kommen, nämlich die beiden Grossmächte China und Russland sowie die «Schurkenstaaten» Irak, Iran und Nordkorea.[16] Für den Umgang mit letzteren sah die Stanford-Professorin der politischen Wissenschaften Massnahmen vor, die ganz der realistischen Denkweise entsprachen, indem sie schrieb: «These regimes are living on borrowed time, so there need to be no sense of panic about them. Rather, the first line of defense should be a clear and classical statement of deterrence – if they do acquire WMD, their weapons will be unusable because any attempt to use them will bring national obliteration».[17]

Doch dieses Postulat einer zurückhaltenden Aussen- und Sicherheitspolitik an eng definierten nationalen Interessen und Abschreckungsstrategien wurde im Zuge der Ereignisse vom 11. September 2001 und im Rahmen des danach verkündeten Kriegs gegen den Terrorismus durch eine interventionistische politische und militärische Doktrin substituiert und hinsichtlich des Irak zu Gunsten einer Politik der gewaltsamen «Befreiung» und Demokratisierung aufgegeben. Vor dem Hintergrund dieser offenkundigen Aufgabe einer von der Bush-Regierung in der Periode vor den Attentagen in Aussicht gestellten zurückhaltenden Aussen- und Sicherheitspolitik an eng definierten nationalen Interessen und der im Rahmen des «war against terrorism» iterativ bekundeten Forderung, Freiheit- und Demokratie verbreiten zu wollen, stellt sich aus politikwissenschaftlicher Perspektive die Frage, wie dieser von Walt als «dramatisch» bezeichnete aussen- und sicherheitspolitische Wandel der amerikanischen Regierung erklärt und verstanden werden kann. Auf der Grundlage dieser Überlegungen lässt sich somit die folgende Fragestellung formulieren:

Wie lässt sich erklären, dass eine Regierung, die ins Amt getreten war, um in expliziter Abgrenzung zur idealistischen Interventionspolitik der Clinton-Administration sich aussenpolitisch auf nationale Interessen zu fokussieren, plötzlich ihrerseits eine Politik des «nation building» und der Demokratisierung im Irak verfolgt?

Aus dieser Fragestellung können folgende empirisch-praktische Forschungsfragen abgeleitet werden:

1.) Wie lässt sich der aussen- und sicherheitspolitische Wandel der Bush-Regierung im Zuge der Anschläge vom 11. September 2001 erklären?[18]
2.) Wie lässt sich vor dem Hintergrund dieses Wandels das idealistische Handlungsmotiv einer aktiven Demokratie- und Freiheitsverbreitung erklären?

Das Ziel dieser Lizentiatsarbeit ist es somit aufzuzeigen und zu verstehen, wie und warum der aussen- und sicherheitspolitische Wandel der Bush-Regierung im Zuge der Anschläge vom 11. September 2001 zustande gekommen ist und vor welchem politischen und gesellschaftlichen Hintergrund die Durchsetzung des Handlungsmotivs einer aktiven Demokratie- und Freiheitsverbreitung verstanden werden kann. Der Erkenntnisgewinn dieser Arbeit wird hierbei in erster Linie auf der theoretischen Ebene gesehen, indem der aussen- und sicherheitspolitische Wandel mit Hilfe des immer noch abseits des politikwissenschaftlichen Mainstream stehenden sozialkonstruktivistischen Ansatzes erklärt werden soll.

2 Aufbau der Arbeit

Im ersten Teil der Arbeit möchte ich anhand zentraler Annahmen und Prämissen des sozialkonstruktivistischen Ansatzes das Konzept des aussenpolitischen Wandels erarbeiten und theoretisch einbetten, indem zunächst eine Kritik am Erklärungsgehalt des Neorealismus in der Ausgestaltung von Kenneth Waltz in Bezug auf die neorealistische Konzeptionalisierung von Aussenpolitik und aussenpolitischer Wandel vollzogen wird. Diese Kritik dient als Grundlage bzw. als Übergang zum Sozialkonstruktivismus, der einen passenden theoretischen Rahmen zur Erklärung sowohl des Wandels der aussenpolitischen Handlungsorientierung der amerikanischen Regierung als auch der Entstehung und Durchsetzung des Interesses an einer Demokratie- und Freiheitsverbreitung bietet, indem er im Gegensatz zu neorealistischen Theorien staatliche Interessen, Präferenzen und Handlungsorientierungen als endogene Bestandteile der sozialen Struktur eines Staates bzw. einer Staatsführung definiert. Auf der Grundlage des sozialkonstruktivistischen Ansatzes werden dann zwei Hypothesen aufgestellt, wie sich der aussenpolitische Wandel der Bush-Regierung bzw. die Durchsetzung der Idee der Demokratie- und Freiheitsverbreitung erklären und verstehen lässt. Im darauffolgenden methodischen Teil der Arbeit wird erläutert, wie diese Hypothesen konkret am empirischen Material überprüft werden sollen.

Im zweiten Teil der Arbeit werde ich die im theoretischen Teil formulierten Hypothesen am empirischen Material prüfen. Dies soll anhand einer Rekonstruktion des aussenpolitischen Diskurses vor und nach den Anschlägen vom 11. September vollzogen werden, indem ausgewählte Aufsätze, Reden und Stellungnahmen von politischen Entscheidungsträgern der Bush-Administration, publizierte Strategiepapiere der amerikanischen Regierung sowie Anhörungen vor aussen- und sicherheitspolitischen Kongress- und Senatsausschüssen für die festgelegten Zeitperioden interpretativ analysiert werden.

Im dritten Teil der Arbeit werden dann die Ergebnisse aus der empirischen Analyse vor dem Hintergrund der aufgestellten Hypothesen detailliert diskutiert und ausgewertet.

3 Theoretische Diskussion

Im Fachbereich der Internationalen Beziehungen gibt es eine Vielzahl Theorien, die das Zustandekommen und den Wandel staatlicher Aussenpolitik zu erklären versuchen.[19] Gleichzeitig muss aber darauf hingewiesen werden, dass es zum Konzept des aussenpolitischen Wandels noch keine ausgereifte Theorie gibt, sondern verschiedene Theorien um die Erklärungskraft ihrer Ansätze konkurrenzieren.[20] Eine Tendenz lässt sich allerdings seit den späten 1980er und den frühen 1990er Jahren hinsichtlich der Analyse staatlicher Aussen- und Sicherheitspolitik erkennen, nämlich eine vermehrte Abkehr von rein materialistischen und rationalistischen Erklärungsansätzen hin zu Theorien, die auch subsystemische Erklärungsfaktoren berücksichtigen.[21] Ausgelöst wurde diese Verschiebung durch eine Kritik am theoretischen und methodischen Instrumentarium der politikwissenschaftlichen Mainstream-Theorien insbesondere des Neorealismus und des neoliberalen Institutionalismus , die das plötzliche Ende des Kalten Krieges und den raschen Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung nicht prognostiziert hatten und in der Folge nur mangelhaft zu erklären vermochten.[22] Insbesondere von Seiten sozialkonstruktivistisch arbeitender Politikwissenschaftlern wurde die Kritik laut, dass Aussenpolitik und aussenpolitischer Wandel durch das starre Festhalten an rationalistischen und materialistischen Prämissen, die analytische Ausklammerung des Innenlebens von Staaten und Staatsführungen sowie das Beharren auf der Anwendung einer positivistischen Wissenschaftsmethodik nicht treffend verstanden werden kann.[23] Auf der Basis dieser Kritik wurde in den 1990er Jahren eine Fülle von Untersuchungen im Bereich der Aussen- und Sicherheitspolitik veröffentlicht, die die aussenpolitische Praxis von Staaten vor dem Hintergrund von identitätsprägenden und verhaltensbeeinflussenden Ideen, Normen und kulturellen Faktoren zu verstehen versuchten.[24] Auch für die Beantwortung meiner Fragestellungen möchte ich mich des sozialkonstruktivistischen Ansatzes bedienen, da die Überlegungen des Sozialkonstruktivismus einen passenden theoretischen Rahmen sowohl hinsichtlich der Frage, wie und warum ein aussenpolitischer Wandel innerhalb solch kurzer Zeit zustande kommen konnte, als auch wie sich das artikulierte Interesse an einer Demokratie- und Freiheitsverbreitung der Bush-Regierung im Zuge der Anschläge erklären lässt, liefern.[25]

Im Folgenden sollen zunächst anhand einer kurzen Darstellung der wesentlichen Prämissen des Neorealismus und einer anschliessenden Kritik derselben die Mängel dieser Theorie in Bezug auf ihre Konzeptualisierung staatlicher Aussenpolitik und den Wandel aussenpolitischen Verhaltens aufgezeigt werden. Als Basis für die Kritik dient der Neorealismus in der Ausgestaltung von Kenneth Waltz, der diese Theorie 1979 mit seinem Buch Theory of International Politics begründet und immer wieder verteidigt hat.[26] Obwohl ich mir bewusst bin, dass sich der Neorealismus keineswegs als einheitliche Theorie präsentiert, sondern eher als wissenschaftliches Paradigma angesehen werden muss,[27] bilden viele der von Waltz postulierten Annahmen immer noch den harten Kern der neorealistischen Forschungsrichtung.

3.1 Aussenpolitik und aussenpolitischer Wandel aus Sicht der neorealistischen Theorie: Darstellung und Kritik

Der Neorealismus in der Konzeptualisierung von Kenneth Waltz lehnt sich stark an ökonomischen Theorien an und ist auf theoretische Sparsamkeit bedacht; anhand einiger zentraler Annahmen versucht Waltz, das aussenpolitische Verhalten von Staaten zu erklären.[28] Dreh- und Angelpunkt der neorealistischen Theorie ist die vom klassischen Realismus abstammende Annahme, dass das internationale politische System durch das Ordnungsprinzip der Anarchie, definiert als die Abwesenheit einer übergeordneten Instanz mit Gewaltmonopol im nationalstaatlichen Sinne, geprägt ist.[29] Die konzeptionelle Weiterentwicklung Waltz’ gegenüber klassischen realistischen Theorien besteht nun darin, dass er das aussenpolitische Verhalten von Staaten nicht vor dem Hintergrund der Innenpolitik oder den Wesensmerkmalen der politischen Entscheidungsträger zu erklären versucht, sondern ausschliesslich auf der Basis der anarchischen Struktur und der materiellen Ausgestaltung des internationalen politischen Systems.[30] Folglich klammert Waltz subsystemische Faktoren wie beispielsweise den Aufbau nationaler politischer Systeme oder die ideologische Ausrichtung der politischen Entscheidungsträger aus und fokussiert ausschliesslich auf die Struktur des internationalen politischen Systems.[31] Dieser Strukturdeterminismus bildet den konzeptionellen Rahmen des Neorealismus, der mit weiteren Überlegungen angereichert wird:

1.) Das zentrale Interesse von Staaten ist ihre eigene Überlebenssicherung, was sie durch rationales Handeln auf der Grundlage ökonomischer Zweck-Mittel-Überlegung zu erreichen versuchen.[32]
2.) Die anarchische Struktur des internationalen politischen Systems verunmöglicht die funktionale Differenzierung zwischen den Systemeinheiten wie dies auf der nationalen Ebene üblich ist, da Staaten in einem permanenten Zustand des Misstrauens gegenüber den Verhaltensweisen anderer Staaten verharren.[33] Aus diesem Grund stellt das internationale politische System ein von Staaten geprägtes Selbsthilfesystem dar, das sich durch funktionale Homogenität auszeichnet, weil jeder Staat die Funktionen zur eigenen Überlebenssicherung, nämlich die Gewährleistung einer internen Ordnung und die Verteidigung gegen nationale Bedrohungen, selber übernimmt.[34]
3.) Da alle Staaten funktional gleich sind und die gleichen Interessen, nämlich die Überlebenssicherung, verfolgen, ist das einzige Kriterium, worin sie sich letztendlich unterscheiden, ihr Machtpotenzial, was zu bestimmten Machtverteilungen im internationalen politischen System führt.[35] Diese Machtrelationen lassen sich bestimmen, indem die den Staaten zur Verfügung stehenden Ressourcen wie «size of population and territory, resource endowment, economic capability, military strength, political stability and competence»[36] analysiert werden. Staaten betreiben nun Machtpolitik, indem sie Machtungleichgewichte, die sich im internationalen System ergeben haben bzw. sich abzuzeichnen beginnen, zu kompensieren versuchen, damit ein stabiles Gleichgewicht der Mächte (balance of power) aufrecht erhalten respektive hergestellt werden kann. Diese Machtbalancierungen betreiben Staaten aus purem Eigeninteresse, weil sie sich von einem übermächtigen Staat existenziell bedroht fühlen.[37] Eine solche Politik der Machtbalancierung kann nun verschiedene Formen annehmen wie militärische Aufrüstungsmassnahmen, ökonomischer Wachstumswettbewerb oder das Eingehen von kurzfristigen Kooperationen mit anderen Staaten. Nichtsdestrotz besteht der einzige Zweck einer Politik der Machtbalancierung darin, sich in einem militärischen Konflikt durchsetzen zu können.[38] Kriegerische Auseinandersetzungen treten gemäss dieser Logik immer dann auf, wenn Staaten oder Staatenbündnisse sicherheitsbedrohende Machtungleichgewichte auf militärischem Weg auszugleichen versuchen, weil sich der Einsatz anderer Machtressourcen erschöpft hat.[39]

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die neorealistische Theorie von Kenneth Waltz die Aussenpolitik von Staaten vor dem Hintergrund der strukturellen Machtverteilungen im internationalen politischen System zu erklären versucht. Dabei wird Aussenpolitik und aussenpolitischer Wandel im Kontext von Machtverschiebungen im internationalen politischen System verstanden: Staaten versuchen sich anbahnende materielle Machtungleichgewichte zu kompensieren und ihre aussenpolitischen Handlungen und Strategien diesem Prinzip entsprechend ausrichten. Wendet man diese theoretischen Annahmen des (defensiven) Neorealismus auf die konkrete Fragestellung des Wandels der amerikanischen Aussenpolitik nach den Anschlägen vom 11. September und dem artikulierten Interesse an einer Demokratie- und Freiheitsverbreitung an, so werden schnell die Grenzen dieses Ansatzes ersichtlich. Folgende Hauptkritikpunkte können vorgetragen werden:

1.) Der Neorealismus, der das aussen- und sicherheitspolitische Verhalten von Staaten von der vorherrschenden Machtverteilung im internationalen politischen System ableitet, staatliche Sicherheitsinteressen als exogen gegeben annimmt und aussenpolitisches Verhalten rational zu erklären versucht, vermag nicht zu erklären, warum sich nach den Anschlägen vom 11. September das idealistische Handlungsparadigma einer aktiven Demokratie- und Freiheitsverbreitung innerhalb der Bush-Regierung durchgesetzt hat. Um dieses artikulierte Interesse an der Demokratieverbreitung und die darauf aufbauenden aussenpolitischen Massnahmen verstehen zu können, braucht es Erklärungsansätze, die auch subsystemische Argumente zulassen, was von Kenneth Waltz als reduktionistisch abgelehnt wird.[40]

2.) Der Neorealismus postuliert, dass die Aussen- und Sicherheitspolitik von Staaten darauf ausgerichtet ist, Machtungleichgewichte, die als existenzielle Sicherheitsbedrohungen angesehen werden, auszubalancieren. Dieser Logik entsprechend hat die Bush-Regierung zuerst Afghanistan und dann den Irak aus dem Grund angegriffen, weil diese Staaten aufgrund von materiellen Ressourcenallokationen ein die Sicherheit der USA bedrohendes Machtungleichgewicht begründeten. Diesbezüglich stellen sich die folgenden Fragen:

a.) Wieso wurden die von diesen Staaten ausgehenden existenziellen Sicherheitsbedrohungen bzw. Machtungleichgewichte nicht bereits vor den Anschlägen vom 11. September von der amerikanischen Regierung erkannt? So erwähnte Condoleezza Rice in ihrem Artikel zum aussen- und sicherheitspolitischen Kurs der US-Regierung im Falle einer republikanischen Präsidentschaft den (schwachen) Staat Afghanistan nicht ein einziges Mal und hinsichtlich der Bedrohungen, die von «Schurkenstaaten» wie dem Irak ausgehen, schrieb sie: «These regimes are living on borrowed time, so there need to be no sense of panic about them.»[41] Diese Einschätzung scheint sich im Lichte der Ereignisse vom 11. September innerhalb kürzester Zeit verändert zu haben, ohne dass sich das (materielle) Machtpotenzial Afghanistans oder des Irak in dieser Zeitperiode wesentlich verändert hätte.
b.) Wieso wählte die amerikanische Regierung nach dem 11. September 2001 im Falle des Irak gerade die Strategie des Regimewechsels und der Demokratisierung aus, obschon vor dem 11. September klassische Abschreckungs- und Eindämmungsstrategien als ausreichend erachtet wurden, um diese Bedrohungen unter Kontrolle zu halten?[42] Insbesondere die Debatte vor und im Kontext der Irak-Intervention, in der Staatsführer und Wissenschaftler sowohl die Einschätzung der amerikanischen Regierung bezüglich der irakischen Sicherheitsbedrohung als auch die Strategie des Regimewechsels und der Demokratisierung zur Beseitigung dieser vermeintlichen Sicherheitsbedrohung kritisierten, hat deutlich aufgezeigt, dass weder der Aspekt der nationalen Sicherheitsbedrohung noch die Frage der Strategiewahl selbstevident ist.[43] Beides wird von den in den jeweiligen Regierungen vorhandenen Bedrohungseinschätzungen, politischen Ideen und Handlungsnormen sowie dem von der Regierung eingenommenen Rollenverständnis wesentlich mitgeprägt.[44] Zur Beantwortung meiner Fragestellung muss folglich auf eine Theorie zurückgegriffen werden, die den Wandel in der aussenpolitischen Orientierung eines Staates nicht nur von materiellen Verschiebungen in der internationalen Machtstruktur abhängig macht, sondern unter Einbezug subsystemischer Argumente konkret zu verstehen versucht, wie, warum und mit welchen Charakteristika ein aussen- und sicherheitspolitischer Wandel innerhalb kürzester Zeit zustande kommen kann.[45] Sozialkonstruktivistische Erklärungsansätze, die der idealistischen Theorietradition entspringen und eine holistische Perspektive einnehmen, drängen sich dazu auf, da sie subsystemische Faktoren wie politische Ideen, Ideologien, Handlungsnormen, kollektive Identitäten und Rollenperzeptionen zum Ausgangspunkt ihrer Analyse staatlicher Aussen- und Sicherheitspolitik nehmen und darauf aufbauend zu erarbeiten versuchen, wie und warum staatliche Interessen, Präferenzen und Handlungsorientierungen zustande kommen und sich verändern können.[46] Im Folgenden sollen die zentralen Prämissen und Annahmen des Sozialkonstruktivismus dargelegt und konkrete Hypothesen formuliert werden.

3.2 Aussenpolitik und aussenpolitischer Wandel aus sozialkonstruktivistischer Perspektive

Obwohl der Sozialkonstruktivismus ähnlich wie der Neorealismus nicht als einheitliche Theorie angesehen werden kann, sondern viele unterschiedliche Ansätze darunter subsumiert werden[47], haben sozialkonstruktivistische Ansätze gemeinsam, dass sie von der Annahme ausgehen, «dass sich uns „Realität“ nicht unmittelbar erschliesst», sondern die soziale Welt, wie sie uns zugänglich ist, vielmehr durch die Art und Weise konstruiert wird, «wie wir mit anderen handeln, welche gemeinsam geteilten Vorstellungen über „Welt“ wir haben und wie wir unsere Umwelt erfahren.»[48] Dementsprechend akzentuieren sozialkonstruktivistische Ansätze die Vorstellung, dass «nicht allein materielle, sondern auch immaterielle Faktoren bei der Erklärung von internationaler Politik entscheidend sind.»[49] Damit wird weder geleugnet, dass eine materielle Welt existiert, noch, dass materielle Strukturen kausale Wirkungen auf das Verhalten von Staaten ausüben können, sondern ausgedrückt, «dass wir materielle Phänomene ausserhalb unserer Sinnkonstruktion („Ideen“ in einem weiten Sinn) nicht erfassen können.»[50] Bezüglich der Entstehung und des Wandels nationaler Interessen, Präferenzen und aussenpolitischer Handlungsorientierungen betonen somit sozialkonstruktivistische Ansätze im Gegensatz zu neorealistischen Theorien die Bedeutung und den Einfluss von sozialen Strukturen, die sich aus kollektiv geteilten Ideen, Normen und Identitäten zusammensetzen.[51] Risse schreibt hierzu: «Der entscheidende Punkt eines sozialkonstruktivistischen Forschungsprogramms ist die Endogenisierung von Identitäten, Interessen und Präferenzen, die nicht mehr als gegeben hingenommen werden.»[52] Hierbei spielt insbesondere das Konzept der Identität bei vielen sozialkonstruktivistischen Arbeiten eine zentrale Rolle.[53] Dieses Konzept entstammt ursprünglich der Sozialpsychologie «where it refers to the images of individuality and distinctiveness (“selfhood”) held and projected by an actor and formed (and modified over time) through relations with significant “others”»[54], wurde dann aber von Sozialkonstruktivisten aufgenommen und auf aussen- und sicherheitspolitische Themen angewandt. Dahinter steckt die Überlegung, dass «Akteure gegenüber Objekten oder anderen Akteuren auf der Basis von Bedeutungsgehalten handeln, die diese Objekte oder Akteure für sie haben. Kollektiv geteilte Bedeutungsgehalte sind für all die Strukturen konstitutiv, die unserem Handeln zugrunde liegen. Indem Bedeutungsgehalte kollektiv geteilt werden, erfahren Akteure ein gewisses Mass an Identitätsstiftung, d.h. sie erlangen ein relativ stabiles, rollenspezifisches Verständnis von sich selbst und den Erwartungshaltungen, die an sie gestellt werden.»[55]

Sozialkonstruktivistische Ansätze postulieren nun, dass staatliche Interessen und aussenpolitische Handlungsorientierungen auf Basis der Identität eines Staates, genauer gesagt der politischen Führung eines Staates, zustande kommen.[56] In den Worten von Wendt: «Identities refer to who or what actors are. They designate social kinds or states of being. Interests refer to what actors want. They designate motivations that help explain behavior.»[57] Gleiches betont auch Peter Katzenstein, der schreibt: «Definitions of identity that distinguish between self and other imply definitions of threat and interest that have strong effects on national security policies.»[58] Für Sozialkonstruktivisten stellen somit die kollektiven Identitäten von Staaten bzw. Staatsführungen, die auf der Grundlage dieser Identitäten definierten und verfolgten nationalen Interessen und die aussenpolitischen Handlungsorientierungen drei sich wechselseitig beeinflussende und sich gegenseitig bedingende Komponenten einer politischen Einheit dar. Dementsprechend interpretieren sozialkonstruktivistische Ansätze gravierende Veränderungen in der aussenpolitischen Orientierung eines Staates als gleichzeitige Veränderung der kollektiven Identität einer Staatsführung und den darauf aufbauenden Interessen, Präferenzen und Handlungsorientierungen.[59] Risse schreibt hierzu: «Wenn eine Staatsführung die grundlegenden und konstitutiven Handlungsorientierungen ihrer Aussenpolitik neu bestimmt, wird dabei auch die eigene kollektive Identität neu interpretiert. Denn konstitutive Handlungsorientierungen defininieren nicht nur das Verhältnis zu anderen und ermöglichen damit erst Interaktion; sie legen auch fest, wer man selbst ist und wie man sich selbst im Verhältnis zur Aussenwelt sieht.»[60] Mit anderen Worten: Wandelt sich die kollektive Identität einer Staatsführung, «dann verändert sich unter Umständen auch die Sichtweise auf bestimmte Situationen, was wiederum eine Redefinition von Interessen zur Folge haben kann.»[61] Überträgt man nun diese theoretische Annahme auf den Wandel des aussen- und sicherheitspolitischen Kurses der amerikanischen Regierung, so lässt sich die übergeordnete These formulieren, dass der aussen- und sicherheitspolitischen Wandel der US-Regierung nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in erster Linie verstanden werden muss als eine Veränderung der kollektiven Identität der politischen Führung der USA und der ihr zugrunde liegenden Handlungsorientierungen. Denn erst vor dem Hintergrund eines solchen Identitätswandels und der ihr zugrunde liegenden Handlungsorientierungen machen die konkreten politischen Massnahmen der US-Regierung nach dem 11. September Sinn bzw. können entsprechend interpretiert und verstanden werden. Diese These sagt aber noch nichts über die Art und Weise und die Ursachen des Identitätswandels aus, sondern lediglich, dass ein solcher Identitätswandel für die aussenpolitische Orientierung der USA nach dem 11. September konstitutiv ist. Es stellt sich somit in theoretischer Hinsicht die Frage, wie ein solcher Identitätswandel zustande kommen kann bzw. welche Mechanismen hinter einem solchen Identitätswandel stecken.

3.2.1 Mechanismen des Identitätswandels

Sozialkonstruktivisten gehen davon aus, dass ein Identitätwandel sowohl inkrementell als auch eruptiv und dramatisch erfolgen kann. Mechanismen für den langsamen Wandel sind beispielsweise Prozesse des kollektiven Lernens oder der Sozialisation, die über einen längeren Zeitraum hinweg zu Normen- und Verhaltensinternalisierungen auf gesellschaftlicher sowie staatlicher Ebene führen können[62], sowie durch Veränderungen der internationalen System-Umwelt, beispielsweise durch Prozesse der ökonomischen, sozio-kulturellen und politischen Globalisierung, die sich auf die Identität, die Interessen und das Verhalten der Staaten niederschlagen können.

Ein abrupter und schneller Identitätswandel hingegen erfolgt meistens in Situationen, in denen politische Entscheidungsträger vor neue politische, gesellschaftliche oder ökonomische Tatsachen gestellt werden, die sich als Krisen erweisen beziehungsweise die als Krisen von politischen Entscheidungsträgern perzipiert werden.[63] In solchen Krisensituationen, die durch konkrete oder wahrgenommene Veränderungen in der gesellschaftlichen, politischen oder ökonomischen Umwelt der politischen Entscheidungsträger ausgelöst werden und die oftmals mit einem Gefühl des Scheiterns der bisherigen Politik verbunden sein können, kann eine schnelle und dramatische aussenpolitische Umorientierung innerhalb kürzester Zeit stattfinden. Dabei werden gängige Rollenkonzepte, politische Strategien oder Wahrnehmungsmuster beispielsweise hinsichtlich der internationalen Bedrohungsumwelt vor dem Hintergrund einer sich veränderten Situationsdefinition in Frage gestellt und allenfalls durch eine neue Wahrnehmungsweise und ein neues Rollenverständnis ersetzt.[64] So haben Arbeiten aus der sozialpsychologischen Krisenforschung aufgezeigt, dass in von der politischen Führung perzipierten Krisensituationen kollektive sowie individuelle Identitäten zur Disposition stehen können.[65] Dies bedeutet, dass das Selbstbild und das Rollenverständnis, das eine politische Führung von sich und vom von ihr repräsentierten Staat hat, vor dem Hintergrund der sich gewandelten politischen Situation neu strukturiert bzw. in Abgrenzung zu anderen Akteuren neu positioniert wird.[66] Eine solche Re-Positionierung geschieht indes nicht von selbst, sondern ist das Resultat eines politischen Diskurses[67], im Rahmen dessen verschiedene Denkansätze und Leitideen in einem Überzeugungs- und Argumentationsprozess um die Gunst der politischen Entscheidungsträger buhlen.[68] Zudem bekommen in solchen Krisensituationen oftmals neue Ideengeber die Möglichkeit, Einfluss auf die Neuausrichtung der Aussenpolitik zu nehmen, da vielfach die alten aussen- und sicherheitspolitischen Ideen und Konzepte vor dem Hintergrund der Krisenwahrnehmung und der neuen politischen Situation als diskreditiert angesehen werden.[69] Welche politische Ideen sich in einem solchen Diskurs konkret durchzusetzen vermögen, kann allerdings nicht vorausgesagt werden, sondern ist von den kulturell verankerten Normen, den Persönlichkeitsstrukturen der politischen Entscheidungsträger sowie der Struktur der politischen und gesellschaftlichen Institutionen eines Staates abhängig.[70] Mit Hilfe dieser theoretischen Überlegungen lassen sich nun zwei konkrete Hypothesen in Bezug auf den Aussen- und Sicherheitspolitischen Wandel der US-Regierung aufstellen:

Hypothese 1: Der aussen- und sicherheitspolitische Wandel der amerikanischen Regierung, der sich u.a. darin äussert, dass im Zuge der Anschläge vom 11. September eine Aussenpolitik der aktiven Freiheits- und Demokratieverbreitung angestrebt wird, lässt sich auf der Basis eines sich gewandelten Rollenverständnisses der amerikanischen Regierung erklären, das mit einer veränderten Situationsdefinition und Bedrohungswahrnehmung nach den Anschlägen vom 11. September 2001 einhergegangen ist.

Hypothese 2: Die ambitionierte US-Aussenpolitik des «nation building» und der Demokratie- und Freiheitsverbreitung, wie sie sowohl Afghanistan als auch im Irak vorangetrieben wird, lässt sich dadurch erklären, dass sich im Rahmen des aussen- und sicherheitspolitischen Diskurses nach den Anschlägen vom 11. September 2001 die handlungsbestimmende Leitidee durchgesetzt hat, dass mittels einer Aussenpolitik der Strukturtransformation[71] im Sinne einer Demokratisierung der politischen Verhältnisse im Nahen und Mittleren Osten die Ursachen des gegen die USA gerichteten Terrorismus gesamthaft beseitigt werden können.

Zwei Anmerkungen sollen an dieser Stelle zu den Hypothesen gemacht werden: Erstens decken die Hypothesen unterschiedliche Dimensionen des aussenpolitischen Wandels ab, gleichwohl die beiden Dimensionen eng miteinander verbunden sind bzw. in einem Interaktionszusammenhang stehen. So zielt die erste Hypothese auf die kognitive und soziale Tiefenstruktur der Bush-Regierung ab, indem sie das perzipierte Rollenverständnis der amerikanischen Regierung hinsichtlich der Frage, ob und auf welche Weise sie sich aussenpolitisch engagieren soll, thematisiert, was u.a. davon abhängig ist, wie die aussen- und sicherheitspolitische Situation definiert wird und welche nationalen Bedrohungen wahrgenommen und identifiziert werden.[72] Die zweite Hypothese hingegen fokussiert eher auf die konkreten aussen- und sicherheitspolitischen Auswirkungen, die sich möglicherweise aus der veränderten Tiefenstruktur nach den Anschlägen vom 11. September ergeben haben, indem die Vermutung geäussert wird, dass sich im Kontext des vermuteten Rollenwandels ein neues aussenpolitisches Paradigma durchzusetzen vermochte, das als adäquat erachtet wurde, um die nationale Sicherheit wiederherstellen bzw. die wahrgenommene Bedrohung beseitigen zu können. Es muss aber darauf hingewiesen werden, dass diese Trennung in eine soziale und kognitive Tiefenschicht und in eine eher praktisch-politische Ebene künstlich ist, die einerseits aus analytischen Zwecken vollzogen wird und andererseits darauf abzielt, möglichst die Gesamtheit des aussenpolitischen Wandels und die dahinter steckenden Mechanismen und Prozessen aufzuzeigen.

Zweitens, und dies hängt mit dem ersten Punkt zusammen, kann aus der Theorie nicht abgeleitet werden, wie oder wann sich die Leitidee der Strukturtransformation im Rahmen des aussen- und sicherheitspolitischen Diskurses, wie vermutet, nach dem 11. September durchzusetzen vermochte. Dieser Aspekt muss empirisch erarbeitet werden und ist nicht Teil der theoretischen Überlegungen. So kann es durchaus sein, dass die Idee der Demokratieverbreitung bzw. das Interesse daran bereits vor den Anschlägen vom 11. September oder unmittelbar nach den Anschlägen formuliert wurde, die Konkretisierung und Umsetzung dieser Idee sich allerdings über einen längeren Zeitraum hinwegzog. Mit diesen Überlegungen ist nun die Brücke zum empirischen Teil der Arbeit geschlagen worden, der als nächstes folgt. Zuerst soll allerdings noch die Methode, die der empirischen Auswertung unterlegt ist, diskutiert werden.

4 Methodische Diskussion

Sozialkonstruktivistische Ansätze zeichnen sich nicht nur dadurch aus, dass sie wissenschaftstheoretisch eine andere Position einnehmen als der Neorealismus oder der neoliberale Institutionalismus, sondern sich auch wissenschaftsmethodisch von diesen Theorien abzugrenzen versuchen. Denn im Gegensatz und in Abgrenzung zu den positivistisch geprägten Theorien der Internationalen Beziehungen orientieren sich sozialkonstruktivistische Ansätze stärker an einer hermeneutisch-interpretativen Methode, «die darauf abzielt, einzelne Politikereignisse primär aus sich selbst heraus zu verstehen.»[73] Diese Affinität zur interpretativen Verfahrensweise hat u.a. zwei Gründe: Erstens geht es sozialkonstruktivistischen Ansätzen in erster Linie darum, die «Sinnwelt der Akteure»[74] zu verstehen, wozu sich interpretative, qualitative sozialwissenschaftliche Methoden besonders gut eignen.[75] Zweitens rücken sozialkonstruktivistische Theorien den Gebrauch und die Funktion von Sprache und Kommunikation ins Zentrum ihrer Überlegungen, da Sprache und Kommunikation als zentrale Medien in der Wirklichkeitskonstruktion und –konstitution gesehen werden.[76] Dementsprechend arbeiten sozialkonstruktivistische Ansätze mit in irgendeiner Form schriftlich fixierter Kommunikation, da sie davon ausgehen, dass durch die interpretative Analyse des Kommunkationsmaterials einerseits Rückschlüsse auf die Denkmuster der sozial handelnden Akteure andererseits auf die gesamt-gesellschaftlichen Strukturen gemacht werden können. Mayntz et al. haben hierzu geschrieben:

«In dem, was Menschen sprechen und schreiben, drücken sie ihre Absichten, Einstellungen, Situationsdefinitionen, ihr Wissen und ihre stillschweigenden Annahmen über die Umwelt aus. Diese Absichten, Einstellungen usw. sind dabei mitbestimmt durch das sozio-kulturelle System, dem die Sprecher und Schreiber angehören und spiegeln deshalb nicht nur die Persönlichkeitsmerkmale der Autoren, sondern auch Merkmale der sie umgebenden Gesellschaft wider – institutionalisierte Werte, Normen, sozial vermittelte Situationsdefinitionen usw.»[77]

In Anlehnung an diese Überlegungen und in Anbetracht des Umstands, dass der aussenpolitische Wandel der US-Regierung unter Zuhilfenahme des sozialkonstruktivistischen Ansatzes angegangen wird, soll in dieser Arbeit methodisch folgendermassen verfahren werden: Analysiert wird ein breites Quellenpaket aus Reden und Stellungnahmen sowie publizierten Aufsätzen von politischen Entscheidungsträgern der Bush-Administration, insbesondere von Präsident George W. Bush, Vizepräsident Dick Cheney, Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, Vize-Verteidigungsminister Paul Wolfowitz, Aussenminister Colin Powell und der nationalen Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice. Diese Personen werden aus dem Grund gewählt, weil sie als Vorsitzende und Stellvertreter von aussen- und sicherheitspolitischen Regierungsinstitutionen sowie im Falle von Condoleezza Rice in beratender Funktion einen direkten Einfluss auf die Ausgestaltung der Aussen- und Sicherheitspolitik ausüben können.[78] Zudem wird für die Periode nach dem 11. September die National Security Strategy von 2002 und die National Strategy for Combating Terrorism von 2003 in die Analyse miteinbezogen, da in diesen Strategiepapieren in konziser Form die Ideen, Interessen sowie aussen- und sicherheitspolitische Handlungsorientierungen dargestellt werden.[79] Ferner werden auch Anhörungen zu sicherheits- und aussenpolitischen Themen vor den aussen- und sicherheitspolitischen Senats- und Kongressausschüssen begutachtet, da in solchen Anhörungen oftmals amtsexterne Personen zu Worte kommen, von denen Impulse für die Aussen- und Sicherheitspolitik ausgehen können bzw. von deren Stellungnahmen Rückschlüsse gemacht werden können, inwiefern ihre Ideen sich in den politischen Stellungnahmen der Entscheidungsträger wiederfinden lassen.[80]

Der Analysezeitraum wird auf die Zeitspanne zwischen dem Präsidentschaftswahljahr 2000 und dem G8-Gipfel auf Sea Island (10. Juni 2004) festgesetzt. Die Periode vor dem 11. September 2001 wird deshalb in die empirische Analyse miteinbezogen, da aussenpolitischer Wandel ein relationales Konzept ist und dementsprechend in einem zeitlichen Ablauf untersucht werden muss.[81] Das Präsidentschaftswahljahr wird in die Analyse eingeschlossen, weil die Zeitperiode vom Amtsantritt der Bush-Administration im Januar 2001 bis zum 11. September 2001 allzu kurz ist, um ein klares Profil der Aussen- und Sicherheitspolitik der Bush-Administration vor den Anschlägen zu bekommen. Das Ende des Analysezeitraums wird auf den G8-Gipfel festgesetzt, weil richtungsweisende aussenpolitische Entscheidungen (Afghanistankrieg (2001), Irak-Krieg (2003), «Broader Middle East Initiative» (2004)) und Strategien (National Security Strategy, National Strategy for Combating Terrorism), die vor dem Hintergrund des aussen- und sicherheitspolitischen Wandels gesehen werden können, in dieser Periode von der Bush-Regierung getroffen bzw. entwickelt worden sind. Folglich wird die Gesamtzeitspanne in zwei in sich geschlossene Zeitperioden unterteilt, nämlich in eine Periode vor dem 11. September (Januar 2000 – 10. September 2001) und eine Periode nach dem 11. September (11. September 2001 – 10. Juni 2004).

Bezüglich der Auswahl des Textmaterials ging ich folgendermassen vor: In einer ersten Auswahlrunde wählte ich aus den Online-Datenarchiven des Weissen Hauses (www.whitehouse.gov), des Verteidigungs- und Aussenministeriums (www.defenselink.mil, www.state.gov), dem Online-Textarchiv der juristischen Fakultät der Universität Yale (www.yale.edu/lawweb/avalon/sept_11/sept_11.htm), das wichtige Stellungnahmen und Dokumente der Bush-Administration sowie Hearings zu aussen- und sicherheitspolitiscchen Themen für die Periode nach dem 11. September 2001 aufgeschaltet hat, 125 Reden und Stellungnahmen der oben genannten Personen aus und begutachtete sie. Aus diesen Quellen wurden dann diejenigen Texte zur vertieften Analyse ausgewählt, in denen die Ideen, Interessen und Handlungsorientierungen der amerikanischen Regierung im Bereich der Aussen- und Sicherheitspolitik am deutlichsten zum Ausdruck kamen bzw. in denen der Informationsgehalt diesbezüglich am grössten war.[82] Bezüglich der Auswahl der Hearings vor den Senats- und Kongressausschüssen wurden jene begutachtet, die sich aus der Stichwort-Eingabe «foreign affairs», «foreign policy», «national security», «terrorism» sowie «Middle East» auf der Suchplattform des U.S. Government Printing Office (http://www.gpoaccess.gov/index.html) ergaben. Hinsichtlich der Aufsätze, die Vertreter der Bush-Regierungen publiziert haben, beschränkte ich mich auf die Zeitschrift Foreign Affairs des Council on Foreign Relations, da die Feststellung gemacht wurde, dass Vertreter der amerikanischen Regierung ihre Aufsätze in dieser Zeitschrift publiziert haben. Um der Kritik entgegenzuwirken, dass sich bei diesem Auswahlverfahren subjektive Verzerrungen einschleichen könnten, wurde zum Themenkomplex dieser Arbeit auch auf Sekundärliteratur zurückgegriffen. Ausgewählt wurden sowohl Zeitungsartikel zur Aussen- und Sicherheitspolitik der Bush-Regierung in der New York Times, was insbesondere für die Zeitperiode vor dem 11. September 2001 galt, da in dieser Periode nicht allzu viele Primärquellen zur Aussen- und Sicherheitspolitik der Regierung vorhanden waren, als auch Monographien sowie politikwissenschaftliche Abhandlungen zur Aussen- und Sicherheitspolitik der Bush-Administration in Fachzeitschriften.

Das Textmaterial für die jeweilige Zeitperiode wurde qualitativ, d.h. interpretativ ausgewertet, wobei der aussen- und sicherheitspolitische Diskurs anhand dreier allgemein gehaltener Themenkategorien, die intern weiter ausdifferenziert worden sind, strukturiert wurde. Die Themenkategorien lehnen sich einer Fallstudie von Knut Kirste zum aussenpolitischen Rollenkonzept der USA zwischen 1985 und 1995 an und wurden dem Inhalt dieser Arbeit angepasst.[83] Die übergeordneten Kategorien sind hierbei die folgenden:

1. Wahrgenommene Rahmenbedingungen der Aussen- und Sicherheitspolitik: Durch die interpretative Zuordnung der Stellungnahmen und Textstellen in diese Kategorie soll aufgezeigt werden, wie im Rahmen des aussen- und sicherheitspolitischen Diskurses Vertreter der Bush-Administration die Position der USA in der internationalen Politik vor und nach den Anschlägen vom 11. September wahrgenommen haben bzw. welche Bedrohungen und Sicherheitsrisiken von der Bush-Administration identifiziert worden sind, was wiederum Rückschlüsse auf die Bedrohungswahrnehmung sowie die Situationsdefinition zulässt, was Inhalt der ersten Hypothese ist.
2. Aussen- und sicherheitspolitische Handlungsorientierungen: Die Stellungnahmen und Textstellen, die dieser Kategorie zugeordnet werden, sollen deutlich machen, welche handlungsbestimmende Ideen, Ziele und Imperative im Rahmen des aussen- und sicherheitspolitischen Diskurses vor und nach dem 11. September vorhanden waren bzw. sich innerhalb der Bush-Administration durchzusetzen vermochten, was Inhalt der zweiten Hypothese ist.
3. Aussen- und sicherheitspolitische Strategien und Instrumente: Die Stellungnahmen und Textstellen, die dieser Kategorie zugeordnet werden, rücken das aussen- und sicherheitspolitische Instrumentarium der Bush-Administration in den Mittelpunkt, an dem sich ablesen lässt, mit welchen politischen, ökonomischen oder militärischen Strategien und Initiativen die handlungsleitenden Ideen und Imperative konkret durchgesetzt werden sollen.

Alle drei Kategorien zusammengenommen ergeben eine Gesamteinschätzung des Rollenverständnisses und der aussen- und sicherheitspolitischen Handlungsorientierung der Bush-Regierung, wie sie vor und nach den Anschlägen vom 11. September das aussenpolitische Geschäft bestimmten.

Mit diesen Überlegungen ist der theoretische Teil dieser Arbeit abgeschlossen, sodass ich mich nun der Auswertung des empirischen Textmaterials zuwenden werde.

5 Empirische Analyse

5.1 Auswertung des Textmaterials: Januar 2000 – 10. September 2001

5.1.1 Wahrgenommene Rahmenbedingungen der Aussen- und Sicherheitspolitik

In der Zeitspanne vor dem 11. September 2001 betrachteten Vertreter der später ins Amt gewählten Bush-Administration sowohl die aussen-, sicherheits- und weltpolitischen Rahmenbedingungen für die USA als auch ihre aussenpolitische Situation als äusserst positiv. So schrieb die aussen- und sicherheitspolitische Beraterin des republikanischen Präsidentschaftskandidaten George W. Bush und spätere nationale Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice in einem in der Zeitschrift Foreign Affairs veröffentlichten, programmatischen Aufsatz zur Aussen- und Sicherheitspolitik im Falle einer republikanischen Präsidentschaft[84], dass sich die USA seit dem Ende des Kalten Krieges und nach dem Zusammenbruch des ehemaligen sowjetischen Systemantagonisten weltpolitisch in einer «remarkable position»[85] befinde, «[to] affect the shape of the world to come.»[86] So stehe die USA «on the right side of history», denn «powerful secular trends are moving the world toward economic openness and – more unevenly – democracy and individual liberty.»[87] Als säkulare Trends beschrieb Rice die Entstehung und das Wachstum eines von den USA ausgehenden post-industriellen Wirtschaftssystems ausgelöst durch Veränderungen in den Informationstechnologien , was dazu geführt habe, dass sich in den 90er Jahren ein dynamischer, grenzüberschreitender Wirtschaftszweig entwickelt hatte, der die ökonomische Öffnung und die Freiheits- und Demokratieverbreitung vorantreibe, wodurch sich laut Rice auch der Einfluss der USA auf die Geschehnisse der internationalen Politik und Ökonomie verstärke: «America has emerged as both the principal benefactor of these simultaneous revolutions and their beneficiary.»[88] Um diese für die USA positiven ökonomischen und politischen Entwicklungen voranzutreiben, müsse gemäss Rice eine disziplinierte, auf das Wesentliche beschränkte Aussen- und Sicherheitspolitik betrieben werden, die diese ökonomischen Prozesse unterstützt und die eigene Stellung in der Weltpolitik dadurch stärkt.[89]

[...]


[1] Eine detaillierte Aufzeichnung der Geschehnisse und des Tathergangs vom 11. September 2001 kann im ersten Kapitel des 9/11 Commission Report (2004: 1-46) nachgelesen werden.

[2] Bush, George W.: Statement by the President in his address to the Nation, 11.09.01.

[3] Walt, 2001/2002: 56.

[4] Ebd. Zu diesem Argument siehe auch Daase, 2002: 113-115; Higgott, 2003: 13; Jervis, 2003: 365; Hoffman, 2004: 31; Moens, 2004: 103; Rudolf, 2005: 13.

[5] NSS, 2002: ii.

[6] Ebd.

[7] Vgl. Ebd.: ii, 14.

[8] Ebd.

[9] Vgl. Ottaway et al., 2002: 1f.; Ikenberry, 2002: 51-55; Barber, 2003: 33-110; Nye, 2003: 11.

[10] Vgl. Kaldor, 2003: 188.

[11] Um auf ihre Kritik gegenüber dem eingeschlagenen aussenpolitischen Kurs der Bush-Regierung im Kontext des Kriegs gegen den Terrorismus aufmerksam zu machen, schalteten namhafte Wissenschaftler der Internationalen Beziehungen, darunter Kenneth Waltz, John Mearsheimer, Robert Jervis, Jack Snyder, Randal Schweller, Richard Rosecrance, Stephen Walt und Robert Powell, am 26. September 2002 in der New York Times eine Anzeige mit dem Titel «WAR WITH IRAQ IS ­NOT IN AMERICA’S NATIONAL INTEREST». In den einleitenden Sätzen konstatieren die Autoren, dass «as scholars of international security affairs, we recognize that war is sometimes necessary to ensure our national security or other vital interests. We also recognize that Saddam Hussein is a tyrant and that Iraq has defied a number of U.N. resolutions. But military force should be used only when it advances U.S. national interests. War with Iraq does not meet this standard.» (nachzulesen auf der Website von John Mearsheimer unter: http://johnmearsheimer.uchicago.edu/pdfs/P0012.pdf (21.12.2005))

[12] Vgl. Kaldor, 2003: 188; Mearsheimer/Walt, 2003: 52.

[13] Vgl. Hoffman, 2004: 31.

[14] Vgl. Rice, 2000: 46.

[15] Ebd.: 50-54.

[16] Ebd.: 54-62.

[17] Ebd.: 61.

[18] Aussenpolitischer Wandel wird in Anlehnung an den von Volgy und Schwarz (1994: 25) entwickelten Begriff des «foreign policy restructuring» verstanden als «a major, comprehensive change in the foreign policy orientation of a nation, over a relatively short period of time, as manifested through behavioral changes in a nation’s interactions with other actors in international politics». Thomas Risse (1994: 44) hat das Konzept des aussenpolitischen Wandels ähnlich definiert als «grundlegende Veränderungen in den internationalen Orientierungen eines Landes». Gleichzeitig muss darauf aufmerksam gemacht werden, dass aussenpolitischer Wandel nicht objektiv greifbar ist, sondern stets im Auge des Betrachters liegt und folglich von den Annahmen und Theorien, die der Wissenschaftler zur Erklärung heranzieht, abhängig ist (vgl. Medick-Krakau, 1999: 9). Auf diese Lizentiatsarbeit gemünzt bedeutet dies, dass die Plausibilität der Erklärung des aussen- und sicherheitspolitischen Wandels somit mit der argumentativen Kraft des sozialkonstruktivistischen Ansatzes, der abgeleiteten Hypothesen und der empirischen Vorgehensweise, die von dieser Theorie gesteuert wird, steht oder fällt.

[19] Vgl. Zangl/Zürn, 2003: 140.

[20] Vgl. Holsti, 1998: 2; Medick-Krakau, 1999: 7.

[21] Vgl. Risse, 1999: 33; Harnisch, 2002: 8; Zangl/Zürn, 2003: 118.

[22] Vgl. Katzenstein, 1996: 7-11; Risse, 1999: 33; Wendt, 1999: 4.

[23] Vgl. hierzu den Aufsatz von Alexander Wendt (1992), der die «konstruktivistische Wende» in den Internationalen Beziehungen in den 90er Jahren eingeleitet hat (vgl. Ulbert, 2003: 395f.), sowie Daase, 1999: 41f.

[24] Siehe insbesondere den Sammelband von Goldstein/Keohane (1993) sowie Katzenstein (1996).

[25] Vgl. Kapitel 3.2.

[26] Vgl. Schörnig, 2003: 61.

[27] Vgl. zu diesem Argument das Buch von Vasquez (1998) sowie den Aufsatz von Legro/Moravcsik (1999).

[28] Vgl. Schörnig, 2003: 67.

[29] Vgl. Waltz, 1993: 59f. Dieser Gedankengang geht im wesentlichen auf die Naturzustandskonzeption von Thomas Hobbes zurück, der eine politische Ordnung ohne zentrale Autorität mit Gewaltmonopol zur Rechts- und Gesetzesdurchsetzung als anarchisch angesehen hat (vgl. Braun/Heine/Opolka, 2000: 93f.). In einem solchen Naturzustand herrscht die permantente Unsicherheit bezüglich der Handlungen der anderen Akteuren vor, was als klassisches Sicherheitsdilemma gilt.

[30] Vgl. Waltz, 1979: 39. Waltz verwirft die These, dass internationale Politik aus der Summe ihrer Einzelteile, nämlich der Handlungen der Staaten, erklärt werden kann. Vielmehr muss seiner Ansicht nach eine Theorie der Internationalen Beziehungen das Verhalten von Staaten systemisch erklären, d.h. Aussenpolitik muss von der Struktur des internationalen politischen Systems abgeleitet werden können. Die Systemdefinition, die Waltz hierbei seiner Theorie zugrunde legt, lehnt sich stark an mikroökonomischen Theorien an, indem er ein System aus zwei Elementen zusammengesetzt sieht, nämlich den Akteuren bzw. Systemeinheiten und der separaten Struktur (vgl. Schörnig, 2003: 66). Theorien, die einen solchen systemischen Ansatz nicht pflegen, sondern kausale Annahmen auf der subsystemischen Ebene des Individuums (z.B. der klassische Realismus von Morgenthau) oder auf der Grundlage innenpolitischer Prozesse (z.B. Bürokratiemodell von Allison) zur Erklärung des aussenpolitischen Verhaltens von Staaten machen, bezichtigt er der historischen Vorgehensweise und bezeichnet sie als reduktionistisch (vgl. Waltz, 1979: 18-37; Zangl/Zürn, 2003: 41).

[31] Vgl. Waltz, 1979: 66.

[32] Ebd.: 90f.; Schörnig, 2003: 67.

[33] Vgl. Waltz, 1979: 93, 113.

[34] Ebd.: 102-111; Zangl/Zürn 2003: 43.

[35] Waltz (1979: 99f.) formuliert diesen für seine Theorie zentralen Gedankengang folgendermassen: «In defining international-political structureswe take states with whatever traditions, habits, objectives, desires, and forms of government they may have. We do not ask whether states are revolutionary or legitimate, authoritarian or democratic, ideological or pragmatic. We abstract from every attribute of states except their capabilities. Nor in thinking about structure do we ask about the relations of states – their feelings of friendship and hostility, their diplomatic exchanges, the alliances they form, and the extent of the contacts and exchanges among them. We ask what range of expectations arises merely from the looking at the type of order that prevails among them and at the distribution of capabilities of their concrete connections.»

[36] Ebd.: 131.

[37] Ebd.: 127. Solche Akte der Machtbalancierung führen dazu, dass die Machtverteilung drei idealtypische Formen annehmen kann, die sich durch unterschiedliche Stabilitätsgrade auszeichnen. So kann das internationale System unipolar (Existenz eines Hegemons), bipor (Existenz zweier mächtiger Staaten) oder multipolar (Existenz mehrerer mächtiger Staaten) strukturiert sein, wobei eine bipolare Ordnung aufgrund ihrer Übersichtlichkeit als besonders stabil erachtet wird (vgl. Waltz, 1979: 136). Allerdings muss an dieser Stelle hinzugefügt werden, dass die Balancing -These von Neorealisten unterschiedlich gehandhabt wird (vgl. Elman, 2003: 7-17). So vertritt Stephen Walt die Ansicht, dass Staaten nicht etwa auf reelle Machtungleichgewicht, sondern auf wahrgenommene Bedrohungen reagieren, was allerdings von klassischen Neorealisten wie Kenneth Waltz als eine reduktionistische Erklärung abgelehnt wird, da der Aspekt der Bedrohungswahrnehmung eine subjektive Komponente enthält (vgl. Zangl/Zürn, 2003: 46). Ferner sind sich Neorealisten nicht darüber einig, inwiefern das Argument des Machtausgleichs stichhaltig ist und nicht auch Bandwagoning betrieben wird. Ein weiterer Punkt, über den im Rahmen der neorealistischen Theorie debattiert wird, ist die Frage, ob Staaten beim Ausgleich des (perzipierten) Machtungleichgewichts von einer Machtmaximierung ablassen, indem sie nur ihre Sicherheit zu maximieren versuchen. Diesbezüglich unterscheidet man in den Politikwissenschaften mittlerweile zwischen einer offensive und eine defensive Variante des Neorealismus. Offensive Neorealisten wie John Mearsheimer argumentieren, dass Grossmächte ihre Sicherheit durch relative Machtmaximierungen zu vergrössern versuchen (vgl. Mearsheimer, 2001: 21, 30-36). Defensive Neorealisten wie Kenneth Waltz sind der Ansicht, dass mächtige Staaten sicherer sind, wenn sie von einer Machtmaximierung ablassen und ihre Macht zur Bewahrung des Status quo einsetzen (vgl. Schörnig, 2003: 75f.). Bezüglich einer grundsätzlichen Kritik zu den verschiedenen Weiterentwicklungen des Neorealismus siehe Vasquez (1998), Legro/Moravcsik (1999), Elman (2003).

[38] Vgl. Elman, 2003: 9.

[39] Vgl. Zangl/Zürn, 2003: 46.

[40] Monten (2005: 118) schreibt zum mangelhaften Erklärungsgehalt (neo)realistischer Theorien bezüglich des Aufkommens von Strategien der Demokratieverbreitung folgendes: «Relative power is a necessary, but not sufficient, condition for explaining variation in the United States’ democracy-promotion strategy. The capability to project political and military power is clearly a precondition to actively promoting democracy abroad, but not all states with this capability necessarily pursue a policy of democracy promotion. Realism can explain the broad contours of political expansion, but it cannot capture within the terms of the factors it privileges variation in the specific content of interests or policy choice. Realist behavioral expectations are overly general; they follow from a positional logic, independent of the properties or intentions unique to states. The conceptional frame of nationalism and national identity help to explain why the United States defines its political interests in terms of democracy promotion. » (Hervorhebung durch den Verfasser)

[41] Rice, 2000: 61.

[42] Ebd.

[43] In dem bereits in der Einleitung dieser Arbeit zitierten Zeitungsinserat in der New York Times, das von Politikwissenschaftlern aufgeschaltet wurde, steht zur Einschätzung der Sicherheitsbedrohung für USA und der zu verfolgenden Strategie im Kampf gegen den Terrorismus folgendes geschrieben: «Al Qaeda poses a greater threat to the U.S. than does Iraq. War with Iraq will jeopardize the campaign against al Qaeda by diverting resources and attention from that campaign and by increasing anti-Americanism around the globe. The United States should maintain vigilant containment of Iraq – using its own assets and the resources of the United Nations – and be prepared to invade Iraq if it threatens to attack America or its allies. That is not the case today. We should concentrate instead on defeating al Qaeda» (nachzulesen auf der Website von John Mearsheimer unter: http://johnmearsheimer.uchicago.edu/pdfs/P0012.pdf (21.12.2005)). Mit anderen Worten waren diese Gelehrte der Internationalen Beziehungen der Ansicht, dass es weder einen objektiv sichtbaren Grund für die Einschätzung der Bush-Regierung betreffend der irakischen Sicherheitsbedrohung noch für die Wahl einer militärischen Intervention gab.

[44] Zur Artikulation dieses Arguments siehe Goldstein/Keohane, 1993: 3-5; Jepperson et al., 1996: 52-66 sowie Weldes, 1999: 7-9.

[45] Vgl. Hollis/Smith, 1991: 118; Hagan 1994: 147; Rosati 1994: 224f.

[46] Vgl. Wendt, 1999: 24-32; Ulbert, 2003: 396; Zangl/Zürn, 2003: 118.

[47] Vgl. Risse, 2003: 102; Zangl/Zürn, 2003: 121.

[48] Ulbert, 2003: 391.

[49] Ebd.: 396.

[50] Risse, 2003: 105. Vgl. auch Finnemore, 1996: 157.

[51] Vgl. Hollis/Smith, 1991: 68-70; Wendt, 1992: 401; Checkel, 1998: 324f.

[52] Risse, 1999: 37. Vgl. auch Wendt, 1995: 73; Katzenstein, 1996: 17ff.

[53] Vgl. Wendt, 1992: 392; Ulbert, 2003: 405.

[54] Jepperson et al., 1996: 59.

[55] Ulbert, 2003: 401. Akteure können in diesem Zusammenhang Staaten, Gruppen sowie Individuen sein, die gewisse Ideen tragen, Normen verinnerlicht haben und eine Identität besitzen.

[56] Ebd.: 405 sowie Jackson, 2004: 170f.

[57] Wendt, 1999: 231. In einem 1994 verfassten Artikel hat Alexander Wendt dieses Argument differenziert herausgearbeitet, indem er staatlichen Akteuren zwei Identitäten zuschreibt, nämlich eine korporative und eine soziale Identität. Unter korporativer Identität versteht er die intrinsische, sich selbst-organisierende Qualität eines Staates, welche seine Individualität ausmacht. Für staatliche Organisationen beinhaltet dies die auf einem geographischen Territorium lebenden Individuen, die physisch vorhandenen Ressourcen sowie die kollektiv geteilten Bedeutungsgehalte, die bewirken, dass die Individuen eines Territoriums als Einheit funktionieren. Solche korporative Identitäten verfolgen vier Ziele: 1) physische Sicherheit; 2) ontologische Sicherheit bzw. Voraussagbarkeit in Bezug auf die Beziehungen zur Aussenwelt; 3) Anerkennung als Akteure durch andere und 4) Entwicklungen, um den Individuen ein besseres Leben zu ermöglichen. Diese vier Ziele generieren die Handlungsmotivation eines Staates. Wie Staaten allerdings diese Ziele umsetzen, ist davon abhängig, wie sich selbst in Relation zu anderen Akteuren definieren, was eine Funktion der sozialen Identität ist. Als soziale Identität bezeichnet Wendt die Bedeutungsgehalte, die ein Staat sich selbst und den anderen Akteuren zuschreibt. Sie setzt sich aus sozialen und kognitiven Strukturen der Erwartungshaltung zusammen und erlaubt es den staatlichen Akteuren, sich in Situationen zu positionieren bzw. bestimmte Rollen einzunehmen (vgl. Wendt, 1994: 386). Identitätswandel und somit auch aussenpolitischer Wandel kann nun auf beiden Ebenen stattfinden: Verändert sich beispielsweise das physische Sicherheitsumfeld eines Staates, so kann sich dies auch auf die soziale Identität niederschlagen, indem neue Feinde und Bedrohungen wahrgenommen werden und die eigene Position und Rolle in Bezug zu diesen Feinden oder Bedrohungen neu definiert und strukturiert wird. Auf der anderen Seite können aber auch Veränderungen der sozialen Identität die korporative Identität beeinflussen, indem beispielsweise zuvor vorhandene Wahrnehmungsmuster bezüglich der internationalen politischen Umwelt oder Rollenzuschreibungen gegenüber bestimmten politischen Akteuren durch neue Wahrnehmungsmuster und Rollenzuschreibungen substituiert werden, wodurch sich wiederum die korporative Identität verändert.

[58] Katzenstein, 1996: 19.

[59] Vgl. Jepperson et al., 1996: 61; Ulbert, 2003: 405.

[60] Risse, 1999: 50.

[61] Ulbert, 2003:405.

[62] Vgl. Zangl/Zürn, 2003: 126ff.

[63] Vgl. Berger, 1996: 325f.; Risse, 1999: 50. Als Beispiel kann diesbezüglich das abrupte Ende des Ost-West-Konflikts erwähnt werden, infolgedessen eine während vier Jahrzehnten vorhandene soziale, politische und ökonomische Konstellation zusammenbrach und die Staatenwelt vor neue ökonomische als auch politische Tatsachen stellte, worauf sowohl die Regierungen des Westens als auch jene des Ostens und der Dritten Welt ihre Rolle in dieser sich gewandelten politischen Umwelt neu definieren und ihre Aussen- und Sicherheitspolitik den veränderten weltpolitischen Rahmenbedingungen anpassen mussten.

[64] Vgl. Goldstein/Keohane, 1993: 17; Rosati, 1994: 231f.; Risse 1999: 44f.

[65] Vgl. Risse, 1999: 56.

[66] Vgl. O’Hagan, 2004: 28; Goff/Dunn, 2004: 2.

[67] Das Konzept des Diskurses gehört zusammen mit dem Konzept der Identität zu den zentralen Begriffen des sozialkonstruktivistischen Ansatzes, wobei angemerkt werden muss, dass die Definition des Diskurs-Begriffs auch innerhalb des Sozialkonstruktivismus z.T. erheblich variiert (vgl. Nadoll, 2000: 5). Ausgangspunkt ist allerdings bei allen sozialkonstruktivistischen Theorien die Annahme, dass Sprache und Kommunikation eine zentrale Bedeutung bei der Wirklichkeitskonstruktion einnehmen (vgl. Ulbert, 2003: 408). Dies muss vor dem Hintergrund der Überlegung gesehen werden, dass «Realität» nicht objektiv vorliegt, sondern intersubjektiv konstruiert wird (vgl. Nadoll 2000: 6). Folglich wird Sprache zum zentralen Medium, «durch das ‘Realität’ zugänglich wird und gleichzeitig im Sprechakt konstruiert wird» (Ulbert, 2003: 408). So gesehen sind Sprache und Kommunikation in diesem Prozess der Wirklichkeitskonstruktion «als zentrale Handlungen zu verstehen, mittels derer gemeinsam geteilte Bedeutungsgehalte erschaffen werden» (ebd.: 410). Im Begriff des Diskurses werden nun diese Gedanken zusammengeknüpft, da ein Diskurs gemäss Nadoll (2000: 5) im Wesentlichen drei Dimensionen umfasst: «(1) Gebrauch von Sprache, (2) Kommunikation über Wertvorstellungen bzw. kommunikative Transmission von Wertvorstellungen sowie Sinngebungen und (3) Interaktion in sozialen Situationen und spezifischen Kontexten.» Ein Diskurs steckt somit den Möglichkeitsrahmen ab, innerhalb dessen verbal handelnde Akteure ihre politischen Ideen und Überzeugungen argumentativ durchzusetzen versuchen (vgl. Zangl/Zürn, 2003: 122). Dass diese Durchsetzungsfähigkeit auch etwas mit Macht zu tun hat, darauf hat Michel Foucault in seinen Arbeiten hingewiesen (vgl. Diez, 2003: 452), soll aber an dieser Stelle nicht weiter elaboriert werden. Vielmehr soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass in dieser Lizentiatsarbeit der von der US-Regierung geführte aussen- und sicherheitspolitische Diskurs untersucht wird. Durch die interpretative Analyse der Argumente und Ideen, die im Rahmen dieses Diskurses vorgetragen werden, soll der aussen- und sicherheitspolitische Wandel der Bush-Regierung aufgezeigt sowie die Durchsetzung der Leitidee der Demokratie- und Freiheitsverbreitung erarbeitet werden.

[68] Vgl. Risse, 1999: 44f; Wendt, 1999: 128f.

[69] Vgl. Medick-Krakau, 1999: 19; Risse, 1999: 51.

[70] Vgl. Medick-Krakau, 1999: 19; Risse, 1999: 56; Wendt, 1999: 128f.

[71] Strukturtransformation wird im Sinne von Harry Eckstein (1992: 278) verstanden als «the use of political power and artifice to engineer radically changed social and political structures, thus culture patterns and themes: to set society and polity on new courses toward unprecedented objectives.» Eine solche Strukturtransformation kann laut Eckstein durch Revolutionen, militärische Interventionen mit anschliessender Okkupation aber auch durch «nation building»-Prozesse erreicht werden (ebd.).

[72] Unter einer Situationsdefinition wird eine politische Standortbestimmung verstanden, die von einer Staatsführung zu einer gegebenen Zeit vollzogen wird. Die Elementarste aller Situationsdefinitionen im Bereich der internationalen Politik ist die zwischen Krieg und Frieden, da diese Situationsdefinition weitreichende Implikationen auf das Verhalten und die Bedrohungswahrnehmung von Staatsführungen hat (vgl. Howard, 2002: 9). Entscheidend ist allerdings zu sehen, dass jede Situationsdefinition einen subjektiven Interpretationsakt darstellt, der vor dem Hintergrund der Wahrnehmungsweise und dem Weltbild der politischen Entscheidungsträger vollzogen wird (vgl. Risse, 1999: 50-56; Frederking et al., 2005: 135-142). Dies gilt im Übrigen auch für die Definition und das Erkennen von nationalen Bedrohungen, die nicht objektiv vorliegen, sondern subjektiv wahrgenommen oder konstruiert werden müssen (vgl. Flohr, 1991: 34; Hagan, 1994: 147; Weldes, 1999: 7).

[73] Zangl/Zürn, 2003: 121; vgl. auch Hollis/Smith, 1991: 68-72; Mayring, 2000: 17.

[74] Daase, 1999: 46.

[75] Vgl. Graumann et al., 1991: 67-71; Patzelt, 2004: 773-776.

[76] Siehe Fussnote 67 zum Konzept des Diskurses.

[77] Mayntz et al., zitiert in: Kirste, 1998: 3f. Es muss an dieser Stelle hinzugefügt werden, dass bei einer Auswertung von schriftlich fixierter Kommunikation stets das Problem besteht, dass letztlich die angewandte Rhetorik analysiert wird, die nicht mit den politischen Zielen oder Absichten der politischen Entscheidungsträger übereinstimmen muss. Dieser Einwand ist berechtigt, da es sicherlich stimmt, dass gewisse Stellungnahmen darauf abzielen oder bewusst dafür eingesetzt werden, um die Öffentlichkeit von einer politischen Position zu überzeugen bzw. für ein bestimmtes politisches Anliegen zu mobilisieren (vgl. Weldes, 1999: 114). Auf der anderen Seite geben die Stellungnahmen der politischen Entscheidungsträger stets aber auch einen Hinweis darauf, was zu einer gegebenen Zeit und in einem bestimmten politischen Kontext geglaubt wird, denn in diesen Stellungnahmen widerspiegeln sich politische Ideen sowie Wahrnehmungs- und Interpretationsmuster einer Staatsführung (ebd.: 117; vgl. auch Frederking et al., 2005: 42; Jackson, 2004: 174), die interpretativ herausgearbeitet werden können.

[78] Vgl. Weldes, 1999: 112

[79] Vgl. Kirste, 1998: 2.

[80] Vgl. Weldes, 1999: 113.

[81] Vgl. Rosati 1994: 222; Holsti, 1998: 4-6; Medick-Krakau, 1999: 9. Eine andere Möglichkeit, den aussen- und sicherheitspolitischen Wandel zu analysieren, würde darin bestehen, zu konstatieren, dass ein solcher Wandel stattgefunden hat und die Periode vor dem 11. September (t) aus der Analyse auszuklammern, um sich auf die Zeitperiode nach dem 11. September zu konzentrieren (t’). Eine solche Vorgehensweise ist meiner Ansicht nach aus dem Grund mangelhaft, weil gewisse politische Ideen oder Vorstellungen, die in t bereits vorhandenden sein und in t’ wieder vorkommen können, durch die Ausklammerung der Analyse von t nicht aufgezeigt werden. Zudem werden charakteristische Merkmale des aussen- und sicherheitspolitischen Wandels erst dadurch sicht- und erkennbar, wenn der Kontrast und die Abgrenzung zu t dargestellt wird. Aus diesen Gründen habe ich mich im Rahmen dieser Arbeit gegen diese Vorgehensweise entschieden, wohl wissend, dass auch die von mir gewählte Vorgehensweisen unvollständig ist, da argumentiert werden kann, dass die Gefahr eines infiniten Regresses besteht, indem, um die Aussen- und Sicherheitspolitik in der Zeitperiode von t zu verstehen, auch die Zeitperiode vor t untersucht werden muss usw. Da es sich aber um eine Lizentiatsarbeit zum aussen- und sicherheitspolitischen Wandel der Bush-Regierung handelt, werde ich mich auf die Darstellung und Analyse von t und t’ beschränken.

[82] Für eine Übersicht der analysierten Texte verweise ich auf die Bibliographie dieser Arbeit.

[83] In einer Fallstudie im Rahmen des Forschungsprojekts ‘Zivilmächte’ der Universität Trier hat Kirste das aussenpolitische Rollenkonzept der USA zwischen 1985 bis 1995 anhand einer qualitativen Auswertung der veröffentlichten Strategiepapiere sowie Stellungnahmen der politischen Entscheidungsträger untersucht. Folgende Kategorien wurden hierbei von ihm interpretativ analysiert: «1. Wahrgenommene Rahmenbedingungen der Aussen- und Sicherheitspolitik; 2. Werte und Ziele amerikanischer Aussen- und Sicherheitspolitik; 3. Definition nationaler Interessen; 4. Aussen- und sicherheitspolitische Strategien und Instrumente sowie 5. Das amerikanische Rollenbild/Gesamteinschätzung» (Kirste, 1998: 1). Die erste und vierte Kategorie werden direkt von Kirste übernommen, da sie den aussen- und sicherheitspolitischen Diskurs passend zum Inhalt meiner Hypothesen strukturieren (siehe Argumente im Text). Die zweite und dritte Kategorie von Kirste werden zur breiter gefassten Kategorie «Aussen- und sicherheitspolitische Handlungsorientierungen» zusammengefasst. Diese Zusammenlegung hat erstens methodische Gründe, da Kirste vornehmlich die Strategiepapiere untersucht hat, in denen eine Trennung zwischen Werten, Zielen und nationalen Interessen klarer zum Ausdruck kommt als in Reden und Stellungnahmen. Gleichzeitig wurde bei der Durchlese der Arbeit von Kirste die Erfahrung gemacht, dass auch er insbesondere die zweite und dritte Kategorien durchmischt. Der zweite Grund, weshalb die Kategorien zusammengelegt werden, ist der, dass dadurch die statische Komponente, die Kirste in seiner Arbeit hat, überwunden wird, indem durch die Verbreiterung der Kategorie und die interne Ausdifferenzierung die Ideen, Ziele und Imperative und allenfalls der Wandel dieser Elemente in einem dynamischen zeitlichen Ablauf analysiert werden können.

[84] Die in diesem Aufsatz dargestellten aussen- und sicherheitspolitischen Leitlinien dienten nicht nur als Grundlage für den republikanischen Präsidentschaftswahlkampf, sondern prägten auch die aussen- und sicherheitspolitische Agenda der Bush-Administration in den Monaten vor dem 11. September 2001 (vgl. Perlez, Jane: «Rice on front line in foreign policy role», New York Times, 19.8.01: 10; Hoffman, 2004: 31), so dass ich mich in diesem Kapitel stark auf diesen Aufsatz von Rice fokussieren werde. Gleichzeitig muss darauf hingewiesen werden, dass sowohl der Präsidentschaftswahlkampf als auch die Monate vor dem 11. September mehrheitlich von innenpolitischen Themen - Bildungsreform, Fiskal- und Gesundheitspolitik - bestimmt waren und die Aussen- und Sicherheitspolitik nur am Rande der politischen Debatten eine Rolle spielte (vgl. Apple, R.W.: «Promises of changes, but unspoken details», New York Times, 3.8.00: 27; Sanger, David: «From social security to environment, the candidates’ positions», New York Times, 5.11.00: 45; Taub, James: «W.’s world», New York Times, 14.1.01: 28; Shanker, Tom: «White House says the U.S. is not a loner, just choosy», New York Times, 31.7.01: 1; Walt, 2001/2002: 56).

[85] Rice, 2000: 46.

[86] Ebd.: 45.

[87] Ebd.: 46.

[88] Ebd., sowie Rice, Condoleezza: Address to the republican national convention, 1.8.00. Ähnlich Powell, Colin: Town Hall meeting, 25.1.01.

[89] Rice, 2000: 46, sowie Rumsfeld, Donald: Prepared testimony to the Senate Armed Services Committee, 21.6.01.

Ende der Leseprobe aus 113 Seiten

Details

Titel
How ideas matter in war matters - Sozialkonstruktivistische Analyse des außen- und sicherheitspolitischen Wandels der US-Regierung im Zuge der Anschläge vom 11. September 2001
Hochschule
Universität Zürich
Note
1,3
Autor
Jahr
2006
Seiten
113
Katalognummer
V72144
ISBN (eBook)
9783638695541
ISBN (Buch)
9783638697217
Dateigröße
1766 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sozialkonstruktivismus, Ideen, Aussenpolitik, Sicherheitspolitik, USA, 9/11, Nahost, Irakkrieg, Afghanistankrieg, Bush-Doktrin, Neocons, American Enterprise Institute, Bedrohungswahrnehmung, Bush, Cheney, Rumsfeld
Arbeit zitieren
Robert van de Pol (Autor:in), 2006, How ideas matter in war matters - Sozialkonstruktivistische Analyse des außen- und sicherheitspolitischen Wandels der US-Regierung im Zuge der Anschläge vom 11. September 2001, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/72144

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