Bilderbücher als religionsdidiaktische Chance - Reflexion von Eigenarten, Möglichkeiten und Grenzen eines Unterrichtsmediums - konkretisiert am Thema "Freundschaft"


Examensarbeit, 2006

83 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Bilderbuch
2.1 Die Geschichte des Bilderbuches Der Struwwelpeter – ein modernes Bilderbuch
2.2 „Bilderbuch“ – ein Definitionsversuch
2.3 Die innere Ordnung der Gattung Bilderbuch: Kategorien und Wertungen
2.3.1 Kaufhausbilderbuch vs. Künstlerisch und inhaltlich anspruchvolles Bilderbuch
2.3.2 Das Bilderbuch – die Vielfalt der Genres
2.4 Qualitätsmerkmale von Bilderbüchern
2.4.1 „Kindgemäßheit“ als Qualitätsmerkmal
2.4.2 Inhaltliche Qualität: Aufbereitung von Problemen
2.4.3 Künstlerische Qualität
2.4.4 Die sprachliche Qualität
2.4 Bilderbücher im Religionsunterricht der Grundschule

3. Kinderfreundschaften
3.1 Ein Definitionsversuch
3.2 Fünf Stufenmodell nach Selman
3.2.1 Reflektion des Stufenmodell von Selman
3.3 Warum brauchen Kinder Freunde?
3.4 Entstehung und Entwicklung von Freundschaft

4. Ausblick/ oder etwa: Kindheit, Freundschaft und das Bilderbuch – unbedingt ein Thema für den Religionsunterricht?
4.1 Freundschaft im Bilderbuch
4.2 Freundschaft im Bilderbuch – Ein Thema für den Religionsunterricht der Grundschule?

5. Bilderbuchanalysen
5.1 „Freundinnen“ von Sybille Rieckhoff (Illustration Jürgen Rieckhoff)
5.2 „Lustiges Bullerbü“ von Astrid Lindgren (Illustration Ilon Wikland)
5.3 Vergleich der beiden Bilderbücher „Lustiges Bullerbü“ und „Freundinnen“

6. Fazit

7. Literaturverzeichnis
Internetquellen:

8. Abbildungsverzeichnis

1. Einleitung

Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, erinnere ich mich noch besonders gut an das abendliche Lesen und Betrachten von Bilderbüchern mit meiner Mutter.

So wie mir, geht es vielen, wenn sie an ihre Kindheit denken. Oftmals wurde mit Freunden, Geschwistern oder Eltern das Bilderbuchbetrachten zu einem Ritual. Das erste Lesen und genaue Hinsehen wurde geschult, Kommunikation zwischen den Betrachtern gefördert und es machte einfach Spaß, bunte Bilder und Buchstaben zu entdecken. Für heutige Kinder ist dies im Grunde auch nicht anders, nur dass sich das Medium Bilderbuch weiter entwickelt hat. Seltener werden die klassischen Bilderbücher wie „Der Struwwelpeter“ oder „Die kleine Raupe Nimmersatt“ vorgelesen, meist sind es Bilderbücher, die der heutigen Zeit bzw. der Lebenssituation der Kinder angepasst sind. In diesen werden Probleme wie beispielsweise Eifersucht, Außenseiterproblematik oder Scheidung erklärt, besprochen und Lösungsvorschläge geboten.

Um den Wandel vom klassischen zum modernen Bilderbuch nachvollziehen zu können, widmet sich das erste Kapitel dieser Arbeit der geschichtlichen Entwicklung des Bilderbuches. Daraus ergibt sich die Fragestellung, was ein Bilderbuch ist und was es ausmacht. Jedoch handelt es sich hierbei eher um einen Definitionsversuch, da, so wird es sich zeigen, eine eindeutige Begriffklärung nicht möglich ist.

Im Anschluss daran, wird eine erste grobe Qualitätsdifferenzierung vorgestellt. Hierbei geht es im Besonderen um die Unterscheidung von so genannten „Kaufhausbilderbüchern“ und den „künstlerisch und inhaltlich anspruchsvolleren Bilderbüchern“. Dass diese Kategorisierung durchaus seine Berechtigung hat, wird erörtert und deutlich anhand von verschiedenen Kriterien festgestellt. Anschließend werden verschiedene Qualitätsmerkmale zur Beurteilung von Bilderbüchern vorgestellt und deren Probleme aufgezeigt.

Nachdem diese Begrifflichkeiten, die immer wieder in Verbindung mit Bilderbüchern stehen, erläutert wurden, soll ein Ausblick in die praktische Umsetzung gegeben werden. Konkret wird hier beschrieben, wie das Medium Bilderbuch im Unterricht der Grundschule, insbesondere im Fach Religion, eingesetzt werden kann. Ferner gibt das Kapitel Antworten auf die Fragen: Welche Themen sind für den Religionsunterricht fruchtbar? Was sagt der Lehrplan und welche Legitimation findet das Medium Bilderbuch im Religionsunterricht?

Der zweite Teil dieser Arbeit beschäftigt sich mit dem Thema „Kinderfreundschaften“. Die zentrale Frage, die zu beantworten sein wird, ist die Frage nach der Berechtigung von Bilderbüchern zu dem Thema Freundschaft im Religionsunterricht der Grundschule. Zuvor muss aber das Thema Kinderfreundschaft genauer in den Blick genommen werden.

Aufgrund dessen wird in dem ersten Kapitel ein Definitionsversuch aufgestellt. Es handelt sich auch hier wiederum um einen Versuch, da es eine eindeutige Definition nicht gibt. Freundschaft ist nämlich immer etwas Subjektives und lässt sich von daher schwerlich verallgemeinern. Dies wird aber in dem Kapitel ausführlich thematisiert.

Im folgenden Abschnitt (Kap. 3.2) wird das Stufenmodell nach Selman vorgestellt. Anhand dieses Modells ist das Freundschaftsverständnis von Kindern abzuleiten und zu verdeutlichen. Dies ist im Besonderem wichtig für das darauffolgende Kapitel, welches sich mit der Frage beschäftigt, warum Kinder Freunde brauchen.

Abschließend wird die Entstehung und Entwicklung von Freundschaft näher erläutert. Dabei werden bestimmte Faktoren aufgezeigt, die die Entstehung und Entwicklung von Freundschaft bedingen.

Kapitel 4 bildet die Synthese von Kapitel 2 (Bilderbuch) und Kapitel 3 (Kinderfreundschaften). Erst dadurch kann die zentrale Fragestellung nach der Daseinsberechtigung von Bilderbüchern zum Thema Freundschaft im Religionsunterricht der Grundschule beantwortet werden.

Das letzte Kapitel dieser Arbeit stellt zwei Bilderbücher vor und vergleicht sie. Hierzu wurden die Bilderbücher „Lustiges Bullerbü“ von Astrid Lindgren und „Freundinnen“ von Sybille Rieckhoff ausgewählt. Anhand dieser Beispielbücher soll in der Schlussbemerkung nun endgültig noch einmal geklärt werden, ob Bilderbücher im Religionsunterricht ein sinnvolles und fruchtbares Unterrichtsmedium sind.

2. Bilderbuch

Im nun folgenden Teil der Arbeit wird das Medium Bilderbuch genauer untersucht. Zunächst wird ein geschichtlicher Rückblick auf die Entwicklung und Entstehung des Bilderbuches unternommen (Kap. 2.1). Dabei werden Bilderbücher vorgestellt, die die geschichtliche Entwicklung im Besonderen geprägt haben.

Anschließend wird ein Definitionsversuch aufgestellt und dessen Schwierigkeit genauer erörtert (Kap. 2.2).

Da es viele verschiedene Arten, Formen und Typen des Bilderbuches gibt, werden diese im Anschluss (Kap. 2.3.1 und Kap. 2.3.2) thematisiert. Dabei wird insbesondere auf die Einteilung und Vielfalt der Genres eingegangen.

Der nächste Abschnitt (Kap. 2.4) widmet sich den Qualitätsmerkmalen von Bilderbüchern. Dabei scheint „Kindgemäßheit“ ein wichtiges Kriterium bei der Auswahl von Bilderbüchern zu sein. Was damit genau gemeint ist und ob dieses Kriterium wirklich seine Berechtigung findet, soll ebenfalls angesprochen werden (siehe Kap. 2.4.1). Die inhaltliche (Kap. 2.4.2), künstlerische (Kap. 2.4.3) und sprachliche (Kap. 2.4.4) Qualitäten von Bilderbüchern werden ebenfalls berücksichtigt.

Das abschließende Kapitel 2.5 beschäftigt sich mit dem Einsatz von Bilderbüchern im Religionsunterricht. Hierbei soll geklärt werden, ob es sinnvoll ist, dieses Medium einzusetzen und was dabei zu beachten ist.

2.1 Die Geschichte des Bilderbuches

Das Bilderbuch, wie wir es kennen, zeichnet sich aus durch die Gleichrangigkeit von Bild und Text oder sogar einer Dominanz der Bilder gegenüber dem Text. Gängig ist dies jedoch erst seit dem 19. Jahrhundert. Bilderbücher erscheinen seit über 500 Jahren, und sie zeigten während dieser Zeit sehr verschiedene Gesichter. Die wichtigsten Entwicklungslinien hinsichtlich der Zielgruppen und Inhalte von Bilderbüchern sowie des Verhältnisses von Wort und Bild sollen im folgenden erläutert sein.

Geschichte und Entwicklung des Bilderbuchs begannen mit der Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg in der Mitte des 15. Jahrhunderts. Der Buchdruck ermöglichte es, Texte kostengünstig und in hoher Anzahl herzustellen. Dadurch war gegeben, dass auch für das einfache Volk Druckerzeugnisse erschwinglich waren. Allerdings konnten nur sehr wenige Menschen lesen. Um dies auszugleichen, wurden schon bald die ersten Texte mit Bebilderung veröffentlicht. Aufgrund der Illustrationen war es nun auch den „einfachen“ Menschen möglich, die Texte zu verstehen.

Wenn man heute von Bilderbüchern spricht, geht man meist davon aus, dass diese für Kinder bestimmt seien. Zu Anfang des Bilderbuchzeitalters waren jedoch nicht die Kinder als Zielgruppe gedacht, sondern Erwachsene. Die Entwicklung von Bilderbüchern war, wie gesagt, primär motiviert durch den Analphabetismus der damaligen Epoche, sowie durch das Streben nach kommerzieller Verbreitung von Druckerzeugnissen.

Die Illustrationstechniken beschränkten sich zunächst auf den Holzschnitt und den Kupferstich. Erst viel später kamen andere Methoden, zum Beispiel Bleistiftzeichnungen oder Aquarellzeichnungen, hinzu.

Schon recht früh zeichnete sich eine Unterscheidung von drei so illustrierten Themenbereichen ab, die etwa bis zum Beginn des 18. Jahrhundert Gültigkeit behielt[1]:

1. die religiösen Bilderbücher, insbesondere Bibelübersetzungen, außerdem Gesangbücher, Katechismen, Heiligenlegenden, Geschichten über das Leben und die christlichen Lehrbücher.
2. die ABC-Büchlein, Lehrmittel für den Lese- und Schreibunterricht. Deren erste Erscheinungsform waren eigentlich noch keine „Büchlein“, sondern vielmehr Einblattdrucke mit schmückenden Randleisten, die mit Hilfe der Holzschnitttechnik gestaltet wurden. Ein prominentes Beispiel ist die „Tabulae abcdariae puerlies“ eines anonymen Künstlers, die im Jahr 1544 in Leipzig auf den Markt gebracht wurde. Bilderbücher der ersten zwei Kategorien waren meistens von christlichem Lehrgut geprägt. Anders die dritte Kategorie, nämlich
3. die Fabelbücher. Genannt sei hier das Fabelbuch „Edelstein“ von Ulrich Boner, welches eines der ältesten gedruckten Bücher in deutscher Sprache war. Der Drucker Albrecht Pfister druckte 1461 die Aufzeichnungen mit insgesamt 103 handkolorierten Holzschnitten.

Im 18. Jahrhundert kamen andere Bilderbuchgattungen hinzu. Ein Trend zur Säkularisierung der Inhalte ist sichtbar. Insbesondere Sachbücher dominieren den neuen Bilderbuchmarkt.

Noch immer waren Bilder kein zum Text gleichrangiges Medium, sondern sie dienten lediglich zur Illustration der Texte. Bilderbücher wurden gesehen als Bücher mit Bildern. Wenn sie für Kinder bestimmt waren, dann nur als Lehrbücher.

Prominente „Klassiker“:

„Orbis sensualium picuts“ – „Das Elementarwerk“ – das Bilderbuch für Kinder“

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Das wohl wichtigste Werk für die Geschichte des Bilderbuchs ist das „Orbis sensualium picuts“ von Johann Amos Comenius, welches im Jahre 1658 in Nürnberg veröffentlicht wurde. Das „Orbis sensualium pictus“ (dt. Die sichtbare Welt) wird häufig als Urahn des Bilderbuches bezeichnet[2], da es das erste seiner Art ist. Comenius erstellte ein Unterrichtswerk für junge Menschen auf 309 Seiten. Zusammengefasst finden sich folgende Inhalte in der angegebenen Reihenfolge: Gott, die Welt, der Himmel, die vier Elemente (Feuer, Wasser, Luft und Erde), die Metalle, die Steine, die Pflanzen und Tiere, der Mensch und seine körperliche Beschaffenheit, das menschliche Handwerk, die Künste, die Tugenden, das gesellschaftliche und staatliche Leben, die Religionen, die Kriegsführung und das Jüngste Gericht. Comenius wollte ein Werk erschaffen, das dem Leser deutlich macht, dass aller Anfang und alles Ende von Gott gegeben, alles nach dem theologischen Prinzip bestimmt ist.

Comenius unternahm als erster den Versuch, für den jungen Menschen eine Gesamtschau der Welt in Wort und Bild.[3] Gemäß den pansophischen Erziehungsvorstellungen des Comenius sollten die Kinder über die Bilder im Buch zur Kenntnis der Dinge und zur Vorstellung über deren Platzierung innerhalb des Schöpfungsganzen sowie dessen Ordnung gelangen, um im Auftrage Gottes an der Schöpfung mitwirken zu können.[4] Aufgebaut ist das Bilderbuch so, dass sich auf der linken Seite eine Zeichnung zu dem jeweils thematisierten Begriff befindet und auf der rechten Seite die jeweilige Erklärung in lateinischer und deutscher Sprache plaziert ist. So diente der „Orbis picuts“ auch noch als Lateinfibel.[5]

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Ein weiteres sehr bedeutsames Werk für die geschichtliche Entwicklung des Bilderbuchs ist „Das Elementarwerk“ von Johann Bernhard Basedow, erschienen 1770 bis 1774 in vier Bänden – drei Textbände sowie ein Bildband, der von 100 Kupfertafeln gedruckt wurde.

„Das Elementarwerk“ ist eher für die Familie gedacht. Dabei ist der Text weniger anziehend als die Bildtafeln mit den künstlerisch hochstehenden Kupferstichen.

Basedows Werk ist nicht an den Kreislauf Gottes angelehnt. Vielmehr beginnt Basedow mit der Darstellung der Nah-Umgebung des Kindes. Von dort aus schreitet er in kleinen Schritten in die weitere Umwelt hinein.

„An die Stelle des theologischen Ordnungsprinzips ist das pädagogisch-psychologische, ist der allgemein-didaktische Grundsatz „Vom Nahen zum Fernen“ getreten.“[6]

Neben den beiden genannten Exponaten gibt es noch ein drittes für die Geschichte des Bilderbuches wichtiges Werk, das hier aufgeführt werden soll: Das „Bilderbuch für Kinder“ von Friedrich Justin Bertuch ist ein imposantes Werk mit 12 Bildbänden und 24 Kommentarbänden, dessen Fertigstellung 40 Jahre – von 1790 bis 1830 – in Anspruch nahm. Das „Bilderbuch für Kinder“ ist eine Lehrsammlung zu fast allen Bereichen des Lebens: Tiere, Pflanzen, Blumen, Früchte, Mineralien, Trachten und allerhand anderen Unterrichtsgegenständen aus der Natur, der Künste und Wissenschaften. Zu den jeweiligen Artikeln finden sich kindgemäße Erklärungen mit Bebilderung. Dieses Bilderbuch sollte das Kind in erster Linie amüsieren, der lehrhafte Charakter stand eher an zweiter Stelle.[7]

Der Struwwelpeter – ein modernes Bilderbuch

Bis weit ins 19. Jahrhundert dominierten Sachbilderbücher wie zum Beispiel das „Orbis sensualismus pictus“, „Das Elementarwerk“ und das „Bilderbuch für Kinder“ den Bilderbuchmarkt. Erst in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts verbreitete sich eine weitere Art des Bilderbuchs. Diese neue Gattung könnte man als „poetisch-fiktionalen“ Typus definieren.

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Im Gegensatz zu Büchern der Art des „Orbis sensualismus pictus“ wird hier nun kein theologisches Wissen dargestellt. Der neue Typ ist aber auch nicht sachlich wie das „Elementarwerk“. Die nun vermittelten Normen sind diejenigen der bürgerlichen Gesellschaft jener Zeit. Die Vermittlung bedient sich der dem Zusammenspiel von Wort und Bild innewohnenden Darstellungsmöglichkeiten, und zwar auf „kindgerechte Weise“.

Das erste Bilderbuch und auch eines der am weitesten verbreiteten dieser Art ist der „Struwwelpeter“. Im Winter des Jahres 1844 wollte der Autor – der Frankfurter Arzt Heinrich Hoffmann – ein Bilderbuch für seinen vierjährigen Jungen erwerben, jedoch war er vom Angebot der Buchhändler enttäuscht und entschied sich kurzerhand selbst ein Bilderbuch anzufertigen. Freunde und Bekannte forderten Hoffmann dazu auf, sein Werk nicht der Öffentlichkeit vorzuenthalten und so kam es, dass es ein Jahr später in den Druck ging.[8]

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Zu Anfang erschien das Buch von Hoffmann, der unter dem Pseudonym „Reimerich Kinderlieb“ schrieb, mit dem Titel „Lustige Geschichten und drollige Bilder“. Erst ab der dritten Auflage erhielt das Buch seinen endgültigen Titel „Struwwelpeter“ und der Autor veröffentliche es unter seinem wahren Namen. Gudrun Hollstein weist darauf hin, dass der Struwwelpeter auch als Zeitdokument gelesen werden kann, insofern das Buch den Wandel von Gesellschaft, Kindheit und Erziehung abbildet.

„Die Geschichten zeigen, wie Bedürfnisse und Wünsche der Kinder mit den strengen Verhaltensnormen der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts in Konflikt geraten; Fehlverhalten wird mit drastischen und unerbittlichen Strafen geahndet.“[9]

Auch heute noch findet man in der Sekundärliteratur zahlreiche Analysen, in denen Hoffmanns Buch oft kritisiert, aber auch gelobt und als „Beginn einer neuen Kinderbuchepoche“ gefeiert wird.

„Das Buch hat großen Beifall und nicht endenwollende Kritik herausgefordert und steht bis heute im Meinungsstreit der Befürworter und Gegner.“[10]

Gerade zu Beginn der Entwicklung des Bilderbuchs findet man deutliche Tendenzen der in der Literaturgeschichte bereits geendeten Epoche der Romantik. Insbesondere wurden häufig Lieder, Märchen, Sagen und alte epische Dichtungen als Bilderbücher verarbeitet. Diese Richtung wird als poetisch-fiktionales Bilderbuch bezeichnet.

Als Beispiel für poetische Bilderbücher gelten zum einen die „Fünfzig Fabeln für Kinder“ (1883) und der Folgeband „Noch fünfzig Fabeln für Kinder (1885)“, geschrieben von Wilhelm Hey und illustriert von Otto Speckter. Hierbei handelt es sich allerdings nicht um Fabeln im eigentlichen Sinne, da die „kritische Intellektualität“ fehlt, die eine Fabel zu einer Fabel macht.[11]

„Tatsächlich schildern die kleinen zwölfzeiligen Gedichte Erlebnisse von Kindern mit Tieren aus ihrer Umgebung oder Begebenheiten aus deren Lebens; fabelähnlich ist allenfalls die Konzentration der Handlung auf eine einzelne Episode sowie natürlich die Lehrhaftigkeit der Texte.“[12]

Zum anderen sei hier als Beispiel für poetische Bilderbücher „Die Ammenuhr (1843)“ mit Holzschnitten von Ludwig Richter genannt. Die einzelnen Holzschnitte illustrieren jeweils eine Strophe des Gedichtes, welches den Künstler zu dem Buch inspirierte.

Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es dann zu einer starken Aufwärtsentwicklung in der Bilderbuchproduktion in quantitativer Hinsicht. Mit der bildnerischen Qualität ging es nach Meinung kritischer Beobachter bergab[13]. Die Kritiker bemängelten einen Trend zu minimalistischer, konsumierbarer Ästhetik und waren bisweilen über die Darstellungen regelrecht brüskiert. Baumgärtner zitiert eine zeitgenössische Meinung:

„Jahr für Jahr [...] erschienen in großen Mengen farbige Süßigkeiten, die geschmacksverheerend auf das große und kleine Publikum eindrangen. Der glatte geleckte Öldruck beherrschte das Feld; fürchterliche lithographische Buntdrucke zeugen von der Geschmacksverwilderung. Die Bilder, die keine Farben zeigten, waren wenigstens zuweilen noch erträglich, obgleich auch sie in der Zeichnung der Geschmacklosigkeit ihren Tribut zollten: alles musste ‘schön’ sein, die Augen viel zu groß, der Mund hübsch klein, die Gebärde meist nur ausdruckslose Bewegung, zur schönen Pose erstarrt. Kamen aber nun noch die ‘feinen’ Farben hinzu, die hübschen roten Bäckchen und Lippen, die reizenden blauen Augen, das entzückende goldblonde Haar, so entstand ein Bild von einer Hübschheit und Seelenlosigkeit, wie man es sich schlimmer nicht gut denken kann.“[14]

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Zur Jahrhundertwende kam es somit zu einem Wandel im Bereich der Bilderbücher. Wesentlichen Einfluss hatten dabei Jugendstil und die Kunsterziehungsbewegung.[15] Der Schweizer Künstler Ernst Kreidolf ist einer der bekanntesten Bilderbuchillustratoren dieser Zeit und ein Begründer des neuen Zeitalters des Bilderbuches.

„Eine höchst eigentümliche Welt entfaltet sich in seinen Büchern. Man hat von einer ‚Vermenschlichung der Natur‘ gesprochen, die Kreidolf vollziehe, und tatsächlich handeln und sprechen seine Blumen und Insekten nicht nur wie Menschen; sie weisen auch menschliche Züge auf.“[16]

Kreidolf hat in seinen Bücher auf geschickte Weise Texte und Bilder derart aufeinander abgestimmt, dass ein geschlossenes Gesamtbild entstand.[17] Zu seinen Werken zählen unter anderen das „Blumenmärchen (1898)“ und die „Bilder zu alten Kinderreimen (1905)“.

Im Laufe der Zeit wurde die Anlehnung an die bildende und moderne Kunst immer prägnanter. Mit dem Nationalsozialismus kam allerdings ein Einbruch des Stils, da moderne Kunst in Bilderbüchern zu dieser Zeit untersagt wurde. In den Publikationen des Dritten Reichs war das Progagieren nationalsozialistischen Gedankenguts zentral, wovon die Bilderbücher nicht ausgenommen waren.

Zu den meist verbreiteten Veröffentlichungen gehörte Trau keinem Fuchs auf grüner Heid, trau keinem Jud bei seinem Eid! Ein Bilderbuch für Groß und Klein (1936)“ von Elvira Bauer. Die damals 18-jährige Bauer erfand für ihr Buch eine ihr ideal erscheinende Figur „des Deutschen“, die sie „dem hässlichen und gemeinen Juden“ gegenüberstellte.[18]

„Das (nationalsozialistische; Anm. I.N.) Kinderbuch nimmt alle alten Vorurteile, alle schmutzigen Phantasien und üble Nachrede gegen die Juden auf und serviert sie kindgerecht. Raffiniert wird dem kindlichen Verlangen nach Gutem und Schönem, der Sündenbock für alles Üble, Böse und Schlechte symbolisch und realistisch in „dem“ Juden gegenübergestellt“.[19]

Nach der Zeit des Dritten Reichs musste das Bilderbuch nahezu wieder neuerfunden werden. Der Neubeginn des Bilderbuchsschaffens in Deutschland war allerdings mit erheblichen Schwierigkeiten belastet. Gründe dafür waren nicht nur die Vernichtungen der Druckerein und der vorliegende Materialmangel. Das Hauptproblem bestand eher im fehlenden Rückblick auf die Zeit vor dem Naziregime. Kreidolf schien fast in Vergessenheit geraten zu sein. Nur wenige Autoren, wie etwa Hans Leips, der sich in seinem „Zauberschiff (1946)“ stark an den Expressionismus anlehnt, bedienen sich bei ihren Zeichnungen für Bilderbücher noch der modernen Kunst.

Erst 1960 gelingt ein konkreter neuer Ansatz in der Bilderbuchherstellung. Es kamen immer mehr und vor allem kindgerechte Bilderbücher auf den Markt. Viele dieser Werke sind auch heute noch in den Buchläden zu finden. „Die kleine Raupe Nimmersatt (1970)“ von Eric Carles gehört mittlerweile zu den Klassikern des Bilderbuches. Die kleinen Leser begleiten eine kleine Raupe durch ihren Lebensweg, bis diese sich schlussendlich als ein wunderschöner Schmetterling entpuppt. Leo Lionni gehört ebenfalls seit Beginn der sechziger Jahre zu den meistgelesenen Autoren des Bilderbuchgenres. Zu seinen Werken gehören unter anderem: Das kleine Blau und das kleine Gelb (1962)“, „Swimmy (1964)“, „Frederick (1967)“ sowie „Fisch ist Fisch (1972)“. Das Herausragende an den Werken von Lionni sind die verschiedenen Techniken und Stile, die er anwendet. Das heißt, er collagiert, er reißt Papier, er benutzt Wachskreide und den Zeichenstift, bedient sich der Abstraktion und der Konstruktion.[20]

Zu den produktivsten und erfolgreicheren Autoren und Künstlern, welche zum Teil für Kinder aber nicht ausschließlich für diese arbeiten, gehört seit Beginn der sechziger Jahre Janosch, der eigentlich Horst Eckert heißt. Eckert sagt selbst über seine Werke, dass sie keine lehrhaften Fabeln seien, sondern als eine „Anleitung, wie man glücklich leben kann“ gesehen werden sollten.[21] Zu seinen Erscheinungen zählen beispielsweise „Das große Janosch-Buch “(1976), „O wie schön ist Panama “(1978) und zuletzt erschien „Gibt es hitzefrei in Afrika? So leben die Kinder dieser Welt“(2006).

Wie Janosch gehört Helme Heine zu den weltweit renommiertesten Buchkünstlern der Gegenwart. Sein wohl bekanntestes Werk ist „Freunde “(1982). „Freunde“ zeigt, wie sich sehr unterschiedliche Charaktere ergänzen können. Heine illustriert dies bildhaft am Beispiel der befreundeten Tiere Hahn, Schwein und Maus.

Der kleine historische Rückblick zeigt eine große Bandbreite von Bilderbüchern, die sich mit den gesellschaftlich dominanten Wissensformen, mit der Säkularisierung von Lehrstoff, der Verbürgerlichung von Moralvorstellungen und mit den Vorstellungen von Kindheit ihrerseits veränderten. Wenn weiter unten (Vgl. 2.4.2) neuere Bilderbuchtypen besprochen werden, wird ein Wandel der Problemdefinition für die Lebensphase Kindheit sichtbar. Insbesondere wird dann die „Kindgemäßheit“ von Gewaltdarstellung und Wissensvermittlung problematisiert.

2.2 „Bilderbuch“ – ein Definitionsversuch

Der Rückblick auf die geschichtliche Entwicklung des Bilderbuches ist eine wichtige Vorarbeit für den Versuch einer Definition, denn bis hierher ist schon deutlich geworden, dass der Begriff Bilderbuch in den verschiedenen Epochen auch unterschiedliche Bedeutungen hatte, deren Bedeutung für eine neue Definition abzuwägen ist. Je weiter man in die Geschichte des Bilderbuches zurückgeht, desto schwieriger wird es, eine klare Abgrenzung zwischen Kinder- und Erwachsenenliteratur zu ziehen.[22] Während bis weit ins 19. Jahrhundert hinein das Bilderbuch noch als bebildertes Buch für junge Leser und nicht lesende Erwachsene sowie als Lehrwerk gedacht war, ist es heute so, dass sich das Bilderbuch hauptsächlich an Kinder und Kleinkinder richtet. Deshalb wird es der Gattung Kinder- und Jugendliteratur zugeordnet.

Eine recht einfache und formale Arbeitsdefinition, die im Wesentlichen der von Thiele entspricht, soll hier der Ausgangspunkt sein: Das Bilderbuch ist eine spezielle Untergattung der Kinderliteratur, die in der Regel 30 Buchseiten nicht überschreitet und sich durch eine enge Wechselbeziehung von Bild und Text auszeichnet. Das Bilderbuch richtet sich im Allgemeinen an Kinder, die noch nicht lesen können oder sich im frühen Lesealter befinden; nicht zuletzt deswegen kommt den Bildern auch eine den Bildern im Bilder-Buch führende Rolle zu.[23] Dieser Definitionsversuch ist auf der einen Seite sehr allgemein gefasst, darf jedoch auch nicht zu eng ausgelegt werden: Es gibt eine weite Auswahl an Bilderbüchern, die sich nicht an Kinder richtet, sondern explizit an Erwachsene. „Das kleine Arschloch“ von Walter Moers ist ein Beispiel für Bücher, die als eindeutig nicht für Kinder verfasst bezeichnet werden können. Des Weiteren überschreiten die Buchumfänge nicht ganz selten die Regelangabe von 30 Seiten. Die Pixibücher, die zweifelsohne auch zur Gattung der Bilderbücher gehören, unterschreiten diese Marke dagegen mit 10-15 Seiten deutlich. Vieles spricht also für eine offenere Definition, beispielsweise hinsichtlich der Adressaten. So definiert beispielsweise Hollstein:

„Mit dem Begriff ‘Bilderbuch’ wird ein Buch bezeichnet, in dem die Bilder im Vergleich zum Text überwiegen, mindestens aber dem Text quantitativ gleichgestellt sind. Dabei spielt eine entscheidende Rolle, daß die Bilder eine über das reine Illustrieren hinausgehende narrative Funktion wahrnehmen.“[24]

So oder so ähnlich lauten die meisten Definitionen zur Gattung des Bilderbuches. Die Gemeinsamkeit aller Definitionen besteht darin, dass sie davon ausgehen, dass eine Dominanz oder zumindest eine Gleichstellung von Bild gegenüber den Text vorliegen muss. Darin wiederspiegeln sich die heute gängigen Auffassungen und Typen von Bilderbüchern. Die frühesten Formen sind aus der Definition tendenziell ausgeschlossen.

2.3 Die innere Ordnung der Gattung Bilderbuch: Kategorien und Wertungen

Wer sich erstmalig mit Bilderbüchern befassen möchte, bemerkt recht schnell, dass es sich zunächst als sehr schwer erweist, über qualitative Unterschiede in Bilderbüchern zu urteilen und entsprechende Kategorisierungen vorzunehmen. Kategorisierungen transportieren meist in irgendeiner Weise Wertungen. Einige sind jedoch deutlich neutraler als andere und vorrangig dazu geeignet, den Bilderbuchmarkt übersichtlich zu machen. Im Folgenden werden zunächst einige gängige Systematiken vorgestellt, um dann das Feld der Bewertung selbst, insbesondere die Bestimmung von „Kindgemäßheit“, zu problematisieren.

2.3.1 Kaufhausbilderbuch vs. Künstlerisch und inhaltlich anspruchvolles Bilderbuch

Für den Einstieg in die kritische Auseinandersetzung mit Bilderbüchern hat sich die grobe Einteilung des Bilderbuchangebotes auf dem Buchmarkt in zwei große Gruppen als hilfreich erwiesen[25]: Die im Folgenden vorgestellte Unterscheidung wirft zudem ein Licht auf die Bewertung kultureller Qualität, die durch Vorstellungen von Exklusivität bestimmt ist. Die gemeinten Kategorien sind:

1. Die sogenannten „Warenhaus-/Kaufhausbilderbücher“: Diese sind meist sehr preiswert und habe hohe Auflagen (zwischen 25000 und 30000 Exemplaren bei der Erstauflage). Vorwiegend werden sie in Schreibwarenabteilungen der Kaufhäuser und Supermärkte angeboten. Klischeehafte Handlungen in einer heilen Welt, Beziehungen von Kindern zu Tieren oder eine vermenschlichte Tierwelt sind überwiegend Inhalt des Kaufhausbilderbuches. Häufig werden extrem einfache, belanglose Geschichten bzw. eine problemlose und fröhliche Kinderwelt vermittelt. Auf den ersten Blick scheinen die Illustrationen der kindlichen Wahrnehmung ganz besonders gerecht zu werden, da sie einen „naiver Realismus“ aufweisen. Meistens werden leuchtende Farben verwendet und ein flächiger unmodulierter Farbauftrag entsteht. Klare Konturen der Formen und ein Verzicht auf Räumlichkeit sind ebenfalls ein Indiz des Kaufhausbilderbuches.
2. Die sogenannten „künstlerisch und inhaltlich anspruchsvollen Bilderbücher“: Sie sind meistens etwas teurer als die Kaufhausbilderbücher und haben recht niedrige Auflagen von ca. 5000 bis 8000 Exemplaren. Nur sehr erfolgreiche Bilderbücher überschreiten die 10000-Auflagenhöhe. Vorwiegend findet man sie nur in Fachbuchhandlungen. Auch inhaltlich findet man Differenzen, denn in den inhaltlich anspruchsvolleren Bilderbüchern werden auch sozialkritische Themen und Probleme angesprochen. Ein weiterer Aspekt zur Unterscheidung ist die Bildästhetik. Sehr differenzierte Gestaltungsformen und die Nähe zu Stilrichtungen der bildenden Kunst (u.a. Anklänge an Naturalismus, photographischer und magischer Realismus, Spielarten des Expressionismus, des Surrealismus) sind dabei die entscheidenden Punkte zur Abgrenzung von Kaufhausbilderbüchern. Zudem bedienen sich die Autoren verschiedener künstlerischer Techniken (Federzeichnung, Aquarell, Holzschnitt u.a.).

Diese grobe Einteilung bietet Anhaltspunkte für erste Vergleiche und Auswahlkriterien. Auffällig ist eine Polarisierung in „anspruchsvolle“ und entsprechend nicht-anspruchsvolle Bücher, in kulturell hochstehende Bücher und Massenware. In Kapitel 2.4.2 und 2.4.3 werde ich noch näher auf die künstlerisch und inhaltlich anspruchvollen Bilderbücher eingehen.

2.3.2 Das Bilderbuch – die Vielfalt der Genres

Neben der in Kapitel 2.3.1 genannten dichotomen Unterscheidung gibt es die Differenzierung nach Subgenres. Mannigfaltige Themenkreise und Formen des Bilderbuches machen es nicht einfach, eine eindeutige, typologische Klassifizierung vorzunehmen. Häufig bietet sich in den dargebotenen Übersichten über die Subgenres eine Verquirlung von inhaltlichen, formalen und funktionalen Attributen. Monika Born erstellte eine recht grobe Kategorisierung von drei Gruppen[26]:

1. Bücher, die in Bild und Text auf realistische Weise von der Lebenswelt der Kinder erzählen. Hautsächlich werden die Bereiche Schule, Familie, Freunde, Natur, kulturelle und geschichtliche Lebensbereiche sowie Lebensfragen angesprochen.
2. Bücher, die dem Kind die Welt der Phantasie und des Phantastischen als Spiegel der Realität nahe bringen. Bilderbücher mit märchenhaften Inhalten, Fabeln, Sagen, Legenden, Spiel- und Mitmachbilderbücher, Beispielgeschichten, aber auch Bücher, die Träume, Wunschbilder und Projektionen thematisieren, repräsentieren diese Gruppe.
3. Bilderbücher, die einen sachbezogenen und informierenden Charakter aufweisen, die sowohl erzählende als auch phantastische Elemente integrieren können.

Diese Typisierung leistet eine systematische Bündelung der Kriterien, stellt dabei jedoch nicht die Möglichkeit sicher, jedes Buch präzise zuzuordnen.

Geläufiger als die Einteilung von Monika Born ist die in der Literaturkritik für klassisch befundene Kategorisierung, die von Heike Bürger-Ellermann wie folgt vorgestellt wird[27]:

1. Reine Phantasiedarstellung
2. Verknüpfung von Phantasie und Wirklichkeit
3. wirklichkeitsnahe Darstellung
4. Sachbilderbuch
5. Spiel-, Such-, Reim oder Liederbuch
6. Märchen/Erzählungen
7. biblische Geschichten

In der „klassischen“ Einteilung finden sich die anteilig am häufigsten vertretenen Typen in den Kategorien 1-4. Mit der Differenziertheit der Kategorien steigt naturgemäß die Schwierigkeit der Zuordnung. Entsprechend fällt dies mit der „klassischen“ Einteilung noch schwerer als mit derjenigen Borns.

Vom Problem der Präzision / Treffsicherheit der Kategorien zur Frage nach der Möglichkeit, Kriterien und objektive Hierarchien für die Qualität von Bilderbüchern in feste Kategorien zu bannen. Die bisher vorgestellten Einteilungen, vor allen diejenigen von Born und die klassische können als vornehmlich analytische Kategorien bezeichnet werden im Vergleich mit wertenden Kategorien wie z.B. die der „Kindgemäßheit“, die im Folgenden problematisiert wird. Hier wird umso deutlicher, dass Kriterien und deren Interpretation nicht nur zeitgebunden, sondern überhaupt nicht letztgültig entscheidbar sind. Davon unbeschadet ist „Kindgemäßheit“ ein wichtiges, unbedingt zu diskutierendes Kriterium.

2.4 Qualitätsmerkmale von Bilderbüchern

Wie bereits schon im vorausgegangenen Kapitel erwähnt gibt es neben den analytischen Kategorien auch die wertenden Kategorien. Diese sollen nun genauer vorgestellt und thematisiert werden.

2.4.1 „Kindgemäßheit“ als Qualitätsmerkmal

Wenn man sich mit der Thematik Bilderbuch wissenschaftlich auseinandersetzt, taucht immer wieder ein Kriterium auf, welches allgemein anerkannt zu sein scheint: Kindgemäßheit.

„Der Begriff (Kindgemäßheit; Anm. I.N.) findet seit der Jahrhundertwende in der kunstpädagogischen Diskussion Verwendung; die auch synonym verwendete Bezeichnung ‘Kindertümlichkeit’ ist heute weniger gebräuchlich.“[28]

Kindgemäßheit – wer bestimmt darüber?

Doch was genau meint dieses Beurteilungsmerkmal? Die Applikation des Begriffes geht einher mit der These, dass Bilder und Texte in Bilderbüchern nur dann geeignet sind, wenn sowohl Sprache, hier auch Bildsprache, als auch die Inhalte dem Kind angepasst sind.[29] Wie weit aber führt diese These? Zur weiteren Annäherung an die Beurteilung jenes Angepasst-Seins müssen genauere Fragen gestellt werden: Welche Forderungen müssen im Einzelnen erfüllt sein damit ein Bilderbuch mit dem Prädikat „Kindgemäß ausgezeichnet werden kann? Und: Wie kommen die entsprechenden Kriterien zustande? Hein Retter dokumentiert zum einen Versuche, Kindgemäßheit aus einer Kind-Perspektive zu operationalisieren. Zum anderen weist er darauf hin, dass die Definitionsmacht letztlich immer bei Erwachsenen bleibt, die ihre eigenen Perspektiven zugrunde legen:

„Ist ‘Kindgemäßheit’ das, was aus der Reaktion des Kindes als Interesse sichtbar wird? Dann ist ein Bilderbuch qualitativ hochwertig, wenn das Kind sich ihm über einen längeren Zeitraum immer wieder aus Interesse zuwendet. [...] Für viele Eltern und Erzieher bedeutet ‘Kindgemäßheit’ nämlich nicht nur die Tatsache, daß das Kind Interesse oder Spaß an einer Sache hat. Vielmehr besetzt der Erwachsene seine Erziehungs- und Wertvorstellungen mit dem Begriff ‘Kindgemäßheit’“.[30]

Kindgemäßheit - eine Annäherung

Eine Verschiebung auf die Bestimmungsmacht der Erwachsenen bringt naturgemäß keine zufrieden stellende Definition des Begriffs „Kindgemäß“. Deutlich wird jedoch bis hierher, dass Erwachsene andere Vorstellungen vom kindgemäßen Gehalt eines Bilderbuches haben können als Kinder selbst, was die Möglichkeit zur eindeutigen Bestimmung durch Erwachsene stark einschränkt. Im Bewusstsein dieser Diskrepanz sucht Retter Kriterien differenziert und transparent darzustellen. Folgende Punkte seien von großer Bedeutung für die Bestimmung des Kindgemäßen[31]:

- Der Begriff bezieht sich auf Inhalt und Gestaltung eines Bilderbuches.
- „Kindgemäßheit“ bezeichnet mehr als nur Alters- bzw. Entwicklungsgemäßheit
- Nicht nur problemorientierte Bilderbücher können als „kindgemäß“ bezeichnet werden. Unterhaltung, Witz, Phantastisches, Nonsens und Skurriles, ebenso Alltagsthemen wie Familie, Natur/Tiere sollten ihren Platz in Bilderbüchern haben dürfen.
- Nicht nur Bilderbücher, mit denen Erziehungsziele verbunden sind, können als „kindgemäß“ eingestuft werden.

All diese Aspekte einbeziehend kommt Retter zu folgender Schlussthese:

„Kindgemäß sind demzufolge jene Bilderbücher, die in der Lage sind, diesem Spannungsbogen von Unterhaltungs- und Aufklärungsabsicht gerecht zu werden, d.h. spannend, unterhaltend, faszinierend zu sein, gleichzeitig aber auch Anregung zu einem Stück Aufklärung über sich selbst und die Welt zu sein.“[32]

Kritik der Kriterien

In Vorgriff auf Kapitel 3 kann hier festgestellt werden, dass der von Retter beschriebene Spannungsbogen differenziert nach Altersstufen, oder genauer: Entwicklungsstufen bestimmt werden muss. Die schon genannte Anpassung von Sprache und Inhalt an Kinder gelingt nämlich je nach deren Entwicklungsstand auf unterschiedlich hohem Sprach- und Komplexitätsniveau.

Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob Retters in den achtziger Jahren aufgestellte These auch noch heute gilt: Retter bestimmt recht formal, dass ein Bilderbuch gleichzeitig bildungsfördernd und unterhaltsam sein sollte. Hält diese Setzung heute noch stand, bzw. kann sie in dieser Form bestehen vor der Wahrnehmung sich verändernder und dringlicher werdender Problemlagen von Kindheit? Vor allem im Laufe der neunziger Jahre und zur Jahrtausendwende hin erschienen immer mehr Bilderbücher, die nicht ausschließlich unterhaltend waren. Viele „Problembücher“ greifen negative und oft tabuisierte Seiten des Lebens auf und veranschaulichen diese mit den eigentümlich eindrücklichen Mitteln des Bilderbuchs. So behandelt „Irgendwie anders“ von Kathryn Cave, wie ein Kind mit auffälligem Aussehen ausgeschlossen und in eine Außenseiterrolle gedrängt werden kann. Sexuelle Gewalt an Kindern ist das Thema in „Anna in der Höhle“ von Elke Garbe. Beide Bücher werden viel in der Schule verwendet. Solche Bilderbücher geben nicht nur den Kindern zu denken, sondern fordern auch die Erwachsenen heraus.

Zum Bestand älterer Definitionen von Kriterien für Kindgemäßheit ist zunächst festzuhalten, dass sich mit Kindheit als Lebensphase und pädagogischen Leitideen auch das Problem der „Kindgemäßheit“ als solches verändert, und dass sich dies in Aufmachung, Thematiken und Bewertungen von Bilderbüchern widerspiegelt.

2.4.2 Inhaltliche Qualität: Aufbereitung von Problemen

In Kapitel 2.3.1. wurde eine polarisierende Unterteilung des Gesamtspektrums von Bilderbüchern vorgestellt, welche auf eine grobe Bewertung von Qualität, abzielt. Das Problem inhaltlicher Bewertung wurde in 2.3.2 und 2.4 umrissen. In diesem Kapitel soll nun die Suche nach inhaltlichen Qualitätskriterien am Beispiel eines relativ neuen „Problembuches“ vertieft werden.

[...]


[1] Müller, Helmut: Vorläufer. In: Doderer, Klaus; Müller, Helmut: Das Bilderbuch. Geschichte und Entwicklung Beltz Verlag. Hemsbach. 1975. S. 1

[2] Hollstein, Gudrun: Werkstatt Bilderbuch. Allgemeine Grundlagen, Vorschläge und Materialien für den Unterricht in der Grundschule. Knecht Verlag. Landau. 1999. S. 19

[3] Dorderer und Müller

[4] Hollstein S. 19

[5] Hollstein S. 20

[6] Baumgärtner, Alfred Clemens: Das Bilderbuch. Geschichte-Formen-Rezeption. In: Paetzold, Bettina; Erler, Luis (Hrsg.) : Bilderbücher im Blickpunkt verschiedener Wissenschaften und Fächer. W. Nostheide Verlag GmbH. Bamberg. 1990. S. 8

[7] Vgl. Ebd. S. 8

[8] Vgl. Hollstein S. 21

[9] Hollstein S. 22

[10] Hollstein S. 22

[11] Vgl. Baumgärtner S. 9

[12] Baumgärtner S. 10

[13] Vgl. Baumgärtner S. 11

[14] Baumgärtner S. 11-12

[15] Vgl. Kaminski, Winfred: Einführung in die Kinder- und Jugendliteratur. Literarische Phantasie und gesellschaftliche Wirklichkeit. Juventa-Verlag. München. 1987. S. 36

[16] Baumgärtner S. 12

[17] Vgl. Hollstein S. 26

[18] Vgl. Hollstein S. 31

[19] Ginzel, Günther Bernd u.a. (Hrsg.): Mit Hängemaul und Nasenzinken. Erziehung zur Unmenschlichkeit. Medienpaket für Gruppenleiter und Lehrer. Düsseldorf. 1984. S. 27

[20] Vgl. Kaminski S. 40

[21] Vgl. Kaminski S. 44

[22] Vgl. Baumgärtner S. 5

[23] Vgl. Thiele, Jens: Gattung der Kinderliteratur in Theorie und Praxis. In: Thiele, Jens; Steitz-Kallenbach, Jörg (Hrsg.): Handbuch Kinderliteratur. Grundwissen für Ausbildung und Prxis. Herder Verlag. Freiburg im Breisgau. 2003. S. 71

[24] Hollstein S. 11

[25] Vgl. Hollstein S. 39

[26] Vgl. Born, Monika: Bilderbücher-gemalte und verdichtete Welt. In: Sahr, Michael; Born, Monika (Hrsg.): Kinderbücher im Unterricht der Grundschule. Schneider Verlag. Hohengehren. 2000. S. 89

[27] Vgl. Bürger-Ellermann, Heike: Schonraum Kindheit? Die soziale Realität von Kindern im Spiegel gegenwärtiger Bilderbuchproduktionen. In: Thiele, Jens(Hrsg.):Bilderbücher entdecken. Verlag Isensee. Oldenburg. 1985. S. 28

[28] Bertlein, Hermann: Kindertümlichkeit. In: Klaus Doderer (Hrsg.): Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur. Weinheim u. Basel. 1984. S. 210-211

[29] Vgl. Hollstein S. 40

[30] Retter, Hein: Beurteilung von Bilderbüchern. Pädagogische Probleme. Empirische Befunde. Kallmeyer`sche Verlagsbuchhandlung. Seelze-Velber. 1989. S. 12

[31] Vgl. Retter S. 12ff

[32] Retter, S. 15

Ende der Leseprobe aus 83 Seiten

Details

Titel
Bilderbücher als religionsdidiaktische Chance - Reflexion von Eigenarten, Möglichkeiten und Grenzen eines Unterrichtsmediums - konkretisiert am Thema "Freundschaft"
Hochschule
Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Note
1,7
Autor
Jahr
2006
Seiten
83
Katalognummer
V72556
ISBN (eBook)
9783638627603
Dateigröße
849 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Diese Examensarbeit wurde zwar im Fach Theologie angefertigt, ist jedoch auch sehr gut für den Germanistikbereich geeignet.
Schlagworte
Bilderbücher, Chance, Reflexion, Eigenarten, Möglichkeiten, Grenzen, Unterrichtsmediums, Thema, Freundschaft
Arbeit zitieren
Isabelle Neuhaus (Autor:in), 2006, Bilderbücher als religionsdidiaktische Chance - Reflexion von Eigenarten, Möglichkeiten und Grenzen eines Unterrichtsmediums - konkretisiert am Thema "Freundschaft", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/72556

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