Erzähltheoretische Analyse: Walter Kempowskis "Herzlich Willkommen" und "Tadellöser & Wolff" im Vergleich


Hausarbeit (Hauptseminar), 2006

24 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Gliederung:

1. Einleitung

2. Erzähltheoretische Analyse von „Herzlich Willkommen“
2.1. Fiktionale Erzählung
2.2. Wie wird der Roman erzählt?
2.2.1. Die Zeit der Erzählung:
2.2.2. Der Modus der Erzählung
Wie mittelbar wird erzählt?
Aus welcher Sicht wird erzählt?
2.2.3. Erzählerstimme
Wann wird erzählt?
Wie stark ist der Erzähler am Geschehen beteiligt?
2.2.4. Vergleich mit „Tadellöser & Wolff

3. Figurenrede
3.1. Einordnung nach Genette
3.2. Die narrativisierte Figurenrede
3.3. Die direkte Figurenrede
3.4. Die transponierte Figurenrede

4. Erzählerperspektive und Intention des Autors

5. Collagetechnik
5.1. Definition des Begriffs Collage
5.2. Einordnung nach Volker Hage und Anwendung in den Romanen

6. Abschlussbetrachtung

7. Literaturverzeichnis

Primärliteratur:

Sekundärliteratur:

Abkürzungen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

Sechs Romane und drei Befragungsbänden umfasst die „Deutsche Chronik“ Walter Kempowskis. Im Mittelpunkt seiner Arbeit stehen vor allem die Themen Vergangenheit und Schuld. Erschienen sind die Romane zwischen 1971 und 1984. Schon immer stark mit der eigenen Biographie beschäftigt, schildert Kempowski in seiner Chronik die Geschichte einer Rostocker Familie zwischen 1885 und 1958. Alle Romane sind als fiktive Erzählungen angelegt, auch wenn ein großer Teil der Erzählung auf realen Vorlagen basieren dürfte.

Die in dieser Arbeit behandelten Romane haben jeder für sich eine besondere Stellung in der Chronik. Gleichwohl „Tadellöser & Wolff“ zwar nicht den Anfang der Chronik darstellt, so ist es doch als erstes Buch derselben erschienen. Die Behandlung der Zeit des Dritten Reiches mag einen großen Teil dazu beigetragen zu haben, dass es, sogar verfilmt, das erfolgreichste Buch der Chronik wurde. Die Sonderstellung von „Herzlich Willkommen resultiert aus einer anderen Ursache. Es bildet, als zuletzt erschienenes Buch, den Abschluss der Chronik.

In der vorliegenden Arbeit wird zu untersuchen sein, wie der Autor in erzähltechnischer Hinsicht vorgegangen ist. Nach einer Erzähltheoretischen Analyse, die eine Grundlage für das darauf Folgende schaffen soll, werden zwei Hauptthemen untersucht werden.

Das ist zunächst die Figurenrede. In beiden Romanen ist diese auf ihre Art und Weise sehr auffällig. Verwendet Kempowski in „T&W“ die direkte Rede noch sehr häufig, so tritt sie in „HW“ deutlich hinter der indirekten Figurenrede zurück. Warum lässt Kempowski die Figuren in dem einen Roman direkt, in dem anderen Roman „nur“ indirekt zu Wort kommen, wenn es doch eine fortlaufende Geschichte ist? Diese Frage soll ebenso beantwortet werden, wie die Frage nach der Intention, die der Autor mit dieser Vorgehensweise verfolgt.

Das zweite große Thema ist das Collage-Prinzip. Bereits in der Grundlage zur „Deutschen Chronik“, der vierbändigen „Familiengeschichte der Collasius, Hälssen, Kempowski, Nölting“ probiert Kempowski sich in der Anwendung der Collagetechnik. (vgl. Hempel, S. 23 f) Schon während seiner Haft in Bautzen sammelt er, zu dieser Zeit noch im Gedächtnis, Geschichten, Zitate und ähnliches. Er geht von Saal zu Saal, spricht mit seinen Kameraden und lässt sich deren Lebensgeschichten erzählen.

Nach seiner Freilassung 1956 beginnt er immer systematischer vorzugehen. Er befragt zunächst Verwandte und Freunde, macht sich zu allem Notizen, geht dann aber auch dazu über Fremde auf der Straße anzusprechen und sie zu einem bestimmten Thema zu befragen. So entstehen später unter anderem die Befragungsbände zu jeweils einem Thema: „Haben Sie Hitler gesehen?“ oder auch „Haben Sie davon gewusst?“ Aus all diesen Informationen, in Zettelkästen geordnet, in Verbindung mit seiner eigenen Familiengeschichte, entstehen nun die Romane der „Deutschen Chronik“. Originale Zitate, aber auch Werbeslogans oder Liedtexte aus der behandelten Zeit, baut er immer wieder in seine Romane ein. Diese Anwendung des Collage-Prinzips gipfelt in seinem neusten Werk, dem Echolot. Die zahlreichen Stimmen, die bereits in den vorangegangenen Romanen zu Wort gekommen sind, vermehren sich. Sie sind nach Aussage von D. Hempel zu einem Chor von tausend Stimmen angeschwollen. (vgl. Hempel, S. 27)

Die Aufgabe des vierten Kapitels wird es also sein diese Verwendung der Collagetechnik zu untersuchen. Wie hat Kempowski das gemacht und warum? Dieser Frage habe ich mich gestellt, weil das Collage-Prinzip eines der typischsten Stilmerkmale Walter Kempowskis ist. Weil er mithilfe dieser Technik das für den Leser immer wieder erkennbare Typische erzeugt.

2. Erzähltheoretische Analyse von „Herzlich Willkommen“

2.1. Fiktionale Erzählung

Der Roman „Herzlich Willkommen“ befasst sich mit der Rückkehr des Protagonisten Walter Kempowski aus der Gefangenschaft in Bautzen. Bereits während seiner Zeit im Gefängnis begann Walter Kempowski die Geschichte seiner Familie und somit auch seine eigene zu rekonstruieren, sich ins Gedächtnis zu rufen. Und trotzdem die Erzählung sehr nah an der Realität bleibt, sind vom Autor doch einige Abweichungen vorgenommen worden, was Namen oder Situationen angeht. Auch können die vielen Gespräche mit den Verwandten oder der Mutter nur in etwa so abgelaufen sein, wie sie im Buch dargestellt sind, da das Buch nicht den Anspruch erhebt eine Dokumentation dieses erzählten Zeitraumes zu sein. Darüber hinaus deutet der Autor selbst auf die

Fiktionalität der Erzählung hin, indem er durch paratextuelle Hinweise („Die Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist rein zufällig“) und die Definition des Werkes als „Roman“ den Leser darauf aufmerksam macht.

In dem er die Aussagen der zitierten Personen bearbeitet und auf die gleiche Ebene stellt wie die Rede des Erzählers, wird die faktuale Rede der authentischen Person zu einer fiktionalen Erzählerrede. (Vgl. D. Hempel, S. 26)

2.2. Wie wird der Roman erzählt?

2.2.1. Die Zeit der Erzählung:

In ihrem Kapitel über das „Wie“ der Erzählung unterteilen Martinez/Scheffel, in Anlehnung an Genette, den Analysepunkt „Zeit“ in die Ordnung der Erzählung, die Dauer und die Frequenz. (M/S, S, 32)

Die Ordnung beschreibt in welcher Reihenfolge das Erzählte wiedergegeben wird. Walter Kempowski geht in „Herzlich Willkommen“ in absolut chronologischer Reihenfolge vor. Die Geschichte wird fortlaufend, von der Ankunft Walters in Hamburg an Ostern 1956, bis zu dem Familientag in Hamburg an Weihnachten 1958, erzählt. Wobei man sagen muss, dass Kempowski mit Zeitangaben sehr sparsam umgeht. Der zeitliche Ablauf scheint nicht von vorrangiger Bedeutung zu sein.

Es gibt keine Vorausdeutungen (Prolepsen). Auch mit Rückwendungen (Analepsen) geht der Autor sehr sparsam um. Lediglich in der Figurenrede werden in der Erzählung zurückliegende Ereignisse nachträglich dem Leser präsentiert.

„Es wurde von früher erzählt, von Bäcker Lampe, wo Ulla immer die >> Lemmelings<< geholt hatte und >>Mü-beteig<< >> Blätterteig<<, die alte Geschichte. Und Sven wurde gefragt, ob er sich noch an die Butterkrem-Stücke erinnerte, die er im Krieg aus Kopenhagen mitgebracht hatte?“ (HW, S. 341)

Nach Martinez/Scheffel lassen sich fünf Grundformen der Erzählgeschwindigkeit unterscheiden, die die Erzähldauer beschreiben.

Die am häufigsten angewandte Form ist das zeitraffende bzw. summerische Erzählen. Hier werden Ereignisse stark komprimiert dargestellt. Die Erzählzeit liegt deutlich unter der erzählten Zeit. Die Erzählte Zeit umfasst, wie bereits erwähnt, zwei Jahre, zu Papier gebracht auf 352 Druckseiten (in der hier verwendeten Taschenbuchausgabe). Die Aussagekraft dieser Feststellung mag zweifelhaft sein, da das Erzähltempo in einem Roman fortwährend unterschiedlich voranschreitet. Als ein grobes Maß für das

Verhältnis von erzählter Zeit und Erzählzeit kann diese Feststellung jedoch einen kleinen Beitrag leisten. Im Durchschnitt werden also etwa zwei Tage auf einer Seite beschrieben.

Indem Kempowski einzelne Zeiteinheiten herausgreift und näher beschreibt, verwendet er an bestimmten Stellen das zeitdeckende, szenische Erzählen. So z.B. in den Gesprächen während der Verwandtenbesuche.

„Sie ging im Zimmer auf und ab und richtete das Tuch. Händel! Sie hob die Hände: Um Gottes willen! 9 Opern! Wenn Bach eine Oper geschrieben hätte, nur eine einzige. […] Nein, sagte sie, die Hände knetend, nicht Händel, dann schon eher die alten Italiener […]“ (HW, S. 19)

In dieser Szene meint man als Leser dabeizusitzen, eine Theaterszene vor sich zu haben. Die erzählte Zeit ist an diesen Textstellen identisch mit der Erzählzeit.

Die zwei weiteren Formen der Erzählgeschwindigkeit das Zeitdehnende Erzählen und die Pause finden sich nicht in dem Roman. Die fünfte Form ist die Ellipse oder auch Zeitsprung genannt. Da Kempowski nicht durchgehend jeden Tag beschreibt, kann man sagen, dass er diese Form häufig anwendet.(vgl. M/S, S. 40) So z.B. Während Walters Besuch in Dänemark.

„Nachdem ich die Fotoalben der Familie durchgesehen hatte, mit Bildern vom Arbeitsdienst, […] nachdem ich den Mädchen alle deutschen Spiele erklärt und so manches dänische Wort gelernt hatte, […] fuhr ich mit meinen Russengeschichten nach Haus. […] »Wie ist es gewesen«? fragte die Mutter, die gerade in der Küche Flomenschmalz ausbriet.“ (HW, S. 75)

Der Zeitsprung spart die gesamte Rückfahrt von Dänemark nach Hamburg aus, da sie für die Erzählung nicht relevant ist. Da die Zeitspanne durch die Rückfahrt ungefähr angegeben wird, spricht man in diesem Fall von einer bestimmten, oder expliziten Ellipse. Im Gegensatz zu einer unbestimmten oder impliziten Ellipse, bei der der ausgesparte Zeitraum nicht benannt wird, oder vom Leser nicht errechnet werden kann. Solche unbestimmten Ellipsen werden im Text lediglich durch Absätze im Text gekennzeichnet. (vgl. M/S, S. 43)

Summerisches und Szenisches Erzählen wechseln sich durchgängig ab, was durch die abwechselnde Verwendung von direkter und indirekter Figurenrede noch deutlicher wird. In Kapitel 3 wird darauf noch näher einzugehen sein.

In Bezug auf die Frequenz der Erzählung herrscht überwiegend eine singulative Erzählweise vor. Lediglich die Aussagen einzelner Personen werden häufiger wiederholt. So z.B. die Aussage der Mutter:

„Sie damals, oh! Wenn sie noch daran denke.“ (HW, S. 20) Dies ist eine wörtliche Wiederholung desselben Satzes von Seite 18.

2.2.2. Der Modus der Erzählung

Wie mittelbar wird erzählt?

Unter dem Begriff des Modus fassen Martinez/Scheffel zwei Aspekte zusammen. Diese beiden Aspekte, die Distanz und die Fokalisierung, dienen dazu, die Mittelbarkeit einer Erzählung, sowie deren Perspektivierung untersuchen zu können. (vgl. M/S, S. 47)

Der Grad der Mittelbarkeit einer Erzählung hängt in erster Linie von der Präsenz des Erzählers ab, bzw. von der Distanz des Lesers zum Erzählten. Tritt der Erzähler stark in den Vordergrund, kommentiert er das Erzählte oder bringt er gar eigene Überlegungen ein, ist der Grad an Mittelbarkeit sehr hoch. Dem Leser wird der direkte Zutritt in die erzählte Welt verweigert. Ihm wird die Möglichkeit verweigert unmittelbar am Geschehen teilnehmen zu können. Der Erzähler berichtet ihm nur, bereitet das Erzählte für ihn auf. Eine Erzählung, die unmittelbar erzählt wird, kann den Leser in ihre Welt ziehen. Die vermittelnde Instanz des Erzählers scheint nahezu ausgeschaltet zu sein, der Leser ist direkt am Geschehen beteiligt.

Kempowski wechselt ständig zwischen mittelbarer und unmittelbarer Erzählweise. An Textstellen, die größtenteils szenisch aufgebaut sind, in denen die direkte Rede vorherrschend ist, tritt der Erzähler stark in den Hintergrund.

[...]

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Erzähltheoretische Analyse: Walter Kempowskis "Herzlich Willkommen" und "Tadellöser & Wolff" im Vergleich
Hochschule
Christian-Albrechts-Universität Kiel  (Institut für neuere deutsche Literatur und Medien)
Veranstaltung
"Die deutsche Chronik" von Walter Kempowski
Note
2,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
24
Katalognummer
V72552
ISBN (eBook)
9783638629638
Dateigröße
466 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Erzähltheoretische, Analyse, Walter, Kempowskis, Herzlich, Willkommen, Tadellöser, Wolff, Vergleich, Chronik, Walter, Kempowski
Arbeit zitieren
Anna Damm (Autor:in), 2006, Erzähltheoretische Analyse: Walter Kempowskis "Herzlich Willkommen" und "Tadellöser & Wolff" im Vergleich, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/72552

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